Der "Großstadtindianer" - Soziokultureller Wandel im Barrio Toba von Resistencia/ Argentinien


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung:
1.1. Geschichte und Gegenwart der Toba in Argentinien
1.2. Problematik des Barrio Toba von Resistencia

2. Hauptteil: Soziokultureller Wandel
2.1. Sprache und Erziehung
2.2. Politisches System
2.2.1. Politische Gruppen und Identifikation
2.2.2. Politische Führungsinstanzen
2.3. Glaubenssystem
2.3.1. Religiöser Synkretismus
2.3.2. Welt- und Selbstbild der Toba

3. Schluss: Zusammenfassung und Prognose
3.1. Isolation, Integration oder Assimilation
3.2. Selbstbewusstsein und Pan-Indigenismus
3.3. Dialog der Kulturen statt ‚Kampf der Kulturen’
3.4. Kultureller Synkretismus

Quellen

1. Einleitung

Erstmals in der Geschichte der Menschheit leben im Jahre 2005 mehr Menschen im urbanen Raum als auf dem Land. Besonders stark sind die Land-Stadt-Mobilitäten in den Entwicklungsländern Asiens und Südamerikas ausgeprägt: In unserem Beispielland Argentinien ist der Anteil der Städter an der Gesamtbevölkerung von 74% im Jahre 1960 bis 1990 auf 86% angewachsen (Gilbert/1984/:26).

Dabei wird die moderne Großstadt immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt des kulturellen Lebens und ist doch selbst ein Melting-Pot der verschiedensten Migranten-Kulturen - von ausländischen Immigranten wie von Arbeitsmigranten aus den Regionen desselben Landes. Während zur ersten Gruppe reichlich Literatur vorhanden ist[1], beschäftigt sich diese Hausarbeit mit einer regional zugewanderten Gruppe: der Etnie der Qom- oder Toba im Barrio Toba in der argentinischen Provinzhauptstadt Resistencia.[2] Dabei geht es um die Frage nach Entwicklung und Ausprägung einer urbanisierten Toba-Kultur und den Prozessen von Kontinuität und Wandel, denen einzelne Kulturelemente im urbanen Raum unterliegen. (Nicht näher eingehen kann ich im Rahmen dieser Hausarbeit auf die Frage nach den Gründen für die Migration vom Land in die Stadt.)

Hauptsächlich stütze ich mich auf die 1992 erschienene Feldforschungsstudie des Ethnologen Michael Fischer, deren Implikationen durch die Berichterstattung argentinischer Medien aktualisiert und ergänzt werden sowie mithilfe der großräumigen Studie von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi über „Migrants, Regional Identities and Latin American Cities“ in einen größeren theoretischen Kontext gestellt werden.

1.1. Geschichte und Gegenwart der Toba in Argentinien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Toba im argentinischen Chaco blieben von den Eroberungszügen der Spanier zunächst verschont, da diese Region mangels Ressourcen nicht von Bedeutung für die spanische Krone war.

Der erste Kontakt zu den Spaniern verschaffte ihnen jedoch Zugang zu größeren Pferdebeständen, mit denen sie im 17. und 18. Jahrhundert Raubzüge auf koloniale Handeltransporte o.ä. machten und so einen großen Teil ihres Lebensunterhalts verdienten. Durch die Übernahme des Pferdes kam es auch bereits zu gesellschaftlichen Veränderungen: größere Gruppen, charismatischer Anführer, Verstärkung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und Machtdiskrepanz etc.

Gleichzeitig kam es immer wieder zu territorialen Streitigkeiten mit den Spaniern, denen die Toba zu Ross zunächst noch ebenbürtig waren. Doch Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Widerstand der Toba durch das argentinische Heer gebrochen und das Chaco frei für eine organisierte Kolonialisierung durch Waldrodung, Zuckerrohr- und Baumwollindustrie und durch den Zuzug von Siedlern für die Landwirtschaft (1895: 10.000 à 1920: 60.000 Einw. à 1935: 200.000 Einw. im Chaco[3] )

Die Kolonialisierung ihres Landes hatte für die Toba verheerende Auswirkungen: Aus den fruchtbarsten Landstrichen wurden sie vertrieben, während das Land zunehmend versteppte, so dass sie gezwungen waren, ihre Arbeitskraft billig der Industrie zur Verfügung zu stellen. Hierdurch wurde die Stellung der Frau weiterhin geschwächt, die Anbindung an den Kapitalismus propagierte ihnen die Akkumulation von Privateigentum, die anstelle der traditionellen Distribution von Gütern in einer Gruppe trat. In dieser Situation erhofften sich die Toba Lösungsversuche seitens ihrer politischen und religiösen Führer, der Piogonak. Doch erstmals hatten diese der veränderten Welt nichts mehr entgegenzusetzen, Aufstände und Revitalisierungsbewegungen wurden blutig niedergeschlagen und der Chaco-Krieg zwischen Argentinien und Paraguay (1932-35) stürzte die Toba endgültig in Orientierungslosigkeit und Selbstzweifel.

Nach ersten erfolglosen Missionierungsversuchen der Toba durch die Jesuiten (Ende 16. – Mitte 18. Jahrhundert) und Katholiken, kamen nun (ab 1941) die protestantischen Pfingstkirchen zum Zuge, die den Armen und Unterdrückten einen Ausweg aus der Misere versprachen: Gleichberechtigung, Wohlstand und ein Bildungs- und Gesundheitswesen sowie eine Reinterpretation der traditionellen Toba-Religiosität. Gleichzeitig errichtete die Regierung (ab 1911) die ersten Toba-Reservate, um die Toba zu „nützlichen Bürgern“ der argentinischen Nation zu erziehen, ohne jedoch auf ihre kulturelle Eigenständigkeit Rücksicht zu nehmen: Anstatt dass die ursprünglich nomadisierenden Toba zu unabhängigen Bauern werden, arbeiten sie weiterhin auf den Plantagen oder migrieren (Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre) in die Städte, zumal ihre religiöse Kraftquelle nicht mehr an einen (natürlichen) Ort gebunden ist.

