Auslegung und Übersetzung von Aeneis 3.294-316


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

14 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Das Thema des dritten Buches

2. Einordnung in den Zusammenhang

3. Übersetzung der Verse 294 – 316

4. Kommentar zu den Versen 294 –316

5. Das Besondere an Vergils Gestaltung der Szene: Die Einfügung der Andromache

6. Andromaches Funktion in der Buthrotum Erzählung

7. Literatur

1. Das Thema des dritten Buches

Buch 3 gilt als eines der schwächeren Bücher der Aeneis, was man damit erklärt, dass es Vergil für dieses im Gegensatz zum vorausgehenden 2. Buch an poetischen Vorlagen gemangelt habe[1]. Zwar fehlte es nicht an Stoff, und die Aeneassage gab es schon lange: man schrieb dem trojanischen Heros zahlreiche Tempel- und Städtegründungen zu. Und schließlich ging der Aeneasstoff schon auf die Ilias selbst zurück. Denn, so verkündet Poseidon dort, Aeneas sei es bestimmt dem Untergang Trojas zu entkommen und seine Nachfahren würden noch in ferner Zukunft über die Trojaner herrschen, s. Il.20.307-308: nu`n de; dh; Aijneivao bivh Trwvessin ajnavxei / kai; paivdwn pai`de~, toiv ken metovpisqe gevnwntai. Von den Griechen gelangte die Aeneas-Sage auch zu den Latinern, die ihn dann als pater indiges verehrten[2] . Jedoch gab es keine zusammenhängende poetische Darstellung von Aeneas Flucht aus Troja und seiner Ankunft in Italien, die Vergil hätte verwenden können. Was es gab, war eher eine „Geschichtsklitterung“ und entbehrte noch einer künstlerischen Ausgestaltung[3]. Einen Eindruck von dieser Art Tradition vermittelt noch das erste Buch der römischen Geschichte des Dionysios von Halikarnassos[4]: in oft eintöniger Weise werden die jeweiligen Landeplätze und Tempelgründungen der reisenden Trojaner aufgezählt.

Vergil mußte diesem Konglomerat an geschichtlicher Überlieferung und lokalen Gründungslegenden nun innere Einheit der Handlung und ein übergeordnetes Thema verleihen. Laut Heinze machte er nach Ausschluß dessen, was er aus der Fülle des Sagenstoffes nicht brauchen konnte zum „leitenden Faden die allmähliche, stufenweis fortschreitende Aufhellung des Fahrtzieles[5].“ Und des Aeneas Helfer auf diesem Weg der Erkenntnis des Ziels seine Reise ist Apollon[6]. Allerdings kann dieses Leitthema höchstens nur bis zur Helenus Prophezeiung reichen. Denn nachdem die Penatem dem Aeneas in 3.166 schon das Fahrtziel Italien genannt haben, erhält er von Helenus (3.374-462) schon detailliertere Auskünfte über die weitere Vorgehensweise und die einzuschlagende Reiseroute. Folglich geht es um noch weit mehr.

Ein im dritten Buch immer wiederkehrendes Motiv ist die Gegenüberstellung von den gegenwärtigen Irrtümern und Leiden, die die Aeneaden auf ihrer Fahrt zu erdulden haben und der durch die Prophezeiungen verheißenen künftigen Herrlichkeit Roms. Die Erreichung dieses Endziel, Gründung Roms und schließlich seine Weltherrschaft, –denn so wird es einem Römer der augusteischen Zeit erschienen sein- beruht nun, nach dem Fall Trojas, auf der frommem Pflichterfüllung des Aeneas. Dass er trotz aller Widrigkeiten und Fehlschläge seiner Mission seiner Mission treu bleibt, ist ein Grundgedanke der Aeneis, aber im dritten Buch ist es der Gegenstand überhaupt[7].

