Mittel- bis längerfristige Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung unter systemökologischer Betrachtung


Diplomarbeit, 2004

81 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. MOTIVATION
1.2. EINGRENZUNG
1.3. AUFBAU DER ARBEIT

2. GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DES UMGANGS GEGENÜBER MENSCHEN MIT ENTWICKLUNGSBEEINTRÄCHTIGUNG

3. SYSTEMÖKOLOGISCHER ANSATZ
3.1. DIE ÖKOLOGISCHE ENTWICKLUNGSTHEORIE BRONFENBRENNERS
3.1.1. Mikrosystem
3.1.2. Mesosystem
3.1.3. Exosystem
3.1.4. Makrosystem
3.1.5. Chronosystem
3.1.6. Das Mikrosystem und seine Bausteine
3.1.6.1. Lebensbereich
3.1.6.2. Tätigkeit
3.1.6.3. Beziehung
3.1.6.4. Rolle
3.1.7. Ökologische Übergänge
3.1.7.1. Unterschied zwischen ökologischem und biographischem Übergang
3.2. ERWEITERUNG UND SPEZIFIZIERUNG DES SYSTEMÖKOLOGISCHEN ANSATZES DURCH OBERHOLZER
3.2.1. Lebensbereich und seine spezifischen Mikrosysteme
3.2.1.1. Personale Mikrosysteme
3.2.2. Beziehungsdyaden nach Oberholzer
3.2.3. Ökologische Übergänge
3.2.3.1. Echte ökologische Übergänge
3.2.3.2. Unechte ökologische Übergänge
3.2.3.3. Entwicklungspotenzial ökologischer Übergänge
3.2.3.4.Mikrosysteme und ihre Auswirkung auf weitere ökologische Übergänge

4. BEFRISTETER ORGANISATIONSWECHSEL UNTER SYSTEMÖKOLOGISCHER PERSPEKTIVE
4.1. VON DER IDEE ZUR ENTSCHEIDUNG
4.1.1. Informationsfluss
4.2. ABSCHIED
4.3. WECHSEL HIN ZUR NEUEN ORGANISATION
4.3.1. Begleitperson
4.4. EINLEBEN UND LEBEN AM NEUEN ORT
4.4.1. Neue und altbekannte Tätigkeiten am neuen Ort
4.4.2. Neue und altbekannte Rollen am neuen Ort
4.4.3. Einfluss Dritter und Direktbeteiligter nutzen
4.5. VERSICHERNDE UND VERUNSICHERNDE FAKTOREN
4.5.1. Versicherung über die dinglich-materielle Welt
4.5.2. Versicherung über die soziale Welt
4.5.3. Versicherung auf sozial unerwünschte Art
4.5.4. Versicherung über die eigene Person und Körperlichkeit
4.6. RÜCKKEHR
4.7. ENTWICKLUNG UND IHR NACHWEIS
4.8. WECHSELSEITIGKEIT
4.8.1. Auch die Organisation profitiert vom Organisationswechsel
4.8.2. Organisationswechsel bietet der gesamten Klientel Entwicklungschancen

5. REFLEXION

6. SCHLUSSWORT

7. LITERATURLISTE

8. ANHANG

ABSTRACT

Mittel- bis längerfristige Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung unter systemökologischer Betrachtung

Ausgangslage: Erwachsene Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung wohnen und arbeiten vielfach zeitlebens immer in derselben Organisation. Sollen nicht auch erwachsene Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung die Chance zu einem befristeten Organisationswechsel von einem halben bis zu mehreren Jahren ha- ben?

Ein Forschungsvorhaben der Fachhochschule Aargau nimmt sich dieser Thematik an. Diese Diplomarbeit, die Teil dieses Forschungsvorhabens ist, untersucht aus entwicklungslogischer und agogischer Sicht inwiefern solche Organisationswechsel geboten werden sollten und könnten.

Aufbau der Arbeit, Vorgehen: Nach einem kurzen geschichtlichen Exkurs, der aufzeigt, wie sich der Umgang der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung seit dem zweiten Weltkrieg verändert hat, folgt eine Einführung in die systemökologische Entwicklungstheorie. Dabei wird zuerst Bronfenbrenners Theorie „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung“ und danach Oberholzers Spezifizierung und Erweiterung dieser Theorie dargelegt.

Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bilden systemökologische Überlegungen bezüglich dem Für und Wider eines allfälligen Organisationswechsel, resp. unter welchen Bedin- gungen das mit einem solchen Wechsel verbundene Entwicklungspotential genutzt wer- den kann.

Diese Überlegungen beschränken sich nicht allein auf den eigentlichen Wechsel, sondern berücksichtigen auch die Phase der Entscheidungsfindung, der Rückkehr oder inwiefern andere Beteiligte beeinflusst werden.

Erkenntnisse: All die verschiedensten Überlegungen werden jeweils in ein bis zwei Sätzen zusammengefasst und graphisch hervorgehoben. Entstanden ist dadurch eine Sammlung von Empfehlungen, begleitenden Massnahmen und Denkanstössen bezüglich der Durchführung eines Organisationswechsels.

Die erarbeiteten Erkenntnisse sollen dem weiteren Forschungsvorhaben als Grundlage dienen, lassen sich aber auch - zum Teil in abgewandelter Form - für andere Wechsel wie z.B. Ferien oder definitive Organisationswechsel, sowie andere Arbeitsfelder nutzbar machen (z.B. Kinder und Jugendbereich).

1. EINLEITUNG

Geschäftsleute reisen ins Ausland um Verträge abzuschliessen, Handwerker arbeiten auswärts, bis ein gewisser Montageauftrag ausgeführt ist, Studenten absolvieren ein Austauschjahr; nur Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung1 verbringen oft ihr ganzes Leben - abgesehen von Ausflügen und Ferien - in derselben Organisation der Behindertenhilfe. Sind aber nicht gerade längere Aufenthalte in der Fremde markan- te Ereignisse, die einem in Erinnerung bleiben, die prägend wirken und eine grosse Fülle von Erfahrungen bescheren?

Sollen nicht auch erwachsene Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung die Chance haben, vorübergehend, für ein halbes Jahr oder länger, in einer anderen Orga- nisation zu wohnen und zu arbeiten? Das Für und Wider von solch befristeten Organisa- tionswechseln für Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung ist das zentrale Thema dieser Arbeit.

Diese Diplomarbeit ist Teil eines Forschungsvorhabens2, das in einem ersten Schritt Be- darf und Sinn aus entwicklungslogischer und agogischer Sicht bezüglich eines solchen Organisationswechsels eruiert. Ziel meiner Diplomarbeit ist es verschiedene Fragen, vor allem in Bezug auf die mit einem Organisationswechsel verbundenen Entwicklungsmög- lichkeiten, zu diskutieren und zu beantworten. Dabei werde ich auf Gefahren hinweisen, Massnahmen empfehlen oder einfach Denkanstösse geben. Diese Prämissen sollen so gehaltvoll sein, dass im weiteren Verlauf des Forschungsvorhabens unter anderem auf diesen von mir erarbeiteten Vorgaben aufgebaut werden kann (z.B. bei einem Konzept- entwurf).

1.1. MOTIVATION

Auf Grund meines Tätigkeitsfeldes - professioneller Helfer in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung - bin ich von der Thematik direkt be- troffen. Zumindest insofern, als dass unsere Klientel wohl Wechsel vornimmt (Ferien, Organisationsübertritte), aber keine befristeten Organisationswechsel, wie es das Forschungsvorhaben beabsichtigt.

Des Weiteren ist die Thematik sehr verwandt mit einer Idee, die andere professionell Helfende und ich anlässlich einer internen Weiterbildung erarbeitet, aber nie umgesetzt haben. Die Idee einer Website, die als Plattform dienen soll, damit Menschen mit Ent- wicklungsbeeinträchtigung (evtl. zusammen mit einer Begleitperson) ihre Plätze - vor- wiegend zu Ferienzwecken - untereinander tauschen können. Klient A verbringt seine Ferien in Organisation B (und bekommt Zimmer von Klient B) und umgekehrt.

Bei der obengenannten Idee steht das Austauschprinzip und bei besagtem Forschungsvorhaben die entwicklungslogische und agogische Sicht im Vordergrund, dennoch ist der befristete Wechsel das Verbindende dieser zwei Projekte.

Nicht nur die Idee eines befristeten Organisationswechsels ist der Grund, warum ich für diese Diplomarbeit motiviert bin, sondern auch der für diese Arbeit gewählte theoretische Ansatz. Dieser Ansatz, die systemökologische Sichtweise - eine Entwicklungstheorie, die Mensch und Umwelt gleichermassen beachtet -, war mir sympathisch, seit wir ihn im Schulunterricht kennen gelernt hatten.

1.2. EINGRENZUNG

Meine Diplomarbeit ist Teil eines Forschungsvorhaben, wodurch Zielrichtung und Einschränkungen bereits vorgegeben sind.

Die Arbeit beschränkt sich - wenn ich auch ab und zu ein wenig ausschweife - vorwie- gend auf erwachsene Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung und darauf, wie diese Menschen ihren geschützten Arbeits- und Wohnplatz für eine befristete Zeit wechseln. Dass mir vom Leiter des Forschungsvorhabens für die Untersuchung solcher befristeter Organisationswechsel der systemökologische Ansatz vorgeschrieben wurde, erscheint mir sowohl sinnvoll wie logisch, geht es doch hier um verschiedene Lebensbereiche und die darin interagierenden Menschen resp. deren Beeinflussung durch diese Umstände. Bei der systemökologischen Sichtweise stütze ich mich auf Bronfenbrenners Theorie (Bronfenbrenner 1989) sowie deren Spezifizierung und Erweiterung durch Oberholzer (2004).

Zusammenfassend mein primäres Erkenntnisinteresse: Mit dieser Diplomarbeit will ich begründen - gestützt auf die systemökologische Sichtweise -, warum, unter welchen Umständen und mit welchen begleitenden Massnahmen ein befristeter Organisations- wechsel für erwachsene Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung sinnvoll ist.

1.3. AUFBAU DER ARBEIT

Das folgende Kapitel soll in einem kurzen geschichtlichen Exkurs zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigungen in den letzten Jahrzehnten verändert hat, und gestützt darauf aufzeigen, dass ein Wechsel zwischen Organisationen der Behindertenhilfe, wie er hier vorgeschlagen wird, m.E. eine zeitgemässe Forderung ist.

Auf den geschichtlichen Exkurs folgt ein theoretischer Teil, der dem Leser und der Lese- rin das nötige Grundwissen über die systemökologische Sichtweise vermitteln soll. Diese theoretische Ausführung beginne ich mit dem systemtheoretischen Ansatz von Bron- fenbrenner, gefolgt von Oberholzers Spezifizierung und Erweiterung zu diesem Ansatz.

Meine auf diese Theorien gestützten Überlegungen zu einem allfälligen Organisationswechsel bilden den Hauptteil der Arbeit und sind grossenteils in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben. Das heisst, die ersten Überlegungen befassen sich damit, inwiefern ein Organisationswechsel überhaupt in Betracht gezogen wird oder der Klientel als Möglichkeit dargeboten wird. Der eigentliche Wechsel hin zur Organisation oder die Rückkehr sind weitere wichtige Kapitel in diesem Hauptteil.

Meine Überlegungen versuche ich jeweils auf den Punkt zu bringen resp. als theoriegeleitete Hypothese in ein, zwei Sätzen zusammenzufassen und mit Hilfe eines Kästchens graphisch hervorzuheben.

Der besseren Verständlichkeit halber ergänze ich das Gesagte vielfach mit Beispielen. Beispiele, die ich in meinem Arbeitsalltag erlebt habe, die mir geschildert wurden, oder fiktive Beispiele, die ich auf Grund meiner Erfahrung in der jeweiligen Situation als durchaus möglich betrachte.

2. GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DES UMGANGS GEGEN- ÜBER MENSCHEN MIT ENTWICKLUNGSBEEINTRÄCHTI- GUNG

Der Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung unter- scheidet sich nach Land, Kultur und vor allem auch nach der Zeitepoche. Dem jeweiligen Umgang können verschiedene Aspekte zu Grunde liegen, z.B. normative, ökonomische oder entwicklungsspezifische. Diese unterschiedlichen Beweggründe sind zudem miteinander verknüpft. Die Sozialpolitik eines Staates hängt z.B. stark mit seiner Finanzkraft zusammen. Welche Menschen wie in ihrer Entwicklung gefördert werden, hängt wiederum stark von den herrschenden Normen und Werten ab.

Die westlichen, industrialisierten Länder weisen viele Parallelen auf in besagter Entwicklung bezüglich des Umgangs mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung. Nachfolgend will ich ein paar dieser allgemeinen Eckpunkte aufzählen, die m.E. zu einem grossen Teil auch für die Schweiz Gültigkeit haben.

Europas Tiefpunkt neuerer Zeit, bezüglich gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung, stellt wohl die massenhaften Tötung dieser Menschen während der Naziherrschaft dar. Nach dieser schrecklichen Zeit knüpfte man dort an, wo man vor dem Krieg gestanden hatte. Das heisst, Menschen mit unter anderem schwerer kognitiver Beeinträchtigung3 galten weiterhin als bildungsunfähig und wurden von der Gesellschaft ferngehalten (vgl. Speck 1997: 29, Hähner 1999: 26).

So war es bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts üblich, diese Menschen in Armen- häusern, Pflegeanstalten, klinisch organisierten Grosseinrichtungen oder nicht selten in psychiatrischen Kliniken zu verwahren. Eigene Bedürfnisse, die Verfolgung eigener Inte- ressen und Vorstellungen sowie Rechtsgleichheit wurden diesen Menschen nicht zuge- standen. Dank Gesellschaftskritik, anti- und sozialpsychiatrischen Bewegungen sowie Selbsthilfebewegungen führte ein Paradigmenwechsel zu einem neuen Umgang, der auf Förderung, Integration, Normalisierung etc. beruht (vgl. Theunissen/Lingg 1999: 7).

Es wurden und werden geschützte Wohn- und Arbeitsplätze geschaffen sowie die Be- troffenen aus den Kliniken geholt und in lebenspraktischen Fertigkeiten gefördert. Die Verwahrung von Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung im grossen Stil scheint damit überwunden zu sein, die Phase der Enthospitalisierung dieser Menschen zieht sich aber bis heute hin. Aspekte wie Förderung und Normalisierung wurden in den letz- ten Jahrzehnten zum Teil umgesetzt, überarbeitet und erweitert (vgl. Hähner 1999: 30ff.).

Heute haben in der Arbeit mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung neue Schlagwörter Einzug gehalten wie lebenslange Entwicklung, Selbstbestimmung und Em- powerment. Das Verhältnis der Gesellschaft, der Wissenschaft und der professionellen Helfer und Helferinnen gegenüber Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung hat sich mittlerweile derart gewandelt, dass der Gedanke eines vorübergehenden Wechsels des Lebensbereichs - wie ihn dieses Forschungsvorhaben beabsichtigt - kein abwegiger mehr ist. Ist die Möglichkeit solcher Wechsel nach dem Normalisierungsprinzip durchaus zu befürworten, so stellt sich die Frage, inwieweit und unter welchen Umständen es aus entwicklungspychologischer Sicht Sinn macht. Ziel dieser Diplomarbeit ist die Klärung dieser Frage, gestützt auf den systemökologischen Ansatz.