Wie die Mehrheit der 450.000 argentinischen Indianer leiden die 20.000 Toba der Provinz Chaco (Stand: jeweils Ende der 80er Jahre) unter Diskriminierung durch die Weißen und Criollos, die in ihnen „Repräsentanten der Rückständigkeit und Unterentwicklung“ ihres Landes sehen und sie möglichst schnell assimilieren wollen. Zumindest offiziell beginnt zu Anfang der 80er Jahre jedoch eine Politik der „Integration und Revalorisierung“ der indianischen Kulturen, im Rahmen derer es auch zu Landrückgaben kommt. Mehr als ein Drittel aller Toba bewohnte damals (Ende der 80er Jahre) bereits die Peripherie der Städte; die Situation dieser Stadt-Toba unterscheidet sich fundamental von den Land-Toba, da sie den stärksten kulturellen Wandel erlebt haben und erleben.

Toba-Viertel, sogenannte „Barrio Toba“, gibt es an den Rändern vieler Städte des Chaco. Die Tendenz von Migranten mit demselben kulturellen Hintergrund, in einem eigenen Viertel zu siedeln, beschreiben Altamirano und Hirabayashi als besonders ausgeprägt in ganz Lateinamerika: „[T]here has been a marked tendency for migrants with similar geographical and cultural origins, and similar urban class positions to settle in contiguous zomes of the city, at least initially.“[4]

Heute haben viele dieser Barrios mit einer Übervölkerung zu kämpfen, da es eine starke Migration vom Land in diese Viertel gibt und ihre Ausdehnung unerwünscht ist. So wurden erst im Dezember 2004 Siedler der Toba-Ethnie von einem Stück ungenutzten Privatlandes vertrieben, auf das sie aus den angrenzenden, völlig überfüllten Barrios in Travesía und Almafuerte ausgewichen waren. Zwar bemühen sich laut xxx (Zeitung) regionale und nationale Stellen um eine Lösung des Konflikts, doch bislang konnte noch kein Ersatzland angeboten werden. Die potentiellen Fürsprecher kapitulieren vor dem Problem; die Chefin der öffentlichen Wohnraumbehörde fühlt sich für dieses Privatland nicht verantwortlich (“no puedo ordenar nada sobre un terreno que no es propiedad del estado“) und die Sprecherin des nationalen Instituts für indigene Fragen (Instituto Nacional Asuntos Indígenas INAI) weist die Toba in ihre Schranken, da sie keine Lösung sieht: „las soluciones no son mágicas“.[5]

1.2. Problematik des Barrio Toba von Resistencia

Das größte Toba-Viertel existiert in der Provinzhauptstadt Resistencia, die zu ihrem Namen („Widerstand“) kam, weil sie den Angriffen der indigenen Chaco-Bevölkerung seit ihrer Gründung 1750 widerstand. Drei bis fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt leben dort heute 1 500[6] Qom („Toba“) auf nur 45 000 m2. Damit besitzt das Barrio Toba eine auch für den urbanen Raum extrem hohe Bevölkerungsdichte (über 30000 Einw./km2 - im Vergleich zu Gesamtargentinien mit 13,3 Einw./km2 oder Deutschland mit 229 Einw./km2!). Damit sind ähnliche Probleme wie in den Nachbarstädten Travesía und Almafuerte vorprogrammiert.

Abgesehen vom räumlichen sind die Qom des Barrio Toba dem kulturellen Druck ausgesetzt, den das urbane Leben auf ihre Gemeinschaft ausübt. Ähnlich wie Fischer beschreiben die amerikanischen Anthropologen Altamirano und Hirabayashi in einer Studie über regionale Identitäten im urbanen Raum das Problem jeder Land-Stadt-Migration: „[W]hile such migrants often bring their native languages, their worldviews and values, and memories of their customary forms of mutual aid and social organization with them when they move, these necessarily undergo a profund transformation in the urban setting.“[7] Die Migration in die Stadt als letzter Ausweg einer Kultur, deren nomadische Lebensweise von den kolonialen Eroberungen zerstört und die in der Saisonarbeit auf dem Land ausgebeutet wird, fordert ihren Tribut: Im städtischen Kosmos haben viele Elemente der ursprünglichen Kultur im Laufe der letzten beiden Generationen ihre Bedeutung verloren und werden bloß noch von der älteren Generation erinnert und gepflegt, allen voran die Toba-Sprache(n) sowie Elemente des religiösen und politischen Lebens, auf die ich im folgenden eingehen möchte. Dabei sind insbesondere die langfristigen Folgen des Kulturkontaktes im Mikrokosmos der Stadt Resistencia von Interesse: Hat sich die Kultur der urbanen Qom-Gemeinschaft gegenüber der Mehrheitsgesellschaft der Stadt Resistencia und der argentinischen Nation isoliert, integriert und einen Synkretismus geschaffen oder komplett assimiliert? Welche Zukunftschancen hat die Toba-Kultur und wie kann ihre Erhaltung gesteuert werden?

2. Hauptteil: Soziokultureller Wandel

2.1. Sprache und Erziehung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Schulklasse in der Gemeindebibliothek des Barrio Toba von Resistencia

In der ursprünglichen Toba-Gesellschaft, wie sie in der Region Chaco auf dem Land noch anzutreffen ist, obliegt die Erziehung beiden Elternteilen, aber auch anderen Familienmitgliedern und der Schweifgruppe. Das Erlernen von Selbstverantwortung spielt dabei von klein auf eine wichtige Rolle: Schon im jungen Alter dürfen die Kinder frei ihre Entscheidungen treffen.

Unter den Stadt-Toba von Resistencia hat die Großfamilie an Bedeutung verloren, etwa auf erzieherischem Gebiet, da dort die Pfingstkirchen, die Schule und das Fernsehen an die Stelle der Familie getreten sind. Zwar wohnen noch immer oft drei oder vier Generationen zusammen, doch die räumliche Enge und die sprachlichen Verständigungsprobleme sorgen für Konflikte in der Großfamilie. Der Graben zwischen kultureller Kontinuität und Wandel verläuft mitten durch die Familien, denn die Weltsicht der Großeltern ist eine völlig andere als die der Enkel, da die Großeltern und auch teilweise die Eltern bei dem hohen Tempo des Wandels nicht mehr mithalten können, zum Beispiel können Eltern bei Schulproblemen nicht helfen, da ihr Bildungsstand oft zu gering ist. Oft kommen noch sprachliche Barrieren hinzu, da die Enkel teilweise nur Spanisch sprechen und die Großeltern nur Toba.