Worin aber bestehen nun eigentlich diese Widrigkeiten? Gewiß, ihre Stadtgründungen in Thrakien und Kreta erweisen sich als Fehlschläge. Aber direkten Gefahren und Strapazen von unerträglichen Ausmaß sind die Aeneaden eigentlich nicht ausgesetzt, sieht man einmal von der gelegentlich rauhen See und den Kyklopen gegen Ende des Buches 3.655-3.830 ab. Sie fahren doch eigentlich recht unbehelligt die Küsten des Mittelmeeres entlang. Der Trojaner Not ist mehr eine innere. Denn als exul fern der Heimat die unbekannte See zu durchmessen, herausgerissen zu sein aus seiner gewohnten (Polis-) Gemeinschaft, seinen angestammten Bindungen, war für den antiken Menschen eine schreckliche Vorstellung[H1] [8]. Weil sie also heimatlose Flüchtlinge sind, sind die Trojaner fessi (3.85/145/276/511), die Lust am Abenteuer fehlt ihnen völlig. Trauer um die unwiederbringlich verlorene Heimat Troja und um die dort Gefallenen ist ihr ständiger Begleiter.

2. Einordnung in den Zusammenhang

Buch 3 ist Teil der großen Erzählung des Aeneas am Hofe der karthagischen Königin Dido. In Buch 2 berichtet Aeneas über die Zerstörung Trojas und wie er sich widerstrebend von seiner Vaterstadt löst. Buch 3 beginnt damit, wie Aeneas mit seinem Vater Anchises, seinem Sohn Iulus/Ascanius und den überlebenden Trojanern mit einer Flotte von 20 Schiffen im Sommer nach der Eroberung Trojas zu einem unbekannten Ziel in See stechen.

Auf der Suche nach einer neuen Heimat steuern die Aeneaden nun verschiedene Stationen (Thrakien, Delos, Kreta, Strophaden, Aktium, Buthrotum) an. Dabei wird ihnen durch Zeichen und Orakelsprüche allmählich offenbart, wo sie sich nach der Bestimmung des Schicksals und dem Willen Iupiters endgültig ansiedeln sollen und den mitgeführten Penaten Trojas eine neue Heimstatt geben sollen: in Italien.

Zuerst landen die Aeneaden in Thrakien, dem Land eines vermeintlich den Trojanern befreundeten Königs, und Aeneas gründet dort eine Stadt: Aeneadae. Doch ein Zeichen, blutende Sträucher, die über dem von den Thrakern aus „verfluchter Goldgier“ (3.57) gemordeten Priamossohn Polydorus gewachsen sind, weist Aeneas an, dass er sich an einem Ort gebrochenen Gastrechts, also von schlechter Vorbedeutung, befindet. Also beschließen die Trojaner, das entweihte Land wieder zu verlassen („scelerata excedere terra“ 3.60).

Daraufhin fahren sie nach Delos. Aeneas fragt das dortige Orakel des Apollon um Rat und der Gott fordert sie auf: „sucht eure alte Mutter“(3.96). Anchises deutet das als Verweis auf Kreta, dem Stammland ihres Ahnen Teucer(3.103 –115). Doch es zeigt sich, dass Kreta nicht das verheißene Land ist (3.137-142). Denn die Trojaner werden von einer Seuche und einer Trockenheit schwer geschlagen und die Penaten selbst verkünden Aeneas in einer Traumerscheinung, dass ihr richtiges Ziel Italien sei, aus dem ihr Vorfahre Dardanus stammte (3.148-171). Also reisen die Aeneaden wieder ab. Von einem Sturm verschlagen landen sie auf einer Insel der Strophaden (3.209ff.). Als sie dort einige Rinder schlachten, müssen sie sich mit deren Besitzern, den Harpyien, Mischwesen aus Frauen und Vögeln, herumschlagen (3.220-244). Deren Anführerin, die grimmige Celaeno, prophezeit ihnen, sie würden nicht eher ihre neue Stadt gründen, als bis sie ihre Tische verzehren würden (3.255-257).