3. SYSTEMÖKOLOGISCHER ANSATZ

Es gibt verschiedene Entwicklungstheorien; der systemökologische Ansatz ist dement- sprechend eine unter vielen. Die klassischen Entwicklungstheorien, wie z.B. diejenige von Erikson oder Piaget, befassen sich vor allem damit, was sich wann entwickelt und wie sich das Beobachtete deuten lässt. In der Folge erklären viele dieser klassischen Theorien die menschliche Entwicklung mit Phasen und Stufenmodellen. Solche Entwick- lungstheorien sind stärker individuumzentriert als der systemökologische Ansatz. Zwar wird auch bei jenen Ansätzen die Umwelt nicht ausgeschlossen, in ihr wird aber höchs- tens ein Rahmen gesehen, der die Entwicklung in förderlicher oder hemmender Weise beeinflusst (Müller 2000: 1).

Ganz anders der Schwerpunkt einer systemökologischen Entwicklungstheorie, wie sie Urie Bronfenbrenner vertritt.

»Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden ge- genseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozess ist fort- laufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von grösseren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind« (Bronfenbrenner 1989: 37).

Das Zentrale des systemökologischen Ansatzes ist, dass der Mensch sich auf Grund der Wechselwirkung zwischen ihm und der Umwelt entwickelt. Auf Grund dieser konsequen- ten Betrachtung vom sich entwickelnden Menschen und seiner Umwelt findet der Ansatz nicht nur in der Entwicklungspsychologie Verwendung, sondern z.B. auch in der Soziali- sationsforschung.

3.1. DIE ÖKOLOGISCHE ENTWICKLUNGSTHEORIE BRONFENBRENNERS

»Bronfenbrenner ist einer der einflussreichsten entwicklungspsychologischen Programmatiker der Gegenwart« (Flammer 2003: 204).

Seine Theorie, „die Ökologie der menschlichen Entwicklung“ - 1979 auf Englisch, 1981 auf Deutsch erschienen -, besteht unter anderem aus einer Sammlung von Hypothesen. Diese generiert er unter Bezugnahme auf Studien anderer Forscher, sowie eigene weiterführende Gedanken.

Nach seiner Auffassung - er als Vertreter einer ökologischen Sichtweise von Entwick- lung - kann Entwicklung nur im Umweltkontext verstanden werden. Mensch und Umwelt beeinflussen sich dabei gegenseitig. Nicht nur das Individuum entwickelt sich, weil es sich der neuen oder wechselnden Umwelt anpassen muss, auch die Umwelt wird durch die Anwesenheit und das Handeln des Individuums verändert (vgl. Bronfenbrenner 1989: 37f.).

Bronfenbrenner unterscheidet fünf verschiedene Systeme: Vier Entwicklungskontexte, die er Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem nennt und die als ineinander verschachtelte Kreise verstanden werden können, sowie das Chronosystem, das ich in Abbildung 1 als Zeitstrahl darstelle.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 1)

3.1.1. Mikrosystem

Das Mikrosystem ist - vereinfacht gesagt - die unmittelbare Umgebung in der sich ein Individuum im Moment befindet. Bin ich zu Hause bei der Familie, befinde ich mich in meinem Mikrosystem Familie, am Arbeitsplatz im Mikrosystem Arbeitsplatz, im Sportklub im Mikrosystem Sportklub, überall realisiere ich meine Mikrosysteme.

Das Mikrosystem ist das System, das täglich den meisten Veränderungen unterliegt. In einem späteren Kapitel (3.1.6.) wird deshalb dieses System vertieft behandelt.

3.1.2. Mesosystem

Das Mesosystem eines Menschen besteht aus all seinen Mikrosystemen, ist demnach das Total all seiner „Lebensbereiche“ oder anders: ein System von Mikrosystemen. Aus systemökologischer Sicht sind hier vor allem die Wechselbeziehungen zwischen diesen Mikrosystemen von Interesse (vgl. Bronfenbrenner 1989: 41).

Wendet man die systemökologische Sichtweise ab Geburt an, tritt durch die Geburt der Säugling in sein erstes Mikrosystem ein (Mutter-Kind oder Mutter-Kind-Hebamme-Vater oder . . .). Kommt zu diesem ersten Mikrosystem ein neues dazu (Kind kommt z.B. ins Säuglingszimmer), ist ein Mesosystem entstanden. In den Worten Bronfenbrenners be- ginnt ein Mesosystem »[. . .] in dem Augenblick, in dem die sich entwickelnde Person zum erstenmal in einen neuen Lebensbereich [Mikrosystem, E.B.] eintritt« (1989: 200f.).

Das erstmalige Eintreten in ein neues Mikrosystem und somit das Realisieren oder Erweitern eines Mesosystems nennt Bronfenbrenner Primärverbindung. Was einmal zum Mesosystem gehört, kann durch ganz verschiedene Arten immer wieder untereinander in Beziehung stehen, durch eine direkte Beteiligung wie bei der Primärdyade schon geschehen oder durch indirekte Verbindung über Dritte. Des Weiteren können Mikrosysteme innerhalb des Mesosystems über verschiedene Arten von Kommunikation in Beziehung stehen (SMS, Telefon, Korrespondenz etc.). Nebst Kommunikation kann aber auch über Quellen wie z.B. Bücher das Wissen über ein dem Mesosystem zugehörendes Mikrosystem erweitert werden (vgl. Bronfenbrenner 1989: 200).

3.1.3. Exosystem

Exosysteme sind jene sozialen Systeme, an denen die sich entwickelnde Person nicht direkt aktiv beteiligt ist - die also nicht zum Mesobereich gehören -, die aber das aktuel- le Mikrosystem dieser Person beeinflussen und umgekehrt (vgl. Bronfenbrenner 1989: 42/224ff.). Diese wechselseitige Wirkung geschieht dabei über an beiden Mikrosystemen beteiligte Drittpersonen. Eine solche verbindende Person kann z.B. der Vater sein. Sein Stress am Arbeitsplatz (Exosystem Arbeitsplatz) wird für das Kind auch zu Hause im Mikrosystem Familie spürbar. Ebenso beeinflussen die Erfahrungen zu Hause die Arbeit des Vaters an seinem Arbeitsplatz.

Die hier angesprochene wechselseitige Wirkungsweise hat selbstverständlich auch für alle anderen Systeme Gültigkeit.

3.1.4. Makrosystem

Das Makrosystem ist das alles umfassende System (Mikro-, Meso- und Exosystem). Es basiert vor allem auf kulturellen Übereinstimmungen. Gewisse gemeinsame Werte, Normen, Ideologien etc. wirken dabei verbindend und prägen die Subsysteme des Makrosystems. Innerhalb eines Makrosystems ist sich derselbe Typ Lebensbereich deshalb ähnlicher als zwischen zwei Makrosystemen (vgl. Bronfenbrenner 1989: 42f./241ff.). So sehen sich Postämter in Frankreich untereinander ähnlich, unterscheiden sich aber ganz klar von denen in den USA; Bronfenbrenner dazu:

»Es ist, als wären die verschiedenen Lebensbereiche [. . .] nach je einem Satz von Konstruktionsmustern entstanden« (Bronfenbrenner 1989: 42).

3.1.5. Chronosystem

Das Chronosystem kann als die Lebensspanne eines Menschen verstanden werden. Darin spielen sich markante Ereignisse ab, die den Menschen herausfordern, die er be- wältigen muss und die damit den Fortgang seiner Entwicklung beeinflussen. Bron- fenbrenner nennt solche Ereignisse biographische Übergänge. Er unterscheidet zwi- schen normativen und non-normativen Ereignissen. Normative Ereignisse sind in gewis- ser Weise vorhersehbar, so z.B. der Schuleintritt oder die Pensionierung. Non-normative Ereignisse hingegen sind eher überraschende markante Ereignisse, wie z.B. der plötzli- che Tod eines Familienmitglieds (vgl. Flammer 2003: 212; Müller 200: 4).

Flammer sagt bezüglich Entwicklung zu diesen biographischen Übergängen:

»Solche Übergänge stellen Entwicklung dar und haben Einfluss auf die weiteren Entwicklungsschritte« (Flammer 2003: 212).

3.1.6. Das Mikrosystem und seine Bausteine

Zu einem Mikrosystem gehören nach Bronfenbrenner ein Muster aus Tätigkeiten oder Aktivitäten4, Rollen und Beziehungen sowie ein Lebensbereich, in den das Ganze eingebettet ist (vgl. Bronfenbrenner 1989: 38).

3.1.6.1. Lebensbereich

Ein Lebensbereich »umfasst die aktuelle physikalische, soziale und symbolische Situation« (Flammer 2003: 207). Und dies immer aus der Wahrnehmung der sich entwickelnden Person. Physikalisch meint, soweit dieser (Lebens-)Raum mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Eine Art räumliche Grenzziehung, z.B. das Wohnzimmer, in dem das Kind spielt, oder die Bushaltestelle, an der ich stehe.

Die soziale Begrenzung des aktuellen Lebensbereichs ist gegeben durch Personen, mit denen man in unmittelbarer Verbindung steht oder stehen könnte, sei dies durch Ansprechen, Anblicken oder Wahrnehmen etc. Im Beispiel Bushaltestelle wären dies die anderen Fahrgäste, die ebenfalls auf den Bus warten.

Mit „symbolisch“ sind die uns verbindenden Symbole gemeint. Beispiel Bushaltestelle: Ein Fahrgast von Land weiss vielleicht nicht, dass in der Stadt der Fahrschein am Automaten der Bushaltestelle und nicht beim Fahrer zu lösen ist, oder stehe ich in einer fremdsprachigen Gegend an der Bushaltestelle ist mein Lebensbereich eingeschränkt, weil ich mich mit den anderen wartenden Fahrgästen nur über ein paar gemeinsame Gesten und der Mimik verständigen kann (vgl. ebd.).

Verwirrend ist, dass Bronfenbrenner Lebensbereich und Mikrosystem zuweilen synonym gebraucht. In dieser Arbeit will ich aber Lebensbereich - wie oben dargestellt - als „Ört- lichkeit“ verstanden wissen, die durch das individuelle Wahrnehmen und Verarbeiten begrenzt ist, und Mikrosystem als eine dynamische Einheit aus Rolle, Beziehung und Tätigkeit.

3.1.6.2. Tätigkeit

Für Bronfenbrenners Konzeption sind von den Tätigkeiten nur die relativ lang dauernden, die er molare Tätigkeiten5 nennt, von Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Durch Tätigkeiten, und sei diese Tätigkeit Nachdenken, hat der Mensch die Möglichkeit, sich mit der Umwelt auseinander zu setzen. Tätigkeiten fördern die Entwicklung, setzen aber je nach Komplexität auch gewisse Entwicklung voraus. Bronfenbrenner sagt, dass Tätig- keiten »[. . .] manchmal gleichzeitig Ursache, Kontext und Folge psychischen Wachstums sein können« (1989: 70).

Da diesen Tätigkeiten in einem Mikrosystem nachgegangen wird, betreffen sie auch die anderen am Mikrosystem beteiligten Personen und stiften damit Beziehung.

3.1.6.3. Beziehung

Bronfenbrenner unterscheidet drei Grundformen von Beziehungen, die er Beobachtungsdyade, Dyade gemeinsamer Tätigkeiten und Primärdyade nennt.

- Beziehungsdyaden6 entstehen über verbindende Tätigkeiten, wobei die minimalste uns konstitutive Bedingung die Gegenseitigkeit ist (vgl. Bronfenbrenner 1989: 71). Voraussetzung für eine Beobachtungsdyade ist deshalb, dass die beobachtete Person sich der Beobachtung bewusst ist.
- Bleibt es nicht nur beim Beobachten, sondern kommt es zum Handeln, spricht Bron- fenbrenner von einer Dyade gemeinsamer Tätigkeiten. Die Beteiligten müssen dabei nicht dasselbe tun; »[. . .] ihre Tätigkeiten sind einigermassen verschieden, aber komplementär, sind Teile eines integrierten Musters« (Bronfenbrenner 1989: 72). Die gegenseitige Beeinflussung bei Dyaden gemeinsamer Tätigkeiten ist generell grösser als bei einer Beobachtungsdyade, weshalb Bronfenbrenner diesen Dyaden mehr Entwicklungspotenzial zuspricht.
- Positive gegenseitige Gefühle erleichtern die Bildung der dritten Art von Dyaden, der Primärdyade: Eine Beziehung, die im Bewusstsein, auch bei Abwesenheit des Gegenübers, besteht.

»Jeder denkt an den anderen und hat starke Gefühle für ihn, jeder beeinflusst das Verhalten des anderen auch weiterhin, wenn sie getrennt sind« (Bronfenbrenner 1989: 73).

Im Weiteren betrachtet Bronfenbrenner bei den Beziehungsdyaden noch das Kräfteverhältnis (wer ist eher Lernender, wer eher Lehrender?) und wie sich dieses im Idealfall allmählich zugunsten des „Lernenden“ verschiebt. Die verschiedenen Dyadenformen können auch in Kombination vorkommen, was das Entwicklungspotenzial noch zusätzlich steigert (vgl. Bronfenbrenner 1989: 74).

Zusammenfassend sagt Bronfenbrenner über den Einfluss von Beziehung auf die Ent- wicklung:

»Die Auswirkung einer Dyade auf die Entwicklung wächst mit dem Grad der Reziprozi- tät, dem Grad der gegenseitig positiven Gefühle und mit der allmählichen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der sich entwickelnden Person« (Bronfenbrenner 1989: 74).

3.1.6.4. Rolle

Bronfenbrenner vertritt - ganz nach seinem Credo von Wechselseitigkeit - ein Rollen- verständnis, das nicht nur von der einer Rolle innehabenden Person ein gewisses Ver- halten erwartet, sondern auch, wie andere sich dieser gegenüber verhalten sollen.

Bezüglich des Mikrosystems heisst das, dass mit der Rolle Erwartungen verbunden sind, wie in etwa die Beziehungen und Tätigkeiten des Mikrosystemmusters ausgefüllt werden sollen, und zwar von allen am Mikrosystem beteiligten Personen. Da Rollenerwartungen normalerweise nicht aus dem Nichts entstehen, sondern der Sichtweise einer Gesellschaft oder eines Teils einer Gesellschaft entsprechen, liegt ihr Ursprung im Makrosystem (vgl. Bronfenbrenner 1989: 97f.).

3.1.7. Ökologische Übergänge

Wechselt eine Person in der ökologisch verstandenen Umwelt von einem System in ein anderes, kann dieser Wechsel als ein ökologischer Übergang bezeichnet werden.

»Ein ökologischer Übergang findet statt, wenn eine Person ihre Position in der ökologisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer Rolle, ihres Lebensbereichs oder beider verändert« (Bronfenbrenner 1989: 43).

Da das engste den Mensch umgebende System, das Mikrosystem ist, geht faktisch mit jedem ökologischen Übergang auch ein Mikrosystemwechsel einher, oder anders, ein Mikrosystemwechsel kommt einem ökologischen Übergang gleich.

Ökologische Übergänge betrachtet Bronfenbrenner als Entwicklungsmotor schlechthin. Wie stark Bronfenbrenner diese gewichtet, wird auch bei der Kurzcharakterisierung Flammers sichtbar. Dieser schreibt zu Bronfenbrenners Theorie: »Als einziges [Entwick- lungskonzept, E.B] sticht das Konzept des ökologischen Übergangs hervor« (Flammer 2003: 214).

