Die Moral von Weltvergewisserung und Zweckfreiheit bei Bernard Williams


Hausarbeit, 2005

43 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitender Teil
I. a. Einleitung
I. b. Die Wahl zwischen Wahrheitssteigerung oder ihrem Verlust

II Das Verhältnis Williams zu Nietzsche
II. a. Nietzsche als Moral-Komplice in Wahrheitsangelegenheiten
II. b. Naturzustand: Eine kurze Erläuterung zum Naturalismus und zur fiktiven Genealogie
II. c. Nietzsches unbedingter Wille zur Wahrheit

III Die Einheit von rationaler Objektivität und letztbegründender Wahrheitsmoral
III. a. „Wahrheit“ als intrinsischer Wert und antimetaphysische Wahrhaftigkeit
III. b. Überzeugungen und Tatsachen

IV Schlusskapitel

IV. Williams Nietzsche-Interpretation

Literaturliste

I. a. Einleitung

In dieser Hausarbeit versuche ich den Gang von Bernard Williams Untersuchung in den ersten Kapiteln seines Buches „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ nachzuvollziehen. Dabei baue ich auf seine eigenen Äußerungen zur Motivation und Konzeption seines Buches in seinem Einleitungskapitel „Das Problem“ auf und komme zu einem Abgleich zwischen seinem Vorhaben und seinem Vorgehen. Williams zielt darauf ab, den intrinsischen Wert von Wahrheit so einsichtig zu machen, dass er nicht zurückgewiesen werden kann. Im ersten Mittelstück (Teil II) dieser Arbeit befasse ich mich mit den Grundannahmen, von welchen Williams in seiner Untersuchung ausgeht. Er stützt sich dabei auf die Philosophie Nietzsches, welcher die moderne Wende eingeleitet habe. Dementsprechend soll seine Untersuchung zuerst naturalistischen und antimetaphysischen Anforderungen genügen. Ich werde darlegen, mit welcher unreflektierten Radikalität er den Wert der Wahrheit als intrinsischen und höchsten veranschlagt. Im zweiten Mittelstück (Teil III) zeige ich, dass Williams im intrinsischen Wert der Wahrheit das unbestechliche Wahrsein von Tatsachen und die moralische Wahrheitsnorm auf das engste verbindet. Gleichzeitig gehe es ihm als Antimetaphysiker vorrangig um die Betonung von Tatsachen und menschlichen Interessen. Orientiert er seine Untersuchung am Naturalismus, so leitet sich die Stichhaltigkeit seiner Argumente aus funktionalen Zusammenhängen von Begriffen, natürlichen Funktionen der menschlichen Psyche und historischen Fakten ab. Meinem Dafürhalten nach schließen sich die antimetaphysische Sachbezogenheit und die intrinsische Moralität von Wahrheit in Williams Konzeption gegenseitig aus. Sein starker Wahrheitsbegriff von dem nutzenfreien Wert der Wahrheit und dem notwendig bedingungslosen Willen zu ihr gerät in Widerspruch zu der antimetaphysischen Strenge seiner tatsachen- und objektivitätsgläubigen Diesseitsbezogenheit. Ihm unterläuft die Ineinssetzung von wissenschaftlichem Objektivitätsstreben und Wahrhaftigkeit als die unbedingte Sollensnorm einer Moraltugend, wodurch die Grundkonzeption seiner Philosophie paradox wird. Bei meiner Darlegung des übergreifenden Zusammenhangs seiner Ausführungen weise ich direkt auf diese Widersprüche hin. Außer im einleitenden ersten Teil bringe ich oft direkte Kritik an das zuvor Beschriebene an und manchmal entgleitet meine Beschreibung fast schon unwillkürlich ins Ironische.

Auch Williams Nietzsche-Rezeption und der Zugriff auf seine Texte erweist sich als problematisch. Offensichtlich passt er Nietzsches Positionen seinen eigenen an. Er möchte nicht nur die Antimetaphysik und den Naturalismus Nietzsches teilen, sondern ihm auch nachweisen, dass sein erstes Anliegen der unbedingte Wille zur Wahrheit gewesen sei. Obwohl ich mich an dieser Stelle mit Nietzsches Positionen selbst leider nicht eingehend auseinandersetze, widme ich doch große Teile der Arbeit Williams Nietzsche-Interpretation. Teil II dieser Arbeit beschäftigt sich größtenteils mit der Einpassung von Nietzsches Äußerungen in Williams eigene Konzeption. Da Nietzsche auch eine Genealogie der Moral verfasst hat, betrachtet Williams ihn als seinen Vorläufer. Im Schlusskapitel werde ich Nietzsche-Interpretationen von anderen Autoren gegen die von Williams abheben und zwei Nietzsche-Zitate, welche Williams für den Nachweis verwendet, dass Nietzsche der Wahrheit den höchsten Wert beimisst, ihrem groben Sinn nach richtig stellen. Mit grobem Sinn ist der Bedeutungsgehalt gemeint, der sich dem Leser in den Textpassagen aus Nietzsches Werk darbietet, aus welchen Williams zitiert. Gibt Williams mit seinem Wahrheitsbegriff vor, moderne erkenntnistheoretische Probleme zu lösen, so hält er auf eine Weise am Objektivitätsstreben und dem Wahrheitsglauben fest, welche auch vor Nietzsches Philosophie unhaltbar gewesen wäre. Sich auf die moderne Kritik am Objektivitätsstreben und dem Wahrheitsglauben berufend gibt Williams der Notwendigkeit nach, den intrinsischen Wert von Wahrheit mit aller Deutlichkeit herauszustellen. Diese moderne Kritik ignorierend moralisiert er sodann das Objektivitätsstreben und den Wahrheitsglauben. Meines Erachtens fällt er zudem in begriffsontologisches und metaphysisches Denken zurück, indem er das Objektivitätsstreben als moralische Wahrheitsnorm auffasst, und indem er eine große Anzahl Dinge (die sich typischerweise dafür eignen) mit überzeitlicher Wahrheitsgewissheit ausstattet.

I. b. Die Wahl zwischen Wahrheitssteigerung oder ihrem Verlust

Das Anliegen des Buches „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ ist es, den Wert der Wahrheit gegen Anfechtungen der modernen Gegenwartsphilosophie zu bewahren und zu stärken. Bernard Williams handhabt den „Wert der Wahrheit“ als Abkürzung. Keineswegs möchte er die Wertfreiheit des Objektiven (respektive der Wahrheit) in Zweifel ziehen (Williams: „Die Wahrheit als Eigenschaft von Aussagen oder Sätzen gehört nun einmal nicht zu den Dingen, die einen Wert haben können.“, S. 19). Es handelt sich um die Wertschätzung, welche Personen der Wahrheit entgegenbringen. Diese Wertschätzung drückt sich in der Unbeirrbarkeit aus, mit welcher jemand die Wahrheit herauszufinden und zu vertreten sucht. Williams möchte den Glauben stärken, dass es die Wahrheit gibt, welche wenn sie dann erst gefunden ist, dem festen Besitzbestand der unzähligen Alltagswahrheiten einerseits und der darüber hinausgehenden wissenschaftlichen Wahrheiten andererseits hinzuzufügen ist. Er redet auch gerne von (unbestreitbaren) Tatsachen.[1] Besonders die Geisteswissenschaften seien im „Konflikt der beiden Denkströmungen der Moderne“ bedroht.[2] Durch die auf die Wahrheit selbst zielende Verdächtigung gingen Untersuchungsgegenstände, Motivation und Ziel der geisteswissenschaftlichen Tätigkeiten verloren. Ohne Wahrheit würde dem jetzigen Wissensstand der Boden entzogen und die Möglichkeiten neuer Methoden und Ziele von vornherein negiert. „Doch falls die Wahrheit nicht das Ziel unserer Forschung sein kann, dann muß es doch gewiß ehrlicher und wahrhaftiger sein, die Maske fallen zu lassen und sich damit abzufinden, daß ... Wobei die Pünktchen durch eine auf den Gedanken der Wahrheit verzichtende Beschreibung unserer Situation ersetzt werden, z.B. durch die Behauptung, unsere Kämpfe seien rhetorischer Art.“ (Williams, S. 12) Den Konflikt der Moderne beschreibt Williams als Spannungen zwischen den Denkströmungen: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es handelt sich um die zu eruierende Möglichkeit, dass es unwahrhaftig sein könnte, länger am Begriff der Wahrheit festzuhalten. Diese negiert Williams eindeutig. Wahrhaftigkeit könne niemals ohne Eigenschaden den Wahrheitsbegriff unterlaufen. Mit der Frage: „Können die Begriffe ‚Wahrheit’ und ‚Wahrhaftigkeit’ im geistigen Bereich derart stabilisiert werden, daß das, was wir von der Wahrheit und unseren Aussichten sie zu erreichen, sie je zu erreichen, begreifen, mit unserem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit in Einklang gebracht wird?“ erfasst er seiner Überzeugung nach ein Grundproblem der Gegenwartsphilosophie. (Williams, S. 15) Er bemüht sich um die Rettung der professionellen Seriosität der Geisteswissenschaften, welche diese bloß aus den beiden Haupttugenden der Wahrheit: nicht zu lügen und sorgfältig zu verfahren, beziehen könnten. (Vgl. Williams, S. 26) Wer den Wahrheitsglauben verliert, muss auch sein Engagement für die Wahrhaftigkeit und damit seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgeben. Williams weist auf die Rolle von Alltagswahrheiten gegen einen „verstiegenen, philosophischen Skeptizismus“ (Williams, S. 24) hin. Die Anschlussfähigkeit an die Tatsachen des Alltags sei ausschlaggebend für die gesellschaftlich beglaubigte Wissenschaftlichkeit. Geisteswissenschaftliche Ergebnisse dürften nicht in Widerspruch zu Alltagswahrheiten und gesellschaftlich Anerkanntem geraten, ansonsten erwiesen sie sich als unnützlich und führten zur gesellschaftlichen Entfremdung.[3]

Wie ich in Teil III nachweisen werde, wird Wahrheit bei Williams zu dem moralischen Anliegen der Wahrhaftigen. Mit einer auf den Wahrheitsbegriff ausgerichteten Einstellung soll dem Verlust von vielleicht allem vorgebeugt werden.[4] In dem als Wahrhaftigkeit benannten moralischen Handeln werden die als Wahrheiten zu nehmenden Tatsachen nicht nur vorausgesetzt, sondern diese sind allein innerhalb des moralischen Handelns: Wahrhaftigkeit zugänglich. Wahrhaftigkeit wird zu der Bedingung von Wahrheit. „Wahrhaftigkeit impliziert Achtung vor der Wahrheit. Daher besteht eine Verbindung zu beiden Tugenden, die nach meiner in den folgenden Kapiteln dargelegten These die zwei Haupttugenden der Wahrheit darstellen, nämlich Genauigkeit und Aufrichtigkeit: Man tut alles, was man kann, um zu wahren Überzeugungen zu gelangen; und was man sagt, zeigt, was man glaubt.“ (Williams, S. 26) Wer sich leidlich um wahre Überzeugungen bemüht, sie möglichst offenherzig darlegt, unnachgiebig an ihr festhält und sie unermüdlich verbreitet, hat den besten Wahrheitszugang. Intellektuelle beziehen ihre gesellschaftliche Autorität aus ihrer grundsätzlichen Ehrlichkeit. Besonders auf dem Feld geistiger Tatsachen ist ein unbedingter Wille zur Wahrheit vonnöten.

Am Beispiel vieler Zitate aus Nietzsches Schriften führt Williams dem Leser den Vorrang der Wahrheit vor allen Nützlichkeitsabwägungen vor Augen. Nietzsche habe die Wahrheit an sich als einen höheren Wert außerhalb aller weltlichen Verstrickungen anerkannt.[5] „Er war sich darüber im klaren, daß seine eigenen kritischen und entlarvenden Äußerungen ihre Motivation und ihre Wirkung dem Geist der Wahrhaftigkeit verdankten.“ (Williams, S. 35) Nietzsche sei der Begründer und Entdecker moderner Wahrheitsprobleme.[6] Er habe den Gedanken, dass es geistige Wahrheiten tatsächlich gibt, immer verteidigt und wollte bloß alte Illusionen im Bereich des Wahrheitsbegriffes ausräumen. Der mit Nietzsche seinen Anfang nehmende große Konflikt der Moderne werde von zwei Lagern unterhalten, nämlich den Verneinern und den Sprachanalytikern. Williams sagt vom Denkstil der Verneiner, dass er „in überspitzter und herausfordernder oder (wie die Gegner es sagen würden) unverantwortlicher Weise die Möglichkeit von Wahrheit überhaupt bestreitet, ihre Wichtigkeit herunterspielt oder behauptet, jegliche Wahrheit sei ‚relativ’ oder kranke an sonst einem Mangel dieser Art.“ (Williams, S. 16) Die Sprachanalytiker hielten an der Wahrheit als Grundlage, Sprache überhaupt verstehen und erlernen zu können, fest. Williams betont die Notwendigkeit zu differenzieren; man dürfe beispielsweise nicht in der ersten Position einen „kontinentalen“ Stil der Philosophie sehen und in der zweiten einen „analytischen“. (Williams, S. 16) Wegen diesem Differenzierungsvermögen beschreibt Williams auch die zeitgenössische Konfliktlage als ein Aneinandervorbeireden. Das Gros der Sprachanalytiker stünde mit der Rehabilitierung von Alltagswahrheiten zwar auf der richtigen Seite, erfasse dadurch aber nicht die von den Verneinern aufgeworfenen Probleme im Bereich des Wahrheitsbegriffes, welche für das Geistesleben wirklich besorgniserregend seien. Die Verneiner hätten zwar ein Gespür für die Problematik der sich selbst zu mehr Wahrhaftigkeit verhelfenden Wahrhaftigkeit entwickelt, gerieten aber durch die fehlerhafte Lokation ihrer Ahnungen in Verwirrung und ließen sich zu konfusen Folgerungen aus der linguistischen Analyse hinreißen. (Williams, S. 18) Ihr wohlberechtigter Verdacht träfe irrigerweise die Wahrheit selbst. Das Anliegen von Williams ist nun, die Zielgerade dieses Verdachts zu korrigieren und auf die umfassenderen Denkstrukturen zu lenken, in welche die Rolle von Wahrheit eingebettet ist.