Dann gelangen die Trojaner nach Aktium, wo sie Spiele abhalten (3.274-282). Nachdem sie dort überwintert haben, landen sie im nächsten Jahr in Buthrotum, an der Küste von Epirus gelegen (3.284-293). Hier herrscht der Priamossohn Helenus, Apollopriester und Seher, über einen Teil vom Reiche des Pyrrhos und hat nun Andromache geheiratet.

3. Übersetzung der Verse 294 - 316

Hier erfüllte ein Gerücht über unglaubliche Ereignisse meine Ohren, dass der Priamossohn Helenus herrsche ringsum in den griechischen Städten, nachdem er sich der Ehefrau des Aeiaciden Pyrrhus und seiner Herrschaft bemächtigt habe, und Andromache sei wiederum übergegangen auf einen Ehemann aus dem Geschlecht der Väter. Ich staunte, und mein Herz entbrannte vor wunderbarem Verlangen, den Mann anzusprechen und zu erfahren über solche Wechselfälle des Schicksals.

Ich trat, Flotte und Strand zurücklassend, aus dem Hafen, als gerade Andromache die rituellen Opfer und Gaben der Trauer vor der Stadt in einem Hain an den Wogen des Flusses, den sie sich als Simoeis vorstellten, der Totenasche darbrachte und die Manen anrief am Grabhügel des Hektor, den sie als Kenotaph mit grünen Rasenstücken geweiht hatte. Außerdem hatte sie zwei Altäre aufgestellt, den Grund für ihre Tränen. Sobald als sie mich kommen sah und ganz von Sinnen die troischen Waffen ringsum erblickte, erstarrte sie, von diesem großen Wunderzeichen erschreckt, mitten im Blick, die Wärme verließ ihre Glieder, sie sank hin, und nach langer Zeit erst sagte sie endlich: „Nahst du dich mir in wahrer Gestalt, als wahrer Bote, Sohn der Göttin? Du lebst? Oder, wenn das Lebenslicht von dir wich, wo ist Hektor?“ So sprach sie, vergoß Tränen und erfüllte den ganzen Ort mit Geschrei.

Mit Mühe antwortete ich weniges der rasenden und verwirrt stammelte ich mit spärlichen Worten: „Allerdings lebe ich und führe mein Leben durch das äußerste Elend; zweifle nicht, denn wahres siehst du.“

4. Kommentar zu den Versen 294 -316

294 incredibilis rerum fama

Enallage, so dass man versteht: ‚incredibilium rerum fama‘, Serv. zu 3. 294. Die fama ist deswegen unglaublich, weil Helenus als besiegter Trojaner über Städte der griechischen Sieger herrscht.

296 coniugio

Abstractum pro concreto, ‚coniugio‘ steht also für ‚coniuge‘

296 Aeacidae Pyrrhi

Pyrrhus oder Neoptolemos war der Sohn des Achilleus und der Urenkel des Aiakos.

Die Geschichte von Pyrrhus und Helenus lautet wie folgt: Nach dem Untergang Troias erhielt Pyrrhus Helenus, den Sohn des Priamos und kundigsten Vogeldeuter (Priamivdh~ {Eleno~, oijwnopovlwn o[c j a[risto~, Il. 6. 76) und Andromache als Gefangene per Los zugesprochen (so Aen. 3. 323, wohingegen Eur.Tro.273 Neoptolemus Andromache sich selbst aussucht.). Helenus prophezeite nun dem Pyrrhus, dass auf dem Meer die Heimkehr nach Griechenland gefahrvoll sein werde. Er solle lieber den Landweg nehmen. Pyrrhus leistete dem Rat Folge und nahm Helenus und Andromache mit nach Epirus. Pyrrhos behandelte Andromache gleichsam als seine Ehefrau (s. Serv zu 3. 297: „pro legitima“ u. „coniugis locum“) und sie empfing von ihm den Molossus. Aus Dankbarkeit für Helenus oben genannten guten Rat hinterließ er ihm bei seinem Tod Amdromache als Frau und einen Teil seines Reiches. So herrschte Helenus nun über das Reich seines Stiefsohnes Molossus[9].