3.1.7.1. Unterschied zwischen ökologischem und biographischem Über- gang

Wie im Chronosystem erwähnt sind biographische Übergänge markante Ereignisse, die sich im Verlauf des Lebens abspielen. Ökologische Übergänge können ebenso markante Ereignisse sein (dann sind sie zugleich auch ein biographischer Übergang), aber ihr Kennzeichen ist der Wechsel oder die Veränderung des ökologischen Systems.

Mit einem biographischen Übergang geht jeweils auch ein oder mehrere ökologische Übergänge einher, umgekehrt ist aber nicht jeder ökologische Übergang ein biographi-

scher. Wer beispielsweise das erste Mal zur Arbeit geht, macht einen biographischen Übergang, und weil er den Lebensbereich wechselt und ein neues Mikrosystem realisiert, auch einen ökologischen. Das Zur-Arbeit-Gehen wird allmählich zum Alltag. Es stellt dadurch kein markantes Ereignis mehr dar und ist auch kein biographischer Übergang mehr, ein ökologischer Übergang bleibt es aber.

3.2. ERWEITERUNG UND SPEZIFIZIERUNG DES SYSTEMÖKOLOGISCHEN AN- SATZES DURCH OBERHOLZER

Oberholzer baut auf Bronfenbrenners Konzeption auf. Er konzentriert sich dabei vor al- lem auf die Mikrosysteme. Anders definiert und differenzierter betrachtet, lassen sich zusätzliche Mikrosystemtypen und damit auch mehr ökologische Übergänge festma- chen.

Das heisst nicht, dass diese Mikrosysteme vorher nicht existiert haben, sondern lediglich, dass sie vorher nicht erkannt wurden. Dies wiederum bedeutet, dass damit mögliches Entwicklungspotenzial unberücksichtigt blieb.

Oberholzer selbst sagt zu seiner Arbeit: »Dieses Konzept [Konzept von Bronfenbrenner, E.B.] wird in der vorliegenden Arbeit weiterentwickelt und in eine für Fragen der Entwicklungsförderung geeignetere Konzeption überführt« (Oberholzer 2004: 1).

3.2.1. Lebensbereich und seine spezifischen Mikrosysteme

Oberholzer beginnt seine Erweiterung mit einer Klärung, die ich in dieser Arbeit auch schon unternommen habe (Kapitel 3.1.6.1.), bezüglich dessen, dass Lebensbereich und Mikrosystem zweierlei sind (vgl. Oberholzer 2004: 1f./6f.). Die Unterscheidung hat gra- vierende Folgen, denn wird Lebensbereich synonym zu Mikrosystem gesetzt, heisst das, ein Lebensbereich ist ein Mikrosystem. Wird aber Lebensbereich als ein (physikalischer, sozialer, symbolischer) Rahmen gesehen, sind darin eine Vielzahl von Mikrosystemen möglich. Oberholzer nennt diese Mikrosysteme lebensbereichspezifische Mikrosysteme. Im Lebensbereich Wohngemeinschaft sind dies z.B. Bewohnersitzung, Frühstück, A- bendessen, Pflegeritual etc.

Lebensbereichspezifische Mikrosysteme lassen bezüglich ihrer Ausgestaltung einen gewissen Spielraum zu. Das erlaubt dem Individuum ein lebensbereichspezifisches Mik- rosystem auf seine individuelle Art zu gestalten. Solcherlei vom Individuum realisierten Mikrosysteme nennt Oberholzer individuell lebensbereichspezifische Mikrosysteme (vgl. Oberholzer 2004: 7f.).

Wird ein individuell lebensbereichspezifisches Mikrosystem jenseits besagten Spielraums realisiert, spricht Oberholzer von einem riskant-kontingenten Mikrosystem (vgl. Oberholzer 2004: 8f.). Beim lebensbereichspezifischen Mikrosystem „Frühstück“ entsprechen z.B. Essen, Trinken, Sprechen, Lachen in etwa den Erwartungen. Wirft das Individuum aber mit Essen und Geschirr um sich, zeigt es ein riskant-kontingentes Mikrosystem(muster) und manövriert sich dadurch ins Abseits. Dies deshalb, weil das realisierte Muster derart stark von der lebensbereichspezifischen Vorgabe abweicht, dass der Lebensbereich resp. die ihn prägenden Akteure nicht bereit sind, sich diesem individuellen Muster gegenüber entgegenkommend zu verhalten.

3.2.1.1. Personale Mikrosysteme

Auf Grund dessen, dass ein Individuum zu einem gewissen Teil seine individuellen Mus- ter in einem Lebensbereich realisieren kann, ergibt sich pro Lebensbereich schon eine Vielzahl von möglichen Mikrosystemen (kontingente individuelle lebensbereichspezifi- sche Mikrosysteme). Diese Vielfalt kann noch gesteigert werden durch eine stärkere Ausrichtung der Konzeption auf das sich entwickelnde Individuum. Dies, indem weniger die Wechselwirkung und somit weniger die Beziehung beachtet wird, sondern vielmehr die Qualität, mit der eine Person das Muster realisiert. Der Sitzungsteilnehmer ist da- durch nicht mehr nur einfach Sitzungsteilnehmer, sondern ein engagierter, ein gelang- weilter oder ein störender Sitzungsteilnehmer. Das heisst, die Rolle (Sitzungsteilnehmer) bleibt sich gleich, die mit der Rolle verbundenen Tätigkeiten (Sprechen, Zuhören. . .) und das Beziehungsgefüge (Bewohnersitzung) ebenfalls. Die Qualität aber, die der Sitzungs- teilnehmer in diese Elemente einfliessen lässt, ist unterschiedlich und wird berücksich- tigt.

Diese qualitative Prägung schafft Mikrosysteme, die Oberholzer personale Mikrosysteme nennt. Jede qualitative Änderung (z.B. vom engagierten zum desinteressierten Sitzungsteilnehmer) führt zu einem neuen personalen Mikrosystem und ist somit auch ein ökologischer Übergang (vgl. Oberholzer 2004: 11ff.).

Abb. 2 auf Seite 15 verdeutlicht wie sich durch Oberholzers Erweiterung um individuell lebensbereichspezifische und personale Mikrosysteme die Anzahl der Mikrosysteme vervielfacht. Zum Lebensbereich Wohngemeinschaft gehören eine Vielzahl (lebensbe- reich-)typischer Mikrosysteme, z.B. das lebensbereichspezifische Mikrosystem Bewoh- nersitzung.

Solche lebensbereichspezifischen Mikrosysteme können individuell ausgestaltet werden. Bezüglich Bewohnersitzung kann das Individuum z.B. das individuell lebensbereichspe-

zifische Mikrosystem Sitzungsteilnehmer realisieren, dabei ist es je nach Beziehung zu den anderen Sitzungsteilnehmerinnen und -teilnehmern gleichzeitig evtl. auch Freund. Selbst zuweilen den Clown Spielen an einer Sitzung ist akzeptabel; falls dem aber ständig so ist, kommt dies einem riskant-kontingenten Mikrosystemmuster gleich.

Auch auf der Ebene der personalen Mikrosysteme kann das Individuum unterschiedliche mikrosystemische Qualitäten zeigen und damit unterschiedliche personale Mikrosysteme realisieren. Es ist nicht lediglich „einfacher“ Sitzungsteilnehmer, sondern ein gelangweil- ter, engagierter etc.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 2)

3.2.2. Beziehungsdyaden nach Oberholzer

Oberholzer hat die Beziehungsdyaden Bronfenbrenners erweitert resp. verfeinert (vgl. Oberholzer 2004: 10f.).

Für die Dyade gemeinsamer Tätigkeiten unterscheidet Oberholzer solche mit und solche ohne Kooperationscharakter. Er verweist auf das Kooperationsverständnis von Schweit- zer (1998), nach dem auch Nichtkooperation7 eine Form von Kooperation ist. Das erlaubt unsoziales Verhalten nicht einfach als etwas grundsätzlich Negatives abzutun, sondern als eine weitere Verhaltensmöglichkeit zu sehen, mitsamt innewohnendem Entwick- lungspotenzial.

Oberholzers zweite zusätzliche Dyadenform ist das Berücksichtigen von Beobachtungsdyaden ohne interpersonalen Bezug. Er erwähnt jedoch, dass diese Dyadenform nur geringes Entwicklungspotenzial aufweist.

Grundlage folgender Abbildung (Abb. 3) bildet eine Grafik Oberholzers (vgl. Oberholzer 2004: 10), die ich abgewandelt und um Bronfenbrenners Dyadeneinteilung ergänzt habe.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 3)

In präsentierter Grafik nicht berücksichtigt - weil es keine Beziehung in Dyadenform ist - ist die Möglichkeit des „Selbstbezugs“ bei personalen Mikrosystemen. Nach Oberholzer ist »[. . .] eine Konzeption von personalen Mikrosystemen möglich, die ›für sich‹ stehen kann und nicht direkt8 an soziale Beziehungen mit anderen Individuen und soziale Grup- pen gebunden ist« (Oberholzer 2004: 11), z.B., indem ich über mich selber nachdenke.

Unter Berücksichtigung dieser Konzeption realisiert ein Mensch faktisch immer ein Mik- rosystem. Steht er nicht in Beziehung zu anderen, so befindet er sich im Selbstbezug.

3.2.3. Ökologische Übergänge

Ökologische Übergänge bedingen eine Veränderung oder Umformung des Mikro- systemmusters. Es gilt sich auf die neue Situation einzustellen, dem situationsbedingten Muster von Rolle, Tätigkeit und Beziehung in einem Lebensbereich nachzukommen. Jeder ökologische Übergang fordert deshalb - wenn evtl. auch nur sehr kurzfristig - Auseinandersetzung mit der veränderten Situation. Eine solche Auseinandersetzung verunsichert bezüglich den Themen: Was muss ich machen? Wie geht das? Kann ich das? etc. Das Auseinandersetzen mit sich und der Umwelt bietet aber gleichzeitig auch die Chance Erfahrungen zu machen, neue Zusammenhänge zu entdecken, . . . und da- durch ein differenzierteres Bild von sich und der Welt zu entwickeln. Ökologische Über- gänge bieten demzufolge die Chance zu Entwicklungsprozessen und erfolgreiche Ent- wicklungsprozesse begünstigen weitere.

»Die laufende und überdauernde Veränderung und sichere Überführung von Mikrosyste- men in neue Mikrosysteme führt auf Seiten des betreffenden Individuums einerseits zu einer Vielfalt an potentiell realisierbaren Mikrosystemen und andererseits, mit dem konti- nuierlichen Zuwachs an erfolgreich realisierten und realisierbaren echten ökologischen Übergängen zu einem vertieften Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen« (Oberholzer 2004: 18).

Oberholzer unterscheidet zwischen echten und unechten ökologischen Übergängen, je nachdem, ob es dem Individuum gelingt das vorgegebene Muster zu realisieren oder nicht.

3.2.3.1. Echte ökologische Übergänge

Gilt es ein neues9 Mikrosystem zu realisieren, verlangt die Situation nach einem spezifischen Muster, das mehr oder weniger genau erfüllt werden muss. Gelingt es dem Individuum sich von einem Muster zu lösen und dieses „vorgegebene“ neue Muster zu realisieren, ist ihm ein echter ökologischer Übergang gelungen (vgl. Oberholzer 2004: 17ff.): Der Klient bzw. die Klientin legt z.B. das Strickzeug beiseite und nimmt nun an der Bewohnersitzung teil durch aktives Zuhören, Erzählen und Fragen.

3.2.3.2. Unechte ökologische Übergänge

Bei einem unechten ökologischen Übergang wird das verlangte Mikrosystemmuster nicht realisiert, weil entweder das gezeigte Muster - bestehend aus Rolle, Beziehung und Tätigkeit - oder die gezeigte Qualität nicht den Erwartungen entspricht. Statt dass z.B. der Klient oder die Klientin im erwarteten Rahmen an der Bewohnersitzung teilnimmt, hört er oder sie Radio (und realisiert damit ein anderes Muster) oder benimmt sich derart nervös (Qualität), dass es auf die Sitzung störend wirkt.

Ein unechter ökologischer Übergang kann für das Individuum den Vorteil haben, dass die mit dem Übergang einhergehende Verunsicherung klein gehalten wird. Das Festhalten - in einer neuen oder veränderten Situation - an einer gewissen Qualität (z.B. „frech sein“) gibt zwar ein Gefühl der Sicherheit, schmälert aber gleichzeitig das situationsspezifische Entwicklungspotenzial (vgl. Oberholzer 2004: 19ff.).

3.2.3.3. Entwicklungspotenzial ökologischer Übergänge

Die Unterscheidung zwischen echten und unechten Übergängen sagt nur beschränkt etwas aus über das mit einem ökologischen Übergang verbundene Entwicklungspoten- zial.

Entscheidend ist das Ausmass der Veränderung, die nötig ist zur Realisation des neuen Mikrosystems. Je grösser diese Veränderung, desto grösser das damit einhergehende Entwicklungspotenzial (vgl. Oberholzer 2004: 14). Aus entwicklungsförderlicher Sicht sind demnach ganzheitliche Umformungen von Mikrosystemen anzustreben. Unvollstän- dige Umformungen - wie sie bei unechten ökologischen Übergängen oft der Fall sind - schmälern das Ausmass der Veränderung und reduzieren damit das Entwicklungspoten- zial.

Allerdings beruht nicht jeder unechte Übergang auf einer unvollständigen Umformung. Eine ganzheitliche Umformung, jedoch hin zu einem inadäquaten Mikrosystem10, entspricht ebenfalls einem unechten Übergang (vgl. Oberholzer 2004: 22), hat aber auf Grund des grossen Veränderungsbedarfs viel Entwicklungspotenzial. Zwischendurch einmal ein neues, originelles, nicht adäquates Verhalten zeigen kann demnach der Entwicklung ebenso förderlich sein wie immer schön brav und angepasst das vorgegebene Muster zu realisieren. Wer allerdings immer oder in gehäufter Form unechte ökologische Übergänge macht, läuft Gefahr vom System resp. von den Dyadepartnern entwertet oder ausgeschlossen zu werden (vgl. Oberholzer 2004: 20f.).

3.2.3.4. Mikrosysteme und ihre Auswirkung auf weitere ökologische Über- gänge

Das menschliche Leben kann zeitlich betrachtet als eine Aneinanderreihung von ökolo- gischen Übergängen und den dazugehörenden (zu realisierenden) Mikrosystemen ver- standen werden. Jedes dieser Mikrosysteme weist ein Muster auf, das auf den Betref- fenden eher beruhigend wirkt (so z.B. Altbekanntes oder Ritualisiertes) oder viel Enga- gement verlangt, herausfordert, verunsichert, weil es neu und/oder interessant ist.

Beruhigend wirkende, Sicherheit vermittelnde Mikrosysteme laden zum Verweilen ein. Der Mensch tendiert dazu in solchen Mikrosystemen zu verharren und sucht nicht sofort wieder die Auseinandersetzung mittels ökologischem Übergang. Oberholzer nennt sol- cherart wirkende Mikrosysteme »zur Geschlossenheit tendierende Mikrosysteme«.

Dementsprechend nennt er Mikrosysteme, die zu einer aktiven Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt zwingen, »zur Offenheit tendierende Mikrosysteme« (vgl. Oberholzer 2004: 22ff.).