Trotz aller Anfälligkeit habe Nietzsche die Sache der Verneiner nie zur eigenen gemacht. „Für die Anliegen der Verneiner war Nietzsche zwar durchaus empfänglich, aber dennoch war er ihr Gegner.“ (Williams, S. 35) Der Wahrheitsbegriff nun ist das ort- und zeitlose Ding, welches keine Geschichte hat. „Eine Sache, auf die ich jedoch nicht eingehen werde, ist die Geschichte des Wahrheitsbegriffs, denn nach meiner Überzeugung gibt es keine solche Geschichte. Der Begriff der Wahrheit selbst – das heißt die ganz grundlegende Rolle, welche die Wahrheit im Verhältnis zu Sprache, Bedeutung und Meinung spielt – wechselt nicht von Kultur zu Kultur, sondern ist immer und überall gleich.“ (Williams, S. 97)

Ganz in der Tradition der Aufklärung stehend möchte Williams den „Wahrheitsbegriff“ auf den richtigen Boden stellen und von allen christlichen und metaphysischen Vorurteilen befreien. Genau in dieser Aufgabe fühlt er sich Nietzsches Philosophie zutiefst verbunden. Auf glaubwürdige und wahrhaftige Weise muss erneut das Elementare aller Wissenschaftlichkeit, die Rolle von Wahrheit, ausgeleuchtet werden, um der unwiderlegten Kritik der Verneiner zu begegnen und ihren Verdächtigungen das Beunruhigende zu nehmen. „Das Mißtrauen im Hinblick auf historische Darstellungen, soziale Repräsentation, Selbsterkenntnis, psychologische und politische Interpretationen – alle diese Verdächtigungen können genauso beunruhigend bleiben, wie es den Ansichten der Verneiner entspräche.“ (Williams, S. 17) Um den Gehalt dieser Kritik und Verdächtigung zu verarbeiten und nicht als belanglose Verirrung zu übergehen, bedarf es nach Williams eines besonders hartnäckigen Nachfragens und einer besonders strengen Untersuchung von „Wahrheit“. Das Ergebnis dieses Fragens und Untersuchens muss mit genau dieser Strenge und Hartnäckigkeit darauf hinauslaufen, dass die Wahrheit mit grundlegender Notwendigkeit ein intrinsischer Wert für alle Gemeinschaften und Gesellschaften ist. Dabei steht die Ausrichtung des Einzelnen auf die Wahrheit im Mittelpunkt. Die individuelle Wahrheitshaltung als Tugend der Aufrichtigkeit und Genauigkeit soll sich in seinem Buch als allgemeingültiger intrinsischer Wert erweisen.

Teil II: Das Verhältnis Williams zu Nietzsche

II. a. Nietzsche als Moral-Komplice in Wahrheitsangelegenheiten

Bei seiner Umwertung aller Werte sei es Nietzsche vorrangig um die Wahrheitswerte gegangen. Nietzsche habe nur die passende Perspektive für die Wahrheit als höchsten Wert gesucht. Seine von ihm oft angeführte Redlichkeit sei so zu interpretieren, dass alle bisherigen Philosophien sich nicht radikal genug von allem Nützlichen und Lebenswichtigen in Hinwendung zur Wahrheit abgetrennt hätten. „Er wollte erkennen, inwieweit sich die Werte der Wahrheit umwerten ließen und wie es möglich wäre, sie aus einer Perspektive zu verstehen, die grundverschieden ist von der platonischen und christlichen Metaphysik, die ihr bisher als wichtigste Quelle gedient hatten.“ (Williams, S. 35) Williams versteht sein „Buch als Beitrag zu diesem Projekt“ Und auch seine genealogische Methode versteht er als Abkömmling von Nietzsches Genealogie.

Er beruft sich auf die enge Verbindung von Wahrheit und Moral, wie Nietzsche sie herausgestellt und als moderne Frömmigkeit eingefordert habe. Der Wahrheitsbegriff stünde seit urchristlicher Zeit auf moralischem Boden. Dazu zitiert er § 344 aus „Die fröhliche Wissenschaft“ mit der sofort einleuchtenden Überschrift „Inwiefern auch wir noch fromm sind“. (siehe Williams, S. 30) Demnach begründe sich der unbedingte Wille zur Wahrheit aus ihrer Göttlichkeit, denn selbst „wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker,“ nähmen „ unser Feuer noch von dem Brande (.), den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist...“ (Nietzsche II, S. 208) Mit diesen von Williams zitierten Überlegungen von der Göttlichkeit der Wahrheit habe Nietzsche erfolgreich den „ unbedingten Wert der Wahrheit“ gestützt, indem er sie weitab von jeglichem Nützlichkeitskalkül verortete.[7] Dass es sich bei der göttlichen Wahrheit Nietzsche zufolge um den Glauben Platos an eine andere Welt als die diesseitige handelt, in dem das Diesseitige abgewertet wird, trübt in Williams Sinn die Erhellung über den wahren Wert der Wahrheit nicht im geringsten, wenn man nur tapfer sich aller metaphysischen Anwandlungen erwehrt.[8]

Wie sehr der Erfolg zu wahren Überzeugungen zu gelangen von der charakterlichen Aufrichtigkeit abhinge und wie hoch der weltliche Preis dafür sei, hat Williams uns schon im Fall von Camus und Sartre gezeigt. (Williams, S. 27) Und so versteht man einmal mehr, wie sehr die nackte Wahrheit und ein unversehrter Charakter doch zusammengehören. Die intrinsische Moralität von Wahrheit habe nie ihrer göttlichen Tatsächlichkeit etwas anhaben können. Die Welt ist wie sie ist unabhängig von unserer Sinnesart und unseren Kategorien; ein Hund sei ein Hund und kein Wort (Williams, S. 18), denn eine andere Welt als die unserer Sinne und unserer Kategorien für tatsächlich zu halten wäre allzu metaphysisch. Nicht dass unsere Kategorien und unsere Sinne gottgegeben wären, sondern nur Tatsachen sind unumstößlich und unbestreitbar. Und um zu wahren Tatsachen vorzudringen, bedarf es daher einer sehr strengen Wahrheitsmoral. Um diese Strenge sei es Nietzsche in seinem Aphorismus: „Über das, was ‚Wahrhaftigkeit’ ist, war vielleicht noch niemand wahrhaftig genug“ (Jenseits von Gut und Böse § 177, Nietzsche II, S. 640) gegangen.[9] Williams interpretiert so den „Willen zur Macht”, welchen Nietzsche als ersten Lebenstrieb noch vor der Selbsterhaltung setzt, als ein „mit aller Macht zur Wahrheit Wollen“.

Wie Nietzsche so zählt sich auch Williams zu den Anti-Metaphysikern. Die immer und überall gleiche Rolle der Wahrheit dürfe eben weder in religiösen noch in philosophisch begrifflich abstrakten Denkstrukturen ausgeführt werden. Williams stellt Natur, Tatsächlichkeit und Wahrheit auf eine Seite. Der diesseitsorientierte Tatsachen-Sinn soll über die Annahme von abstrakt-begrifflichen Wesenheiten (Metaphysik) hinweghelfen. Alltagstatsachen und naturwissenschaftliche Erklärungen müssten die unumschränkte Anerkennung erfahren, welche der Wahrheit nun einmal zukäme. Er bekennt sich zum Naturalismus und stellt sich auf den Standpunkt, dass Nietzsche auch Naturalist gewesen sein müsse.[10] Alle kausalen und funktionalen Beziehungen zwischen Naturphänomenen sind in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen und damit in ihrer Wahrheit. Die Welt bestünde aus Fakten und Gesetzen, wobei letztere natürlich wahrheitslastiger seien.

Dass Williams zumindest Naturgesetze der Wahrheitssphäre zuordnet, lässt sich dem 4. Unterkapitel „Wie können Fiktionen von Nutzen sein?“ entnehmen. In der Begründung seiner fiktiven Genealogie stellt sich heraus, dass Williams die Erklärungskraft von Genealogien an ihrem Gehalt von dargebotenen Fakten und aufgezeigten Gesetzes-Beziehungen misst und dass die Akzeptanz einer Genealogie durch falsche ‚gesetzartige’ Aussagen eher gefährdet ist als durch falsche Antezedens-Bedingungen (Fakten-Mangel). „Imaginäre Genealogien weisen zumindest Fakten-Mangel auf. Doch wann schlägt Fakten-Mangel in etwas Extremeres um? Bei potentiellen Erklärungen im Bereich der Naturwissenschaften könnte man vielleicht die (freilich optimistische) Hoffnung hegen, durch Bezugnahme auf die Naturgesetze könne es gelingen, eine Unterscheidung dingfest zu machen, mit deren Hilfe sich der bloße Fakten-Mangel von etwas Extremerem – nämlich dem Gesetz-Mangel – abheben ließe.“ (Williams, S. 55)

Neben Naturgesetzen stehen nach Williams vor allen Dingen elementare funktionale Zusammenhänge außerhalb aller Zeitlichkeit. Wie im vorigen Kapitel schon gesagt beansprucht auch der Wahrheitsbegriff zeitlose Gültigkeit. An sich inhaltsleer ließe sich „Wahrheit“ im Zusammenspiel von Überzeugung, Behauptung und Wissen darstellen. Als funktionale Rolle in diesem Feld sei der Wahrheitsbegriff aller metaphysischen und ontologischen Hypostasierungen überhoben. Die Begriffe ‚Überzeugung’, ‚Behauptung’ und ‚Wissen’ sind ebenfalls als überzeitliche und allgemeinmenschliche Entitäten vorauszusetzen. Die jeweiligen Tatsachen (Wahrheiten) stehen für sich und lassen sich weder auf ihre Wahrheit noch auf ihre Tatsächlichkeit durch ein übergeordnetes Konstrukt (so zum Beispiel die Sprache) prüfend bestätigen. „Es gibt keine Analyse des Tatsachenbegriffs, die für diesen Zweck allgemein genug ist und zugleich mehr leistet, als den Inhalt der Sätze, deren Wahrheitsbedingung dadurch geklärt werden soll, in trivialer Form zu wiederholen“ (Williams, S. 101) Als Eigenschaft komme die Wahrheit den Tatsachen zu. Das bedeutet nach Williams vor allem, dass Wahrheit als intrinsischer Wert aufgefasst werden kann und all jene dies tun, welche ohne Vorteilserwägungen sich allein um ihretwillen um sie bemühen. Unter der Voraussetzung, in der jeweiligen Situation erneut sehen sie müssen, welche relevanten Tatsachen für wahr zu halten sind, behandelt Williams diese „Wahrheit“ als feste Größe im überzeitlichen Rollensystem von „Überzeugung“, „Behauptung“ und „Wissen“.

Nietzsche hat hingegen die Historizität selbst von Moral und Wahrheit thematisiert. Auch Williams beklagt sich über die Historievergessenheit vieler Philosophen und schreibt deswegen eine fiktive Genealogie zur Erhellung allgemeinmenschlicher und überzeitlicher Funktionen der Wahrhaftigkeit. Williams möchte seine rigorosen und einfachen Grundanschauungen als unerschütterlich aller Zeitlichkeit entzogen wissen. Weigert er sich, den einzigen Baum, der (sie) zu tragen vermag, zu Staub zu zerhacken, wie die Verneiner es täten, so lässt er diesen Baum im Laufe seiner Untersuchung immer weiter in den Himmel wachsen.[11] Man erhält den Eindruck, dass „Wahrheiten“ relativ leicht zu erringende Güter seien, welche allerdings wegen ihrer Gebrechlichkeit und Anfälligkeit mit umso größerer Moralität gegen die Wahrheitsfeinde verteidigt werden müssten. Dementsprechend stellt es für Williams in erster Linie eine Schwierigkeit dar, dass in Nietzsches Genealogie jegliche Moralanschauung in ihrer historischen Bedingtheit und Endlichkeit aufgezeigt wird. Nicht nur die Wahrheit als intrinsischer Wert stellt sich unwillkürlich auf den Boden der Ewigkeit, sondern auch Nietzsches Analyse der Moral als hypokritisches Instrumentarium, so dass letztendlich die Verhandlung zwischen hohen und niedrigen Werten unausweichlich bleibt. Maßstab sei die individuelle Psyche (ebenfalls eine zeitlose Naturentität), auf welche die historisch kontingente Ausbildung eines Moralsystems bezogen werden müsse.

II. b. Naturzustand: Eine kurze Erläuterung zum Naturalismus und zur fiktiven Genealogie

Williams fiktive „Genealogie ist dazu gedacht, den Zielen des Naturalismus zu dienen. (Und so wurde sie auch von Nietzsche verstanden, der den Ausdruck ‚Genealogie’ als erster in diesem Sinn angewendet hat)“ (Williams, S. 41). Auch in Sachen Ethik erwiese sich der Mensch als „Teil der Natur“. Wenn nur der Begriff Natur ausreichende Stabilität gewönne, dann wäre auch klar, was „Teil der Natur“ bedeute. Natur umfasst im Prinzip alles, nämlich das Leblose und das Lebendige. Da die Biochemie es inzwischen zuwege gebracht habe, den Übergang zwischen bloßer Stofflichkeit zur Pflanze nachzuvollziehen, könne Lebloses und Lebendiges zusammen in einer bruchlosen Kohärenz verstanden werden. Daher setzt Williams die Anschlussfähigkeit und problemlose Integrierbarkeit aller Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften voraus und vertraut auf eine universale Wahrheitsausrichtung des Geistes und die nicht abgesprochene Stimmigkeit aller wissenschaftlicher Aussagen mit seinen eigenen Denkschritten und -ergebnissen. Nur der physikalische Reduktionismus, welcher mit Hilfe der Biochemie das Denken wie auch das Verhalten erklären möchte, sei wegen Unplausibilität aus allen ethischen Forschungen auszuschließen. Williams setzt seinerseits bei dem kulturellen Aspekt der „menschlichen Natur“ an, welcher sich aus der nichtgenetischen Lernfähigkeit herleitet. Beim Naturalismus käme es vor allem darauf an, alles als Naturerscheinung aufzufassen, und zwar dadurch, dass das jeweilige Ding in eine kohärente Beziehung zu dem Rest der Natur zu setzen ist. Um die Diesseitsorientierung und den Tatsachensinn zu bekräftigen, dient der so aufgefasste Naturalismus als Beigabe von gerade passenden Naturentitäten und gesetzesartigen Beziehungen zwischen ihnen. Damit wird die Etikettierung (nicht nur) von Tatsachen mit „auf ewig wahr“ gewährleistet. Auf naturalistischem Boden käme es darauf an, das der Ethik zugrundeliegende Phänomen ausfindig zu machen und in eine kohärente Beziehung zur „übrigen Natur“ – hier den anderen Aspekten der menschlichen Psyche - zu setzen. Mit seinem eben erwähnten Ansatz des kulturellen Aspekts der „menschlichen Natur“ bzw. der Psyche hat Williams seines Erachtens eine zutreffende Bestimmung des Phänomens „Ethik“ gefunden. Seine fiktive Genealogie soll auf dem Gebiet der Ethik elementare funktionale Zusammenhänge einer Gesellschaft und grundlegende Besonderheiten der menschlichen Psyche erklären.