297 patrio Andromachen iterum cessisse marito

Servius merkt an, dass der Ausdruck ‚patrio‘ nicht ganz zutreffend sei, den Andromache stamme aus Theben in Kilikien.(zu ihrer Abstasmmung s.a. Il. 6. 395 f.) Aber durch die Heirat mit Hektor sei sie rechtlich eine Trojanerin geworden.

Der Ausdruck cedere+dat. entstammt der Rechssprache, s. Serv. zu 3.297.

298 miro...amore compellare virum et casus cognoscere tantos

Hier wird statt des Gerundiums, wie es in der klassischen Prosa üblich wäre, der bloße Infinitiv gesetzt, s.a. Aen. 2.10 sed si tantus amor casus cognoscere nostros, 6. 133-135, 8.164, 12.282. Diese Konstruktion findet sich in Versen häufig, wohl auch um prosodische Schwierigkeiten zu vermeiden. Ihre Einführung ins Lateinische wird unter griechischem Einfluss begünstigt worden sein.

300 –303 progredior... cum...libabat

Es handelt sich um ein rein temporales cum, denn sonst müßte auf cum entweder Perfekt oder Präsens folgen[H2] [10].

302 falsi Simoentis

Die trojanischen Flüchtlinge hatten den Fluß nach dem richtigen Simois bei Troia benannt[11].

303 manis

Die Römern und ihre italischen Verwandten faßten die ‚ manes ‘ (~die hellen, freundlichen) ursprünglich eher kollektiv als individuell auf[12]: es sind die guten Geister der Toten, die in der stillen Erdtiefe wohnen. Daher gibt es von ‚manes‘ kein Singular. Jedoch in der späten Republik oder zu Beginn des augusteischen Zeitalters bürgerte es sich ein, das Wort manes auch für den einzelnen Geist eines Toten zu verwenden, wie hier ohne Zweifel für den Geist des Hektor, vgl. 4.34, 4.524,10.524[13]. Die ältere kollektive Bedeutung findet sich noch in 8.246.

Es stellt sich die Frage, inwiefern die Manen als göttlich betrachtet werden, und um welche Art Ritus es sich hier handelt. Im allgemeinen sind diese wohl nicht eigentlich Götter, haben aber göttliche Attribute, obwohl sich besonders in Grebinschriften auch die Bezeichnung ‚ di manes ‘ findet, welche sich bedeutungsmäßig den ‚ di inferi ‘ annähert. Während sie den Götter blutige Opfer darbrachten, ehrten die Römer in der parentatio ihre Toten mit flüssigen und unblutigen Gaben (s. aber 3.67), also Fladenbrot und Wein, und riefen sie an, die Gaben anzunehmen, wohl ursprünglich um die Kraft der Totengeister zu erhalten[14]. So hier auch Andromache[15], worauf das Verb libabat in 303 verweist im Gegensatz zu immolare und mactare, Verben, die sich auf die blutigen Opfer beziehen[16]. Jedoch handelt es sich hier nicht um eine bloße parentatio, sondern in der dichterischen Konstruktion des Vergil ist die Szene mit Elementen des griechischen Heroenkultes, nämlich mit dem einem Heros geweihten heiligen Hain[17], dem Tumulusgrab und den Altären (s.u. zu 305) angereichert.

304 Hectoreum ad tumulum

Nicht als Zielangabe des ‚vocabat‘ ‚zum Grabhügel‘ sondern als Ortsangabe ‚beim Grabhügel‘ zu verstehen[18].

304 –305 Viridi quem caespite inanem et geminas [ ] sacraverat aras

viridi caespite ‘ ist als Ablativ der Beschreibung an , quem ‘ angefügt. Die beiden Objekte von ‚ sacraverat ‘ sind syntaktisch nicht parallel[19]. ‚ quem ‘ bezeiht sich als Relativpronomen auf ‚tumulum‘ im Hauptsatz, während ‚ geminas aras ‘ locker angehängt ist.