Oberholzer betont, dass es für die Entwicklung beiderlei Mikrosysteme braucht. So sollte auf eine Phase des Erlebens, der »Auseinandersetzung« (Oberholzer 2004: 23), eine Phase der Ruhe, des »Zusammensetzens« (ebd.), folgen. Bezüglich Intensität korrelieren diese zwei Wirkungsarten von Mikrosystemen in einer ganz gewissen Weise miteinan- der:

»Je grösser der Entwicklungsschritt oder der Veränderungsbedarf, desto grösser ist die zu verarbeitende Verunsicherung und desto grösser ist der [. . .] Reorganisationsbedarf. Je bekannter und ritualisierter der Entwicklungsschritt und die zu realisierenden Anpassungsleistungen, desto kleiner ist die zu verarbeitende Verunsicherung und desto geringer ist der Reorganisationsbedarf« (Oberholzer 2004: 24).

Inwiefern und welcher Art (echt, unecht) ein Individuum ökologische Übergänge macht und Mikrosysteme realisiert, hängt sowohl vom Individuum wie von der Umwelt ab. Das Individuum macht unter Umständen aus Furcht vor Veränderung keine ganzheitliche Umformung hin zu einem neuen Mikrosystemmuster, die Umwelt wiederum verunmög- licht evtl. eine solche, weil sie die Fähigkeiten des Individuums falsch einschätzt (z.B.: „Der kann das ja eh nicht!“).

Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt kann dazu führen, dass die Situation zunehmend ausgeprägter wird (vgl. Oberholzer 2004: 22). Wer sich weigert ökologische Übergänge zu machen oder vorgegebene Muster nicht realisiert, bekommt zunehmend weniger Möglichkeiten dargeboten. Wem ebenso Möglichkeiten von ökologischen Übergängen verunmöglicht oder erschwert werden, der ergibt sich in sein Schicksal und zeigt diesbezüglich keine Eigeninitiative mehr.

Aufgabe der professionellen Arbeit mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung ist, sich dieser Dynamik bewusst zu sein und dem Wechselspiel von Verunsicherung (Auseinandersetzen) und Versichern (Zusammensetzen) Rechnung zu tragen. Es gilt deshalb Mikrosystemmuster anzubieten, die zur Auseinandersetzung einladen, wie auch solche zu gewähren, die der Versicherung dienen11.

4. BEFRISTETER ORGANISATIONSWECHSEL UNTER SYSTEMÖKOLOGISCHER PERSPEKTIVE

Besagtes Forschungsvorhaben befasst sich mit möglichen mittel- bis längerfristigen Wechseln von Arbeits- und Wohnort erwachsener Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung. Es geht hier also um Lebensbereichwechsel und somit um Wechsel von Mikro-, Meso-, Exo-, evtl. gar Makrosystem. Bei derart viel Veränderung resp. ökologischen Übergängen kann, gemäss systemökologischer Sichtweise, von hohem Entwicklungspotenzial ausgegangen werden. Hohes Entwicklungspotenzial bedeutet hohes Verunsicherungspotenzial, was wiederum Grund für unechte ökologische Ü- bergänge sein kann. Diese Kausalzusammenhänge lassen die mit einem solchen Wechsel verbundenen Schwierigkeiten erahnen. Als Sozialpädagoge interessiert mich speziell der entwicklungsförderliche Aspekt eines solchen Wechsels.

Entwicklungsförderung hat nach Oberholzers Verständnis »[. . .] alle Handlungen und Leistungen zu umfassen, durch welche das sich entwickelnde Individuum befähigt wird, sich erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über (sich und) seine Umwelt zu machen« (Oberholzer 2004: 6).

Was aber lässt sich über Entwicklungsförderung mittels Organisationswechsel sagen, wenn der Wechsel erst noch bevorsteht? Bronfenbrenner würde den Organisations- wechsel als „natürliches“ ökologisches Experiment betrachten. Das Entdecken von dabei vonstatten gegangenen Veränderungen wäre schliesslich sein Erkenntnisgewinn (vgl. Bronfenbrenner 1989: 54). Mein Ziel hingegen ist diese Erkenntnisse hypothetisch vor- wegzunehmen. Auf den systemökologischen Ansatz gestützt betrachte ich einen mögli- chen Organisationswechsel und generiere dabei diverse Folgerungen und der Entwick- lungsförderung dienliche Empfehlungen. Wenn ich mich bei Argumentationen auch ein- mal spezifisch auf Bronfenbrenner, dann wieder auf Oberholzer stütze, wichtig ist mir dabei der systemökologische Aspekt.

4.1. VON DER IDEE ZUR ENTSCHEIDUNG

Oberholzer nennt Mikrosysteme, die isolierend wirken und damit weitere ökologische Übergänge erschweren oder verunmöglichen, zur Abgeschlossenheit tendierende Mikro- systeme (vgl. Oberholzer 2004: 23). Analog dazu können ganze Lebenswelten12 zur Ab- geschlossenheit tendieren. Damit meine ich, dass geschützte Wohn- und Arbeitsplätze nicht nur schützend wirken, sondern auch abschotten können. Die Klientel lebt in dieser kleinen „heilen“ Welt und wird fast nie mit anderen als den dort üblichen Wertvorstellun- gen, Normen, Gewohnheiten, Machtunterschieden, Interaktionsmustern, Tätigkeiten, Rollen etc. konfrontiert.

Dieser Zustand kann von den involvierten Personen - Klientel, professionell Helfenden, Heimleitung - als durchaus stimmig erlebt werden, verläuft doch der Alltag in geordneten Bahnen. Je mehr der Alltag zur Routine verkommt, desto weniger muss sich die Klientel mit sich und der jeweiligen Situation auseinander setzen13. Nach systemökologischer Setzung verliert der Alltag, durch dieses Verharren in immer denselben Lebensberei- chen, an Entwicklungspotenzial, ein Wechsel verspricht hingegen neue Impulse und somit mehr Entwicklungsmöglichkeiten.

Generell bedeutet ein Wechsel der Organisation - auf Grund des Zuwachses an Entwicklungsmöglichkeiten - einen Gewinn für das betreffende Individuum.

Oder anders argumentiert: Was geschieht, wenn jemand immer in denselben Lebensbereichen verharrt: macht er Fortschritte oder immer die gleichen Fehler? Respektive, würde ein Wechsel helfen beim Erkennen der eigenen Fehler? Nach dieser Sichtweise wäre ein Wechsel angebracht, allein schon um eine Vergleichsmöglichkeit zu haben. Wie war es vor dem Wechsel, wie jetzt nach vollzogenem Wechsel?

Ein Organisationswechsel kann demnach als eine wichtige Erfahrung im Leben der Klientel betrachtet werden. Als ein markantes Ereignis und in diesem Sinne als ein bio- graphischer Übergang. Im Sinne Bronfenbrenners bezeichne ich solch einen Organisati- onswechsel als einen normativen ökologischen Übergang, weil er nicht unvorhergese- hen, sondern absichtlich geschieht. Dies wiederum macht ihn planbar und zu einem ge- wissen Teil auch berechenbar.

Personen, die (fast) lebenslang am gleichen Ort sind, werden dadurch in ihrer Entwicklung des Chronosystems eingeschränkt.

Nun ist es aber so, dass Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung bei der Alltagsbewältigung auf gewisse Unterstützung angewiesen sind, so auch bezüglich Or- ganisationswechsels. Bestenfalls entwickeln sie von sich aus die Idee eines Organisati- onswechsels. Mangels Wissen über Organisationen ausserhalb ihres Aktionsradius ist zu vermuten, dass sie weder die Idee selber entwickeln, noch über allfällige Möglichkei- ten freiwilliger Organisationswechsel14 informiert sind. Diese Abhängigkeit bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung macht klar, wie stark ihre Entwicklungsmög- lichkeiten in Händen anderer liegt.

»Richtung und Ausmass des psychischen Wachstums hängen davon ab, in welchem Mass der sich entwickelnden Person Gelegenheit zum Eintritt in Lebensbereiche offenstehen oder verschlossen bleiben, die der Entwicklung auf verschiedenen Gebieten förderlich sind« (Bronfenbrenner 1989: 264).

Das Umfeld bestimmt über Darbieten oder Vorenthalten eines Organisationswechsels und damit über Darbieten oder Vorenthalten von Entwicklungsmöglichkeiten.

Gründe gegen einen Wechsel gibt es viele. Eltern sorgen sich um das Wohl ihres erwachsenen Kindes, befürchten eine Überforderung oder sind nicht bereit einen längeren Anfahrtweg in Kauf zu nehmen. Vormunde sind vielleicht aus ökonomischen, Heimleiterinnen oder Heimleiter aus organisatorischen Gründen gegen einen Wechsel.

Wie gross und vor allem erfolgreich die Bemühungen sind, der Klientel die Möglichkeit eines solchen Wechsels zuteil werden lassen, hat auch mit Macht zu tun. Wie viel Macht hat der Klient bzw. die Klientin oder dessen Vertretung um einen Organisationswechsel einzufordern?

»Das entwicklungsfördernde Potential eines Lebensbereichs wird in dem Ausmass gesteigert, in dem den Beteiligten direkte und indirekte Verbindungen zu Lebensbereichen der Macht offenstehen, die es ihnen erlauben, Unterstützung und Entscheidungsfindungen den Bedürfnissen der sich entwickelnden Person und deren Bestrebungen ihrer Vertreter entsprechend zu beeinflussen« (Bronfenbrenner 1989: 240).

Es spricht demnach für eine Organisation, wenn ihre Klientel einen Organisationswechsel einfordern kann und dabei ernst genommen wird.

Wir professionell Helfenden, als Vertretende unserer Klientel, haben mitunter Einfluss auf eine allfällige Entscheidungen bezüglich eines Organisationswechsels. Unser theore- tisches Wissen, unsere berufliche Erfahrung und evtl. langjährige Zusammenarbeit mit der Klientin, dem Klienten geben unserer Argumentation Gewicht. Eine allfällige Ent- scheidung für oder gegen einen Organisationswechsel liegt also auch in unserer Hand.

Inwiefern einem Klienten, einer Klientin ein geforderter Organisationswechsel tatsächlich ermöglicht wird, hängt davon ab, wer sich diesbezüglich mit wie viel Vehemenz für diese Klientel einsetzt.

Wenig Aussenkontakt, mangelndes Wissen, wenig Eigeninitiative, Fremdbestimmung oder beschränktes Vorstellungsvermögen seitens der Klientel können Gründe sein, wa- rum die Idee eines allfälligen Wechsels vielleicht erst in den Köpfen der Heimleitung und professionell Helfenden existiert. Das heisst aber nicht, dass dies noch keine Auswirkung auf den Alltag der Klientel hat. Mikrosysteme, die in Zusammenhang eines allfälligen Wechsels entstehen oder aktiviert sind (z.B. zwischen der Leitung zweier Organisatio- nen), können Auswirkung auf aktuelle Mikrosysteme der betroffenen Klientel haben und stellen für diese Klientel demnach Exosysteme dar. Professionelle Helfer und Helferin- nen machen sich Gedanken zu potenziellen Kandidaten und Kandidatinnen. In Anbetracht eines möglichen Wechsels wird die Klientel genauer beobachtet. Ihr wird dadurch mehr Aufmerksamkeit zuteil, was wiederum ein verändertes Verhalten zur Folge haben kann. Die beobachtende Person revidiert ständig ihr Bild von der Klientin, vom Klienten und gelangt auf diese Weise zu einem immer differenzierteren Fremdbild.

Allein schon auf Grund dessen, dass ein Klient oder eine Klientin als möglicher Kandi- dat oder mögliche Kandidatin für einen Organisationswechsel in Betracht gezogen wird, führt auf Seiten der professionellen Helfer und Helferinnen zu einem differenzier- teren Fremdbild.

Die Chance zu einem solchen Projekt wie diesem mittel- bis längerfristigen Wechsel kann das Umfeld wohl anbieten, wie sie aber von der Klientel genutzt wird, ist auch ihre Sache. Damit meine ich, dass die Klientel auch bereit sein muss sich auf die mit dem Wechsel verbundenen ökologischen Übergänge einzulassen. Diese Bereitschaft hängt mitunter von bisherigen Erfahrungen ab. Zu den positiven Verstärkungsprozessen, auf Grund echter ökologischer Übergänge, sagt Oberholzer:

»Erfolgreiche Entwicklungsprozesse begünstigen weitere Ökologische Übergänge und steigern damit das individuelle Entwicklungspotential eines Menschen; d.h. die Bereitschaft des sich entwickelnden Individuums, sich zugunsten von neuen Ökologischen Ü- bergängen wiederum verunsichern zu lassen« (Oberholzer 2004: 18).

Prädestiniert für einen Organisationswechsel scheinen demnach Menschen, die es ge- wohnt sind, ökologische Übergänge zu machen. Allerdings sind dies meist nicht jene mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen. Auf diese aber zielt das Forschungsvorha- ben. Die Umsetzung des Projekts bedarf deshalb allenfalls einer Vorphase, deren Ziel es ist, Betroffene behutsam in diese Spirale der positiven Verstäkungsprozesse echter öko- logischer Übergänge zu führen. Dies muss über individuell abgestimmte Angebote an Mikrosystemen geschehen, die von den Betroffenen auch erfolgreich realisiert werden können.

Erlebt die Klientel schon im Vorfeld viele Erfolgserlebnisse in Folge gelungener echter ökologischer Übergänge, steigert dies ihre Bereitschaft, sich auf einen Organisationswechsel einzulassen.

Besteht die Absicht, einem Klienten oder einer Klientin einen Organisationswechsel zu- teil werden zu lassen, ist es demnach ratsam, dessen resp. deren Selbstvertrauen - ü- ber eine Reihe gelungener echter ökologischer Übergänge - zu steigern und ihn oder sie erst dann zu einem allfälligen Wechsel zu befragen. Dieses Befragen ist teilweise auch mit Schwierigkeiten verbunden: Verständigungsprobleme zwischen professionell Helfen- den und Klientel, beschränktes Vorstellungsvermögen oder zumindest Probleme abs- trakte Sachverhalte zu verstehen, falsche Vorstellungen auf Grund bisheriger Erfahrun- gen (bisher immer unfreiwillige Umplatzierungen)15 etc. können ein Näherbringen des Themas erschweren.

Der kognitive Entwicklungsstand von Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchti- gung16 ist vielfach dem eines Kleinkindes ähnlich. Bronfenbrenner weisst darauf hin, dass sich das kindliche Vorstellungsvermögen von der Mikro- zur Meso-, Exo- und sogar Makroebene entwickelt (vgl. Bronfenbrenner 1989: 26). Reicht das Vorstellungsvermö- gen der Klientel nicht bis zur Exoebene, muss ihr das Exosystem „neue Organisation“ näher gebracht werden, indem es über lebensbereichspezifische Mikrosysteme er- schlossen wird.

In Anbetracht des grossen Neuigkeitswerts und der damit einhergehenden Verunsiche- rung17 scheint mir eine behutsame Annäherung ratsam. Vielleicht kann die neue Organi- sation zuerst mit Fotos oder einem Film näher gebracht werden. Auf einen ersten Be- such kann ein Schnupperwochenende, später eine Schnupperwoche folgen. Über das Erleben bekommen die Klientel eine Vorstellung der neuen Organisation und was es heisst dort zu leben.

Was ein Organisationswechsel bedeutet, muss ein Klient oder eine Klientin durch Erleben vor Ort erfahren.