In seiner fiktiven Genealogie bezeichnet Williams eine fingierte Urgesellschaft als Naturzustand. Dabei geht es nicht darum, die Urzeit zu erforschen. Durch Vereinfachung und Abstraktion soll die grundfunktionale Urgesellschaft, welche jeder menschlichen Gesellschaft zugrunde liegt, sichtbar werden. Williams kommt auf die arbeitsteilige Gesellschaft zurück, anhand derer sich die Auswirkungen elementarer, menschlicher Bedürfnisse und Grenzen zeigen ließen. Aus diesen elementaren, funktionalen Zusammenhängen sollen sich die grundlegenden Ansätze der beiden Wahrheitstugenden erklären. „Die Geschichte vom Naturzustand ist eine Erdichtung, eine imaginäre Genealogie, die abstrakt argumentierend von einigen ganz allgemeinen und nach meinem Dafürhalten unbezweifelbaren Annahmen über menschliche Kräfte und Grenzen ausgeht.“ (Williams, S. 66) Im Naturzustand abstrahiert Williams von der spezifisch-historischen Ausformung eines Wertesystems. Damit treibt er nach seinem eigenen Ermessen den Abstraktionsgrad so hoch, dass der abstrakte Rest von der menschlichen Gesellschaft als Realität undenkbar ist. Der Naturzustand ist die Fiktion, welche realiter nicht existieren kann. Damit lassen sich die Tendenzen der menschlichen Psyche zu so etwas wie Aufrichtigkeit und Genauigkeit in ihrer irreduziblen Funktion aufweisen. Außerdem wird von der reflexiven Entscheidungsfähigkeit zu Werten wie Aufrichtigkeit und Genauigkeit abstrahiert. Die sachlichen Gründe und unwillkürlichen Motive für diese Werte sollen gerade offengelegt werden, während genau diese in reflexiven Entscheidungen der fingierten Personen vorweggenommen würden.[12] Nach Williams kommt keine reale Gesellschaft ohne den intrinsischen Wert von Wahrhaftigkeit aus. „Was braucht diese Gemeinschaft, um zu funktionieren? Diese Probleme stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem bereits genannten Sachverhalt, daß der Naturzustand selbst der Zustand einer Gesellschaft sein soll, während keine Gesellschaft (wie ich geltend machen werde) mit einer rein instrumentellen Auffassung der Werte der Wahrheit auskommen kann.“ (Williams, S. 94) In seiner Geschichte vom Naturzustand erweist sich lediglich die funktionale Rolle des Werts von Wahrheit, bzw. ihr instrumenteller Nutzen. Zwar „[bietet] die fiktive Genealogie – die Geschichte vom Naturzustand – eine Erklärung der elementaren Grundlage der Wahrhaftigkeit (*), insbesondere der von mir als solche gekennzeichneten beiden ‚Tugenden der Wahrheit’“ (Vgl. Williams, S. 40), in ihr wird aber zusammen mit den historischen Fakten gerade vom intrinsischen Wert der Wahrheit abstrahiert. Nur in seiner jeweiligen historisch-spezifischen Ausformung kann der intrinsische Wert von Wahrheit erkannt werden. Die Tugenden der Wahrhaftigkeit sind demnach im Allgemeinen in ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit unentbehrlich und nicht hintergehbar. Nach Williams müsse sich aber der intrinsische Wert von Wahrheit, welcher über allem gesellschaftlichen Nutzen stehe, zeigen.

Das Ergebnis der Geschichte vom Naturzustand lässt sich wie folgt zusammenfassen. Durch Abstraktion von realmenschlichen und -historischen Besonderheiten eröffneten sich unerwartete Einblicke in die Funktionalität des Wertes von Wahrheit. Natürlicherweise sei in der arbeitsteiligen Gesellschaft im Naturzustand ein gemeinsamer Informationsstand eingerichtet und würde immer auf dem Laufenden gehalten. Dieser Umstand fördere die Ansätze zu den Wahrheitstugenden: Aufrichtigkeit und Genauigkeit. Als notwendige Erfordernisse bildeten sich die zwei entsprechenden Gruppen von Neigungen heraus. „Unter die eine Rubrik fällt ihre Neigung, zunächst zu einer richtigen Meinung zu gelangen und diese Meinung sodann in zuverlässiger Form dem gemeinsamen Bestand zuzuführen.“ (Williams, S. 73) Die zweite Gruppe von Neigungen entstünde in der Überwindung von Gegenmotiven, so dass die Gelegenheiten zur Täuschung und Geheimhaltung vor der Gemeinschaft trotz des individuellen ausstehenden Vorteils ausgeschlagen würde. „Diese zweite Gruppe von Neigungen umfaßt vor allem Motive dafür, daß man – wenn man jemandem etwas mitteilen will und die Umstände gerade richtig sind – das sagt, was man wirklich glaubt.“ (Williams, S. 73)

Auf diesen Neigungen aufbauend und auf seiner oben beschriebenen Auffassung von Wahrheit, welche als Platzhalter nicht zurückweisbarer Tatsachen fungiert, beschreibt Williams im vierten Kapitel dann die Rolle der Wahrheit im Verhältnis zu „Überzeugung“, „Behauptung“ und „Wissen“. Erst im fünften Kapitel erweist er den moralischen Wert zunächst von Aufrichtigkeit. Im historisch-kontingenten Wertesystem lässt sich der Wahrheit ein intrinsischer Wert zuschreiben.[13] Durch Bezugnahme auf andere intrinsische Werte wie Vertrauenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft, je nach spezifischem Werteverband, könne der intrinsische Wert von Wahrheit beschrieben werden, ohne dass er auf Nützlichkeits- und Zweckmäßigkeitsgründe zurückfiele. Der selbst als (pragmatische) Begründung allem zugrundegelegte intrinsische Wert der Wahrheit werde auf diese Weise doch erfasst, ohne ihn selbst mit noch tiefer liegenden besseren Gründen zu relativieren.

II. c. Nietzsches unbedingter Wille zur Wahrheit

Auch wenn Williams sagt, dass Wahrheitsstreben eventuell nicht direkt zu nützlichen Konsequenzen führt, so vertritt er die Meinung, dass auf lange Sicht die Unbeirrbarkeit der Wahrheitssuche sich als gewinnbringender erweist. „Der Grund, weshalb sich aus dem beharrlichen Verlangen der Menschen, ihre Überzeugungen sollten wahr sein, nützliche Konsequenzen ergeben haben, hat oftmals darin gelegen, daß sich ihr Begehren nicht auf diese Konsequenzen richtete, sondern auf die Wahrheit – daß es nicht gewinnorientiert, sondern unbeirrt war.“ (Williams, S. 94) Aber auch die Nützlichkeit im Interesse der Gemeinschaft kann nicht als wirklich intrinsischer Wert interpretiert werden. Eine gesetzte, nicht hintergehbare Handlungsnorm (wie der intrinsische Wert von Wahrhaftigkeit), welche als Motiv bloß aus sich selbst begründet ist, darf auch nicht in der Konsequenz unabhängig vom normativ Handelnden nützlich und instrumentell verwertbar etwa für die menschliche Gemeinschaft oder für die Umwelt sein, sonst ist sie doch nicht intrinsisch. Der intrinsische Wert der Wahrheit wird eben hier nicht als moralisches Motiv diskutiert, das heißt als Zurückstehen in eigenen Belangen zugunsten anderer, sondern als etwas gesamtgesellschaftlich Existentielles, dem ein über den instrumentellen Nutzen für die ganze Gesellschaft hinausgehender Wert zugeschrieben werden müsse. Williams meint mit Nietzsche den Willen zur Wahrheit in seiner Unbedingtheit zu teilen:

„Der ‚unbedingte Wille zur Wahrheit’ bedeutet nicht, daß wir jede beliebige Wahrheit glauben wollen. Er bedeutet, daß wir verstehen wollen, wer wir sind; daß wir Selbsttäuschung vermeiden und bequeme Falschheiten überwinden wollen. Der Wert der so aufgefaßten Wahrhaftigkeit kann nicht bloß in ihren Konsequenzen liegen. Diverse Überzeugungen können für unser Leben nötig sein, aber das zeigt nicht, daß sie wahr sind: ‚Das Leben kein Argument’ (Die fröhliche Wissenschaft, § 121)“, (Williams, S. 31/ Nietzsche II, S. 124).

Dem an dieser Stelle herausgearbeiteten Wahrheitsethos nach soll sich möglichst radikal die Unabhängigkeit des Erkennens von allen Nützlichkeitserwägungen durchsetzen. Dennoch weist Williams immer wieder auf den im weitesten Sinn größten Nutzen des Wahrheitsstrebens hin und spricht von einem drohenden Verlust, falls „Wahrheit“ missachtet würde. Aus ethischen Reinheitsgründen darf es sich bei diesem Verlust aber nicht um Schäden irgendwelcher Art, welche durch Dummheit und Ignoranz entstanden sein könnten, handeln. Bei der Auslegung eines von ihm angeführten Nietzsche-Zitates erweist es sich als folgenschwer, dass der „intrinsische Wert der Wahrhaftigkeit“ in keiner Weise als moralische Norm gegenüber anderen Menschen bzw. als verhaltensregulierender Wert im zwischenmenschlichen Bereich aufgefasst werden soll:

„Schon in Menschliches, Allzumenschliches [Bd. 1, § 517, Nietzsche I, S. 698] hatte Nietzsche die Bemerkung niedergeschrieben: ‚ Grundeinsicht. – Es gibt keine prästabilierte Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit.’ Wenn er die historische oder sogar fortwährende Bedeutung verschiedener Irrtümer betont, welche die Gedanken der Menschen gelenkt und für geistige Sicherheit gesorgt haben, streicht er den Gegensatz zwischen ihnen und der Wahrheit heraus und fragt sich, was bei einem Kampf zwischen ihnen und zunehmendem Wahrheitsbewußtsein herauskommen wird: ‚Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung?’ Während er an den Werten der Wahrhaftigkeit festhält, sagt er ganz deutlich, daß die Wahrheit womöglich nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich ist.“ (Williams, S. 31)

Daran könne man erkennen, in welchem allumfassenden Sinn Nietzsche der Wahrheit verpflichtet gewesen sei. Wahrheitsmoral verlange nun einmal auch den Willen zur Verneinung, nicht nur zur Selbstverneinung, sondern gegebenenfalls auch der Verneinung der ganzen Menschheit, denn unser unbedingter Wille zur Wahrheit ist unser erstes und letztes Bedürfnis. Schließlich wollte wohl niemand in einer Welt leben, welche nicht fundamental auf der Wahrheit ruhte. Einerseits sei der intrinsische Wert der Wahrheit über alle Interessen und alle Verantwortlichkeiten erhaben und andererseits könne dieser intrinsische Wert als sachliche Besonnenheit über sich selbst und die eigene Lage niemals in Konflikt mit intrinsischen Werten anderer Art gelangen. Wahrheitsstreben jeglicher Art stimmt immer mit dem Prozess überein, in dem jemand das relevante Wissen über die eigene Situation in Erfahrung bringt. Williams münzt die Schädlichkeit von Wahrheit immer in den Schmerz, seiner Illusionen beraubt zu sein, und in den Verlust angenehmer Selbsttäuschungen um und setzt dann eben doch den im weitesten Sinn größten Nutzen des Wahrheitsgutes voraus.

„Nach wie vor werden komplexe Debatten geführt, was Nietzsche eigentlich unter Wahrheit verstanden habe. Ganz bestimmt war er nicht der pragmatisch geprägten Ansicht, Überzeugungen seien dann wahr, wenn sie unseren Interessen oder unserem Wohlergehen dienen. Daß er diesen Gedanken wiederholt ablehnt haben wir eben erst gesehen.“ (Williams, S. 32) Hier lässt sich gar nicht mehr auseinanderhalten, ob die Pragmatisten für liebgewonnene Ansichten (Überzeugungen) jede noch so frappierende Konsequenz in Kauf nehmen, oder ob sie zweckrationalistisch nur die Dinge in Augenschein nehmen, welche für die eigenen oder gemeinschaftlichen Belange von Interesse sind. Williams Subtext lautet: Wer sich nicht auf einer gänzlich sinn- und zweckfreien Suche nach hohen Wahrheiten befindet, der lässt sich auch nicht durch ernüchternde Resultate, unübersehbare Hinweise und einschneidende Folgewirkungen von seinen favorisierten Überzeugungen (bequemen Illusionen) abbringen. Mit seiner Forderung, Wahrheit als intrinsischen Wert anzuerkennen, geht er genau von der prästabilierten Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit aus und spielt das Wohl der ganzen Menschheit einfach als kurzfristigen Augenblicksvorteil herunter.

Von der Wahrheit nichts wissen zu wollen legt Williams als Realitätsverweigerung aus. Die Unfähigkeit oder der Unwille, sich einer Situation zu stellen, setzt aber schon voraus, dass der Verweigerer von vornherein in einer bestimmten Beziehung zu dem, was er ignoriert oder verfälscht, steht. Nur wenn er durch Ignoranz oder Verfälschung die Einsicht in das erforderliche Handeln und Verhalten verfehlt, wenn er den Anforderungen seiner Lebenssituation nicht gerecht wird, dann kann von Realitätsverweigerung gesprochen werden. Das Unnützliche der Wahrheit sucht Williams niemals in ihrer beschwerenden Überflüssigkeit oder in den möglichen Folgewirkungen ihrer Erforschung. Dabei kann ein rigoroser Wahrheitswille beträchtlichen Schaden anrichten und mit bestimmten Tugenden ganz unvereinbar sein. In seinem Bemühen Wahrheit in ihrem intrinsischen Wert darzustellen, legt Williams das Unnützliche und Schädliche von Wahrheit pauschal als den hohen Preis aus, den zu zahlen es sich in jedem Fall lohnen würde. Es ist aber sehr zweifelhaft, dass Nietzsche mit Schädlichkeit der Wahrheit bloß Verluste meint, welche das große Gut der Wahrheit doch nicht aufwiegen können. Nietzsche stellt in den von Williams genannten Textstellen die Entschlossenheit, die „Wahrheit“ herauszufinden, hinsichtlich des „Wozu“ des Lebens als voreilig und zweifelhaft hin. Umgekehrt spricht Nietzsche vom möglichen Nutzen sogar der Selbsttäuschung und vom möglichen Wert der Illusion.

III Die Einheit von rationaler Objektivität und letztbegründender Wahrheitsmoral

III. a. „Wahrheit“ als intrinsischer Wert und antimetaphysische Wahrhaftigkeit

Williams Naturalismus weist noch in eine andere antimetaphysische Stoßrichtung. Er räumt ein, dass Erkenntnisse und ihre Einschätzung von der Wahrnehmung und der Haltung des Erkennenden nicht unabhängig sein können. Das „Wahre“ und „Gute“ dürfe nicht in den Menschen übersteigenden Sphären angeordnet werden, wie etwa bei Platon: „Platons Darstellung der Idee des Guten im Staat sieht tatsächlich so aus wie das Paradebeispiel einer metaphysischen Erklärung, von der die Gegenstände unserer Erkenntnis und deren Wert als etwas hingestellt werden, was unseren Gedanken oder Einstellungen völlig unabhängig ist.“ (Williams, S. 97) Damit rechtfertigt er, dass es bei seiner Verteidigung des unbedingten Willens zur Wahrheit weniger um Erkenntnisgegenstände und mehr um die menschliche Einstellung zur Wahrheit geht. Er rechnet seiner antimetaphysischen und naturalistischen Haltung an, dass er vornehmlich menschliche Eigenschaften in Bezug auf Wahrheit untersucht.