Einen ‚ tumulum inanem ‘=Kenotaph errichtete Andromache, weil Hektor anderswo, nämlich in Troja beerdigt worden war (Il. 24. 790-804); vgl. Aen.6.505, wo Aeneas berichtet, wie er für Deiphobus einen Kenotaph errichtete, da seine Leiche nicht gefunden werden konnte.

305 geminas aras

Warum zwei Altäre? Servius (Serv. zu 305) schlägt vor, einer sei für Andromaches Mann Hektor, einer für ihren Sohn, von dem hier aber noch nicht die Rede ist. Oder deswegen, so der Kommentator weiter, weil die Bewohner der Unterwelt an geraden Zahlen Gefallen fänden, während die di superi ungerade Zahlen gern hätten. Dem widerspricht Vergil selbst, da in einer Passage der Eclogen E. 5.65 Apollo, eindeutig ein Olympier, ebenfalls zwei Altäre hat. Mehr als einen Altar zu errichten, bedeutet wohl einfach besonderen Respekt und Ehrerbietung dem Toten zu erweisen[20]. So wird auch für Polydorus 3.63 und Anchises 5.48, 86, 762 mehr als ein Altar errichtet.

305 causam lacrimis

Der Grabhügel und die beiden Altäre erinnerten sie an den Verlust Hektors, sind also der Grund für ihre Tränen (lacrimis = dativus finalis). Causa steht sonst auch bei Vergil mit Genitiv, vgl. aber 4.290: quae sit rebus causa novandis [21] .

307 magnis exterrita monstris

Bringt zum Ausdruck, dass das Kommen des Aeneas für Andromache zunächst einen übernatürlichen Anschein hat. Daher erklären sich auch ihre Fragen in 310 f.

Bei ‚ monstris ‘ handelt es sich um einen poetischen Plural.

310 –311 verane te facies, verus mihi nuntius adfers, nate dea? vivisne?

Andromache kann kaum glauben, dass es wirklich Aeneas ist, der sie an Hektors Grabhügel aufsucht. Sie ist unsicher, ob es der lebende Aeneas ist oder nur ein Geist oder Schattenbild[22]. Mit ‚ verus nuntius ‘ meint Andromache vermutlich, dass jemand sie aufsucht, von dem sie erwarten kann, dass er wahres berichtet, wie es ein lebender Freund nach langer Trennung vermag[23].

Vergil verwendet in Vers 310 den Nominativ ‚ verus ’ in Apposition zum Subjekt des reflexiven Verbes. Den Akkusativ kongruent zum Objekt ‚ te ‘ würde man erwarten[24].

311 –312 aut, si lux alma recessit, Hector ubi est?

Sinn der Frage ist, wenn du doch tot bist, also ein Geist, warum erscheint dann nicht Hektor, an dessen Mal ich ja opfere? s. Serv. zu 312: „Sentit autem hoc: si umbrae videntur in sacris, cur non eorum magis quibus sacrificatur?“

314 hisco

steht hier für den Mund öffnen, ohne sich voll artikulieren zu können also ~ stammeln[25].

316 ne dubita, nam vera vides.

Einer von 7 „Halbversen“ des dritten Buches. Wenn Vergil letzte Hand an das Epos hätte legen können, hätte er sie selbstverständlich ergänzt.

Zudem zeige der Halbvers gerade hier zusamen mit dem gleichfalls unvollendeten Vers 340, der sogar mitten im Satz aufhört, die Unfertigkeit der gesamten Andromache-Szene, obwohl es an der Partie 294-316, wie Heinze erklärt,[26] nichts zu beanstanden gibt.

ne dubita “ ist die bei den Dichtern übliche Form des verneinten Imperativs.