Diese Entwicklung widerspricht der These einer verstärkten und generellen Diglossie im urbanen Raum, die Altamirano und Hirabayashi aufstellen: „Native languages are also reinforced in urban settings, since day-to-day family life is often transacted in such terms, especially between the female children and the senior members of the household.“[8] Dennoch könnte man untersuchen, in wie fern das Spanisch der Toba in Resistencia nicht doch für die traditionelle Denkweise modifiziert wird, denn „even the content and the message of spoken Spanish can still be influenced by native indian worldviews and languages.“[9]

Eine zentrale Rolle in der Erziehung spielt die Organisation des Roten Kreuzes (Cruz Roja), das im Jahre 1961 eine Schule eröffnete, in der im Jahr 2005 rund 450 Kinder unterrichtet werden. Auf ihrer Internetseite schmückt sich das „Cruz Roja“ mit der Einführung einer bilingualen und interkulturellen Erziehung, die die Erhaltung der Toba-Traditionen berücksichtigt („la educación bilingüe e intercultural respetando la conservación de las tradiciones Tobas“[10] ). Dabei wird jedoch verschwiegen, dass diese kulturrelativistische Haltung keineswegs von Anfang an gegeben war; das ursprüngliche Ziel des Roten Kreuzes war im Gegenteil die Umerziehung der Toba zu „guten Argentiniern“: Die traditionell gleichberechtigten Toba-Frauen bekamen im „Haus der Frauen“ und im „Mütterclub“ Unterweisungen in sozialen, moralischen und hygienischen Fragen; sie sollten sich der argentinischen „Machismo“-Kultur beugen. Zu Ende der 80er Jahre fand jedoch auch beim Roten Kreuz ein Umdenken statt und die Erziehung wurde auf Integration statt auf Assimilation ausgerichtet: 1988 wird ein Projekt zur bilinguen und bikulturellen Erziehung ins Leben gerufen. Für dieses Projekt wurden fünf Jugendliche ausgewählt unter den Gesichtspunkten der Toba-Identität, Interesse für die eigene Kultur, abgeschlossene Volksschule und didaktischen Fähigkeiten. Diese wurden in der Sprache und Kultur der Toba unterrichtet, wobei sie aber gleichzeitg weiterführende Schule besuchen sollten. Das Ziel dieses Projektes war es, die Aspekte der Toba-Kultur, wie Sprache und Naturwissen, in den Unterricht zu integrieren. Die Jugendlichen sollen später selbst unterrichten und zwar nicht als „Toba-Hilfslehrer“ sondern als „diplomierter Toba-Lehrer“

2.2. Politisches System

Der Weg zur politischen Selbstbestimmung der Toba von Resistencia war (und ist noch) lang, da viele traditionelle Organisationsstrukturen in der Stadt nicht mehr greifen und der Staat an ihre Stelle tritt. Die Gründerphase des Barrio Toba war von einem kontroversen Verhältnis zur Regierung bestimmt, denn einerseits bedürfen die Toba der Unterstützung (Engagement des Roten Kreuzes und Häuserbau durch den argentinischen Staat), andererseits geraten sie dadurch zunehmend in politische Abhängigkeit. Zu Beginn der 70er Jahre beginnen die Toba sich zu emanzipieren und die Stadtteilvertretung „Comission Vecinal“ zu gründen, deren Ziel es ist, die Geschicke des Barrio selbst in die Hand zu nehmen und nicht mehr länger dem Roten Kreuz zu überlassen. Zu Beginn der Diktatur beendet die Intervention des Staates die Arbeit der der Comisión; ihr Präsident wird 1976 als „Terrorist“ verhaftet und das Rote Kreuz übernimmt wieder die Kontrolle. Bis 1982, kurz vor Ende des Regimes von Videla, Viola und Massera wagt es niemand, im Barrio politisch tätig zu werden. Erst nach Ende des „Guerra Sucia“ (1983), unter dem neuen Präsidenten Alfonsín wird die Comision Vecinal provisorisch neu gegründet.

2.2.1. Politische Gruppen und Identifikation

Die politische Organisation der Toba hat durch die Migration vom Land in die Stadt Resistencia eine Reihe sichtbarer Veränderungen durchgemacht.

Die traditionelle Toba-Kultur organisierte sich nach ethnischen, räumlichen, sprachlichen und wirtschaftlichen Kriterien: Zunächst bilden bei den Toba mehrere erweiterte Familien flexible Schweifgemeinschaften, die ein fest umrissenes Gebiet nomadisieren und sich zu bestimmten Anlässen (Sammeln der Algarrobo-Früchte, Tausch, Heirat oder Gefahr) mit anderen Schweifgemeinschaften zu Makro-Gruppen zusammenschließen. Im Barrio Toba hat die nomadische Großfamilie und erweiterte Großfamilie laut Michael Fischer ihre Funktion verloren; in einem Prozess zunehmender Individualisierung konzentrieren sich die Stadt-Toba im alltäglichen Leben auf ihren Haushalt und die dort lebende Kernfamilie.

Auf einer weiteren Organisationsstufe bilden die traditionellen Toba Subgruppen, die sich durch einen bestimmten Dialekt, eine bestimmte Herkunftsregion und Subsistenzbefriedigung voneinander unterscheiden. Das Barrio Toba ist ein Konglomerat von Toba aus gut einem Dutzend verschiedener Subgruppen, doch ein gemeinschaftliches Handeln in den einzelnen Gruppen findet nicht mehr statt. An die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subgruppe erinnert heute bloß noch der spezifische Dialekt, der mit der sprachlichen Assimilation jedoch immer mehr verblasst.