„Man hat in dieser Beziehung vom Wert der Wahrheit gesprochen – ist es das, was den Kritikern dabei vorschwebt? Haben wir recht, wenn wir nur bestimmte menschliche Einstellungen zur Wahrheit betrachten, etwa den Hang der Menschen die Wahrheit herauszufinden und zum Ausdruck zu bringen. Meine Antwort lautet – ja, es ist richtig, ausschließlich menschliche Einstellungen zu berücksichtigen. Es gehört zur naturalistischen Haltung dieser Untersuchung, daß sie als Versuch der Selbstverständigung des Menschen gesehen werden soll.“ (Williams, S. 96)

Auf dieser Argumentation ruht die Konzeption seiner Untersuchung, insoweit dass die Wahrheitstugenden tatsächlich im Mittelpunkt stehen. Er widmet der Aufrichtigkeit, wie der Genauigkeit extra ein Kapitel. Und die allgemeinmenschliche Anlage zu diesen beiden Wahrheitstugenden zeichnet er in seiner fiktiven Genealogie nach. Nach einer Erläuterung, wie durch die Abhandlung der Wahrheitstugenden die von Williams beschriebenen „modernen“ Probleme um den Wahrheitsbegriff gelöst werden sollen, sucht man vergebens. Williams versucht den intrinsischen Wert von „Wahrheit“ in Form eines Tugendappells zu begründen. Der Leser soll im Laufe der Untersuchung Einsicht in den Wert der Wahrheit bekommen und aufgrund dessen selbst besonders aufrichtig und genau werden.[14] Der Begriff „Wert der Wahrheit“ wird im emphatischen Sinn gebraucht und seine Bedeutung schillert in seinen unterschiedlichen Anwendungen. Vom normativen Wert, wie er sich einerseits in den Wahrheitstugenden „Aufrichtigkeit“ und „Genauigkeit“ und andererseits in der Haltung zur „Wahrheit“ ausdrückt, zum Wert der „Wahrheit“ als höchstes begehrenswertes Gut bedient sich Williams jeder passenden Bedeutungsnuance. Bezog sich Williams zur Erklärung der „modernen“ Probleme auf „Wahrheit“ als schwer und doch mit allen Mitteln zu erringendes Gut, so liegt der Bedeutungsschwerpunkt mit dieser Begründung auf der Moralnorm: Wahrhaftigkeit. Der Wert, welcher in einer philosophischen Auseinandersetzung zuerteilt und doch als vorhanden aufgefunden werden soll, bezieht sich auf die beiden Wahrheitstugenden. Dies entspricht seiner Definition von „Wert der Wahrheit“ wie er sie in seinem Einleitungskapitel gibt:

„Die Formulierung ‚der Wert der Wahrheit’ sollte als Abkürzung für den Wert verschiedener Zustände und Tätigkeiten aufgefaßt werden, die man mit der Wahrheit in Verbindung bringt. Ein großer Teil der Erörterungen wird sich auf den Wert der sogenannten ‚Tugenden der Wahrheit’ richten. Das sind Eigenschaften von Personen, und diese Eigenschaften äußern sich, wenn man den Wunsch hat, die Wahrheit zu erkennen, sie ausfindig zu machen und sie anderen Menschen mitzuteilen.“ (Williams, S. 19)

Mit dieser Definition umgeht Williams das Problem der objektiven Wertfreiheit. Die Wahrheit selbst soll unabhängig von jeglichen Wertsystemen für sich stehen, deshalb darf in ihr nicht der höchste Wert gesehen werden.

„Ganz streng genommen, ist es sicher eine Kategorienverwechslung, wenn man vom ‚Wert der Wahrheit’ spricht, denn die Wahrheit als Eigenschaft von Aussagen und Sätzen gehört nun einmal nicht zu den Dingen, die einen Wert haben können. (...) Die Verneiner hingegen behaupten, in diesem tieferen Sinn gebe es keinen Wert der Wahrheit: Nach ihrer Überzeugung darf der Wert dieser Zustände und Tätigkeiten, sofern sie überhaupt einen haben, nicht durch Bezugnahme auf die Wahrheit erklärt werden; und genau dies ist die These, die ich ablehne.“ (Williams, S. 19/ 20)

Wenige Zeilen später lässt Williams schon erkennen, dass der Wert der auf Wahrheiten bezogenen Zustände und Tätigkeiten, sich von der Wahrheit, sprich von wahren Überzeugungen herleitet. Er wirft den Verneinern vor, dass sie glauben, wahre Überzeugungen hätten höchstens einen pragmatischen Wert. Von Nietzsche sagt er, „letztlich verteidigt er nicht nur den Gedanken, dass es einige Wahrheiten gibt, sondern allem Anschein nach glaubt er auch einige Wahrheiten geäußert zu haben.“ (Williams, S. 36)

Da Williams nach scheinbar „einen Wert darstellen bzw. haben“ untrennbar mit „einen Wert zumessen bzw. beilegen“ verbunden ist, verschiebt sich dieser kurzerhand von der Wahrheit auf die Eigenschaften derjenigen, die in der Wahrheit den höchsten Wert sehen. So lässt sich die Weltsicht nach Maßgabe wahrheitserzeugender Werte am besten durch wertfreie Objektivität begründen. Am Ende seines zweiten Kapitels vertieft Williams mit dem schon angeführten Argument diese Begründung. Die wahrheitserzeugenden Werte seien besonders dann antimetaphysischer und naturalistischer Natur, wenn die (wertfreie) Objektivität in Bezug auf Wahrheit als nicht menschliches Interesse/ Anliegen möglichst ausgeblendet wird und die Tugendeigenschaften (wahrheitserzeugende Werte) als das menschliche Interesse/ Anliegen zur Hauptsache avancieren.

Ich werde folgendes darlegen: Erstens Williams hält sich selbst nicht an seine Definition vom „Wert der Wahrheit“ und diese ist auch unvereinbar mit seiner Schilderung der „modernen“ Wahrheitsprobleme. Sein Vorhaben, die Wahrheitstugenden als intrinsischen Wert aufzuzeigen, knüpft in keiner Weise an sein Konzept an, die Spannungen zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu lösen. Zudem garantiert er die Wertfreiheit von Wahrheit, indem er sie in metaphysische Sphären entrückt. Zweitens seine Argumentation, dass menschliche Eigenschaften in Bezug auf die Wahrheit eher im menschlichen Interesse als tatsächliche Sachverhalte lägen und er daher hauptsächlich den intrinsischen Wert dieser Tugendeigenschaften nachweisen müsse, ist nicht nachvollziehbar.

Zu Punkt eins:

Im „Wert der Wahrheit“ sind die beiden Bedeutungsvariationen „der Wert, welcher der tatsächlichen Wahrheit zukommt bzw. beigemessen werden kann/ die Wertschätzung von offengelegten Sachverhalten“ und „ der normative Wert der Wahrheitstugenden: Aufrichtigkeit und Genauigkeit“ vereinigt. Das ist sehr irreführend. Weder vor noch nach seiner Begründung, den normativen Wert von Wahrhaftigkeit in den Mittelpunkt seiner Untersuchung zu stellen, rückt Williams davon ab, „Wert der Wahrheit“ im Sinn von „Wertschätzung wahrer Überzeugungen“ zu gebrauchen. In dem ersten Kapitel, in dem Williams aus seiner Sicht das „moderne“ Problem schildert, begründet er auch sein Vorhaben, dem Zweifel an der Wahrheit als ein begehrenswertes Gut und richtungsweisendes Ziel den Boden zu entziehen. Wie oben beschrieben geht Williams davon aus, dass Wahrhaftigkeit ohne den Glauben, eine Wahrheit suchen und finden zu müssen, widersinnig ist und verweist auf die unzähligen alltäglichen Tatsachen und die Nützlichkeit naturwissenschaftlicher Erklärungen, welche zwangsläufig für wahr gehalten werden müssen. In einem Selbstverständigungsprozess, welcher von vornherein auf menschliche Eigenschaften sprich das Wahrhaftigsein beschränkt ist, kann er kaum diesen Wahrheitsglauben in seiner grundsätzlichen Unentbehrlichkeit herausstellen. Nicht umsonst hebt Williams den hohen Wert der Wahrheit hervor, durch welchen das Handeln sich auf die tatsächliche Wahrheit ausrichtet. Ihm geht es um die Ausrichtung auf etwas Tatsächliches und Unumstößliches; ein redliches Verhalten ohne Wahrheit kann es nach Williams nicht geben. In seinem Buch soll gegen die Verneiner dargelegt werden, dass der Bezug auf tatsächliche Wahrheit sich nicht von Wahrhaftigkeit als Charaktereigenschaft überflügeln lässt. Dieses konzeptionelle Vorhaben lässt sich nicht damit vereinbaren, dass Williams aus antimetaphysischen Gründen und im Sinn des menschlichen Interesses seine Untersuchung auf die Tugendeigenschaften der Wahrhaftigkeit beschränkt, während er den Objektivitäts- und Tatsachenbezug fortan für irrtümlich und irrelevant hält.

Seine Fokussierung auf den intrinsischen Wert von Tugenden hält ihn nicht davon ab, weiterhin vom „Wert der Wahrheit“ im Sinne der Auslegung, dass dem Gut „Wahrheit“ ein hoher Wert zuzuschreiben sei, zu sprechen. Seine Rechtfertigung, sich vorzugsweise mit den Wahrheitstugenden zu beschäftigen, beruht auch auf der Ineinssetzung beider Auslegungen von „Wert der Wahrheit“. Insofern menschliche Eigenschaften als menschliche Interessen „wichtiger“ als der Wahrheitsgehalt von Überzeugungen sind, gibt er hier dem einen vor dem anderen den Vorzug; insofern er darauf vertraut, dass bestimmte menschliche Eigenschaften schon zu den tatsächlichen Wahrheiten hinführen werden, setzt er beides in eins. Aufgrund dieser Gleichsetzung erscheint es in seinen folgenden Ausführungen durchweg als selbstverständlich, dass die beiden Wahrheitstugenden zur Klärung von Sachverhalten, zur Wissenschaftlichkeit und zum Finden der Wahrheit den größten Beitrag leisten. Dabei ist es eine gewagte Behauptung, dass der erfolgreichste Weg zu sachlichen Wahrheiten nicht unbedingt von den Forschungsgegenständen und den zu untersuchenden Tatsachen, sondern durchaus von zu veredelnden Eigenschaften des Menschen seinen Ausgang nehmen soll. Und dass die Annahme dieser gewagten Behauptung auch noch im Sinne menschlicher Bedürfnisse und Interessen sein soll, ist absurd. Wenn vornehmlich die charakterliche Moral für wertfreie Wahrheiten geprägt werden soll und der Preis dafür unbesehen seiner Höhe unbedingt zu zahlen ist, dann dürfte es um die menschlichen Bedürfnisse und Interessen schlecht bestellt sein. Wenn die Befassung mit intrinsischen Werten (Wahrheitstugenden) automatisch auf die Wertschätzung von tatsächlichen Wahrheiten hinausläuft, dann wird ein bruchlos integres Verhältnis zwischen tatsächlicher Wahrheit und Wahrheitstugenden vorausgesetzt. Objektivitätsbezug/ Tatsachensinn und Wahrhaftigkeitsmoral fallen bei Williams zusammen. Er lässt den Wert des Wahrheitsgehaltes von Überzeugungen in den Wert von Tugendeigenschaften der Wahrheit übergehen. Die moralischen Wertmaßstäbe im zwischenmenschlichen Umgang führen zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und der vollständigen Aufklärung von Sachverhalten. Wer bei der moralischen Ausrichtung auf Wahrheit sich an Tatsachen und Objektivität orientiert, der gefährdet zudem die objektive Wertfreiheit und wer den tugendhaften Rückbezug auf sich selbst für seine Forschung kultiviert, erhält den Zugang zu objektiven Sphären. Dadurch dass der objektiven Wahrheit bei der Ausrichtung auf diese kein Wert beigelegt werden darf, wird sie zum mystischen Gnadengeschenk bemühter Moralanstrengungen. Da durch den menschlichen Umgang mit der Wahrheit ihre Absolutheit in Frage gestellt wird, siedelt Williams diese gerade in metaphysischen Sphären an, welche eine geheime unanzweifelbare Verbindung zu menschlichen Tugenden unterhalten.

Williams versucht sein Problem der Wertfreiheit von Wahrheit dadurch zu lösen, dass diese einerseits weder zum Zweck noch zum Wert werden kann, dem Menschen dadurch ganz entzogen ist, und anderseits dass wertfreie Wahrheit sich im antimetaphysischen Sinn des menschlichen Interesses von selbst einstellt, vorausgesetzt man kultiviert ernst und inbrünstig die Wahrheitstugenden. Er hängt den Wert der Wahrheit so hoch, dass er nur noch vom Wert der Wahrhaftigkeit spricht und es für selbstverständlich hält, dass mit den Wahrheitstugenden und ihrer Wertschätzung auch die Wertschätzung der objektiven Wahrheit gleich mit gegeben ist und dass auf das Erkenntnissubjekt zurückbezogene Tugenden (die Handlungs- und Verhaltensweisen der Wahrheitsmoral) die objektive Wahrheit herausstellen, ohne dass das Erkenntnissubjekt sich direkt um objektive Wahrheit zu bemühen braucht.

Zu Punkt zwei:

Er wirft den Verneinern vor, auch ohne Wahrheit ehrlich, redlich und wahrhaftig sein zu wollen. Und um die Sinnlosigkeit dieses Bestrebens nachzuweisen, stellt er sich hier im abschließenden Kapitel seiner fiktiven Genealogie auf den Standpunkt, dass ein auf Tatsachen und Sachverhältnisse gerichtetes Verständnis von dem Wert der Wahrheit zu metaphysisch sei. Er betrachtet ausschließlich menschliche Eigenschaften und Einstellungen im Verhältnis zur objektiven Wahrheit, damit auch die Wahrheitsverhältnisse ausschließlich über menschliche Anliegen definiert werden. Dieses menschliche Interesse/ Anliegen darf nichts mit Zweckgerichtetheit und anderen Bedürfnissen außer den geistigen zu tun haben. Umgekehrt sei der tatsächliche Wahrheitsgehalt in Überzeugungen ausschließlich über menschliche Eigenschaften zu erreichen. Und trotzdem müsse seine Untersuchung mit Recht als antimetaphysisch und naturalistisch gelten, da ausschließlich menschliche Eigenschaften in den Blick genommen würden. Was hat Williams argumentative Abgrenzung gegen metaphysische Auffassungen überhaupt mit seiner Favorisierung der Wahrheitstugenden als menschliche Einstellungen und Eigenschaften zu tun? Es gibt hier keinen direkten Zusammenhang zwischen der Haltung zur Wahrheit und menschlichen Interessen, zumal Williams in den Wahrheitstugenden die „menschlichen Interessen“ als Ausrichtung auf die zweck- und wertfreie Wahrheit deutet, in seiner Rechtfertigung (Williams, S. 96/ 97) „menschliche Interessen“ jedoch als diesseitsbezogene Bedürfnisse und Wünsche auslegt.