5. Das Besondere an Vergils Gestaltung der Szene: Die Einfügung der Andromache

Den Aufenthalt der Trojaner in Buthrotum kannte schon die Tradition. Laut Dionys.Hal.1, 51[27] trennten sie sich in Ambrakia in zwei Gruppen, Anchises fuhr mit den Schiffen nach Buthrotum, während Aeneas mit einigen anderen sich zum Orakel von Dodona begab und dort Helenus und einige andere Trojaner traf. Hier erhielt Aeneas Orakelsprüche –wohl eher vom Orakel als von Helenus- über seine geplante Stadtgründung, und kehrte zu seinem Vater zurück. Die Anwesenheit der Trojaner bei Buthrotum, so Dionysios, zeige dort noch ein Troja genannter Hügel, wo die Trojaner gelagert hätten. Aus einem bloßen Hügel macht Vergil in seiner Darstellung ein kleines Troja (3.349-352)[28]. Den Besuch beim Orakel in Dodona läßt Vergil weg[29], statt dessen begegnet hier Aeneas dem Helenus schon bei Buthrotum. Das eigentlich neue jedoch ist hier die Einfügung der Andromache: zwar gab es die Geschichte von Andromaches Heirat mit Helenus schon (s. Eur. Andr. 1243-1245)[30], aber Andromache hier mit Aeneas zusammentreffen zu lassen, scheint Vergils Idee gewesen zu sein. Ihr Begegnung mit Aeneas 3.294-344 und ihre rührenden Abschiedsworte 3.482-491 umrahmen den Aufenthalt im ‚kleinen Troja‘ und die große Helenusprophezeiung. Indem er Andromache in seine Erzählung integriert, verleiht er der ganzen Szenerie Pathos und eine Stimmung von erhabener Trauer. Höchstwahrscheinlich hat er dabei sowohl an die trauernde Andromache des Euripides gedacht als auch besonders an ihre Darstellung in der Ilias (s. die Abschiedsszene Il.6.371-499 u. die Totenklage Il. 24.723-745)[31]: Sie ist die unentwegt um ihren gefallenen Gemahl Hektor und ihren gemordeten Sohn Astyanax trauernde Witwe und Mutter. Und genau wie die homerische Andromache weint sie sehr oft (s. V.305, V. 312-313, V. 344-345; V. 482, vgl. Il. 6. 40, 6.455, 6. 484, 6. 496 u. 24,745). Bei diesen Vorbildern also fand Vergil die Elemente schon vorgegeben, die er für seine Darstellung brauchte. So sagt Hektor, sein eigenes Schicksal und das seiner Gattin vorausahnend, in Il. 6.464-465: ajllav me teqnhw`ta cuth; kata; gai`a kaluvptoi, // privn gev ti sh`~ te boh`~ sou` q j eJlkhqmoi`o puqevsqai.

Hier finden wir sowohl das Bild von Hektors aufgeworfenem Grabhügel (freilich hier nicht als Kenotaph) als auch das Motiv der wehklagenden Gattin schon vor.

Und ebenso wie bei Euripides, wo sie im Hain der Thetis weilt (s. Eur. Andr. 253 Hermiones hämische Frage: leivyei~ tovd j aJgno;n tevmeno~ ejnaliva~ qeou` ;) trifft der Leser auch in der Aeneis Andromache wieder in einem heiligen Hain (s. „ in luco “ 3. 302). Natürlich konnte der Hain hier nicht der Thetis geweiht sein, die Göttin hätte wohl, ebenso wie ihr Enkel Molossus, zu sehr an der Trojaner-Töter Achilleus erinnert. Wem der Hain dann geweiht ist, wird nicht deutlich gesagt, man mag an Hektor selbst als Heros denken (s.o. Kommentar zu manis).

Solche Anspielungen und Anknüpfungen an die klassische griechische Dichtung sind nicht als billige Nachahmung zu betrachten, mag man ihm eben dies auch schon in der Antike zum Vorwurf gemacht haben[32]. Im allgemeinen verstand der gebildete Römer diese Anspielungen und delektierte sich an ihnen, den großen Vorbildern der Griechen nachzueifern wurde geradezu erwartet und besonders die Aeneis lebt davon.