An die Stelle der traditionellen Verwandtschaftsgruppen („ascribed position“) tritt die Zugehörigkeit und Identifikation mit politischen Gruppen („achieved (chosen) position“):

Zum Zeitpunkt von Fischers Feldforschungen konzentrierte sich das politische Interesse der Stadt-Toba in erster Linie auf die Toba-Parteien in der Provinz Chaco: Eine konservative Linie, die die Vereinigung von religiöser und politischer Führung beibehalten wollte, stand einer modernistischen Richtung gegenüber, die sich an der argentinischen Laizität orientierte und vor allem jüngere nichtgläubige oder nicht praktizierende Toba anzog. Der nationalen Politik begegneten die meisten Toba noch skeptisch; sie entwickelten keine feste Parteiverbundenheit entweder zu den Peronisten oder den Radikalen, da sich weder die einen noch die anderen wirklich für ihre Interessen einzusetzen schienen. Fischer prognostiziert längerfristig jedoch einen Bedeutungsverlust der Toba-Provinzfraktionen und ihre Assimilation in den großen nationalen Parteien.

Einzig in einem Punkt erhält sich die ethnische Gruppenbildung im Barrio Toba: Denn einer Mehrheit von Toba steht eine Minderheit von Criollos gegenüber, welche in der Entwicklung des Barrios häufig übergangen wurden und sich daher an den kommunalen Aktivitäten nicht beteiligen. Ihr Verhältnis wird als gespannt beschrieben, scheint sich in der jüngeren Generation allerdings allmählich zu lockern. Eine schichtspezifische Gruppenbildung nach Vorbild der argentinischen Gesellschaft gibt es innerhalb des Barrio Toba nicht.

2.2.2. Politische Führungsinstanzen

Auch die politischen Führungsinstanzen der Toba haben in der Stadt Resistencia ihre Bedeutung verschoben und neue hinzugewonnen:

Als Führer einer Schweifgemeinschaft kamen dem „Cacique“ in der ursprünglichen Kultur religiöse und politische Funktionen zu; er musste seine Stellung aber durch besondere praxisorientierte und transzendentale Fähigkeiten legitimieren, hatte keine Befehlsgewalt und war jederzeit absetzbar. Zwar hat sich das Amt des „Cacique“ im Barrio Toba dem Namen nach erhalten, doch dieser erfüllt nur mehr Repräsentationsaufgaben, da im engmaschigen politischen System der argentinischen Regierung kein Amt für ihn vorgesehen ist. Da er außerdem nicht abwählbar ist und die traditionellen Legitimationsformen nicht erfüllt, ist er konservativen wie modernistischen Toba ein Dorn im Auge.

In Gefahrensituationen kann kurzzeitig auch ein charismatischer Führer an die Spitze einer Makro-Einheit treten. Eine solche informelle Führungspersönlichkeit ist zwar im Barrio Toba nicht vorgesehen, doch hat es sie auch gegeben, als ein besonders beliebter und fähiger Toba zum Gründer der lokalen Pfingstkirche wie der politischen „Comisión Vecinal“ wurde. Diese beiden Instanzen sind heute wohl die wichtigsten politischen Vertreter des Barrio Toba und erfüllen damit die Rolle des mächtigen Piogonak, des Schamanen, der wie der Cacique religiöser und politischer Führer in Personalunion war. Im Barrio Toba gibt es noch einen Piogonak, doch seine politische Autorität hat er im Zeichen der Laizität abgegeben. Politisch wird das Barrio Toba offiziell also von einer rein politischen Organisation vertreten: der „Comisión Vecinal“, einer Stadtteilvertretung nach dem Vorbild von Resistencia. Doch faktisch hat sich die Laizität im Barrio noch nicht durchgesetzt; inoffiziell spielt die Pfingstkirche eine wichtige politische Rolle, indem sie sich in alle Belange des Barrio einmischt.

Grundsätzlich hat sich die politische Führung vom Teilzeitexpertentum zur permanenten Führung gewandelt. Doch die Einstellung zur Rolle der Politik blieb weitestgehend erhalten: Die Bewohner des Barrio Toba unterscheiden sich von anderen Einwohnern der Stadt Resistencia schon dadurch, dass sie wie ihre Vorfahren eine Befehlsgewalt ablehnen. Daher verlangen sie mehr noch als andere Wähler eine besondere Qualifikation von ihren politischen Vertretern, wobei sie ihre Idealvorstellungen des Politikers an die Erfordernisse des Stadtlebens angepasst haben: Während dieser früher vor allem ein guter Jäger und Krieger sein sollte, wird von ihm heute ein hoher Bildungsgrad, Spanischkenntnisse, Redegewandtheit und Bekanntschaft mit Politikern verlangt. Ein Beispiel dafür, dass sich vom Staat erzwungene Adaptationen nur zum Schein durchsetzen, während das alte Modell weiterbesteht, ist die Vereinigung von religiöser und politischer Führung unter einem Dach: Offiziell wurde im Barrio zwar die Laizität eingeführt, faktisch vermischen sich beide Führungstypen durch doppelte Mitgliedschaften und erweiterte Kompetenzen etwa der Pfingstkirche aber weiterhin.

Parallel zu den offiziellen Stadtteilvertretungen etabliert sich in vielen Städten Südamerikas (etwa in Peru wie in Paul Daughtys Beispiel) eine politische Selbstverwaltung in der Form von Migrantenvereinen, deren Mitglieder eine gemeinsame Herkunftsregion haben. Diese Gruppen ermöglichen oft den Brückenschlag von der Metropole zur marginalisierten Ursprungsregion der „neuen Städter“: „The clubs thus functioned as mechanisms by which people could ‚live in two worlds’.“ Diese Verbünde übernehmen die traditionelle Rolle des charismatischen Führers, wenn sie in Phasen größerer Schwierigkeiten eingreifen: „[I]n response to high stress [...] and deep need [...] the regional clubs have reacted, often in impressive fashion.“[11] So bezieht die Migrantengruppe ‚César Chavez’ des Barrio Toba im Januar 2004 Stellung, als die Toba des Chaco vor Gericht Anklage erheben gegen die Schändung eines Friedhofs im nördlichen Chaco, 86 km von Resistencia entfernt.[12] Damit zeigen die Stadt-Toba ihre dauerhafte Verbindung und Solidarität mit den Toba auf dem Land. Eine solche Eigeninitiative ist für autochthone Gruppen gerade in Lateinamerika überlebenswichtig geworden, da der Staat bei ihrer Integration versagt[13]: „ The continuing significance of regional identity is based in part, then, on the failure of the economic modernization project in Latin America to produce an even pattern of spatial and social development.“[14]

2.3. Glaubenssystem

Neben den indigenen Religionen sind in Lateinamerika hauptsächlich die Katholische Kirche (mit der Befreiungstheologie) und die evangelischen „Pfingstkirchen“ von Bedeutung.