Seine argumentative Begründung lässt den Leser unschlüssig. Es wäre einer naturalistischen und antimetaphysischen Haltung gemäß, sich im Sinn der Selbstverständigung auf menschliche Einstellungen zu beschränken. Nach meinen obigen Ausführungen ist das Gegenteil viel naheliegender. Diese abgebrochene Blickrichtung von den Erkenntnisgegenständen und ihrem Wert weg auf die Einstellung des Erkenntnissubjekts lässt sich eher mit einer metaphysischen Haltung, welche sich durch die Ausblendung alles Weltlichen und Tatsächlichen auszeichnet, vereinbaren. Nach Williams ist dieser Bezug zu den zu verstehenden Tatsachen nebensächlich, weil er angeblich keine menschlichen Interessen tangiere. Er erspart sich eine Erläuterung, wie dem menschlichen Interesse eben dadurch Genüge getan werden soll, dass es ausschließlich um menschliche Eigenschaften geht. In der Überleitung von seiner Stellungsnahme zu seinem rechtfertigenden Argument scheint er vergessen zu haben, welche rechtfertigende Argumentation er eigentlich führt: „Es gehört sogar zur naturalistischen Haltung dieser Untersuchung, daß sie als Versuch der Selbstverständigung des Menschen gesehen werden soll. Es mag sein, daß bestimmte metaphysische Auffassungen die Wahrheit und das Gute in einer Weise miteinander verknüpfen, bei der diese Dinge so dargestellt werden, daß sie dem menschlichen Interesse an ihnen völlig vorgeordnet sind.“ (Williams, S. 96) Statt das menschliche Interesse an den moralischen Einstellungen bezüglich Wahrheit aufzuzeigen, zieht er gegen Philosophien, in denen das menschliche Interesse vernachlässigt sei, zu Felde und setzt sich gegen die metaphysische Auffassung: das „Gute“ und „Wahre“ läge in den Menschen und dieser Welt übergeordneten Sphären ab. Williams stellt den Rückbezug zu den menschlichen Eigenschaften wieder her: Ein grundlegendes menschliches Anliegen bezüglich der Wahrheit seien die Wahrheitstugenden. „Bei dieser Untersuchung geht es demnach um menschliche Anliegen bezüglich der Wahrheit. Eine Grundform eines solchen Anliegens ist in den Tugenden der Wahrheit enthalten.“ (Williams, S. 97) Aber auch bei diesem Rückbezug zu seiner Rechtfertigung wird nicht deutlich, warum die Beschäftigung mit menschlichen Eigenschaften naturgemäß antimetaphysisch sein soll, während die Beschäftigung mit wahren Tatsachen, welche alternativ den Wert der Wahrheit ausmachen könnten, tendenziell zur Metaphysik führte. In der bloßen Benennung der Wahrheitstugenden als grundlegende menschliche Anliegen, wie auch menschliche Interessen es seien, liegt keine Begründung. Auch ist es nicht verständlich zu machen, dass es keine menschlichen Anliegen/ Interessen geben soll, die metaphysisch sind. Besonders unverständlich wird diese Annahme durch ihre Begründung, dass allein im interesselosen Wahrheitsstreben sich wertfreie Wahrheit als das eigentliche menschliche Anliegen finden ließe und zweckgerichtetes Denken unversehens in metaphysische Bereiche führe.

Hier soll die vom Menschen unberührte Wahrheit mit der ausschließlichen Immanenz menschlichen Interesses vereinbart werden. Darüber hinaus soll beides einander die höchste Bestimmung und der größte Wert sein. Williams stellt Wahrheit gerade als den normativen Wert schlechthin dar, weil er sie als Niederschlag von Tugenden des Verhaltens und Handelns bestimmt. Ihren Bezug zur Objektivität und Tatsächlichkeit hält er für metaphysisch, weil beides und damit wiederum die Wahrheit wertfrei zu sein hat. Die wertfreie Wahrheit ist das nicht zu übersteigende menschliche Interesse und Anliegen, weil es sich nur um normative Tugenden handelt. Deswegen verbleibt die wertfreie Wahrheit im Bereich menschlicher Interessen/ Anliegen, weil „menschliche Interessen/ Anliegen“ immer als Garanten des Tatsachen- und Objektivitätsbezuges aufzufassen sind. Und über den Tatsachen- und Objektivitätsbezug im menschlichen Interessenbereich definiert sich antimetaphysisches Denken. So schließt sich Williams paralogische Kette widersinniger Folgerungen. Er versteigt sich zu den Schlüssen: - dass Objektivität/ Wahrheit wertfrei sei, weil Wahrheit (als Objektivitätsbezug) ja bloß als intrinsischer Wert (als Norm und als Moraltugenden) zu verstehen sei, - dass Tatsachen metaphysisch sind, weil sie den Menschen insofern nichts angehen, insofern sie nicht zu seinen Eigenschaften gehören, – dass umgekehrt menschliche Interessen eben dann gewahrt bleiben, wenn sie nicht an Tatsachen und Objektivität orientiert sind, sondern an der antimetaphysischen zweck- und wertfreien Wahrheit – dass der antimetaphysische Tatsachen- und Objektivitätssinn nur in der (wertfrei, moralischen) Wahrheitsnorm verwirklicht werden kann. Er hält also jeden Begriff für haltbar und sinnvoll, welcher im Zusammenhang mit anderen derart widersprüchlich definiert ist, dass mit ihm jederzeit das Gegenteil bedeutet werden kann.

III. b. Überzeugungen und Tatsachen

Bei Williams liest sich die „Wertfreiheit“ von Objektivität so, als ob es sich bloß um eine gesteigerte Form der Zweckfreiheit handeln würde. Indem die objektive Perspektive auch vom letzten menschlichen Zweck gereinigt wird, hat sie sich nicht nur von eigenen Interessen, den Wünschen und Bedürfnissen, sondern von Bewertungen jeglicher Art und selbst von intrinsischen Werten losgelöst. Dass sich „Realitätsausschnitte“ und „Untersuchungsfelder“ auch in Loslösung von einem Wertesystem betrachten ließen, kommt Williams ungelegen. Schließlich geht es ihm darum, den Verlust von Wahrheit aufgrund eines mangelnden Wertebewusstseins abzuwehren und das Wahrheitsstreben als in sich wertvolle Tätigkeit darzustellen. Als ethische Richtschnur möchte Williams dem Begreifen von tatsächlichen Sachverhältnissen den höchsten Wert beimessen. Abgesehen von Nietzsches Philosophie lässt sich der Standpunkt vertreten, dass mit dieser Wertbeimessung noch lange nicht die Wahrnehmung tatsächlicher Sachverhältnisse wertend verzerrt ist. Ohne den Willen tatsächliche Sachverhältnisse zu begreifen, lässt sich über diese überhaupt kein Verständnis oder eine Erkenntnis gewinnen. Jedes Ding (jedes Wort) lässt sich auf seinen Zweck hin betrachten und ihm kann jeder beliebige Wert beigemessen werden, solange es in dem, was es darstellen soll (als etwas Identifiziertes), vorausgesetzt werden kann. Williams beschäftigt sich weniger mit dem Prozess, die Wahrheit zu finden. Er setzt sie als gegeben voraus. Ohne Differenz enthüllen wahre Überzeugungen wahre Tatsachen und beides steht füreinander. Der Leser bekommt den Eindruck, es könne die Geschichte und die Welt nicht geben, bevor er sie nicht zu seinen wahren Überzeugungen gemacht habe. Die „Wertfreiheit von Wahrheit“ kann sich aber nur auf den Untersuchungsprozess beziehen, welcher zu ihr führt und in welchem auf alle Bewertungen verzichtet wird. Wer erst im Besitz der Wahrheit ist, der hat sie dann auch gleich wertfrei. Wie hoch die Besitzwürdigkeit von Wahrheit angesetzt wurde, spielt so gesehen keine Rolle.

Nietzsche hält der Idee, dass das Subjekt sich restlos aus der Objektivität herausdividieren ließe und das Ergebnis dann wertfrei sei, entgegen, dass der Wille zur Wahrheit und zur Objektivität vorzudringen schlechterdings eine Verzerrung tatsächlicher Sachverhältnisse sei, weil diese ihren Sinn und ihr Verständnis aus menschlichen Bedürfnissen, Zwecken und Wertsetzungen bezögen. Eine Setzung respektive Gegebenheit welcher Art ist nun die „Wahrheit“? Auf diese Frage lässt sich Williams mit seinem Votum „ein Hund ist ein Hund und kein Wort“ ohnehin nicht ein. Das Problem, was sich in seiner folgenden Untersuchung dann auch entspinnt, ist die Verwechslung von Worten und Dingen. Nicht nur, dass er Bedeutungsvariationen des Wortes „Wert“ für Aspekte ein und derselben Sache hält und für ihn daher Handlungsnormen und Bewertungen von Sachen und von Worten ein und dasselbe sind, sondern die in Worte gefasste Wahrheit/ die in Worten begriffenen tatsächlichen Sachverhältnisse sind die von ihrer Beschreibung unabhängige Wahrheit/ die tatsächlichen Sachverhältnisse selbst. Dabei geht Williams nicht davon aus, dass sich dem Erkennen und Verstehen die sprachliche Fassungsgabe (und nicht die soseiende Welt) darbietet, sondern in der Wahrheit ist der Mensch zu den Dingen, wie sie sprach- und sinnunabhängig sind, vorgedrungen. Nach ihm ist die in Worte begriffene Wahrheit in der dinglichen Welt hinterlegt. Mit Distanz zur Sprachphilosophie kann man auch sagen, dass nach Williams die Form wahrer Überzeugungen eine direkte Einheit mit an sich seiender Weltlichkeit bildet.

Es kommt Williams antimetaphysischer Neigung nun entgegen, dass die Einfassung der Welt in menschliche Sinne, Sprache und Denkmuster vorab gegeben ist und es ohne diese Bedingtheit keine Erfahrungen geben kann. Aber er möchte seine antimetaphysische Neigung mit dem Absolutum „Wahrheit“, das Objektive für sich, welches unabhängig aller Sinne und aller Kategorien ist, kombinieren. Nicht genug damit, dass Sachverhältnisse und Ereignisse sich nicht auf etwas reduzieren lassen, was bloß vorher in dem Subjekt gewesen ist, welches diese erfahren hat. Auch reicht es Williams nicht, dass das Subjekt mit seiner Vorabeingefasstheit der Welt (seiner Sinne, seiner Sprache und seiner Denkmuster entsprechend) trotzdem nicht über wahrgenommene und begriffene Sachverhältnisse und über Erfahrungen verfügt, diese also als Unabänderliches und Unumstößliches nur akzeptieren, ignorieren oder leugnen kann. Williams setzt das absolute Objekt, welches erleichternder Weise das ist, was es dem Menschen (als überzeitliches Universalwesen) zu sein scheint und in seiner Wahrheit für alle Zeiten nichts anderes außerdem sein kann. Das Medium des Erkennens und Verstehens (sei es das Denken, die Sprache oder das sinnliche Begreifen) zieht sich in der Wahrheit zur getreuen, unverbrüchlichen Wiedergabe des Bewahrheiteten – sprich der erkannten und verstandenen Dinge – zusammen. Welt ist wie sie ist, und Wahrheit darf niemals etwas anderes als Wahrheit werden. Auch die Stütze der Kategorien möchte Williams nicht als bloße Krücke, sondern als Wesensinnere verstanden wissen. Williams nimmt die menschlich bedingte Auffassungsgabe genauso in sein Denken hinein wie die unbedingte Wahrheit und kümmert sich nicht um den Widerstreit dieser beiden. Es interessiert ihn nicht, dass die weltliche Widerständigkeit und ihre Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Belangen sich nicht als unbedingte Wahrheit erklären lassen. Folglich verabsolutiert er die bedingte Auffassungsgabe: das durch die Sinne Wahrnehmen geht auf die Dinge wie sie nicht anders sein können, Sprechen und Denken geht auf Wahrheit. Dazu müsste Williams den Universalmenschen setzen, dessen Wahrnehmen, Denken und Sprechen der überzeitlichen Wahrheitsnorm entsprechen. Als Norm muss von dieser Wahrheitsnorm gar nicht gesprochen werden, weil mit ihr die Welt und das Leben bis in den innersten Kern enthüllt werden. Da Überzeugungen und Tatsachen differenzlos ineinander aufgehen, kommt es dem Leser so vor, als ob Williams den Tatsachen selbst den höchsten Wert zusprechen wollte. Via wahre Überzeugung spricht er dann auch Interpretationen, Erzählungen und vor allem auf das Subjekt zurückbezogenen „Wahrheiten“ die Gewissheit zu, welche Tatsachen zukommt.

IV. Schlusskapitel: Williams Nietzsche-Interpretation

Williams Position, für die er Nietzsche vereinnahmen möchte, ist in sich mit ihren vereinfachenden rigorosen Anforderungen so widersinnig, dass seine Beziehung zu Nietzsche sich nicht ohne weiteres klarstellen lässt, um diese daraufhin einer Kritik unterziehen zu können. Betont er Nietzsches Engagement für den Tatsachen-Sinn[15] und seine Liebe zur Objektivität/ Wahrheit, so wertet er das Nützlichkeitskalkül als instrumentalistische Auffassung von Wahrheit auf die Art und Weise ab, dass es den bloß selbstgerechten Überzeugungen wie bequemen Illusionen und Wunschdenken zugeordnet wird und mit diesen auf derselben niedrigen Stufe steht. Die allem Erkennen vorangehende Bezogenheit des Menschen auf weltliche Dinge (Bezogenheit auf Tatsachen), so dass die bloße Kenntnis von Sachverhältnissen im vorhinein von Interesse ist (zumindest liegt ein Interesse darin, Kenntnis von Handlungsmöglichkeiten zu haben und Handlungen ihrer Folgewirkung nach abschätzen zu können) und der eventuelle Nutzen-Wert, den die Aufklärung von Sachverhältnissen mit sich bringt, diffamiert Williams sich selbst konterkarierend als irrelevant für den echten Wahrheitsglauben. Der intrinsische Wert von Wahrheit müsse frei von jeglicher Zweckrationalität gewährleistet werden. Dabei erlaube nur die radikale Absage vom Nützlichkeitskalkül zur Objektivität (tatsächlichen Sachverhältnissen) vorzudringen, und genau diesen weltlos schwebenden Tatsachen- und Objektivitätssinn habe Nietzsche als den höchsten Wert (Inbegriff der schmerzhaften Wahrheit) verehrt und propagiert. Mit dieser Auffassung von Objektivitätsstreben ist es weder möglich, sich Nietzsches Positionen zur Wahrheit und zu dem Wert des Lebens anzunähern, noch für wissenschaftliche Objektivität und ideales Wahrheitsstreben gegen Nietzsches Philosophie zu argumentieren.