Eine Schnupperwoche kann stellvertretend Einblick geben über Leben vor Ort. Was sie aber nicht vermag, ist die zeitliche Dimension eines halben Jahres oder mehr spürbar zu vermitteln. Es ist deshalb durchaus möglich, dass der Klient oder die Klientin auf eine oder einige Schnupperwoche(n) positiv reagiert, sich dies aber nach erfolgtem Wechsel zunehmend ändert, einfach deshalb, weil erst nach zehn Wochen spürbar wird, was zehn Wochen bedeuten.

Diesbezüglich wäre es den Betroffenen gegenüber nichts als gerecht, dass sie allenfalls wieder zurückkommen könnten, bevor die vorgesehene Frist um ist.

Für Klienten und Klientinnen, die unter anderem auf Grund eines beschränkten zeitlichen Vorstellungsvermögens den Organisationswechsel falsch einschätzen, soll die Möglichkeit einer vorzeitigen Rückkehr offen stehen.

Selbstredend ist nicht schon beim ersten Heimweh die Rückkehr einzuleiten, sondern mit Motivationsarbeit den Betreffenden Mut zu machen. Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern jemand zum Glück gezwungen werden kann, sei es indem der Klient oder die Klientin trotz „Nichtgefallen“ weiterhin in der neuen Organisation bleiben muss, sei es dass er oder sie sogar entgegen den eigenen Willen dorthin geschickt wurde.

Damit tangiere ich erneut das Thema von Fremd- und Selbstbestimmung. Eine zeitge- nössische Arbeit mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung hat meines Erachtens der Klientel eine ihren Fähigkeiten entsprechende grösstmögliche Entscheidungsfreiheit zukommen zu lassen. Wie aber kann bei beschränkter Interaktions- und Kommunikati- onsfähigkeit im Sinne des Klienten oder der Klientin entschieden werden? Genau gleich wie schon über einen Wechsel hin zur neuen Organisation entschieden worden ist. Die Klientel muss die Möglichkeit haben, über einen Prozess des Erlebens zu erfahren, was es heisst, die Koffer erneut zu packen, Abschied von all den neuen Bekanntschaften zu nehmen, gewisse Pläne noch nicht realisiert zu haben und so weiter.

Um diesen Prozess zu begleiten und aus dem Verhalten der Klientel die richtigen Schlüsse zu ziehen resp. ihren Gedanken, Gefühle, Absichten möglichst nahe zu kom- men, braucht es eine Person, welche die Klientin oder den Klienten möglichst gut kennt. Es erscheint mir deshalb wichtig, dass nicht irgendeine „ferne Instanz“ den Entscheid zu Gunsten oder Ungunsten eines Wechsels fällt, sondern eine vertraute Person, d.h. eine Bezugsperson in Zusammenarbeit mit dem Klienten bzw. der Klientin. Das bedeutet, dass diese Bezugsperson vor Ort sein muss beim ersten Besuch, beim Probewochen- ende, aber auch zur Abklärung bezüglich einer vorzeitigen Rückkehr.

Eine vertraute Bezugsperson18 hat sich, durch Beobachtung der Lebenssituation der Klientin oder des Klienten vor Ort, ein Bild zu machen und gegebenenfalls Entscheidungen bezüglich Organisationswechsel (Ja, Nein, Abbruch, Weiterführung) in Kooperation mit selbigen zu fällen.

Bisher bin ich, und wohl auch Sie als Leser dieser Arbeit, immer davon ausgegangen, dass der Wechsel von einer Organisation der Behindertenhilfe hin zu einer vergleichba- ren Organisation der Behindertenhilfe erfolgt. Könnte aber nicht auch ein Wechsel hin zu einer Organisation, die auf ein anderes Klientel spezialisiert ist, ungeahnte positive Pro- zesse auslösen? Was geschieht, wenn beispielsweise Menschen mit schwerer Entwick- lungsbeeinträchtigung im Rollstuhl in ein Paraplegikerzentrum wechseln? Werden sie sich dort vermehrt bemühen, ihren Rollstuhl selbst vorwärts zu bewegen, oder werden sie resignieren in Anbetracht des fahrerischen Niveaus, das gewisse Rollstuhlfahrer und -fahrerinnen dort aufweisen? Oder lernen Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung (mit hauptsächlich kognitiver Schädigung), die in eine Organisation für blinde Menschen wechseln, sich rücksichtsvoller zu bewegen?

Der Neuigkeitswert resp. das Ausmass der Veränderung lässt sich mit derartigem Wech- sel gewiss zusätzlich steigern, wodurch auch das mit dem Wechsel verbundene Entwick- lungspotenzial steigt. Ein hohes Entwicklungspotenzial nützt aber nichts, wenn es nicht fruchtbar gemacht werden kann. Damit meine ich, dass im Sinne einer optimalen Ent- wicklungsförderung die mit einem Wechsel verbundenen Anforderungen für die Klientel zu bewältigen sein muss.

Je stärker sich Herkunftsorganisation und neue Organisation unterscheiden, desto grösser ist das damit verbundene Entwicklungspotenzial, desto grösser aber auch die Gefahr der Überforderung für die den Wechsel vollziehende Klientel.

Wenn der Organisationswechsel nicht um des Experimentierens Willen geschehen soll, sondern in der Absicht der Entwicklungsförderung, scheint mir die Wahl einer möglichst ähnlichen Organisation dem Gelingen förderlicher zu sein.19 Auch Bronfenbrenner äussert sich in diese Richtung:

»Wie sich der Übergang von einem Primär-Lebensbereich20 in einen anderen auf die Entwicklung auswirkt, hängt davon ab, wie sich die im alten Lebensbereich zustande gekommene Entwicklungsbahn21 mit den im neuen Lebensbereich angetroffenen und zum Teil durch dessen Verbindungen zum alten bestimmten Verhältnissen von Herausforderung und Unterstützung vereinen lässt« (Bronfenbrenner 1989: 264).

4.1.1. Informationsfluss

Wie eine Beziehung sich im affektiven Bereich entwickelt, hängt unter anderem vom ers- ten Eindruck und vom Willen der Beteiligten ab, aber auch vom Vorwissen. Bezüglich dieses Vorwissens scheint mir beim Informationsfluss zwischen den Organisationen eine gewisse Zurückhaltung angebracht um das den Wechsel vollziehende Klientel nicht zu etikettieren. Negative Zuschreibungen sind möglichst nicht weiterzuleiten, damit die Bil- dung einer positiv affektiven Beziehung nicht unnötig erschwert wird, gilt eine solche doch als entwicklungsförderlich.

»Je positiver und gegenseitiger die affektiven Beziehungen von Anfang an sind und im Verlauf der Interaktion werden, um so mehr erhöhen sie das Tempo und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Entwicklungsprozessen« (Bronfenbrenner 1989: 73).

Bezüglich Informationsfluss gilt es genau abzuwägen, welche Infos auch wirklich nötig sind, da negative Zuschreibungen den Beziehungsaufbau in der neuen Organisation beeinträchtigen.

Doch wie kann die Bildung einer emotional positiven Beziehung beschleunigt werden? Beziehungen wachsen meist über Jahre und besagter Wechsel dauert unter Umständen nur ein halbes Jahr! Vielleicht durch vorzeitige Treffen des Klienten oder der Klientin und den zu erwartenden wichtigsten Dyadenpartner. Dieses gegenseitige Kennenlernen kann sogar schon vor einem ersten Treffen beginnen, indem z.B. Steckbriefe und Fotos ausgetauscht werden.

Ein Mehr an der zum Beziehungsaufbau benötigten Zeit lässt sich dadurch gewinnen, dass sich die betreffenden Personen schon vor dem Wechsel der Organisation ken- nen lernen.

4.2. ABSCHIED

Ein Wechsel der Organisation bedeutet unter anderem auch Abschiednehmen. Dies auch von Personen, mit denen fast täglich zusammengelebt und -gearbeitet wurde. In der Arbeit mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung wird von den professionell Helfenden immer wieder die Wichtigkeit des Beziehungsaspekts betont. Soll nun eine gute Beziehung geopfert (unterbrochen) werden zu Gunsten eines Wechsels der Orga- nisation? Auf den ersten Blick scheint dies unvernünftig. Betrachte ich aber die vorherr- schende Situation in der Behindertenhilfe, besonders im Bereich betreutes Wohnen, wo allseits eine grosse Fluktuation der professionellen Helfer und Helferinnen feststellbar ist, scheint diese Befürchtung an Relevanz zu verlieren. Nicht weil ich eine langjährige Be- ziehung nicht zu schätzen weiss, sondern weil den Klientel nicht viel mehr zugemutet wird, als ihnen auch ohne den Wechsel widerfahren kann. Menschen mit Entwicklungs- beeinträchtigung, die in einem geschützten Rahmen wohnen und arbeiten, haben schon etliche personelle Wechsel erlebt und werden noch etliche erleben. Ein Wechsel der Organisation erweitert diesbezüglich ihre Biographie um ein paar weitere Bezugsperso- nen.

Wechsel von Bezugspersonen - wie sie auch bei einem Organisationswechsel vorkommen - sind für die Klientel nichts Neues. Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigungen erleben auch an geschützten Wohn- und Arbeitsplätzen einen regen Wechsel der professionellen Helfer und Helferinnen.

Natürlich ist es ein Unterschied, ob ein eine professionelle Helferin ihre Stelle kündigt oder ob bei einem Organisationswechsel des Klienten alle professionell Helfenden durch neue ersetzt werden. Es ist aber auch ein Unterschied bezüglich Zeitdauer. Der Organisationswechsel bedeutet lediglich einen befristeten Abschied.

Abschiednehmen wiederum muss nicht heissen den Kontakt abzubrechen. Ziel ist schliesslich nicht etwas zu Gunsten von etwas Neuem eintauschen, sondern das Beste- hende um das Neue zu erweitern. Bronfenbrenner sagt zu einer solchen Ausdehnung des Aktionsraums in Anlehnung an eine Aussage Freuds („wo es war, soll ich werden“): »Wo Exo- war, soll Meso- werden« (Bronfenbrenner 1989: 266).

Das bestehende Beziehungsnetz soll bei einem Organisationswechsel nicht verloren gehen, sondern um neue Beziehungen erweitert werden.

Das bisherige Beziehungsnetz kann und soll demnach gepflegt werden, dazu sind Ver- bindungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen nötig. Bronfenbrenner ver- weist darauf, dass in einem mehrfach verbundenen Mesosystem - vor allem wenn die Verbindungen unterstützend wirken - das entwicklungsfördernde Potenzial höher ist als in einem schwach verbundenen Mesosystem (vgl. Bronfenbrenner 1989: 200ff.).

Das bedeutet, dass der Klient oder die Klientin nicht als einzige die neuen Lebensberei- che erschliesst resp. an der neue Organisation teilnimmt, sondern vor Ort auch via Tele- fon etc. in Kontakt bleibt mit bekannten Personen. Elternbesuche, Besuche von professi- onellen Helfern und Helferinnen sowie der Klientel der Herkunftsorganisation, Postsen- dungen, SMS sind durchaus hilfreich, solange sie motivierend wirken, Orientierung ge- ben etc. und dadurch helfen sich in der neuen Organisation wohl zu fühlen.

Wichtig ist also, das alte Beziehungsnetz weiterhin zu pflegen. Schwierig dabei ist die Ausgestaltung dieser Beziehungspflege, soll sie doch hilfreich sein, sich am neuen Ort zurecht zu finden, und nicht das Gegenteil bewirken. Wie sich welche Kontakte diesbe- züglich auswirken, ist aber m.E. schwer vorhersehbar. Unterstützendes Zureden der Eltern kann genauso gut Mut machen wie Heimweh hervorrufen. Form und Ausmass dieser Beziehungspflege muss deshalb individuell auf den Klienten und die Klientin ab- gestützt sein. Dem Bedürfnis nach Kontakt zu vertrauten Personen muss Rechnung ge- tragen werden mit gleichzeitigem Bestreben, diese Kontakte so zu gestalten, dass sie den Klienten und die Klientin in der neuen Aufgabe bestärken und motivieren.

Bestehende Kontakte sollen trotz Organisationswechsel weiterhin gepflegt werden. Intensität und Inhalt dieser Kontakte sollen für den Klienten und die Klientin möglichst unterstützend und motivierend wirken.

Das Bedürfnis nach vertrauten Personen dürfte bei dem Klienten oder der Klientin am neuen Ort ungleich grösser sein als bei den zurückgelassenen Kollegen, Mitbewohnerinnen, usw., einfach deshalb, weil alle und alles am neuen Ort fremd ist.

Damit aber die Initiative nach Kontakt nicht immer von der Klientin oder dem Klienten in der Fremde zu kommen braucht, ist bei den Zurückgebliebenen (zunehmend mehr) Disziplin nötig, die Kontaktpflege aufrechtzuerhalten. Wer kennt das nicht aus eigner Erfahrung, sei es als Patient, sei es als Besucherin bei einem längeren Spitalaufenthalt? Herrscht zu Beginn ein reger Besucherstrom, sind mit zunehmender Dauer die Besuche rückläufig. Ich sehe es deshalb auch als Aufgabe der professionell Helfenden, die Klientel der Herkunftsorganisation bezüglich Kontaktpflege zu motivieren.

Professionell Helfende in der Herkunftsorganisation sollen nicht nur selbst um Kontakt mit der Klientin oder dem Klienten in der Fremde bemüht sein, sondern auch die Klientel in der Herkunftsorganisation diesbezüglich motivieren und unterstützen.

4.3. WECHSEL HIN ZUR NEUEN ORGANISATION

Kaum auf der Welt, realisiert und vergrössert der Mensch sein Mesosystem. Im Verlauf des Lebens erweitert sich dieses um eine Vielzahl neuer Mikrosysteme. Im Alter werden - durch Tod von Dyadenpartnern, Pensionierung und damit Ausscheiden aus dem Ar- beitsbereich etc. - Verbindungen zu Lebensbereichen und Mikrosystemen abgebrochen, wodurch sich das Mesosystem wieder verkleinert. Eine „Normbiographie“ hat bis zu ei- nem gewissen Alter stets einen Zuwachs und somit eine Vergrösserung des Meso- systems zu verzeichnen. Anders bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchti- gung, hier wächst das Mesosystem vielfach nur in geringem Ausmass oder reduziert sich im schlechtesten Fall sogar. Dies, weil Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung der Zugang zu vielen Lebensbereichen und den dazugehörenden Mikrosystemen erschwert ist oder sie diesen verlieren ohne adäquaten Ersatz, z.B. nach dem Tod der Eltern wird keine Pflegefamilie gefunden und somit auch kein Wochenendplatz. Ein Organisations- wechsel bietet diesbezüglich die Chance, das Mesosystem und das damit verbundene Beziehungsnetz zu vergrössern.

Für Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung bedeutet ein Organisationswechsel ein starkes Anwachsen des Mesosystems und damit Annäherung an eine „Normbiographie“.

Ein Organisationswechsel bedeutet massive Veränderung. Der Klient, die Klientin kommt in eine neue Umgebung, in eine neue soziale Umwelt und wird mit gewissen neuen Um- gangsformen, Werten und Normen konfrontiert. Die Vielzahl neuer potenzieller lebensbe- reichspezifischer Mikrosysteme und ihr grosser Neuigkeitswert beinhaltet grosses Ent- wicklungspotenzial, verlangt aber auch die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Gerade die Massierung von so viel Neuem birgt die Gefahr der Überforderung und Abwehr. Ü- berforderung, weil mögliche neue Muster nicht erkannt oder gelingend realisiert werden, und Abwehr in dem Sinn, dass die Bereitschaft fehlt, sich vollumfänglich auf das Neue einzulassen. Mögliche Mikrosysteme werden dadurch gar nicht realisiert oder nur in Form von unechten ökologischen Übergängen, weshalb hier Handlungsbedarf seitens der professionellen Helfer und Helferinnen angebracht erscheint.