Für die Toba vom Barrio Toba ist die Katholischen Kirche von nur geringer Bedeutung. Zwar gibt es unter den Criollos des Barrio Toba viele Katholiken, doch die Toba können mit der Symbolik des katholischen Glaubens wenig anfangen: Im Gegensatz zu ihrer Ursprungsreligion ist Gott zu weit entfernt und über direkte Kommunikation nicht zu erreichen. Katholische Praktiken wie Taufen und Haussegen gehen jedoch zum Teil als zusätzliche Kraftquelle in die synkretistische Religion der Toba ein.

Die Mehrzahl der Toba ist statt dessen Mitglied in einer der vier Pfingstkirchen des Barrio, von denen die Iglesia Evangélica Unida als einzige unabhängige Toba-Kirche die meisten Mitglieder hat. Die Akzeptanz der Pfingstkirchenideologie wurde dadurch vereinfacht, dass sie der Toba-Religion von vornherein recht nah stand und wie sie Krankheit als Strafe oder Prüfung, Krankenheilung, Bekämpfung von Schadenszauber, direkte Kommunikation mit der transzendenten Welt, Tranceerlebnisse und Visionen und eine apokalyptische Weltsicht kennt.

Sie alle sind ultrakonservativ, legen die Bibel wörtlich aus und feiern täglich Gottesdienste in festen Kirchen. Als „Kirche der Armen und Unterdrückten“ bietet sie gerade der älteren Generation Trost und praktische Lebenshilfe: In den Zusammenkünften der Gläubigen geht es oft um lebensweltliche Fragen wie Alltags- und Generationsprobleme oder Erziehung.

Die wichtigste religiöse Instanz, der Schamane oder „Piogonak“, hat sich im Barrio zwar erhalten, doch seine Macht ist stark eingeschränkt: Der visionäre Flug, der ihn unbeschadet in Kontakt mit den Gottheiten treten lässt, ist dem Piogonak des Barrio Toba nicht mehr möglich. Statt mit Achtung wird ihm mit Furcht begegnet, wozu die Pfingstkirche mit ihren Warnungen maßgeblich beiträgt. Seine Stellung hat im Barrio der Toba-Pastor übernommen, der dennoch nie die Bedeutung eines Pastors einer „weißen“ Pfingstkirche“ erlangt hat: So ist er nach altem Toba-Prinzip wie der Piogonak „primus inter pares“ und bekommt nur einen geringen Lohn. Viele Elemente der Ursprungsreligion haben sich also leicht modifiziert erhalten, wie etwa das Berufungserlebnis des „Piogonak“: Während die Schamanen der traditionellen Toba-Kultur ihre Berufung im Wald erhalten, gibt es im Barrio Toba einen „Stadtschamanen“, der angibt, in der Pfingstkirche durch den Satan (!) berufen worden zu sein. Damit greift er ironisch die ablehnende Haltung der Pfingstkirchen gegenüber vieler Elemente der Toba-Religion (wie dem Schamanismus) auf, die zu einer Zeit von „Morallosigkeit und Irrglauben“ erklärt wird. Traditionelle Toba-Mächte werden als „Kräfte des Bösen“ gedeutet: zum Beispiel ist Nouet, der „Vater der Tiere“ für die Gläubigen der Pfingstkirche der „Diener Satans“. Dabei werden mythischen Wesen und der religiösen Führer in der traditionellen Religion als ambivalent, als sowohl gut wie böse, wahrgenommen. Der Druck, den die protestantischen Pfingstkirchen auf indigene Gruppen in Stadt und Land ausüben, ist seit Ende der 80er Jahre noch gewachsen. Sie agieren gezielt gegen die Bewahrung der Ursprungskultur, die als „equivalent of backwardness - obstacles for modernization that [...] are to be avoided at all costs“[15] gesehen wird.

Neben der Toba-Kultur stößt auch das moderne urbane Leben (Fußball spielen, ins Kino oder tanzen gehen, rauchen oder trinken) in der Pfingstkirchen-Ideologie auf Ablehnung, was diese bei den jugendlichen Stadt-Toba unattraktiv macht.

2.3.1. Religiöser Synkretismus

Dennoch steht die Pfingstkirche der traditionellen Religion in vielem sehr nahe. Gerade die Iglesia Evangélica Unida hat zahlreiche Elemente der Toba-Kultur übernommen, etwa den Tanz als religiöses Ausdruckmittel, die Deutung von Träumen als Visionen oder die Übernahme der Toba-Sprache „Qom“ als gleichberechtigte Gottesdienstsprache neben Spanisch, wodurch eine synkretistische Religion entstand, die den Toba ermöglicht „to reinterpret their ‚native’ culture with forms of the ‚occidental’ culture predominant in urban Latin American settings and create new, intermediate cultural forms.”[16] Ein Wandel der traditionellen religiösen Elemente ist möglich, aber nicht notwendig: “Once in the urban setting, religious values can shift more to the Christian occidental pole; nonetheless such a process is by no means mechanical.”[17] Dies wird unterstrichen durch die verbreitete Ansicht im Barrio Toba, dass Gott nicht mächtiger sei als der “Piogonak”.

2.3.2. Welt- und Selbstbild der Toba

Das religiöse Weltbild der Toba ist stark an den Naturraum gebunden, den sie verlassen haben, als die Macht der Piogonak gegen die Kolonialisierung versagte. Desto erstaunlicher ist es, dass die Toba ihre ursprüngliche Wahrnehmung der transzendenten Welt im urbanen Raum nicht gänzlich verloren haben und sie nur teilweise durch ein christliches Weltbild ersetzt haben:

Nach traditioneller Sicht besteht die Welt aus fünf Schichten, in denen drei Wesensarten vorkommen: Himmelwesen, Erdwesen und Wasserwesen. Heute haben die meisten Toba des Barrio Toba die christliche Idee einer dreigeteilten Welt mit Himmel, Erde und Hölle und der Wesenshierarchie „Gott, Heilige, Menschen, Satan“ übernommen. Die Vorstellung der existentiellen Abhängigkeit des Menschen von einem „Höchsten Wesen“ ist den Toba komplett neu und weckt in ihnen bisher ungekannte Gefühle von Verehrung, Hingabe, Furcht und Scheu.