Zunächst soll hier Zweckrationalität in ein verständlicheres Verhältnis zur Objektivität gesetzt werden. Im Prozess der Wahrheitsfindung Annahmen für je wahrscheinlicher und glaubwürdiger zu halten, desto vorteilhafter und angenehmer sie sind, heißt, voreingenommen zu sein. Diese Voreingenommenheit hat nichts mit Zweckrationalität und dem Nützlichkeitskalkül zu tun. Im zweckrationalen Denken schärft sich die Aufmerksamkeit gegenüber objektiven Gegebenheiten. Das Objektivierbare wird als Gegenstand möglichen Handelns analysiert und der (eigene/ allgemeine) Vorteil gerade aus dem Prozess des illusionslosen und vorurteilsfreien Objektivierens gewonnen. Genau die sachliche Beschreibung und die wertfreie Analyse bilden die Urteilsgrundlage im Nützlichkeitskalkül. Mitnichten steht es dem Objektivitätsstreben entgegen, zweckrationales Denken bringt ‚Wahrheiten’ ans Licht, welche auch dann noch bekannt sind, wenn sie ihren Nützlichkeitswert verloren haben. Illusionen und Wunschdenken sind zweckrationalem/ instrumentellem Denken entgegengesetzt und dieses Denken ist so gesehen wenig dazu geeignet mit Objektivitätsstreben in Konflikt zu geraten. Ohne absehbaren praktischen Nutzen (außer den Nutzen, in einem Sachbereich orientiert zu sein und dass objektiv Betrachtetes handhabbar wird) kann die Erklärung eines Ganzen statt eines Zweckwissens das abschließende Ziel eines Forschungsprojektes sein. Zur Wissenschaftlichkeit gehört ein Minimum an Freiheit sich unabhängig von Nützlichkeitserwägungen darum zu bemühen, ‚objektive’ Dinge zu erklären. Dieses über das Zweckwissen hinausgehende Forschen hat mit der Überwindung von Verfälschungen und selbstgerechten Zurechtlegungen zuerst einmal nichts gemein.

Williams setzt als unanfechtbar und selbstverständlich voraus, wovon er sich selbst keinen sinnvollen und verständlichen Begriff gemacht hat. Zudem hat dieses Selbstverständliche und Unanfechtbare - das Objektivitätstreben - seinen geschichtlichen Ort. Williams Perspektive stützt sich auf „grundlegende“ Annahmen, welche andere Interpreten in Nietzsches Philosophie in ihrer Fragwürdigkeit als Problem aufgeworfen sehen. Beschreibt Williams seinen naturalistischen Standpunkt - seinen Naturalismus habe ich im zweiten Teil erläutert - so, als ob mit jedem guten Gedanken und jeder Erkenntnis der große in sich integre Wissensbereich noch einen Zuwachs erfährt, so werden nach Thomas Wolf[16] in Nietzsches Philosophie schon Antworten auf die Diagnose Edmund Husserls von der ‚Krisis der Wissenschaften’[17] vorweggenommen. Das Grundlagenwissen und die Methode der jeweiligen Einzelwissenschaften ließen sich immer weniger miteinander vereinbaren. Statt dass die wissenschaftliche Fortentwicklung zu einem immer besseren Zusammenspiel und zum fachübergreifenden Verstehen führe, differenziere sich eine zunehmend große Anzahl an Spezialwissenschaften immer weiter auseinander. Vor dem lebensweltlichen Hintergrund ergäben sich daraus Schwierigkeiten, dass die Einzelwissenschaften ihre Geltungsansprüche nicht relativieren würden, aber auch (reflexive) Verantwortung für ihre Folgewirkungen, welche in andere Bereiche hineinreichen und sich aus anderer Perspektive anders darstellen, ablehnten. Innerhalb eines Perspektiven-Pluralismus so Wolf können lebensweltliche Werte die Rolle spielen, die ihnen aus Gründen der Verantwortung zukommt. Aus den verschiedenen Perspektiven, welche sich in einem bestimmten Kontext als relevant erweisen, können plausible Beschreibungen und pragmatische Begründungen gewonnen werden. Williams erweckt hingegen den Eindruck, dass das Projekt der Einheitswissenschaft kurz vor dem Abschluss stehe und dass im diesseitsorientierten Wissenschaftsuniversalismus alle Sinnfragen der menschlichen Existenz beantwortet würden, wenn sich die wissenschaftliche Methode erst rigoros durchgesetzt habe.

Die Nietzsche-Interpretation von Ernst Peter Fischer steht in einem ähnlichen Verhältnis zu Williams Grundannahmen. Er leitet in „ ‚Wir sind von Grund aus - ans Lügen gewöhnt’ Nietzsche und die Naturwissenschaften“[18] damit ein, dass Nietzsche mit seinen ungenauen Metaphern und großzügigen Präsumptionen Naturwissenschaftlern eher unsympathisch ist, um dann das Hellsichtige seiner Gedanken in Bezug auf die jüngste Historie der Naturwissenschaften zu erläutern. Er schreibt: „Natürlich ärgern sich Biologen manchmal über solche bestenfalls halbrichtigen Sätze der Philosophie. Aber das Schöne bei Nietzsche ist, daß man dafür immer wieder entschädigt wird.“[19] Ein Jahr nach Nietzsches Tod habe der Prozess der Umwertung der wissenschaftlichen Werte von dem deskriptiv analytisch erfassbaren Objekt weg zur objektiven Erkenntnisabhängigkeit vom kreativen Subjekt seinen Anfang genommen. „Vor rund 100 Jahren stand die Wissenschaft glänzend da, und jeder Wissenschaftler hätte sofort die Frage beantworten können, welche Werte für ihn wichtig waren. Sie hießen zum Beispiel Objektivität und Universalität der Gesetze, Eindeutigkeit der Beschreibung und Beweisbarkeit aller physikalischen Aussagen (...) Doch alle diese Überzeugungen und Werte mußten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger rasch aufgegeben werden. Die Physiker wurden – zumeist gegen ihren Willen – zu der Entdeckung gezwungen, daß es Fragen gibt, die ohne Antwort bleiben – die Frage nach der Natur des Lichts zum Beispiel oder die Frage nach dem Ort, den ein Elektron einnimmt.“[20] Williams hingegen vermittelt dem Leser, dass er mit Nietzsche die Einstellungen teile: Es gibt keine anderen Fragen als nur Tatsachenfragen und jede Frage wird früher oder später mit Eindeutigkeit beantwortet. Kein vernünftiger, bedeutender oder ernstzunehmender Philosoph hätte jemals die Objektivität und Universalität von Gesetzen in Zweifel gezogen, die Eindeutigkeit von Beschreibungen führe von selbst zu deren Vereinbarkeit und Integrierbarkeit mit anderen objektiven Beschreibungen.

Nach Williams hätte Nietzsche das Zeitlose nicht historisch verorten wollen. Williams führt in seiner Argumentation für den intrinsischen Wert der Wahrheit an, dass selbst als Illusion das „Ideal des Entdeckens und Äußerns der Wahrheit“ unentbehrlich sein könnte. Die sich aus dem Wahrheitsbegriff begründenden „Unterscheidungen zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung“ seien so elementar, dass es „niemanden“ – die Pragmatisten nicht (und Nietzsche auch nicht) - geben könne, der sie seinen Urteilen und Äußerungen nicht ganz unwillkürlich unterlegen würde. (Vgl. Williams, S. 95) Die Idee der Wahrheit müsse deswegen unhintergehbar sein, weil sie elementar und unersetzlich sei. Wer von der Gegenannahme ausgehe, gerate unweigerlich in Selbstwidersprüche. „Hätten sie [die Pragmatisten] ihren Nietzsche genauer studiert, hätten sie ein feineres Gefühl dafür, wie weit sie gehen müssen, um von dieser Annahme [die Annahme, dass die Illusion des Unterschieds zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung überwunden werden könne] loszukommen.“ (Williams, S. 95) Wie lässt sich aber dieses feine Gefühl in der Konfrontation mit Gedanken wie: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend vielleicht gar Art-züchtend ist.“[21] durchhalten? Der Begriff von der Falschheit eines Urteils wird in diesem Aussagezusammenhang destruiert. Im ersten Hauptstück in „Jenseits von Gut und Böse“ geht Nietzsche genau auf diese Gegensätze von „Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung“ ein und ordnet sie als Wert-Gegensätze dem „Grundglauben der Metaphysiker“ zu. Der Zweifel an diesem für Metaphysiker typischen Vorurteil wäre gerade an der Schwelle aller logischen Prozeduren am nötigsten gewesen. Weit entfernt davon, diesen Glauben als elementar und unersetzlich für jedes Denken im Vorlauf schon anzuerkennen, schreibt er: „Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt gibt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Wertschätzungen und Wert-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihre Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, (...) Bei allem Werte, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, daß dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Wert zugeschrieben werden müßte.“[22] Die Pragmatisten können sich zurecht von Nietzsche dazu aufgefordert fühlen, die Illusion der Wert-Gegensätze: Wahrheit und Täuschung zu überwinden. Nicht nur dass der Wahrheitsglaube angezweifelt werden müsse, sondern darüber hinaus hält es Nietzsche für sehr wahrscheinlich, dass die Ergebnisse dieses Zweifelns und Prüfens zuungunsten des Wahrheitsglaubens und der Wert-Gegensätze ausfallen. Dabei legt Nietzsche das Leben als Wertmaßstab zugrunde und fragt sich, wie groß der Wert der Wahrheit für das Leben sei. Wenn Nietzsche als Wahrheitsmoralist gelten soll, dann hat er eben größtenteils immer das Gegenteil dessen sagen wollen, was er in aller unmissverständlichen Deutlichkeit auf den Punkt gebracht hat. Warum beruft sich Williams nicht einfach auf einen anderen Philosophen, der ihm eher entgegenkommt? Schließlich führt er auch nichts weiter aus seiner Philosophie an, weswegen ihm an seiner bestätigenden Anerkennung gelegen sein könnte. Williams beruft sich auf Nietzsche als Wendephilosophen, welcher die Moderne mit eingeleitet hat. Er nimmt eine schlechtere Variante von „älteren“ philosophischen Positionen ein, welche in Auseinandersetzung mit „moderneren“ Philosophien eine besondere Rechtfertigung bedürften, und beansprucht damit eine ultimative Lösung „moderner Wahrheitsprobleme“ gefunden zu haben. Williams zieht aus den „modernen“ Problemen des Denkens die Erlaubnis, sich auf „ältere“ Positionen zurückzuziehen, ohne diese kultivieren zu müssen.

Der Nietzsche-Interpret Charles Larmore vertritt dieselbe Position wie Williams, indem er sagt: „Ohne eine Grundorientierung an Wahrheit ist das Denken einfach unmöglich.“[23] Wahrheit sei kein fakultativer Wert, was sich daran zeige, dass ein und dieselben Tatsachen-Aussage, die ich glaubend für wahr halte, von mir nicht gleichzeitig negiert werden könne, ohne dass mein Glaube sich in den Verdacht der Falschheit wandelte. „Aber man kann auch umgekehrt sagen und das ist für unsere gegenwärtigen Zwecke relevant, daß ich das, was ich glaube, implizit für wahr halten muß, so daß ich dieser Implikation widersprechen muß, wenn ich dasselbe für falsch erkläre.“[24] In dieser Position bezieht er gegen Nietzsche Stellung. Nietzsches Abwertung der Wahrheit sei notgedrungen inkohärent und es sei von vornherein unmöglich, den Vorzug von Wahrheit und von Unwahrheit gegeneinander abzuwägen, wenn es um die grundlegende Einstellung des eigenen Denkens ginge. Daher spricht Larmore der Wahrheit einen unbedingten Wert zu, betont aber, dass es sich nicht um den höchsten Wert, welcher jeden etwa verpflichten würde, Wissenschaftler zu werden, handelte. Nietzsche habe wegen seines Perspektivismus den Willen zur Wahrheit so schlecht verstanden. Er habe die Existenz einer „wahren“ Welt als objektiven Maßstab für die Gültigkeit von Perspektiven negiert. Anstelle der verpflichtenden Bindungen und der Normen gäbe es für ihn nur aus dem Lebenstrieb selbst hervorgehende Werte. „Perspektiven haben diese kreative Funktion, weil sie in Nietzsches Augen Ausdruck des Lebens sind, dessen Natur darin besteht, wertschaffend zu sein.“[25]

In Larmores Grundannahmen über das Denken finden sich Williams Positionen in einer fasslichen und sinnvollen Form wieder. Es wird deutlich, was die Unbedingtheit des Wahrheitswertes ausmacht. Larmore folgert daraus nicht wie Williams, dass eine bedingungslose Notwendigkeit bestehe, ‚Wahrheiten jeglicher Art’ herauszufinden und dass in einer moralischen Verbindlichkeit des Wahrheitswertes Normen des zwischenmenschlichen Handelns und Normen des wissenschaftlichen Forschens in eins gesetzt seien. Er lehnt Nietzsches entsprechende Positionen folgerichtig ab, statt ihm einfach Gegenteiliges zu unterschieben. Welche Sichtweise sich auf zeitgleiche und spätere, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen der westlichen Welt und ihrer von Nietzsche vorgegebenen Deutung ergibt, bleibt zunächst offen, bzw. Larmore hat mit seiner Positionierung eine (schwierige) Verhandlungsgrundlage vorgegeben. Er erhebt mit seiner Kurzbeschreibung von der Bedingung der Möglichkeit des Denkens nicht den Anspruch zeitgenössische Wahrheitsprobleme in ihrer allgemeinen Ausfächerung auf den Punkt und zur Lösung zu bringen. Williams beschreibt hingegen einfach die zwei Begriffe „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ als die beiden konfligierenden Denkströmungen der „Moderne“. Der „moderne Konflikt“ löse sich mit der Klärung des Verhältnisses dieser beiden Begriffe. Damit fasst Williams ein paar Jahrhunderte Philosophierens in einem Winkelzug, welcher lapidar mit ein paar Worten skizziert ist. Was von diesen Philosophen des „modernen Konflikts“ demnach zu halten ist, erscheint in einem höchst zweifelhaften Licht. Die Perspektiven und Standpunkte, von denen Nietzsche aus die Wahrheit und ihren Wert in Zweifel und ins Fragliche zieht, ignoriert Williams einfach. Er ersetzt den Willen zur Macht, welcher nach Nietzsche alles Lebendige auszeichnet, durch den unbedingten Willen zur Wahrheit und behauptet, Nietzsche könne nichts anderes gemeint haben.

Bevor ich auf die beiden Nietzsche-Zitate aus „Die Fröhliche Wissenschaft“ § 344 und § 121 zurückkomme, welche Williams - wie ich schon dargelegt habe (siehe S.8/ 9 u. 15) - als Nietzsches Apologie des unbedingten Willens zur Wahrheit ausdeutet, möchte ich hier eine Zwischenbemerkung über Williams Umgang mit Primärliteratur machen. Williams entnimmt seine Nietzsche-Zitate auch aus: Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Stuttgart 1964 (Kröner-Verlag).[26] Nietzsche hat selbst sein Vorhaben zu diesem Werk erwähnt,[27] es zu Lebzeiten aber nie umgesetzt. Es handelt sich um eine Kompilation von Peter Gast und Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Alfred Baeumler stilisierte das Werk "Wille zur Macht" zum angeblichen Hauptwerk Nietzsches hoch. Darin würde sich seine Philosophie zu einem System zusammenschließen, welches der NSDAP auf den Leib geschnitten sei. In diesem Sinn verfasste Baeumler, welcher seit 1934 das Wissenschaftsressort im Amt Rosenberg dem außenpolitischen Amt der NSDAP unter sich hatte, seine Einleitung für die Ausgabe von „Der Wille zur Macht“ im Kröner-Verlag 1939. Auch in der Kröner-Auflage 1964 lassen sich mindestens Auszüge aus seiner Einleitung finden. An dieser Stelle möchte ich noch das Zitat von Karl Schlechta (Nietzsche-Herausgeber) zu diesem Werk vorstellen: „Ein 'Wille zur Macht' als Werk Nietzsches existiert nicht; und was unter diesem Titel existiert, ist überdies sachlich uninteressant, weil die Einzelheiten im gedruckten Werk Nietzsches besser stehen – deshalb hat vermutlich Nietzsche jenes versinken lassen und dieses festgehalten." (Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche. 2. Auflage, S. 98.) Diese Informationen bezog ich aus dem Artikel: Der Wille zur Macht: Nietzsche-Rezeption 1939. Alfred Baeumler und der Kröner-Verlag, samt Ergänzung vom März 2005 zu dessen Fälschungstätigkeit im Nietzsche-Archiv. Er entstand auch in Zusammenarbeit mit der PH Freiburg und kann auf der Internetseite http://www.virtusens.de/walther/wille.htm eingesehen werden.