Um das mit einem Organisationswechsel verbundene Entwicklungspotenzial bestmöglich zu nutzen, sind unterstützende begleitende Massnahmen22 nötig.

Eine dieser Massnahmen betrifft das Wissen über die neue Organisation. Mit einer unbekannten Situation - wie dies ein Organisationswechsel ist - konfrontiert zu werden, macht Angst. Menschen neigen dazu, diese Angst zu schmälern, indem sie an Stelle des geforderten neuen Mikrosystemmusters ein vertrautes Muster oder eine vertraute Qualität zeigen, was einem unechten ökologischen Übergang gleichkommt.

Gelingt es mittels Vorinformation die Abwehrhaltung vor dem Neuen zu reduzieren, steigt die Bereitschaft, den Übergang als echten ökologischen Übergang zu bewältigen und damit mehr entwicklungsförderliches Kapital aus dem ökologischen Übergang zu schlagen. Bronfenbrenner verweist auf die Nützlichkeit solcher Vorinformationen:

»Die Entwicklung wird durch den Eintritt in einen neuen Lebensbereich in dem Ausmass gefördert, in dem die Person und die Mitglieder der beiden betroffenen Lebensbereiche schon vor dem Übergang über einschlägige Informationen, Beratung und Erfahrungen verfügen« (Bronfenbrenner 1989: 208).

Die Darbietung solcher Vorinformationen muss individuumspezifisch geschehen. Unter anderem im kognitiven Bereich stark entwicklungsbeeinträchtigten Menschen muss die neue Organisation auf eine für sie spürbare Weise näher gebracht werden, wie im Kapi- tel 4.1. beschrieben.

Wird dem Klient, der Klientin schon vor dem eigentlichen Wechsel die neue Organisation näher gebracht, wird die Angst vor Unbekanntem, Neuem reduziert, was hilfreich ist um an Stelle von unechten echte ökologische Übergänge zu realisieren.

Die „Entschärfung“ des Wechsels durch Vorinformationen helfen der Klientin und dem Klienten, wenn sie mit einem neuen Mikrosystem konfrontiert werden. Es ist aber, wie schon erwähnt, nicht alleine der Neuigkeitswert der Mikrosysteme, der verunsichert und zu vermehrten unechten ökologischen Übergängen führen kann, sondern auch die Vielzahl neuer Mikrosysteme. Das Bestreben muss deshalb auch dahin gehen, die Erschliessung neuer Mikrosysteme resp. neuer oder veränderter lebensbereichspezifischer Mikrosysteme, zeitlich besser zu verteilen. Neue Mikrosysteme sollen nicht alle sofort, sondern vorwiegend gestaffelt erschlossen werden.

Die vielen neuen lebensbereichspezifischen Mikrosysteme sind zeitlich möglichst gestaffelt durch den Klienten oder die Klientin mit individuell lebensbereichspezifischen Mikrosystemen zu erschliessen.

Wird der Wechsel vorderhand nur auf gewisse Lebensbereiche begrenzt, sind damit gleichzeitig die potenziell realisierbaren Mikrosysteme auf diese Bereiche beschränkt. Eine Beschränkung auf den Bereich Wohnen bedeutet, dass es Mikrosysteme in Sachen Haushaltsämter, Bewohnersitzung usw. zu realisieren gilt, aber noch nicht solche im Bereich Arbeit, (neue) Therapie oder Coiffurebesuch in der neuen Umgebung.

Ein erstes Schnupperwohnen könnte an einem Wochenende oder in den Ferien stattfin- den. Falls an solchen Wochenend- oder Ferientagen nicht alle Bewohnerinnen und pro- fessionellen Helfer anwesend sind, kann dies der Sache sogar dienlich sein, reduziert sich doch damit die Anzahl an Beziehungspartner, was erlaubt, sich intensiver auf die vorhandenen Beziehungen zu konzentrieren. Im Wohnalltag kann ebenfalls regulierend resp. reduzierend auf die Anzahl Mikrosysteme eingewirkt werden. Die neue Person muss nicht sofort alle zum Wohnbereich gehörenden Mikrosysteme realisieren. Mit Haushaltsämter, wie z.B. dem gemeinsamen Kochen (professionell Helfende und Klient/Klientin), kann noch zugewartet werden. Allerdings darf das Vorenthalten von le- bensbereichspezifischen Mikrosystemen nicht als Ausschluss empfunden werden. Ge- genüber Betroffenen ist deshalb allenfalls Erklärungsbedarf von nöten.

4.3.1. Begleitperson

Wenn es dann so weit ist, der Organisationswechsel ansteht und es gilt, die vertraute Umgebung gegen eine fremde zu tauschen, würde man am liebsten die ganze Sache abblasen. Wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung, vielleicht geschehen beim Auszug aus dem Elternhaus oder beim Antritt einer neuen Arbeitsstelle.

In solchen Momenten kann es gut tun, jemanden zur Seite zu haben und den Schritt ins Ungewisse gemeinsam zu tun. Es mag vielleicht nach Schwäche oder Unselbständigkeit aussehen, einen Lebensbereich in Begleitung zu wechseln, nach Bronfenbrenner macht das aber aus entwicklungsförderlicher Sicht durchaus Sinn:

»Das entwicklungsfördernde Potential eines Lebensbereichs in einem Mesosystem wird gesteigert, wenn die Person den ersten Übergang in diesen Lebensbereich nicht alleine vollzieht, wenn sie also in Begleitung einer anderen Person oder mehrerer Personen, mit denen sie an früheren Lebensbereichen teilgenommen hat, in den neuen Lebensbereich eintritt« (Bronfenbrenner 1989: 201f.).

Und an anderer Stelle: »[Die Begleitperson kann, E.B.] als Rückhalt dienen, ein Vorbild für soziale Interaktion abgeben, die Initiative der in Entwicklung begriffenen Person bestärken und so weiter« (Bronfenbrenner 1989: 201). Eine Begleitperson ist demnach generell zu befürworten.

Die Klientin, der Klient sollte den Wechsel in Begleitung einer ihr/ihm vertrauten Person vollziehen.

Wer aber soll nun diese Begleitperson sein? Nach Bronfenbrenner jemand, mit dem schon eine Primärdyade besteht (vgl. Bronfenbrenner 1989: 205). Wenn auch solch e- motional positive und gegenseitige Beziehungen zu diversen Personen bestehen können (Eltern, andere Klientel, professionell Helfende), denke ich, dass ein professioneller Hel- fer, eine professionelle Helferin diesen Part einzunehmen hat. Einerseits aus zeitlichen Gründen - Eltern müssten dafür unter Umständen extra Ferien nehmen -, andererseits aus Gründen der Professionalität und Zuständigkeit. Wir professionellen Helfer und Hel- ferinnen handeln (sollten das zumindest) reflektiert und theoriegeleitet, des Weiteren ist es Teil unserer Arbeit Dienstleistungen für die Klientel zu erbringen.

Welcher, der professionell Helfenden soll nun aber den Wechsel - nach systemökologi- schen Kriterien - begleiten? Sicherlich keine „Neuanstellung“, denn die Bildung einer Primärdyade braucht Zeit. Neu angestellte professionelle Helfer und Helferinnen dürfte es der beschränkten Zeit wegen kaum gelungen sein schon eine Primärdyade zu bilden. Was die andern professionellen Helfer und Helferinnen anbelangt, ist davon auszuge- hen, dass bezüglich Primärdyade graduelle Unterschiede bestehen. Die gegenseitigen positiven affektiven Gefühle zwischen Klient/Klientin und professionellen Hel- fern/Helferinnen dürfte in ihrer Ausprägung und Intensität unterschiedlich sein.

Entwicklungsprozesse sind nach Bronfenbrenner umso wahrscheinlicher, je stärker die emotionale Verbundenheit ist (vgl. Bronfenbrenner 1989: 73). Es spricht also einiges dafür, dass der Wechsel nicht von irgendeinem professionellen Helfer, einer professio- nellen Helferin begleitet wird, sondern vom „Liebling“ unter den professionell Helfenden.

Der Wechsel hin zur neuen Organisation soll von einer professionellen Helferin, einem professionellen Helfer begleitet werden, zu der, dem eine möglichst positive und gegenseitig affektive Beziehung besteht.

Der Wechsel hin zur neuen Organisation soll, wie bereits empfohlen, etappenweise vollzogen werden. Welche dieser Annäherungsschritte, resp. ökologischen Übergänge bedürfen einer Begleitung? Möglichst alle, denn:

»Wenn viele verschiedene gemeinsame Tätigkeiten in vielen verschiedenen Situationen, aber im Kontext einer anhaltenden zwischenmenschlichen Beziehung ausgeführt werden, fördert diese Beziehung die Ausbildung höherer Fertigkeitsgrade und schafft im allge- meinen besonders starke und anhaltende Motivationen« (Bronfenbrenner 1989: 204).

Damit dieses gemeinsame Erschliessen von neuen lebensbereichspezifischen Mikrosys- temen möglichst umfassend geschieht, sollen nicht nur die Etappen des eigentlichen Übergangs, sondern auch die vielen neu zu realisierenden Mikrosysteme am neuen Ort gemeinsam erschlossen werden. Der Klient, die Klientin bewältigt demnach den Alltag und die damit verbundenen ökologischen Übergänge am neuen Ort vorwiegend zusam- men mit der Begleitperson. Bronfenbrenner nennt ein solch wandelndes Zweipersonen- system eine »kontextübergreifende Dyade« (Bronfenbrenner 1989: 204).

Die Begleitperson begleitet den Klienten, die Klientin nicht nur beim eigentlichen (örtlichen) Wechsel, sondern auch in der neuen Organisation, indem die dort lebensbereichspezifischen Mikrosysteme gemeinsam erschlossen werden.

Die Begleitperson soll aus entwicklungsförderlicher Sicht bestrebt sein, dem Klienten, der Klientin zu möglichst echten ökologischen Übergängen zu verhelfen. Dies allerdings nicht durch eine vollständige „Entschärfung“ des ökologischen Übergangs, z.B. indem alle anspruchsvollen Tätigkeiten die Begleitperson ausführt, sondern durch Beibehalten eines möglichst hohen, für die Klientel aber bewältigbaren Veränderungsbedarfs. Ober- holzer sagt in diesem Zusammenhang, dass Menschen mit Entwicklungsbeeinträchti- gung »[. . .] nicht einfach als ›Behinderte‹ von einem Lebensbereich in den andern über- stellt werden [. . .] sondern dass sie darin unterstützt werden, die (gesellschaftlich, kultu- rell und lebensbereichspezifisch) geforderten Erwartungen an die entsprechenden Tätig- keiten, Beziehungen und sozialen Rollen in den jeweiligen Lebensbereichen erfüllen zu können« (Oberholzer 2004: 6).

Die Begleitperson soll bestrebt sein, der Klientel zu möglichst echten ökologischen Übergängen zu verhelfen ohne dabei die Anforderungen - die ein ökologischer Übergang der Klientin, dem Klienten abverlangt - allzu stark zu schmälern.

Auch die Dauer der Begleitung dürfte individuell verschieden sein. Je besser sich der Klient, die Klientin am neuen Ort heimisch fühlt, desto mehr verliert der Faktor Begleitung an Bedeutung (vgl. Bronfenbrenner 1989: 206).

Wie ist es aber mit der Macht der Gewohnheit? Der Klient, die Klientin ist es sich derart gewohnt, alles zusammen mit dieser Begleitperson zu machen, dass sie nicht bereit ist, diese gehen zu lassen. Ich denke, diesem Dilemma kann entgegengewirkt werden durch forcierten Beziehungsaufbau zu mindestens einem professionellen Helfer, einer profes- sionellen Helferin vor Ort. Das bedeutet für die Begleitperson der Herkunftsorganisation, dass sie dieser neuen Person auch Platz macht und sich selber kontinuierlich mehr zu- rückzieht. So können Mikrosysteme, die der Klient, die Klientin gemeinsam mit der „al- ten“ Begleitperson realisiert, zunehmend zu dritt realisiert werden, bevor sie dann wie- derum in neuer Besetzung - dieses Mal nur noch mit besagtem professionellem Helfer, besagter professioneller Helferin der neuen Organisation - als eigentliche Dyade reali- siert werden. Das Einrichten des neuen Zimmers scheint mir dazu beispielsweise eine gute Gelegenheit. In einer Dyade von gemeinsamer Tätigkeit kann hier immer wieder und über längere Zeit ein zunehmend vertrautes Mikrosystem realisiert werden. Das ei- gene Zimmer erfüllt zudem die wichtige Funktion einer Rückzugsmöglichkeit, was der Klientel ermöglicht, sich räumlich zurückzuziehen, anstatt sich auf gewisse Mikrosysteme einzulassen.

Damit die Begleitperson sich allmählich zurückziehen kann, ist dem Beziehungsaufbau zwischen professionell Helfenden der neuen Organisation und der Klientin, dem Klienten spezielle Beachtung zu schenken.

Das genaue zeitliche Ausmass, wie lange die Begleitperson gebraucht wird resp. aus entwicklungsförderlicher Sicht von Nutzen wäre, kann nicht gesagt werden. Ideal wäre eine flexible Planung, die eine unterschiedlich lange und intensive Begleitung zulässt. Mit intensiv meine ich unter anderem auch eine sporadische Begleitung oder eine Begleitung auf Abruf. Der organisatorische sowie der unkalkulierbare zeitliche Aufwand lässt eine Begleitung auf Abruf aber ziemlich unrealistisch erscheinen.

4.4. EINLEBEN UND LEBEN AM NEUEN ORT

»Eine Heimumgebung wird sich mit grösster Wahrscheinlichkeit dann schädigend auf die Entwicklung eines Kindes auswirken, wenn die folgenden Umstände zusammentreffen: Die Umwelt bietet wenig Möglichkeiten der Interaktion von Kind und Betreuer in vielfäl- tigen Tätigkeiten, und der materielle Lebensbereich schränkt die Fortbewegungsmöglich- keiten ein und enthält nur wenig Objekte, die das Kind in spontaner Aktivität nützen kann« (Bronfenbrenner 1989: 143).

Wenn es auch bei unserem Forschungsvorhaben um Erwachsene und nicht um Kinder geht und wenn diese Hypothese Bronfenbrenners auch im Kontext der damaligen Zeit betrachtet werden muss, so gibt sie doch Hinweise bezüglich der professionellen Arbeit im Umgang mit der Klientel, die in „heimähnlichen“ Strukturen lebt. Im Sinne der Entwick- lungsförderung ist demnach der Alltag mit Angeboten zu gestalten, die zu Interaktion, verschiedenen Tätigkeiten und neuen Erfahrungen einladen. Nach Oberholzer mit zur Offenheit tendierenden Mikrosystemen (die allerdings auch wieder zur Geschlossenheit tendierender Mikrosysteme bedürfen).