Traditionelle mythische Wesen werden von den Stadt-Toba zwar noch immer anerkannt, doch im Barrio sind sie nur noch für den Schamanismus relevant. Man sagt, sie haben sich in die ländlichen Gebiete zurückgezogen. Die „Señores“ der Tier- und Pflanzenwelt haben in der Stadt jedoch ihre Daseinsberechtigung verloren; die Natur wird objektiviert und entmystifiziert. Statt dessen haben die Stadt-Toba Figuren aus dem Folk-Glauben des argentinischen Nordostens übernommen, wie etwa den „San de la Muerte“ und den „Pomberito“. Toba-Mythen werden nicht mehr tradiert und viele Kinder kennen eher Grimms Märchen als die traditionellen Toba-Erzählungen.

Der Toba des Barrio Toba hat seinen Platz nicht mehr in diesem Kosmos, sondern am unteren Rand und ist sowohl Gott als auch den „Gringos, den Nicht-Indigenen untergeordnet. Die täglich erlebte Ignoranz und Diskriminierung führt bei vielen jungen Toba dazu, dass sie sich wenn überhaupt als „Indígena“, wenn nicht gar als Weiße bezeichnen, wie ein Teilnehmer an einer Konferenz zu einem indigenen Kommunikationsnetzwerk im Interview mit dem „Diario Norte“ bedauert: „[L]a educación estatal argentina ayudó a que algunas comunidades aborígenes fueran exterminadas culturalmente. […] Gran parte de la población criolla argentina tiene sangre indígena; pero como el nombre indígena está tan desprestigiado, muchos esconden su identidad.”[18] Das ständige Unterlegenheitsgefühl scheint nur durch eine Verachtung der Land-Toba und der traditionellen Kultur zu kompensieren sein, was die Assimilation in die dominante Gesellschaft beschleunigt.

3. Schluss: Zusammenfassung und Prognose

3.1. Isolation, Integration oder Assimilation

Hat sich die Kultur der urbanen Qom-Gemeinschaft gegenüber der Mehrheitsgesellschaft der Stadt Resistencia und der argentinischen Nation isoliert, integriert und einen Synkretismus geschaffen oder komplett assimiliert? Welche Zukunftschancen hat die Toba-Kultur und wie kann ihre Erhaltung gesteuert werden?

Der Vergleich der Toba-Kultur im Barrio Toba von Resistencia mit ihrer ursprünglichen Ausprägung zeigt Elemente des Wandels, Elemente der Kontinuität, sowie Elemente, die momentan im Wandel begriffen sind. Durch die Migration der Toba in das urbane Milieu fand ein deutlicher Wandel in allen Bereichen des Lebens statt, vor allem jedoch in Bezug auf das soziale und das Wirtschaftsleben[19]. Im Wandel begriffen sind einzelne Elemente des Glaubenssystems wie die Rolle des/ der religiösen Führers/ Führer, das Verhältnis von Politik und Religion sowie das Weltbild der Toba. Dagegen sind es aber gerade auch viele religiöse Bereiche, die vom Wandel weitesgehend verschont blieben, was damit zusammenhängt, dass die Pfingstkirchen für Erweiterungen im Sinne einen synkretistischen Glauben offen sind.

Michael Fischer schlägt zwei Modelle zu kontroversen Arten der Adaptation vor:

a.) Assimilationsmodell:

Durch den permanenten Kontakt mit der dominanten Kultur (durch Umgang mit den Criollos im Barrio, Massenmedien und der suburbanen Lage) wird ein solcher Assimilationsdruck auf die Toba ausgeübt, dass diese durch radikale Abkehr von ihrer Tradition reagieren.

b.) Integrationsmodell:

Trotz des Assimilationsdrucks sind die Toba bestrebt, ihre Kultur nicht aufzugeben, sondern sie in die dominante Kultur einzubetten und so ihre Eigenständigkeit zu bewahren. à z.B. „Indianergesetze“, u.a. zur Landrückgabe

Das Integrationsmodell als ideale Adaptationsform ist das Ergebnis eines Sinneswandels, der zu Beginn der 80er Jahre bei führenden Politikern beider Seiten (Toba/ dominante Kultur) einsetzte. Denn langfristig zeigte die Assimilation keinen Erfolg, da sie aus dem Toba keinen Criollo macht, sondern ihn marginalisiert, kulturell entwurzelt und ohne Selbstachtung zurücklässt. Dagegen bestärkt die Integration ihrer Kultur in eine andere die Toba in ihrem Selbstwertgefühl. Nach Fischers Auffassung wird sich das Integrationsmodell durchsetzen, da es sogar reinen Kosten/Nutzen-Erwägungen seitens der dominanten Kultur genügt.

Doch kam dieses Umdenken rechtzeitig und kann die Bewahrung und Integration der Toba-Kultur verwirklicht werden? Ist es für die Rettung einer lebendigen autochthonen Kultur im Barrio Toba nicht schon zu spät - wenn man bedenkt, wie weit der Wandel und das Vergessen fortgeschritten sind? Diese Fragen stellte Fischer nach seiner Feldforschung in den späten 80er Jahren. Schon damals mutmaßt er, es könne auch in der Stadt durchaus zu einer Wiederbelebung des kulturellen Erbes kommen, das auf dem Land noch lebendig ist, das sich in der Stadt im Laufe von zwei Generationen jedoch verloren hat. Für einen erfolgreichen Integrationsprozess genügen bilinguale Projekte im Erziehungssektor jedoch nicht, da sie zwar Identität stiften, aber die Diskriminierung außerhalb des Barrios nicht abbauen; darüber hinaus plädiert Fischer deshalb für einen übergreifenden offenen Dialog auf allen Ebenen (Massenmedien, Politik, Erziehung).