6. Andromaches Funktion in der Buthrotum Erzählung

Wir finden in der Aeneis drei zeitliche Handlungsebenen: erstens die Handlungsebene des Epos, in der Aeneas und seine Gefährten agieren, dann die troische Vergangenheit und schließlich die lichte Zukunft: Rom.

Letzteres ist durch die Prophezeiungen oder prophetische Bilder präsent, die troische Vergangenheit durch rückblickende Erzählungen. So auch hier. Andromache erinnert erneut an die troische Vergangenheit: sie kann einige Iliupersis- und Heimkehr-Episoden nachtragen, die Aeneas nicht miterleben konnte (3.321f). In der Schilderung des „kleinen Troja“ hat das alte Ilion in gebrochener Form noch einmal einen nostalgischen Auftritt (s.o.). Auf die lichte Zukunft, die vom Schicksal bestimmte Gründung Roms und seine künftige Größe, wird in der Helenus Prophezeiung verwiesen: „Wohlan den, brich auf, und erhebe durch deine Taten bis zum Äther das gewaltige Troja“(3. 462). Dieses „gewaltige Troja“ ist nicht anderes als Rom. Aber dennoch bleibt auch die weinende Andromache für den römischen Leser kein Bild aus ferner trojanischer Vergangenheit, auch keine bloße Reminiszens an Homer. Man kann davon ausgehen, dass der römische Zeitgenosse, wenn er diese intensive Schilderung von Andromaches Trauer um ihren gefallen Ehemann laß, sich an die voraus gegangende Zeit der Bürgerkriege erinnerte. Trauernde Witwen und Mütter, die ihren gefallenen Ehemännern und Söhnen das Totenopfer darbrachten, mußten ihm geradezu vertraut vorkommen. Folglich kann er sich mit der dargestellten Figur identifizieren[33]. Und lag es für ihn nicht nahe, die eigene geschichtliche Erfahrung mit der der Figuren der Aeneis vergleichend nebeneinanderzustellen? Schließlich entsprechen die oben genannten 3 Handlungsebenen der Aeneis dem Schema des Geschichtverständnisses, das Augustus den Römern vermitteln wollte: altes Troja-Irrfahrt voller Leiden und Gefahren-Gründung Roms alte Res Publica-Bürgerkriege-Erneuerung der Republik unter der pax Augusta.

Angesichts dieses großen Ziels mögen dann die Opfer nicht mehr vergeblich erscheinen. Und es gibt keinen Zweifel, wo auf der skizzierten Zeitlinie sich der römische Leser verorten sollte: Im Rom des augusteischen Zeitalters, das seine von den Göttern gewollte entgültige Bestimmung erfüllt hatte.

7. Literatur

1. Sekundärliteratur

Bailey, C.:Religion in Virgil, Oxford 1935.

Heinze, R.: Virgils epische Technik, Darmstadt 1957.

Klingner, F.: Virgil. Bucolica Georgica Aeneis, Zürich 1967.

Suerbaum, W.: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999.

2. Textausgaben/Kommentare

P. Vergili Maronis opera, ed. R.B.A. Mynors, Oxford 1969.

The works of Virgil with a commentary by J. Conington - H. Nettleship (Vol. II), London 1883-1898, Nachdruck Hildesheim 1963.

P. Vergili Maronis Aeneidos liber tertius, ed. with a commentary by R.D. Williams, Oxford 1962.

Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, rec. G. Thilo – H. Hagen (Vol. I), Leipzig 1923.

T. Claudi Donati Interpretationes Vergilianae, ed. H. Georgii (Vol. I), Leipzig 1905.

[...]


[1] R. Heinze (1957) 82f.

[2] F. Klingner (1967) 421-422.

[3] So R. Heinze (1957) 82.

[4] Den Dionysios selbst konnte Vergil freilich nicht benutzen, den er veröffentlichte den ersten Teil seiner römischen Urgeschichte –von den mythischen Anfängen bis zum ersten punischen Krieg- erst 7 vor Chr., s. RE, Dionysios (113).