Williams Zitate aus diesem Werk und deren Einbindung in seinen eigenen Text lehnen sich in keinerlei Weise an dieses Gedankengut der Nietzsche Rezeption von 1939 an. Die Berufung auf diese Literatur zeugt jedoch von einem ungeschickten und unsorgfältigen Umgang mit Primärliteratur. Immerhin missrät Williams Nietzsche-Interpretation genau in die Gegenrichtung: Er verkehrt Nietzsches Positionen passend in seine eigenen um, so dass der Williams–Rezipient über Nietzsches Philosophie folgert: Nicht das Leben und der Wille zur Macht sei maßgeblich für die Umwertung aller Werte, sondern der unbedingte Wille zur Wahrheit. Die Moral habe nie eine Rolle bei der Verzerrung von Wahrheit gespielt. Im unbedingten Willen zur Wahrheit vereinige sich die höchste Moralnorm und der höchste Wahrheitswert. Der Ausdruck „Werte“ stehe für nichts anderes als „naturgegebene Sollensnormen“, daher können Wertsetzungen niemals eine Rolle im (freien) Schaffensprozess des Lebens spielen.

Anhand seiner beiden Nietzsche-Zitate aus „Die Fröhliche Wissenschaft“, möchte ich zeigen, dass Williams seine Position in das Gegenteil verkehrend konstatiert, dass Nietzsche den Standpunkt des Lebens zugunsten des unbedingten Willens zur Wahrheit abwerte. Der von Williams angeführte Paragraph 121[28] wird allein wegen seiner Einleitung „Das Leben kein Argument“ als Ausdruck der Verachtung des Wahrhaftigen gegenüber dem als Argument genommenen Leben ausgelegt. Nietzsche hebt in dieser Passage auf sogenannte Glaubensartikel ab: „Körper(n), Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt“, welche gerade die grundlegenden Elemente für ein sachliches und nüchternes Verständnis ausmachen. Woher sollten Tatsachen unter Ausschluss dieser bloßen Glaubensartikel ihre Konstitution hernehmen? Die Existenz dieser Dinge ist nicht so gesichert, wie sie es durch unumstößliche Beweise wäre. Es handelt sich bei diesen Glaubensartikeln eher um für das europäische Leben unentbehrliche Grundannahmen: „ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben!“.„Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können“ ist nicht als Vorwurf gegen die erdichtete Welt aufzufassen. Vielmehr erweisen sich noch die Mittel objektiver Beschreibungen als bloße Zurechtmachungen. Vielleicht können wir diese Glaubensartikel zu einem späteren Zeitpunkt gegen andere/ bessere austauschen. Mit dem Schlusssatz des Paragraphen stößt Nietzsche in eine andere Richtung als in die der verstärkten Wahrheitsbemühungen vor. „Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.“ Statt dass Nietzsche die Dinge der Wahrheit nach unermüdlich umwälzt, erwägt er hier die Anerkennungswürdigkeit von strenggenommen unhaltbaren Erkenntnisperspektiven. Der Irrtum erfährt bei Nietzsche als mögliche Lebensbedingung eine Aufwertung; er könnte in dem Grade unentbehrlich sein, in dem diese „Glaubensartikel“ es sind. Wenn das Leben und das Argument in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen, dann erhält das Leben eher das Übergewicht und weniger das Argument.

Williams zieht wie ich im Unterkapitel „Nietzsche als Moral-Komplice in Wahrheitsangelegenheiten“ schon gezeigt habe, den Paragraphen 344 „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ heran, um die positive Begründungsfunktion der Moral für die Wahrheit hervorzustreichen.[29] Die ersten Gedanken dieses Paragraphen führen zu dem Ergebnis, dass es keine voraussetzungslose Wissenschaft gäbe, weil diese auf einem Glauben, einer Überzeugung aufruhte.[30] Zuvor legt Nietzsche dar, dass die Inakzeptanz gegenüber (bloßen) Überzeugungen und Glaubenssätzen konstitutiv für die Wissenschaft sei. Die Wahrheit erhielte den absoluten Vorrang, indem alle Überzeugungen und aller Glaube aus dem Reich der Erkenntnis aussortiert und ausgeschlossen würden. Dieser Wahrheitsglaube sei selbst aber eine Grundüberzeugung und die Hinfälligkeit aller bloßen Überzeugungen ein bedingungslos gesetzter Anfangsglaube. Mit ihrem „es tut nichts mehr not als die Wahrheit, und im Verhältnis zu ihr hat alles Übrige nur einen Wert zweiten Ranges“ kann sich die Wissenschaft selbst nicht genügen. Aus diesen Überlegungen motiviert sich seine dann folgende Frage: „Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit: was ist er?“ (Nietzsche II, S. 207)

An die Stelle von diesen Vorüberlegungen rückt Williams sein eigenes Vorhaben. Mit dem Hinweis auf Nietzsches Engagement für den Wert der Wahrheit schließt er von vornherein auch Nietzsches Bereitschaft, den Wert der Wahrheit überhaupt anzuzweifeln und gegebenenfalls preiszugeben, aus. Nietzsche habe die Frage nach der Wahrheit gestellt, um herauszubekommen, „was es eigentlich damit auf sich hat“. Ihm sei es sofort als ein Gebot seiner Einsicht erschienen, nach dem tiefen Sinn von Wahrheit zu fragen. (Vgl. Williams, S. 29) Williams nimmt selbstverständlich an, dass Nietzsche wie er selbst die Wahrheit noch einmal stabilisieren wollte. Das, was er als Denkmöglichkeit voraussetzt, soll in einem philosophischen Verfahren nachhaltig bewiesen werden. Es gilt, den intrinsischen Wert der Wahrheit auf denselben zurückzuführen und gleichzeitig auf den intrinsischen Wert der Wahrheit aufbauend zu nichts anderem als demselben zu kommen. In diesem Prozedere bleibt immer etwas zu sagen übrig. Nietzsche wäre darin einmal mehr erfolgreich gewesen. Williams verkennt, dass Nietzsche die Antwort auf die Fragen nach der Nützlichkeit und dem Sinn von Wahrheit wirklich offen stellt und mögliche Antworten abwägt, anstatt sie vorwegzunehmen. Aus diesem Paragraphen lässt sich keine dringend zu bewältigende Denkleistung, den intrinsischen Wert von Wahrheit halten zu müssen, herauslesen. Im Gegenteil Nietzsche wagt sich durch die Radikalität seines Fragens und Antwortens so weit ins Feld der letztverbliebenen und unumstößlichen Voraussetzungen vor, dass auch Vertreter des moralfreien Objektivitätsstrebens kompromittiert werden.

Nietzsche legt den unbedingten Willen zur Wahrheit alternativ entweder als Wille „ sich nicht täuschen zu lassen “ oder „ nicht zu täuschen “ aus, wobei er den zweiten Willen „nicht zu täuschen“ möglicherweise für eine zutreffende Verallgemeinerung hält, unter welcher der erstere Wille subsummiert werden kann. Es geht ihm nicht um eine definitive Bestimmung von ‚Wahrheit’ als der eigenen Grundlage des Denkens. Stattdessen fragt Nietzsche unablässig nach den Willensantrieben, welche den Wissenschaftsglauben und das Wahrheitsstreben hervorbringen. Er betont, dass die motivierenden Gründe der beiden Willen „sich nicht täuschen zu lassen“ und „nicht zu täuschen“ sehr unterschiedlich seien. Mit dem ersteren Willen erklärt sich der Wille zur Wahrheit eher aus Nützlichkeitskalkül und als Wille, nicht zu täuschen, scheint besagter Wille ein moralisches Gebot zu sein. Im Laufe des Paragraphen kommt er dazu, letzteres vorzuziehen: „Folglich bedeutet ‚Wille zur Wahrheit’ nicht ‚ich will mich nicht täuschen lassen’, sondern – es bleibt keine Wahl – ‚ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht’:- und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral.“ (Nietzsche II, S. 207) Dieses Ergebnis deutet Williams so, dass mit dem „sich nicht täuschen lassen“ der Wille zur Wahrheit bloß auf Klugheitsgründe abgestellt sei und Nietzsche diesen Willen aber tiefer und fester verankert sehen wollte, nämlich auf dem Boden der Moral und mit der Gewissheit, dass die Wahrheit göttlich sei.

„Die Gründe für den Wunsch, sich nicht täuschen zu lassen, sind, wie er im folgenden ausführt, Klugheitsgründe. In diesem Licht besehen, ist der Wunsch, die Dinge im Rahmen unserer intellektuellen Studien und unseres praktischen Lebens richtig darzustellen, eine Sache der Nützlichkeit. Diese Überlegungen können aber unmöglich einen unbedingten Wert der Wahrheit stützen: Vielfach ist es nützlicher, etwas Falsches zu glauben.“ (Williams, S. 30)

Williams verrückt die Überlegungen Nietzsches, die ihn zu diesem Ergebnis führen. An der Stelle, an der Nietzsche gerade Einblicke in die Willensbedingungen des Wahrheitsstrebens eröffnet, setzt Williams die Notwendigkeit den unbedingten Willen zur Wahrheit zu stützen. Bei Nietzsche erscheint. „Wahrheit“/ „Wissenschaftlichkeit“ geradezu als historisch-kontingentes Phänomen. Er fragt sich, wie diese Grundüberzeugung, aus der sich das Wahrheitstreben generiert, überhaupt habe entstehen können und räumt vorab Zweifel an der Existenz dieses Phänomens aus. „Eben diese Überzeugung könnte nicht entstanden sein, [...] Also – kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, [...]“ (Nietzsche II, S. 207) Nach Williams Überlegungen kann es sich überhaupt nicht um eine entstandene Überzeugung handeln, weil er den Wahrheitsbegriff für eine zeitlose, allgemeinmenschliche Voraussetzung hält.

Außerdem verfehlt Williams Nietzsches Begründung, warum der Wille, nicht zu täuschen, auch sich selbst nicht, eher die Motivationsquelle für das Wahrheitsstreben ausmacht, als der alternative Wille zu ihm. Mit der intrinsischen Moralität der Wahrheit habe er, wenn man Williams glauben möchte, das Nützlichkeitsdenken vor der Erhabenheit der Wahrheit abwerten wollen. Passgenau hätte Nietzsche sein eigenes europäisches Denken in seiner Verankerung noch einmal bekräftigen wollen, indem der hohe Wert der Wahrheit sich nur aus dem hohen Wert der Selbstlosigkeit begründen ließe, und beides über dem Klugheitswissen und der Eigennützigkeit stehend diesen vorzuziehen sei. Aber das Argument der Nützlichkeit selbst gerät in diesem Paragraphen nicht in Misskredit, sondern es ist deshalb nicht schlagkräftig, weil es für die Wahrheit nicht zutreffend ist. Williams gibt ihn richtig wieder, indem er von der möglichen Unnützlichkeit der Wahrheit spricht und nicht von der Niedrigkeit des bloß Nützlichen. Er ignoriert nur, dass Nietzsche die Wahrheit wegen ihrer eventuellen Unnützlichkeit abwertet und nicht aufwertet. Nietzsches überraschende argumentative Wende zur Widerlegung der Gründe des ersteren Willens, besteht darin, dass er die Wahrheit nach dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit beurteilt und zu dem Schluss kommt, dass der höhere Wert „Wahrheit“ den Anforderungen des niedrigeren Wertes „Nützlichkeit“ nicht genügen kann. Der Annahme, die Wahrheit wissen zu wollen, sei ein Gebot der Klugheit, setzt er entgegen, dass es vielleicht klüger sei, andere zum Lügen und Täuschen einem selbst gegenüber zu veranlassen und die Wahrheit nicht wissen zu wollen. „- in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist wirklich das Sich-nicht-täuschen-lassen-Wollen weniger schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnisvoll? Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der größere Vorteil auf Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist.“ (Nietzsche II, S. 207) Wie kommt Williams darauf, der Wahrheit, deren Besitzwürdigkeit Nietzsche gerade in Zweifel zieht, aus einer angeblich nietzscheanischen Perspektive einen unbedingten Wert zu unterstellen? Und von welchen Klugheitsgründen möchte Williams so gesehen noch sprechen, wenn Nietzsche das Wahrheitsstreben aus egoistischen Motiven (sich selbst von anderen nicht täuschen zu lassen) möglicherweise für dumm und unvorteilhaft hält? Nietzsche kehrt schon in seiner Fragestellung die Wertvorstellungen um und Williams unterschiebt diese hartnäckig seinen Antworten.

Auch die Gegenposition, welche Nietzsche untergräbt, verkehrt Williams in ihr Gegenteil. Einmal wertet er das Nützlichkeitskalkül für das Objektivitätsstreben im vorhinein ab und dann geht er selbstverständlich von der intrinsischer Moralität der Wissenschaften aus. Damit entzieht er den Ausführungen Nietzsches ihren Argumentationsgehalt.[31] Der Anspruch auf Wertfreiheit im Objektivitätsstreben hängt gerade mit der instrumentellen Rationalität zusammen. Moralische Normen unterlaufen das wissenschaftliche Denken, während instrumentelle Rationalität sich möglichst auf objektiv Gegebenes und Erwiesenes stützt. Wenn Nietzsche also von der Unnützlichkeit und Gefährlichkeit der Wahrheit spricht, dann weist er auf den irrationalen Gehalt von Wissenschaftlichkeit hin. Mit der intrinsischen Moralität von wissenschaftlicher Wahrheit findet diese sich selbst widerlegt. Unter Williams Vorzeichen des unbedingten Willens zur Wahrheit verschmelzen alle Unterschiede zwischen Wissenschaftlichkeit, Wahrheitspathos und hoher Moral. Er schlägt es dem hohen moralischen Wert der Wahrheit zu, dass Objektivitätsstreben eben auch schadenbringend und (selbst-) zerstörerisch sein könnte. Die lebensverneinende Wertsetzung sei für die Wahrheit gerade angemessen. Jede (wissenschaftliche) Vernunft in Richtung Wahrheit übersteigend fordert Williams irrationale Schäden und sinnleere Unnützlichkeit für den hohen moralischen Wert von Wahrheit in Kauf zu nehmen.

