DAS DILEMMA DES KAPITALISMUS: Er ist die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung der Menschheitsgeschichte und zugleich auch die zerstörerischte


Essay, 2005

7 Seiten


Leseprobe


DAS DILEMMA DES KAPITALISMUS:

Er ist die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung

der Menschheitsgeschichte und zugleich auch die zerstörerischte

(Essays und Kommentare, Hannover 2005)

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Ohne wirtschaftliche Entwicklung können wir nicht leben. Aber gleichzeitig droht die ganz normal entfesselte Ökonomie, unsere ökologischen, ethischen, sozialen und demokratischen Grundlagen zu zerstören. Nicht die derzeit angeprangerten skandalösen Auswüchse des Kapitalismus sind das Problem, sondern seine ganz normale Natur.

Die entscheidende Einsicht hatte Karl Marx bereits in den 1840er Jahren. Er sah, daß der Kapitalismus die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung der Menschheitsgeschichte ist und zugleich auch die zerstörerischte. Marx erkannte, daß der Kapitalismus einerseits zu ungeahnten ökonomischen Leistungen führt und andererseits dazu neigt, jede Gesellschaft, in der er sich entwickelt hat, unaufhaltsam zu untergraben und aufzulösen. (vgl. Grode 1998)

Marx hätte es bei dieser Einsicht belassen sollen. (Taylor 2005). Stattdessen erlag er der großen wiederkehrenden Versuchung einer Zivilisation, die ihre Entstehung der christlich geprägten westlichen Welt verdankt: Er verfiel der utopischen Hoffnung, alles Gute könne in einer einzigen harmonischen Gesellschaftsordnung vereinigt werden.

Bekanntlich bestand diese Utopie in der Abschaffung des Kapitalismus, dessen Dynamik Marx allerdings in einer unablässig kreativen und produktiven kommunistischen Ordnung beibehalten wollte. Heute hingegen tauchen dieselben Illusionen am anderen Ende des politischen Spektrums auf, nämlich bei unseren triumphierenden Neoliberalen. Sie verteidigen die Freiheit des Marktes und glauben, diese sei die einzige und perfekte Lösung sämtlicher Probleme.

Die ursprüngliche Einsicht von Marx meinte aber etwas anderes, und vielleicht könnte man sie mit dem Bild von der heillos zerstrittenen Ehe beschreiben: Ohne den Kapitalismus können wir nicht leben (denn marktförmige Beziehungen durchdringen die Gesellschaft auf vielen Ebenen), aber mit ihm können wir es kaum aushalten. Der Drang, soziale Kosten erfolgreich abzuwälzen, macht den eigentlichen Wesenskern des Kapitalismus aus. Seine Nebenwirkungen werden als >externe Effekte< ausgegeben oder zum Problem von jemand anders erklärt.

Die Abwälzung von Kosten erhöht die Profite. Zurück bleiben Umweltverschmutzung und der Verfall sozialer Bindungen durch unsichere Beschäftigungsverhältnisse oder Niedriglöhne, Die Politik ist machtlos gegen die Ökonomie: Das gefährdet die deutsche Demokratie (Grass 2005) >Dieses Verfahren ist für den Kapitalismus unwiderstehlich, jedenfalls solange es keine wirksame Abschreckung gibt.< (Tayor 2005)

Mit einem Wort: Kapitalistische Gesellschaften sind der Schauplatz eines andauernden Dilemmas. Wie kontrolliert man Unternehmen, um die schlimmsten sozialen und ökologischen Folgen zu verhindern, ohne gleichzeitig ihre Abwanderung zu provozieren oder das Wachstum zu schwächen? Ständig sind Regierungen gezwungen, die notwendige Kontrolle des Kapitals gegen die Gefahren der Standortverschlechterung abzuwägen. Dafür gibt es keine harmonischen Lösungen, sondern nur instabile, Schaden begrenzende Kompromisse. (Grode 2004a)

Und natürlich hängen die möglichen Kompromisse vom globalen Wettbewerb ab. Die besten Lösungen für dieses Dilemma sind deshalb internationale Lösungen, wodurch sich die genannten Schwierigkeiten allerdings um ein Vielfaches vergrößern.

Besonders drastisch zeigt sich das dort, wo ökologische Fragen berührt werden. Der Kapitalismus gefährdet nicht nur die Gesundheit und das Wohl derer, die im Zuge der Globalisierung ausgegrenzt werden und die dann als Masse der Marginalisierten möglicherweise den Nährboden terroristischer Gewalt bilden. (Grode 1999)

Der Kapitalismus kann auch zu irreversiblen Umweltkatastrophen führen. Jeder weiß, daß die einzige Hoffnung, beispielsweise in Bezug auf Treibhausgase, in der globalen Zusammenarbeit der Nationen liegt. Doch der mächtigste Großverschmutzer der Welt, die USA, hat sich aus dem Prozeß verabschiedet. Kurzum, das Dilemma des Kapitalismus könnte uns durchaus noch umbringen.

Eines der größten Hindernisse auf unserem Weg verdankt sich, so der kanadische Philosoph Charles Taylor, der bereits erwähnten utopischen Illusion. Der Kapitalismus selbst kann niemals die Grundlage einer Ehtik bilden (Grode 1997) geschweige denn einer Religion. Zwar läßt er sich als Ausdruck eines Wertes wie >Freiheit< oder >Wahlfreiheit< deuten (Grode 2004 b), aber mit der Deutung verlieren verlieren wir seine dilemmatische Natur aus dem Blick. Plötzlich erscheint uns der Kapitalismus als Retter in der Not, gar als Erlöser, der uns von allen Sorgen befreit. Diese Illusion hält derzeit die herrschenden Kreise in den USA fest im Griff.