3.2. Selbstbewusstsein und Pan-Indigenismus

Fischers optimistische Prognosen haben sich bewahrheitet:

In der aktuellen Berichterstattung der argentinischen Medien gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass sich einerseits das Selbstbewusstsein der Toba-Gemeinschaft innerhalb des Barrio verbessert hat und andererseits der Dialog mit den Menschen außerhalb des Barrios und der eigenen Ethnie verstärkt wurde:

Es scheinen gerade die Eigenheiten der Stadt zu sein - die räumliche Nähe und Konzentration fast aller Toba von Resistencia in einem Barrio -, die den assimilierenden Einfluss derselben überwinden helfen: „Common residence in such areas allows more frequent interactions in terms of the social and cultural bases outlined above, in such a fashion that the importance of regional ties and values (including those having to do with language, religion, time and space, and the arts) may be reinforced.”[20]

Assimilation ist in erster Hinsicht innerhalb des Barrios festzustellen: Denn die Bevölkerung des Barrio Toba ist bei näherem Hinsehen keineswegs homogen, sondern vereinigt ein gutes Dutzend verschiedener Qom-Ethnien des ganzen Chaco-Gebietes sowie einige Criollos. In Opposition zur dominanten Stadtkultur Resistencias sowie zum Teil noch zur Criollo-Minderheit verschwinden die ursprünglichen Konflikte der einzelnen Toba-Subgruppen, kulturelle Differenzen werden nivelliert und es bildet sich ein pan-indigenes Selbstverständnis heraus. So kommt es in vielen Lebensbereichen zur Symbiose der verschiedenen kulturellen Kräfte des Barrio, die Konzepte einzelner Subgruppen werden von allen Toba aufgegriffen und bereichern die Gemeinschaft.

3.3. Dialog der Kulturen statt ‚Kampf der Kulturen’

Das pan-indigene Selbstverständnis, das sich auf diese Weise in Städten wie Resistencia herausbildet, beginnt bereits über den urbanen Raum hinaus zu wirken, etwa mittels der neuen Medien. So fand kürzlich eine Konferenz verschiedener nordargentinischer Ethnien im Barrio Toba von Resistencia statt, in der die Schaffung eines indigenes Kommunikationsnetzwerks beschlossen wurde, das die mediale Präsenz der indígenas verbessern soll. Übers Radio wollen die Indigenen einerseits ihre Themen einer breiten Öffentlichkeit publik machen und gleichzeitig eine Plattform für die eigene Bildung und Erziehung schaffen, welche die Bewahrung und Restituierung ihrer Kultur innerhalb der Gemeinden ermöglicht: „La comunicación, para nosotros, es muy importante. Porque los valores de las comunidades indígenas que están más en riesgo son los culturales: sólo 10 o 15% quedan en este momento: mantenemos nuestras lenguas y sólo algunas pautas y costumbres culturales. Pero lo bueno es que se está haciendo este trabajo a nivel educativo y cultural. Si se mantiene este perfil cultural, en veinticinco o treinta años estaríamos recuperando entre el 40 y el 45% de nuestros valores. Nuestros niños van a crecer hablando el idioma.” [21]

Diese großräumige Identifikation und das gemeinschaftliche Agieren kann helfen, die Marginalisierung zu überwinden: “’Regional identities’ help to reduce the social, cultural, and psychological marginality of new migrants into the city. This is because regional identities faciliate the reinterpretation, within the urban context, of regional and […] indigenous peasant culture beyond the point of origin.”

3.4. Kultureller Synkretismus

Dabei sollte jedoch betont werden, dass Kontinuität nur dem Sinne nach möglich ist, dass aber natürlich keine 1:1-Reproduktion der ländlichen Toba-Kultur im städtischen Rahmen möglich ist. Was Hirabayashi über die indigenen Stadtbewohner in Mexiko schrieb, gilt also auch hier: “Such manifestations should not be seen as an extension of rural values and institutions to the city; rather, they constitute a unique synthesis of social elements, many of which may be based on rural experience, but which are creatively tailored to new purposes in the urban setting.”[22] Spanisch sprechende, aber Toba denkende Qom[23], hochoffizielle doppelte Mitgliedschaften in der politischen und der religiösen Vertretung des Barrio[24], ein Piogonak, der seine Berufung in der Kirche durch den Satan erlebt[25] – sie alle sind Teile eines “new citified lifestyles which reflect their rural backgrounds”[26].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach Jahren der Diskriminierung und Verunsicherung haben sich die Qom des Barrio Toba emanzipiert und organisiert und handeln nach der Devise “soviel Wandel wie nötig, soviel Kontinuität wie möglich”. Souverän bedienen sie sich urbaner politischer Strukturen und moderner Medien (v.a. Radio und Internet), um ihre Interessen zu vertreten, ihre Traditionen zu verbreiten und den Kontakt zu den Land-Toba zu erhalten. Wenngleich auch zum großen Teil noch im informellen Sektor[27] schaffen es immer mehr Toba, sich ins urbane Arbeits-Leben und das Barrio ins allgemeine Bewusstsein zu integrieren. Symbolisch dafür steht die neu gegründete ‚Cooperativa Artesanal’, die Kunsthandwerk-Kooperative, die inzwischen in jedem Reiseführer aufgeführt ist. Spätestens seitdem machen Gringos keinen Bogen mehr um das Barrio Toba, sondern kommen eigens von weit her, um vor Ort Töpfer-, Korb- und Lederwaren im traditionellen Toba-Stil zu kaufen. Ihre Kultur ist kein Hindernis mehr zum Erfolg, sondern eine Chance: Die Toba, die am besten von ihrer Kultur und den Stadt-Land-Netzwerken zu profitieren wissen haben im Gegenteil die besten Chancen, wie auch Altamirano und Hirabayashi bestätigen: „The kinship, ethnic, and regional ties available to indigenous peasant migrants are central to their personal, social, and economic survival in Latin American cities.“[28]

QUELLEN

Agencia Télam: Denuncian profanación de cementerio Toba en el Chaco. http://argentina.indymedia.org/news/2004/01/167157.php ( 15.1.2004).

Albó, Xavier: The Two Faces of a City. In: In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 113-147.

Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Constitution of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 7-24.

Altamirano/ Hirabayashi: An Analytic Query. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S.167-173.

Colectivo Rosario-Indymedia Argentina: Funcionarios se reunieron con tobas de Rosario. http://www.enredando.org.ar/desarrollo_1.shtml?x=18254 (17.12.2004).