Die Untersuchung in diesem Paragraphen ist in Williams Sinn damit an ihr Ende angelangt, dass mit dem (moralischen) Willen, nicht zu täuschen (wegen der Göttlichkeit von Wahrheit), sich echter Wahrheitsglaube erklären lasse. Nietzsche hingegen hat gar nicht das Ziel, den Willen zur Wahrheit als operatives Fixum zu installieren, sondern forscht weiter nach seinen motivierenden Gründen. Williams schließt aus seinen auslegenden Überlegungen alle Textteile des Paragraphen aus, in welchen der Wahrheitswille, nicht täuschen zu wollen, auf seinen Wert für das Leben geprüft wird, und damit die Moral selbst in Frage gestellt wird. Als metaphysische Bejahung einer anderen Welt und als Verneinung der diesseitigen Welt bringt Nietzsche die Wahrheitsmoral in Misskredit. Die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit von Wahrheit könnte in ihrer Sinnlosigkeit wörtlich genommen werden. In diesen Textstellen lässt sich Williams Interpretationslogik, das Nützlichkeitskalkül könne dem intrinsischen Wert der Wahrheit nichts anhaben, direkt widerlegen. So wie das Leben angelegt sei, würde der Wille zur Wahrheit eventuell als großer Unwert erscheinen.

„Denn man frage sich nur gründlich: ‚warum willst du nicht täuschen?’ [...] Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte aber noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Prinzip... ‚Wille zur Wahrheit’ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. – Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das moralische Problem: wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur und Geschichte ‚unmoralisch’ sind?“ (Nietzsche II, S. 207/ 208)

Williams lässt sein Nietzsche-Zitat zudem vor den letzen beiden Fragen dieses Paragraphen enden und rückt auf diese Weise „die Göttlichkeit der Wahrheit“ an den Platz der abschließenden Pointe, welche durch die letzten beiden Fragen unterminiert wird. „Daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist ... [Hier endet Williams Zitat] Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsere längste Lüge erweist?“ Das Begründende widerlegt sich selbst aus dem von ihm Begründeten. Nietzsche lässt weder das Göttliche noch die Wahrheit unangetastet. Aus wechselnder Wertperspektive, erscheint die Wahrheit als ungöttlich und Gott als Lüge. Es gibt nichts Feststehendes und Sicheres, von dem aus sukzessiv ein Zugewinn zu machen ist, sondern das Zugrundegelegte wird durch das Aufbauende und Folgende destruiert. Ebenso gibt es nichts Hinfälliges und Widerlegtes, sondern die destruierte Grundlage gewinnt mit der Einverleibung ihrer Kritik wieder Gewicht. Nicht nur dass Nietzsche den Wert der Wahrheit dauerhaft anzweifelt, sondern er führt mit seinen wechselnden Wertperspektiven die Möglichkeit eines anderen Denkens vor.

Williams gerät mit seinem Nietzsche-Zitat ohnehin in Selbstwiderspruch, weil er den metaphysischen und christlichen Ursprung von Wahrheitsmoral als ihre grundsätzliche Legitimationsquelle akzeptiert, obwohl er seinen „ Wahrheitsbegriff“ mit ganz besonderer Strenge von allen metaphysischen und christlichen Vorurteilen befreit wissen und sich des Beistandes von Nietzsches Philosophie dabei vergewissern möchte. Ich würde Nietzsche an dieser Stelle[32] so wiedergeben: Wahrheit kann nicht wertfrei sein, sie ist notgedrungen metaphysisch und Metaphysik ist bloß eine verfeinerte christliche Moralanschauung; daher gibt es keine voraussetzungslose Wissenschaft. Der christliche Glaube und die Metaphysik lassen sich nicht mit der Zuwendung zu Wahrheit und Wissenschaft hin überwinden, weil letzteres von ersterem nicht loskommen kann.

Er legt keinen Wert darauf, Nietzsches Überlegungen sinngemäß wiederzugeben. Williams Wahrheitseifer kontrastiert mit der Großzügigkeit in seinen Ausgangsvoraussetzungen und der Nonchalance seiner Begrifflichkeit. Seine Sicherheit in Wahrheitsdingen lässt sich auch durch Widersprüchlichkeit oder Inkohärenz kaum irritieren. Hat er sich erst einmal entschlossen, sich an die Seite eines anderen philosophischen Autors zu stellen, so kann ihn kein noch so großer Dissens davon abhalten. Williams vertritt den unbedingten Willen zur Wahrheit, nicht um sich auf die Suche nach ihr zu begeben, sondern um seinen Gedanken Wahrheitsgewissheit beizulegen.

Literaturliste

(Die Literaturangaben werden hier mit den in den Zitaten benutzen Abkürzungen versehen.)

Primärliteratur

Bernard Williams: Wahrheit und Wahrhaftigkeit.(übers. von Joachim Schulte) Frankfurt a.M. 2003. (Abk.: Williams)

Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. (Hg. Karl Schlechta) München 42. Tausend 1994. (Abk.: Nietzsche I - III)

Sekundärliteratur

Zeitenwende – Wertewende. Internationaler Kongreß zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches. Nietzscheforschungen. Sonderband. 1. Renate Reschke (Hg). Berlin 2001. (Abk.: Zeitenwende-Wertewende)

Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. Otfried Höffe (Hg.). Berlin 2004. (Abk.: Nietzsches Genealogie der Moral)

Internetseite: http://www.virtusens.de/walther/wille.htm

[...]


[1] Williams: „Unbestreitbar ist, daß Aussagen dieser Art in sehr vielen Situationen wahr sind und als wahr erkannt werden können. Alltägliche Wahrheiten können ohne weiteres und vernünftigerweise zu den Tatsachen gerechnet werden. Und Nietzsche hatte Unrecht, als er im Widerspruch zu vielen eigenen Äußerungen sagte: ‚[G]erade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.’“, S. 24.

[2] Williams leitet sein Buch mit dem Satz ein: „Zwei Denkströmungen spielen im Denken und in der Kultur der Moderne eine besonders hervorstechende Rolle.“ (S. 11) Mit seiner Philosophie gedenkt er, besonders die Risiken und Gefahren dieses Konfliktes zu entschärfen und ihn mit seiner Positionierung innerhalb dieser Denkströmungen beizulegen. Die Schwierigkeit, das leidenschaftliche Streben nach Wahrhaftigkeit wirklich zu befriedigen, beschreibt Williams als „einer der Gründe, warum die geisteswissenschaftliche Forschung derzeit Gefahr läuft, die professionelle Seriosität zu verlieren und auf dem Weg über eine gewisse Professionalisierung in letztlich desillusionierte Karrieremacherei zu enden.“ (S. 14)

[3] Williams: „Was unsere derzeitigen Belange betrifft, sollen wir aus einem anderen Zustand in den Alltag (und damit zu den von allen anerkannten Alltagswahrheiten) zurückgerufen werden, nämlich aus einem politisierten Zustand der Verneinung.“, S. 25.

[4] Williams: „Ich werde jedoch behaupten, daß sie ebenso wie die radikaleren Verneiner die Vorstellung ernst nehmen müssen, daß wir in dem Maße, in dem wir den Sinn für die Wahrheit verlieren, bestimmt manches und möglicherweise alles einbüßen.“, S. 20.

[5] Wie Williams anhand einiger Textstellen aus Nietzsches Werk nachzuweisen versucht, dass Nietzsche seinen Lesern den unbedingten Willen zur Wahrheit unangesehen aller Konsequenzen (ob es sich dabei um Konsequenzen des Herausfindens, Glaubens oder der wahren Dinge selbst handelt, bleibt dabei offen) nahe zu legen sucht, werde ich im letzten Unterkapitel des zweiten Teils „Nietzsches unbedingter Wille zur Wahrheit“ beschreiben.

[6] Williams: „Die Probleme, um die es im vorliegenden Buch geht, wurden im Grunde von Nietzsche entdeckt.“, S. 28.

[7] Williams: „In diesem Licht besehen, ist der Wunsch, die Dinge im Rahmen unserer intellektuellen Studien und unseres praktischen Lebens richtig darzustellen, eine Sache der Nützlichkeit. Diese Überlegungen können aber unmöglich einen unbedingten Wert der Wahrheit stützen.“, S. 30.

[8] Wie wenig Williams mit dieser Deutung dem Inhalt dieses Paragraphen gerecht wird, werde ich in meinem Schlusskapitel zeigen.

[9] Williams: „Der Wert der Wahrhaftigkeit umfaßt das Bedürfnis, die Wahrheit herauszubekommen, an ihr festzuhalten, sie mitzuteilen, und vor allem sich selbst darüber aufzuklären. Aber mit Nietzsches eigenem Engagement für diesen Wert stellt sich, wie er einsieht, sogleich die Frage danach, was es eigentlich damit auf sich hat. Wir haben die Wahrhaftigkeit einfach hingenommen und sie gründlich mißverstanden. Dementsprechend schreibt er in Jenseits von Gut und Böse: ‚Über das , was ‚Wahrhaftigkeit ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig genug.’“, S. 29.

[10] Williams ist nicht der einzige, welcher Nietzsches Genealogie der Moral als naturalistische Untersuchung bezeichnet. Richard Schacht schreibt in seinem Beitrag „Moral und Mensch“, in: Nietzsches Genealogie der Moral, S. 115-132, zum Beispiel: „Was laut Nietzsche nötig ist, ist eine für Entwicklung und Geschichte sensible, biologisch begründete und konsequent naturalistische Neuinterpretation unserer etwas umgedeuteten menschlichen Realität, die ihre Natur ihrer irdischen und kontingenten Geschichte verdankt.“, S. 116. Natur und Geschichte gerät als Erklärungsgrund in Gegensatz zu metaphysischen Moralbegriffen. Es ist fraglich, ob Williams Auslegung der naturalistischen Untersuchung sich mit Nietzsches Philosophie vereinbaren lässt und ob sein moralisierter Wahrheitswert frei von metaphysischen Vorstellungen ist.

[11] Meiner Äußerung liegt die folgende von Williams zugrunde: „Ich brauche mich nicht mit den gleichen Problemen herumzuschlagen wie manche Verneiner, die den einzigen Baum, der sie zu tragen vermag, zu Staub zerhacken, denn mein genealogischer Bericht trachtet die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit mit einer ehrbaren Ahnentafel auszustatten. Manches davon will schlicht und einfach wahr sein.“, S. 37.

[12] Williams: „Eine Geschichte, die eine gemeinschaftliche Beratschlagung als Weg zum Ergebnis darböte, würde voraussetzen, was sie selbst erst erklären soll. Denn die Menschen, die sich in der ‚früheren’ Situation befinden, müßten bereits dazu fähig sein, den Inhalt von Begriffen wie ‚Gerechtigkeit’ und ‚Eigentum’ und deren Zusammenhänge mit Handlungsgründen zu beurteilen; doch ein wichtiges Ziel der Geschichte besteht darin, den Gehalt dieser Begriffe und Zusammenhänge zu erhellen.“, S. 58.

[13] Williams: „Allgemeines Nachdenken kann zeigen, daß es etwas geben muß, das die Neigung zur Aufrichtigkeit unterstützt, und daß der Akteur dazu in der Lage sein sollte, die Struktur, in die die Aufrichtigkeit eingebettet ist, von innen heraus zu begreifen. Doch die Frage, welches spezifische Gebiet der Werte einer gegebenen kulturellen Situation diese Aufgabe erfüllen wird, ist eine Sache der realen Historie, und diese historische Entwicklung ist recht mannigfaltig und dicht.“, S. 144.

[14] Williams: „Bestimmt richtig ist, daß uns die imaginäre Genealogie nur einen Teil des Weges voranbringen wird, wenn wir unsere eigene Einstellung zur Wahrhaftigkeit begreifen wollen – und das ist schließlich das ursprüngliche Ziel dieser Untersuchung, es ist die besorgte Frage, von der wir ausgegangen sind -, und um hier weiterzukommen, werden wir die Historie benötigen.“ S. 67. Vgl. auch S. 96: Nietzsche hätte in seiner Formulierung (Zitat aus dem Antichrist) den „(echten) Glauben an den Wert der Wahrhaftigkeit“ plastisch veranschaulicht. Nur wenn wir uns „im Bereich der echten Historie bewegen, können wir hoffen, Aufschluss über das Wesen dieses Werts zu gewinnen und einzusehen, warum wir ihn anerkennen müssen.“

[15] Williams: „Er [Nietzsche] lobt die antike Welt, weil sie ,die große, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen’, erfunden und den ‚ Tatsachen -Sinn, den letzten und wertvollsten aller Sinne’, ausgebildet habe. [Nietzsche-Zitate aus dem Antichrist § 59, Nietzsche II, S. 1231].“, S. 33.

[16] Thomas Wolf: „ ‚- denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden -’ Wissenschaft als Lebens-Auslegung bei Nietzsche“, in: Zeitenwende – Wertewende, S. 307-310.

[17] „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie“, hg. V. W. Biemel, 2. Aufl., Den Haag 1962 (Husserliana, Bd. VI).

[18] Ernst Peter Fischer: „ ‚Wir sind von Grund aus - ans Lügen gewöhnt’ Nietzsche und die Naturwissenschaften“, in: Zeitenwende – Wertewende, S. 111-126.

[19] Ders., S. 124.

[20] Ders., S. 119.

[21] Jenseits von Gut und Böse. „Von den Vorurteilen der Philosophen“ § 4, Nietzsche II, S. 569.

[22] Jenseits von Gut und Böse. „Von den Vorurteilen der Philosophen“ § 2, Nietzsche II, S. 568.

[23] Charles Larmore: Der Wille zur Wahrheit (III 23-28), in: Nietzsches Genealogie der Moral, S. 171.

[24] Ders., S. 170.

[25] Ders., S. 173.

[26] Siehe Williams, S. 24, 31, 34 (Dieses Buch führt Williams auch in seiner Literaturliste an)

[27] Zur Genealogie der Moral. Was bedeuten asketische Ideale? § 27, Nietzsche II, S. 897.

[28] Die Fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch § 121, Nietzsche II, S. 124.

[29] Die Fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch: Wir Furchtlosen. § 344, Nietzsche II, S. 206-208.

[30] Nietzsche II: „Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es gibt gar keine ‚voraussetzungslose’ Wissenschaft“, S. 206.

[31] Solche Ausführungen wie: „Also – kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen Nützlichkeitskalkül seinen Ursprung genommen haben, sondern vielmehr trotzdem, daß ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des ‚Willens zur Wahrheit’, der ‚Wahrheit um jeden Preis’ fortwährend bewiesen wird. [...] und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral.“, (Nietzsche II) S. 207.

[32] Nietzsche II: „Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinn, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ‚andere Welt’ bejaht, wie? muß er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsere Welt – verneinen?... Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht.“, S. 208.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Die Moral von Weltvergewisserung und Zweckfreiheit bei Bernard Williams
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltung
Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Seminar bei Frau Prof Himmelmann
Note
2
Autor
Jahr
2005
Seiten
43
Katalognummer
V109693
ISBN (eBook)
9783640078714
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zum Nachdenken und sich Amüsieren
Schlagworte
Moral, Weltvergewisserung, Zweckfreiheit, Bernard, Williams, Bernard, Williams, Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Seminar, Frau, Prof, Himmelmann
Arbeit zitieren
Ute Breitenbach (Autor:in), 2005, Die Moral von Weltvergewisserung und Zweckfreiheit bei Bernard Williams, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109693

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