Am anderen Ende der Welt glaubt die Herrschaftsriege Chinas, eine sklerotische und zunehmend korrupte exkommunistische Elite sei in der Lage, die dilemmatischen Zwänge einer außer Kontrolle geratenen kapitalistischen Revolution bewältigen zu können. Noch andere, so Taylor, unter ihnen einige Globalisierungsgegner, erliegen wieder einmal der marxistischen Versuchung und glauben, die Ursache des Dilemmas ließe sich einfach beseitigen.

Viele seiner Illusionen erzeugt der Konsumkapitalismus allerdings selbst. Der Wettbewerb, Waren und Dienstleistungen zu verkaufen, hat sich seit langem und vielleicht unumkehrbar in einen Wettbewerb zu verwandeln, in dem es um den Verkauf von attraktiven Lebensanschauungen geht - um Bilder von Glück, Freiheit und Schönheit, mit denen die Menschen aufgefordert werden, sich den Eintritt in Stilsüären >zu erkaufen<, wenn si Haarwaschmittel, Sportschuhe oder einen Geländewagen erwerben (Grode 2000, 2003), Markenmamen sind mit bestimmten Einstellungen und Lebensweisen, einem Gefühl von Kraft und Unverwundbarkeit odr von Freiheit und Kreativität verbunden.

All das erzeugt schließlich eine neue kulturelle Kraft, die kein einfacher, ebenbürtiger Gegenspieler von Ethik und Religion ist, sondern die sich, so Charles Taylor, in ganz neuartiger Weise von beiden löst. Diese Kraft resultiert daraus, daß das Leben in einem zunehmend irrationalen Raum gegenseitiger Zurschaustellung stattfindet. Sie läßt den Halt lokaler und nationaler Gemeinschaften erodieren und veranlaßt junge Menschen dazu, sich anders in Ethik und Religion einzufügen, als es ihnen überliefert wurde.

Und nicht nur das, meint Chales Tayor. Die Entwicklung der Konsumgesellschaft verbindet sich zunehmend mit einer Ethik der Authentizität, die im Westen immer mehr Raum greift. Unverkennbar hat sie eine Tendenz, den Begriff von Authentizität und Selbstsein zu trivialisieren. Es geht hier nur noch um die zur Nachahmung medial verbreiteten Stile, während die Entdeckung substanzieller Lebenziele dahinter zurücktritt und verblaßt.

So verwandelt sich die Ehtik von >Freiheit< und >Individualismus<, die doch den Kapitalismus einmal rechtfertigen sollte, schleichend in eine Feier bloßer >Wahlfreiheit< als dem an sich Guten. Damit erweckt der Kapitalismus den Eindruck, als sei das Leben des Einzelnen nur deshalb schon erfüllter und glücklicher, weil seine Wahlmöglichkeiten zahlreicher werden - mögen auch die Unterschiede zwischen den Alternativen banal sein.

Etliche hatten schon vor Jahrzehnten befürchtet, der Kapitalismus werde uns, lange bevor wir in den durch die Erderwärmung steigenden Meeresspiegeln ertrinken, rettungslos verblöden lassen (so Huxley in >Schöne neue Welt<). Charles Taylor hingegen glaubt immer noch - und ich hoffe er behält Recht - daß Menschen klüger und widerstandsfähiger sind und den Kontakt zu den tieferen Bedeutungen des Lebens nicht ganz und gar verlieren.

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LITERATUR

Grass, Günter (2005) >Freiheit nach Börsenmaß<. Die Politik ist machtlos gegen die Ökonomie. Das gefährdet die deutsche Demokratie, in: >Die Zeit<, Nr. 19.

Grode, Walter (1997): >Ethik in der Wirtschaft<, in: >Lutherische Monatshefte< (Kirche im Dialog mit Kultur Wissenschaft und Politik), Heft 5.

Grode, Walter (1998): >Leidenserinnerung als universelle Ressource des Humanen<, in: >Politische Vierteljahresschrift<, Heft 2

Grode, Walter (1999): >Dolche und Blitze<. Zur Option des selektiven Zugriffs, in: >Die Zeichen der Zeit / Lutherische Monatshefte<, Heft 6.

Grode, Walter (2000): >Volksgenosse auf Rädern<. Motorisierung und Konsumorientierung, in: >Die Zeichen der Zeit / Lutherische Monatshefte<, Heft 7.

Grode, Walter (2003): Die Last der NS-Geschichte oder >Das Glück von der Unfähigkeit zu trauern<, in: >heilpaedagogik-online<, Ausgabe 03.

Grode, Walter (2004a): >Soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen turbokapitalistischer Globalisierung, in: >wissen24.de< bzw. >hausarbeiten.de<.

Grode, Walter (2004b): >Das neue Lob der Freiheit<. Vom Leben auf eigene Rechnung, in: >hausarbeiten.de<

Taylor, Charles (2005): >Kapitalismus ist ein faustischer Pakt<, in: >Die Zeit, Nr. 19..

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Details

Titel
DAS DILEMMA DES KAPITALISMUS: Er ist die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung der Menschheitsgeschichte und zugleich auch die zerstörerischte
Autor
Jahr
2005
Seiten
7
Katalognummer
V109983
ISBN (eBook)
9783640081615
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DILEMMA, KAPITALISMUS, Wirtschaftsordnung, Menschheitsgeschichte
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2005, DAS DILEMMA DES KAPITALISMUS: Er ist die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung der Menschheitsgeschichte und zugleich auch die zerstörerischte , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109983

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