[5] R. Heinze (1957) 83.

[6] Ebenda 84.

[7] s.dazu Klingner (1967) 420-421.

[8] s. z.B. Cic. Att. XII 50 (46), 2; fam XIV 1 (4), 3.

[9] s. R.D. Williams (1962) 117, Williams erklärt einfach, Neoptolemos/Pyrrhos habe Helenus Andromache und einen Teil seines Reiches vermacht, während es bei Servius zu 3, 297 nur heißt, er habe ihm Andromache übergeben lassen und weiter: „inde factum est, ut teneret (sc. Helenus) regnum privigni, qui successerat patri.“

[10] Conington/Nettleship (1963) 204.

[11] R.D. Williams (1962) 119.

[12] C. Bailey (1935) 241.

[13] ebenda, 256, 260, u. 297.

[14] ebenda, s. 282. Und zwar jährlich auf dem Fest der ‚parentalia‘ im Frühjahr.

[15] s. Donat. Interpr. Verg. Zu 3. 301-305: „descripsit (sc. Vergilius) eam fuisse in luco et parentalibus obsequiis occupatam.“

[16] s. C. Bailey (1935) 291-292. Zu 5.80-81, wo Aeneas seinen Toten Vater anruft, merkt Bailey an, dass dies ein Gruß sei, und nicht Gebet zu einer göttlichen Person.

[17] s. Donat.Interpr. Verg. zu 301-305: „in luco, qui fuit extra civitatem defuncto Hectori“

[18] Conington/Nettleship (1963) 204.

[19] R.D. Williams (1962) 119.

[20] C. Bailey (1935) 301-302.

[21] Conington/Nettleship (1963) 204.

[22] R.D. Williams (1962) 120.

[23] Conington/Nettleship (1963) 205.

[24] R.D. Williams (1962) 121.

[25] Conington/Nettleship (1963) 205.

[26] R. Heinze (1957) 109.

[27] Dionysios Werk wurde erst Jahre nach Vergils Tod veröffentlicht. Doch die Kommentatoren erachten es als eine brauchbare Zusammenfassung früherer Aeneas Legenden, s. Heinze (1957) 82 u. Williams (1962) 116.

[28] Varros Darstellung scheint mit der des Dionysios wie aus Serv. zu 3.256 u. 3.359 ersichtlich was den Hügel und Dodona angeht übereingestimmt zu haben, s.Conington/Nettleship (1963) 203 u. Williams (1962) 116.

[29] s.R. Heinze (1957) 100-101. Das Orakel von Dodona habe fortfallen müssen, so Heinze, weil ihm Apollo fremd sei, dem im dritten Buch eine wichtige Rolle zukommt. Vielleicht wollte Vergil auch einfach eine weitere Fahrtstation vermeiden, um die Geschichte nicht in die Länge zu ziehen.

[30] Thetis verkündigt hier, Andromache solle im Molosserland wohnen und den Helenos heiraten.

[31] s. R. Heinze (1957) 108 u. Williams (1962) 116.

[32] s. Suet./Donat.Vita 44-46 die Vorwürfe seiner Gegner: „novae cacozeliae repertorem“, „quod pleraque ab Homero sumpsisset“ und Vergils Verteidigung: „cur non illi quoque eadem furta temptarent? Verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam homero versum subripere.“

[33] s. Suerbaum (1999) 373. Vergil ist kein unkritischer Verherrlicher des epischen Gemetzels.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Auslegung und Übersetzung von Aeneis 3.294-316
Hochschule
Universität zu Köln
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,5
Autor
Jahr
2005
Seiten
14
Katalognummer
V109685
ISBN (eBook)
9783640078639
Dateigröße
371 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Auslegung, Aeneis, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Georg Schäfer (Autor:in), 2005, Auslegung und Übersetzung von Aeneis 3.294-316, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109685

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