Cruz Roja: Escuela Barrio Toba - Resistencia, Chaco. http://www.cruzroja.org.ar/cra/comunitaria/ninos/chaco.html.

Daughty, Paul L.: Life Goes on: Revisiting Lima’s Migrant Associations. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 67-96.

De Godoy, María : Historia y evolucion de la sociedad chaqueña. http://www.chaco.gov.ar/cultura/leopoldo%20marechal/marechal1.htm.

Fischer, Michael: Die Tobakultur in Kontinuität und Wandel. Das Barrio Toba von Resistencia (Argentinien). Göttingen: Edition Re 1992.

Gilbert, Alan: The Latin American City. London:Latin American Bureau, 1994.

Govierno de la Provincia del Chaco: Toda nuestra Cultura. http://www.chaco.com.ar/html/modules.php?name=News&file=article&sid=862.

Hirabayashi, Lane Ryo: The Politicization of Regional Identity among Mountain Zapotec Migrants in Mexico City. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S. 49-66.

Mitchell, William P.: Pressures on Peansant Production and the Transformation of Regional and National Identities. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 25-48.

Roberts, Bryan: Change and Regional Identities in Contemporary Latin American Cities. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 1-6.

[...]


[1] Für das Beispiel Resistencia siehe beispielsweise den Artikel von Prof. María de Godoy „Historia y evolucion de la sociedad chaqueña“, http://www.chaco.gov.ar/cultura/leopoldo%20marechal/marechal1.htm

[2] Zur Quellenlage vgl. Brian Roberts Einführung zum Band Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S.1: “The themes of urban migration and migrant adaptation to the city are familiar ones in the literature on Latin American urbanization. Less attention has been paid to the significance of the regional identities that migrants bring and that not only help them cope with an unfamiliar environment but continue ro shape urban life in the modern Latin American city.”

[3] De Godoy, María C.R. : Historia y evolucion de la sociedad chaqueña. http://www.chaco.gov.ar/cultura/leopoldo%20marechal/marechal1.htm

[4] Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.12.

[5] http://www.enredando.org.ar/desarrollo_1.shtml?x=18254.

[6] http://www.cruzroja.org.ar/cra/comunitaria/ninos/chaco.html

[7] Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.7.

[8] Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.10.

[9] ebd.

[10] http://www.cruzroja.org.ar/cra/comunitaria/ninos/chaco.html

[11] Daughty, Paul L.: Life Goes on: Revisiting Lima’s Migrant Associations. In: Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. S. 87.

[12] Agencia Télam, 15.1.2004, http://argentina.indymedia.org/news/2004/01/167157.php

[13] Vgl. Hierzu auch das anfängliche Beispiel über den Streit um die Erweiterung zweier Barrios auf privatem Brachland und die scheinbare Hilflosigkeit der Behörden.

[14] Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. Hrsg. von Teófilo Altamirano und Lane Ryo Hirabayashi. Society for Latin American Anthropology publication series 1997. S. 3.

[15] Ebd. S. 11.

[16] Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.10.

[17] Ebd.

[18] „Die staatliche Bildung in Argentinien trug lange dazu bei, dass einige indigene Gemeinden kulturell ausgelöscht wurden. [...] Ein Großteil der „weißen“ Criollo-Bevölkerung Argentiniens hat indigenes Blut, doch das ist so verachtet, dass viele ihre Identität verheimlichen.“ (http://www.chaco.com.ar/html/modules.php?name=News&file=article&sid=862)

[19] Vgl. hierzu Referat und Hausarbeit von Dennis Mielke

[20] Altamirano, Teófilo/ Hirabayashi, Lane Ryo: The Construction of Regional Identities in Urban Latin America. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.12.

[21] „Kommunikation ist für uns sehr wichtig. Denn es sind die kulturellen Werte, die in den indigenen Gemeinden am stärksten bedroht sind: nur 10 oder 15 Prozent unserer ursprünglichen Kultur konnte erhalten werden. Wir behalten unsere Sprache und einige kulturelle Regeln und Bräuche bei. Doch das Gute ist, dass dieses Kommunikationsprojekt im Kultur- und Bildungssektor wirkt. Wenn wir so weiter machen, haben wir in 20 oder 30 Jahren 40-45 Prozent unserer Werte wiedergewonnen. Unsere Kinder werden wieder mit unserer Sprache aufwachsen.“ (http://www.chaco.com.ar/html/modules.php?name=News&file=article&sid=862)

[22] Hirabayashi, Lane Ryo: The Politicization of Regional Identity among Mountain Zapotec Migrants in Mexico City. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S. 50.

[23] Vgl. Kapitel 2.1. dieser Hausarbeit.

[24] Vgl. Kapitel 2.2. dieser Hausarbeit.

[25] Vgl. Kapitel 2.3. dieser Hausarbeit.

[26] Mitchell, William P.: Pressures on Peansant Production and the Transformation of Regional and National Identities. S.44.

[27] Ausnahmen sind hier etwa die staatlich angestellten diplomierten Toba-Lehrer.

[28] Altamirano/ Hirabayashi: An Analytic Query. In: Migrants, Regional Identities and Latin American Cities. S.171.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Der "Großstadtindianer" - Soziokultureller Wandel im Barrio Toba von Resistencia/ Argentinien
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Veranstaltung
Hauptseminar "Urbanethnologie"
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V109686
ISBN (eBook)
9783640078646
Dateigröße
714 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erstmals in der Geschichte der Menschheit leben im Jahre 2005 mehr Menschen im urbanen Raum als auf dem Land. Dabei wird die moderne Großstadt immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt des kulturellen Lebens und ist doch selbst ein Melting-Pot der verschiedensten Migranten-Kulturen. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Land-Stadt-Migration einer indigenen Gruppe und beurteilt den Einfluss des neuen Lebensraums auf Erhalt oder Wandel ursprünglicher Kulturelemente (Sprache und Erziehung, pol. und rel.System).
Schlagworte
Großstadtindianer, Soziokultureller, Wandel, Barrio, Toba, Resistencia/, Argentinien, Hauptseminar, Urbanethnologie
Arbeit zitieren
Christina Felschen (Autor:in), 2005, Der "Großstadtindianer" - Soziokultureller Wandel im Barrio Toba von Resistencia/ Argentinien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109686

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