Seitens der professionell Helfenden bedarf dies viel Engagement und Kreativität. Inner- halb ein und derselben Lebensbereiche wird es m.E. mit zunehmender Zeitdauer schwieriger, neue Mikrosysteme zu lancieren oder bestehende zu verändern und damit neues Entwicklungspotenzial zu generieren. Damit meine ich, dass innerhalb einer Or- ganisation zunehmend alles vertraut und bekannt ist. Es finden immer in etwa die glei- chen Freizeitausflüge, der gleiche Tagesablauf, die gleiche Weihnachtsfeier etc. statt.

Ein Organisationswechsel schafft hier ganz andere Arbeitsvoraussetzungen für uns pro- fessionelle Helfer und Helferinnen. Die Entwicklungschancen müssen weder gänzlich konstruiert noch gesucht werden, sind sie doch auf Grund des Organisationswechsels in grosser Zahl vorhanden. Sie müssen lediglich so verändert (z.B. Reduktion des Neuig- keitswerts) und dargeboten (z.B. etappenweise) werden, dass der Klient, die Klientin sie auch nutzen kann.

Entwicklungschancen sind auf Grund des Organisationswechsels zur Genüge vorhanden. Sie müssen weder gesucht noch konstruiert werden, sondern lediglich „klientelgerecht“ dargeboten werden.

4.4.1. Neue und altbekannte Tätigkeiten am neuen Ort

Vollzieht sich der Wechsel einer Klientin, eines Klienten von einem geschützten Wohn- und Arbeitsplatz hin zu einem vergleichbaren Angebot einer anderen Organisation, dürf- te vieles ähnlich sein. An beiden Orten werden je nach Entwicklungsstand, Fertigkeiten und Interessen der Klientel spezifische Tätigkeitsangebote zugestanden. Die einen stel- len Artikel zum Verkauf her, während andere nicht primär für die Produktion tätig sind, sondern mehr der Beschäftigung willen singen, basteln und dergleichen. Die Situation für einen Klienten, eine Klientin präsentiert sich am neuen Ort nicht grundlegend anders, auch dort wird er oder sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt - und doch ist nichts, wie es vorher war. So gilt es vielleicht, neue Tätigkeiten zu erlernen: statt Oster- gras abpacken Puzzleteile schleifen; statt Zündwürfel herstellen Werbeprospekte einpa- cken.

Nebst den neuen Tätigkeiten - die natürlich ein grosses Entwicklungspotenzial beher- bergen - erscheinen auch altbekannte Tätigkeiten, die am neuen Ort ebenfalls vorkom- men, in einem anderen Licht. Formal mögen die Tätigkeiten immer noch gleich erschei- nen, andere Personen im Umfeld, anderer Dialekt, andere Räumlichkeiten, andere Ar- beitszeiten, anderer Tagesrhythmus, andere Rituale und noch viele weitere Eventualitä- ten führen aber dazu, dass der betroffene Klient, die betroffene Klientin die Situation trotz gleicher Tätigkeit ganz anders erlebt. Vielleicht gewinnt die gleiche Tätigkeit unter den neuen Umständen an Attraktivität, vielleicht erfüllt es mit besonderem Stolz dem neuen Umfeld zu zeigen, was man schon kann. Obwohl also die Tätigkeit an sich gleich bleibt, entfaltet sie in der neuen Situation eine veränderte Wirkung. Jede Veränderung fordert vom Menschen eine Auseinandersetzung mit jener, was nach systemökologischer Set- zung Entwicklung vorantreibt.

Ein Organisationswechsel steigert das mit einer bekannten Tätigkeit verbundene Entwicklungspotenzial.

4.4.2. Neue und altbekannte Rollen am neuen Ort

Was am Beispiel Tätigkeit bezüglich „altbekannt und doch anders“ aufgezeigt wurde, gilt auch für die anderen Elemente eines mikrosystemischen Musters, also auch für das E- lement Rolle. In der neuen Organisation kann der Klient, die Klientin beispielsweise die Rolle Sitzungsteilnehmer oder Sitzungsteilnehmerin einnehmen, wie schon in der Her- kunftsorganisation. In der Ausgestaltung dieser Rolle wird er oder sie aber vom sozialen Umfeld beeinflusst, dies kommt auch bei Bronfenbrenners Rollendefinition zum Aus- druck.

»Eine Rolle ist ein Satz von Aktivitäten und Beziehungen, die von einer Person in einer bestimmten Gesellschaftsstellung und von anderen ihr gegenüber erwartet werden« (Bronfenbrenner 1989: 97).

Eine unterschiedliche Rollenerwartung in Herkunfts- und neuer Organisation bezüglich ein und derselben Rolle kann zu einem unterschiedlichen Rollenverhalten führen. Viel- leicht gilt es, andere Beziehungsdyaden oder andere mit der Rolle verbundene Tätigkei- ten zu realisieren, vielleicht auch nur eine andere mikrosystemische Qualität zu zeigen, so z.B. wenn am neuen Ort im Gegensatz zur Herkunftsorganisation nur engagierte Sitzungsteilnehmer und -teilnehmerinnen geduldet werden. Ein und dieselbe Rolle neu gestalten bedeutet demnach, ein neues Mikrosystem zu erschliessen.

Ob nun ein neues individuell lebensbereichspezifisches Mikrosystem oder auf Grund einer Qualitätsänderung ein neues personales Mikrosystem das Resultat ist, entwicklungsförderlich wirkt beides.

Am neuen Ort gestaltet - je nach Rollenerwartung des Umfelds - ein Klient, eine Klientin ein und dieselbe Rolle evtl. anders als in der Herkunftsorganisation, was als entwicklungsförderlich zu betrachten ist.

Es können aber Probleme entstehen, wenn die neuen und alten Rollenerwartungen be- züglich einer altbekannten Rolle widersprüchlich sind. Das Spannungsverhältnis auf Grund makrosystemischer23 Unterschiede zwischen Rollenerwartungen und eigenem Rollenverständnis kann zu einem Rollenkonflikt24 führen, so z.B. bei einem Wechsel von einer liberalen hin zu einer streng katholisch geführten Organisation. Die Rolle bei Tisch verlangt dadurch evtl. plötzlich ein ganz anderes Muster. So wird im neuen Lebensbe- reich vom Klienten, von der Klientin als Tischgenosse, Tischgenossin plötzlich ein Tisch- gebet erwartet. Gelingt es in solchen Situationen die neuen Rollenerwartungen zu erfül- len oder wird ein Konsens gefunden, ist das der Entwicklung förderlich. Bronfenbrenner sieht die Anforderung - sich in unterschiedlichen Mikrosystemen zurechtzufinden - durchaus positiv.

»Die positiven Entwicklungseffekte der Beteiligung an mehreren Lebensbereichen werden verstärkt, wenn die kulturellen oder subkulturellen Kontexte um diese Lebensbereiche sich in ethnischer, sozialer oder religiöser Hinsicht [. . .] unterscheiden« (Bronfenbrenner 1989: 203).

Es gilt also den Umgang mit den neu geltenden Werten und Normen zu lernen. Was aber ist, wenn der Klient, die Klientin gewohnte Werte nicht mehr leben kann? Vielleicht wenn der sonntägliche Kirchbesuch am neuen Ort nicht gewährleistet ist, weil Sonntag- morgen aus organisatorischen Gründen keine Begleitung angeboten werden kann? Es empfiehlt sich deshalb schon vor einem Organisationswechsel gewisse Werthaltungen (z.B. über Religion, Sexualität, Agogik) zu klären und in die Planung einfliessen zu las- sen.

Unterschiedliche Werthaltungen und Normen zwischen der Herkunfts- und der neuen Organisation wirken entwicklungsförderlich, solange der Umgang mit ihnen gelingt. Um dies zu gewährleisten sind solche Unterschiede schon im Vorfeld zu eruieren und in die Planung einzuschliessen.

Ein Organisationswechsel bietet aber nebst der Chance innerhalb einer Rolle ein verän- dertes Verhalten zu zeigen auch die Möglichkeit, den Rollenhaushalt25 zu erweitern, was ebenfalls entwicklungsförderlich ist (vgl. Bronfenbrenner 1989: 115). Erweiterung des Rollenhaushalts weniger bezüglich der grossen Rollen, denn diese werden auch in vie- len anderen Organisationen Bewohner, Arbeitnehmerin und bei Elternbesuch „Tochter oder Sohn sein“ lauten. Ich denke eher an gewisse Rollen in lebensbereichspezifischen Mikrosystemen, die es in der Herkunftsorganisation so nicht gibt: vielleicht eine Sport- gruppe, einen Jassklub, der sonntägliche Kirchgang, Reitstunden, ein Fasnachtsball. Bestehen diese sozialen Systeme bereits resp. werden diese Mikrosysteme schon von anderen Personen in der neuen Organisation realisiert, erleichtert dies einer neu dazu- stossenden Person ihren Platz resp. ihre Rolle zu finden. So kann in einer Gruppe mit anderen gleichwertigen Rollenträgern von diesen abgeguckt werden (Modelllernen), zu- dem verhalten sich die anderen, wenn es die Situation verlangt, komplementär und ge- ben damit dem Rolleninhaber Platz für seinen Part (analog dem Jassen, wo die Mitspie- lenden warten, bis die spielberechtigte Person ausgespielt hat).

Ein Organisationswechsel bietet nicht nur die Chance zu neuen Rollen, sondern erleichtert deren Realisieren auf Grund schon bestehender Mikrosysteme.

Die Realisation neuer Rollen sehe ich im Weiteren dadurch erleichtert, dass auf Grund des Organisationswechsels noch kein fixiertes Rollenbild über den neue Dyadenpartner, die neue Dyadenpartnerin besteht. Wenn auch Rollen per Definition nicht an eine Person gebunden sind, so bin ich doch der Meinung, dass der Mensch dazu neigt gewisse Rol- len an gewissen Personen festzumachen, weshalb mit der Zeit ein zunehmend fixiertes Rollenbild von einer Person entstehen kann. Klientel und professionell Helfende haben demnach, je länger sie zusammenarbeiten, ein zunehmend fixiertes Bild voneinander.

Die professionellen Helfer und Helferinnen trauen der Klientin oder dem Klienten nur noch gewisse Rollen zu, ebenso erscheinen im Gegenzug den Klientel die professionellen Helfer und Helferinnen nur noch in gewissen Rollen glaubwürdig. Ein Organisationswechsel führt zu neuen Personenkonstellationen, fixierte Rollenbilder gibt es deswegen weniger, womit die Chancen steigen, dem Gegenüber diverse Rollen - für dieses Gegenüber evtl. neue Rollen - zuzutrauen.

Ein Organisationswechsel steigert die Chance, neue Rollen angeboten zu bekommen, einfach deshalb, weil noch kein fixiertes Rollenbild besteht.

4.4.3. Einfluss Dritter und Direktbeteiligter nutzen

Auch wenn ich viele hypothetische Aussagen mache, die für einen Organisationswechsel sprechen, muss sich in der Praxis erst noch zeigen, inwieweit ein Organisationswechsel schliesslich der Entwicklung förderlich ist. Für eine seriöse Umsetzung ist es aber unab- dingbar, störende Faktoren zu erkennen und möglichst klein zu halten. Die Übermittlung negativer Zuschreibungen (Kapitel: 4.1.1. Infofluss) ist ein solch störender Faktor, ein weiterer ist eine negative Haltung Dritter gegenüber dem Organisationswechsel.

»[. . .] das Entwicklungspotential der Dyade D1 [wird, E.B.] in dem Mass vermindert, in dem in den externen Dyaden gegenseitige Antagonismen bestehen oder die Dritten die in der Dyade D1 ablaufenden Entwicklungsaktivitäten entmutigen oder stören« (Bron- fenbrenner 1989: 90f.).

Um eine Beziehungsdyade zu beeinflussen müssen diese Dritten nicht anwesend sein resp. am Mikrosystem teilnehmen. Bronfenbrenner nennt dies einen Effekt zweiter Ordnung »[. . .] Effekte zweiter Ordnung treten auch dann auf, wenn nicht alle Beteiligten gleichzeitig interagieren« (Bronfenbrenner 1989: 94). Wenn ein Misstrauen Dritter spürbar ist, wirkt sich das auf unsere Dyade gemeinsamer Tätigkeiten negativ aus, auch wenn ich als professioneller Helfer, professionelle Helferin noch so engagiert mit einer Klientin, einem Klienten zusammenarbeite.

Elterngespräche beispielsweise beeinflussen mich als professionellen Helfer in meinem Denken, worauf ich mich in einer Beziehungsdyade mit dem Klienten, der Klientin unter Umständen anders verhalte.

Sich einem solchen Einfluss Dritter, resp. Eltern, Vormund, Arzt, etc. zu entziehen scheint mir nicht gut möglich. Mir erscheint es deshalb klüger gegen diesen negativen Einfluss vorzugehen, indem der Kontakt zu den Betreffenden gesucht wird und in Bezug auf das Thema Überzeugungsarbeit geleistet wird. Auf diese Weise gelingt es evtl. den Einfluss Dritter positiv zu nutzen.

»Das Entwicklungspotential der Dyade D1 wird in dem Mass gesteigert, in dem in diesen externen Dyaden gegenseitige positive Gefühle bestehen und in dem die Dritten die Entwicklungsaktivitäten in der Dyade D1 unterstützen« (Bronfenbrenner 1989: 90).

Gegenüber Dritten (z.B. Eltern, Vormunde, Therapeuten), die dem Organisationswechsel gegenüber negativ eingestellt sind, ist Überzeugungsarbeit zu leisten, damit auch diese Personen hinter dem Organisationswechsel stehen und ihn damit auf positive Art beeinflussen.

In dieser Arbeit habe ich dem entwicklungsförderlichen Potenzial einer kontextübergrei- fenden Dyade bisher Rechnung getragen, indem ich eine Begleitperson der Herkunftsor- ganisation befürworte und den Beziehungsaufbau vor Ort zu professionellen Helfern und Helferinnen ebenfalls über das gemeinsame Realisieren verschiedener Mikrosysteme sehe (vgl. Kapitel 4.3.1.).

Warum aber eine solch kontextübergreifende Dyade nicht mit zwei Klienten bilden? Da- mit meine ich, dass ein Klient, eine Klientin der neuen Organisation als Begleitperson fungiert. Hier widerspreche ich mir scheinbar selbst, indem ich im Kapitel Begleitperson (4.3.1.) aus Gründen der Zuständigkeit und Professionalität als Begleitperson einen pro- fessionellen Helfer, eine professionelle Helferin fordere. Eine Ergänzung scheint mir hier deshalb angebracht: Ein professioneller Helfer oder eine professionelle Helferin fungiert für mich weiterhin als Begleitperson in der Phase des Wechsels und in der ersten Zeit am neuen Ort. Im Gegensatz dazu sehe ich das Wirkungsfeld eines Klienten, einer Klientin als Betreuungsperson nur in ihm oder ihr sehr gut vertrauten Lebensbereichen, also vor Ort in der neuen Organisation. Mikrosysteme, die diese Begleitperson ansons- ten mühelos realisiert, scheinen mir geeignet in solch einer kontextübergreifenden Dyade angegangen zu werden. Für den Klienten, die Klientin der Herkunftsorganisation wirkt die Begleitperson als Modell. Die Begleitperson wiederum findet sich als Vorbild, in einer neuen Stellung was das Kräfteverhältnis (Lehrender - Lernender) anbelangt. Der neuen Klientin, dem neuen Klienten wird die Realisation des neuen Mikrosystems dadurch er- leichtert. Für die Begleitperson gewinnt die Situation damit an Neuigkeitswert (muss neues resp. verändertes individuell lebensbereichspezifisches Mikrosystem realisieren), was motivierend wirken kann.

In der neuen Organisation kann auch ein Klient, eine Klientin (der neuen Organisation) die Funktion einer Begleitperson übernehmen.

Natürlich darf der Klient, die Klientin in der Funktion als Begleitperson nicht überfordert sein und muss zudem diese Funktion auch übernehmen wollen.

4.5. VERSICHERNDE UND VERUNSICHERNDE FAKTOREN

Ein Organisationswechsel und die dadurch bedingten ökologischen Übergänge bergen ein grosses Mass an Verunsicherung. Einerseits durch die grosse Anzahl neuer Mikro- systeme, die es zu realisieren gilt, und andererseits durch den grossen Neuigkeitswert.

Die mit einem Wechsel der Organisation verbundene Verunsicherung ist gross.

Diese Ausgangslage verlangt in der Arbeit mit Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung eine veränderte Gewichtung der Faktoren Versicherung und Verunsicherung (vgl. Kapitel 3.2.3.4.).

In geschützten Wohn- und Arbeitsstätten besteht meines Erachtens eine gewisse Ten- denz, dass der Alltag zur Routine verkommt. Tagesabläufe, Wochenendausflüge, Pflege- rituale etc. sind immer gleich oder ähnlich. Viele Menschen mit Entwicklungsbeeinträch- tigung zeigen zudem wenig Initiative sich auf etwas Neues, Verändertes einzulassen, vielleicht aus lauter Gewohnheit, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Mangel an eigenen Ideen. Im Wohn- wie im Arbeitsbereich sind die professionell Helfenden m.E. mehrheit- lich bemüht resp. sollten bemüht sein, die Klientel herauszufordern, zu motivieren, indem sie Angebote offerieren, die verunsichern.26 Bestehendes verändern, Routinehandlungen weiter ausbauen, immer wieder neue Ziele gemäss sozialpädagogischer Prozessgestal- tung27 verfolgen, gelegentlicher Wechsel der Haushaltämter oder neue Arbeiten erler- nen, das sind Bemühungen dieser Art. Dies natürlich immer unter Berücksichtigung des Wechselspiels von Verunsicherung und Versicherung.

Ganz anders präsentiert sich die Lage bei einem Wechsel der Organisation. Die unzähligen mit dem Wechsel einhergehenden ökologischen Übergänge führen automatisch zu einer Verunsicherung. Wichtig scheint mir deshalb bei einem Organisationswechsel nicht noch zusätzliche Anreize der Auseinandersetzung zu schaffen. Das Hauptaugenmerk soll der Versicherung gelten.

Sind professionell Helfende im stationären Bereich mehrheitlich bestrebt der Klientel Angebote der Auseinandersetzung zu machen - d.h. von der Verunsicherung ausgehend Entwicklungsförderung zu betreiben -, gilt im Zusammenhang mit einem Organisationswechsel das Hauptaugenmerk der Versicherung.

Im Verlauf dieser Arbeit erwähnte ich verschiedene Massnahmen und Begebenheiten, die es dem Klienten, der Klientin erleichtern, sich auf den Organisationswechsel einzulassen sowie die verschiedenen ökologischen Übergänge in einer der Entwicklung förderlichen Weise zu bewältigen.

So helfen die Vorinformationen den Neuigkeitswert und damit das Mass der Verunsiche- rung zu reduzieren. Die Ähnlichkeit zwischen den Organisationen wiederum lässt die neue Organisation nicht gar so fremd erscheinen. Die etappenweise Erschliessung des Mesosystems reduziert die Vielzahl an zu realisierenden Mikrosystemen auf ein im je- weiligen Moment verträgliches Ausmass. Die Muster ökologischer Übergänge - resp. die Anforderungen, die ein Klient, eine Klientin bezüglich ihren Elementen, bestehend aus Rolle, Tätigkeit und Beziehung zu erfüllen hat - werden individuell gestaltet um möglichst echte ökologische Übergänge zu ermöglichen. Die Beziehungspflege zur Herkunftsorga- nisation kann ebenso zu einem Gefühl der Sicherheit führen wie die Anwesenheit der Begleitperson.

Trotz all dieser unterstützenden Faktoren fordern die zu realisierenden Mikrosysteme noch immer genug Auseinandersetzung mit der jeweils neuen Situation und wirken somit verunsichernd. Von Natur her will der Mensch lieber versichert als verunsichert sein. Die Klientel ist deshalb bestrebt sich über Mikrosysteme - genauer zur Geschlossenheit tendierende Mikrosysteme -, die beruhigend wirken, zu versichern.

Dieses Streben nach Versicherung macht auch aus entwicklungspsychologischer Sicht Sinn, ist doch Entwicklung als ein Wechselwirkungsprozess zwischen Verunsicherung und Versicherung zu verstehen, bei dem »[. . .] auf jede Auseinandersetzung mit ihrer entwicklungsbedingten Verunsicherung eine entsprechende personenbezogene Versiche- rung und Konsolidierung folgen muss« (Oberholzer 2004: 31) und »gelingt die Reorgani- sation und Regeneration nicht, so gelingt [. . .] auch die Öffnung der zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosysteme nicht mehr« (ebd.), womit der Prozess der Entwicklung un- terbrochen ist.

Der Klient, die Klientin muss die mit einem Organisationswechsel verbundene Verunsicherung verarbeiten, indem er oder sie zur Geschlossenheit und somit versichernd wirkende Mikrosysteme realisiert.

Oberholzer unterteilt diese zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosysteme in die vier folgenden Gruppen (vgl. Oberholzer 2004: 25ff.):

- Sich in und über die soziale Welt versichern, dadurch, dass man geschätzt wird, oder dadurch, dass die Nähe von jemandem gesucht wird. Die Begleitperson übernimmt beispielsweise allein schon durch ihre Anwesenheit diese Funktion der Versicherung.
- Das Versichern über die eigene Person und Körperlichkeit, z.B. mittels Jacation28
- Sich über ritualisierte, sozial unerwünschte Verhaltensweisen versichern,29 z.B. in- dem andere beschimpft werden.
- Das Versichern über die dinglich-materielle Welt, z.B. indem einer bekannten Musik gelauscht wird.

Meines Erachtens gibt es graduelle Unterschiede bei den zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosystemen, was das Ausmass der Versicherung anbelangt. Damit meine ich, dass ich mich verschiedener versichernder Mikrosysteme bedienen kann, aber nicht alle ein gleich intensives Gefühl der Sicherheit auslösen. Wenn es die Situation zulässt, versichere ich mich deshalb meist über mein bevorzugtes zur Geschlossenheit tendierendes Mikrosystem, jenes mit der grössten Effizienz.

Es ist davon auszugehen, dass sich der Klient, die Klientin bei einem Organisationswechsel, wenn möglich, auf die von ihm oder ihr bevorzugte Weise versichert.

Dies kann unter Umständen zu Problemen führen. Das „Versichern über die eigene Per- son und Körperlichkeit“ hat beispielsweise den Vorteil, dass keine Hilfsmittel benötigt werden. Wie aber geht die neue Umgebung damit um, wenn eine Person sich selbst Schmerzen zufügt oder öffentlich onaniert? Wer sich über die „soziale Welt versichert“, sich dabei aber nur gut bekannten Personen anvertrauen will, hat ebenfalls ein Problem.

Wo holt sich nun diese Klientin, dieser Klient seine Streicheleinheiten? Gegenüber „fremden“ Personen eignet sich vielleicht das Versichern über sozial unerwünschte Ver- haltensweisen besser. Aber wer weiss, vielleicht getraut sich der Klient, die Klientin am neuen Ort noch nicht andere zu beschimpfen. Dies mag für die Umwelt durchaus positiv sein, der Klientin, dem Klienten gelingt es aber evtl. mangels Alternativen beinah nicht, sich zu beruhigen. Auch die vierte Art, die Versicherung über die dinglich-materielle Welt, funktioniert nur, wenn die dazu benötigten Dinge auch vorhanden sind, z.B. eine Schau- kel oder eine gewisse Musikkassette.

Das Sich-Versichern über ein vertrautes mikrosystemisches Muster kann erschwert, verunmöglicht oder vom Umfeld nicht erwünscht sein.

Aufgabe der professionell Helfenden ist es deshalb den Prozess des Sich-Versicherns zwar zu gewährleisten, aber auf eine für das Umfeld verträgliche Art und Weise.

Auch wenn die Unterteilung der zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosysteme in vier Gruppen eine künstliche Einteilung ist, weil m.E. genauso gut nach anderen Kriterien Gruppen gebildet werden könnten sowie gewisse Verhalten fraglich sind bezüglich ihrer Zuteilung (ist öffentliches Onanieren ein Versichern über die eigene Körperlichkeit und/oder ein Versichern über eine sozial unerwünschte Verhaltensweise?), finde ich sie nützlich. Nützlich in dem Sinn, dass sie Ordnung und Systematik schafft, die bei Beo- bachtung, Planung, Handlung und Reflexion eines Organisationswechsels bezüglich versichernden Mikrosystemen wichtig ist.

Professionell Helfende haben Prozesse des Versicherns zu gewährleisten, allerdings auf eine auch für die Umwelt verträgliche Art und Weise. Das Wissen über die ver- schiedenen Gruppen von zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosystemen soll dafür Grundlage sein.

4.5.1. Versicherung über die dinglich-materielle Welt

Bezüglich der Versicherung über die dinglich-materielle Welt bedeutet dies, dass Ge- genstände, die eine versichernde Wirkung haben, auch am neuen Ort dem Klienten, der Klientin zur Verfügung stehen sollten. Gewisse Dinge sind schon dort - wer sich mittels Fernsehen versichert, wird vermutlich dies auch dort tun können -, andere müssen evtl. mitgenommen werden. Ein geradezu typisches Beispiel ist der Teddybär oder die Puppe, die Kinder an fremde Orte mitnehmen oder die ihnen mitgegeben werden. Versicherung dieser Art zu gewährleisten scheint mir hauptsächlich mit organisatorischem Aufwand verbunden zu sein, der an seine Grenzen stösst, sobald es sich um grosse oder statio- näre Gegenstände handelt. Es mag auch sein, dass in den Augen von uns professionell Helfenden nicht umgezogene, am neuen Ort schon vorhandene oder organisierte Dinge die gleichen sind wie in der Herkunftsorganisation, nicht aber für den Klienten oder die Klientin. Die Schaukel am neuen Ort mag noch so ähnlich aussehen, der Klient, die Kli- entin mag nicht auf diese Schaukel steigen, denn nur die eine Schaukel in der Her- kunftsorganisation ist die richtige. Wenn auch nicht alle Dinge mit versichernder Wirkung mitgenommen werden können, so doch eine Auswahl. Je besser die versichernde Wir- kung dieser Auswahl, desto geringer braucht vermutlich ihr Umfang zu sein. Kann z.B. die Lieblingsschaukel nicht transportiert werden, braucht es deshalb evtl. eine grössere Anzahl Alternativen, die ebenfalls versichernd wirken.

Eine Auswahl an Gegenständen, die auf den Klienten, die Klientin eine versichernde Wirkung haben, sind wenn möglich an den neuen Ort mitzugeben oder dort bereitzustellen. Je stärker die versichernde Wirkung dieser Gegenstände (dieses Gegenstandes), desto kleiner darf diese Auswahl ausfallen.

4.5.2. Versicherung über die soziale Welt

Wenn sich auch nicht alle materiellen Dinge an den neuen Ort verschieben oder dort ersetzen lassen, scheint mir die Versicherung auf materieller Ebene hauptsächlich ein organisatorisches Problem zu sein. Die Versicherung über die soziale Welt gestaltet sich da schon schwieriger. Sind z.B. die professionell Helfenden am neuen Ort bereit den Bedürfnissen nach körperlicher Nähe nachzukommen? Lassen sie sich auch so innig umarmen, wie sich das der Klient, die Klientin von der Herkunftsorganisation gewohnt ist? Und wie ist das mit all den fremden Leuten? Getraut sich der Klient, die Klientin bei den neuen Mitklienten, Mitklientinnen und den neuen professionell Helfenden anzuleh- nen? Ist das Vertrauen in sie da?

Die von mir vorgeschlagene Begleitperson übernimmt zwar diese Art der Versicherung, allerdings nur in beschränktem Umfang. Allein schon deswegen, weil es lediglich eine Person ist und sie im Rahmen ihrer Arbeitszeit nur beschränkte Zeit der Klientel zur Ver- fügung steht. Umso wichtiger ist deshalb ein schneller Beziehungsaufbau zu einer oder besser mehreren Bezugspersonen am neuen Ort, wie schon im Kapitel Begleitperson (4.3.1.) behandelt.

Die Begleitperson dient dem Klienten, der Klientin mitunter dazu, sich über die soziale Welt zu versichern. Es braucht aber ihrer beschränkten Verfügbarkeit wegen noch andere Bezugspersonen.

Wie bereits erwähnt, versichert sich der Mensch über seine bevorzugte Art und Weise und diese wiederum variiert von Mensch zu Mensch. Obwohl wir der Klientel mittels Be- gleitperson ein Angebot zur sozialen Versicherung ermöglichen, heisst das nicht, dass jene dies auch nutzen wird. So haben Menschen, die sehr stark im Selbstbezug leben - wie dies bei Menschen mit Autismus der Fall ist -, andere Bedürfnisse als Menschen, die sehr von der Bezugsperson abhängig sind. Gleichwohl ist auch bei solchen Menschen der Wechsel durch eine Begleitperson zu begleiten, übernimmt die Begleitperson schliesslich auch noch weitere Funktionen: Die Begleitperson kann Vorbild sein, ökologi- sche Übergänge klientelspezifisch gestalten oder einfach beobachten (beobachtende Person sein mit der besten Fremdeinschätzung).

4.5.3. Versicherung auf sozial unerwünschte Art

Das grosse Bedürfnis nach Versicherung resp. das Sich-Versichern mittels bevorzugten zur Geschlossenheit tendierenden Mikrosystemen führt zu einem gehäuften Auftreten genau dieser Mikrosysteme resp. Verhalten. Ist solch ein versicherndes Verhalten zudem noch ein sozial unerwünschtes Verhalten, fällt es dem sozialen Umfeld durch das gehäufte Auftreten erst recht auf.

Die jeweils von der Klientin, vom Klienten bevorzugte Art der Versicherung wird am neuen Ort vermehrt auftreten.

Zeigt ein Klient, eine Klientin in der neuen Organisation vermehrt sozial unerwünschtes Verhalten, wird der Organisationswechsel vielleicht relativ schnell als Fehler bezeichnet und eine Rückkehr in die Herkunftsorganisation in Betracht gezogen.

Was aber kann sonst noch getan werden, vor allem im Bestreben der Klientel das Sich- Versichern zu gewähren, aber auf eine für die Umwelt verträgliche Art und Weise? Ich als professioneller Helfer kann beispielsweise an das soziale Umfeld appellieren, dass es mehr Toleranz zeigen möge, oder ich kann versuchen, dass der Klient, die Klientin das unerwünschte Verhalten weniger oder gar nicht mehr zeigt. Ein Wechsel der Organi- sation bietet scheinbar einen idealen Anlass. So eine Art Neubeginn um mit alten Las- tern aufzuhören. Doch gerade dieses Neue, diese grosse Veränderung verlangt eine starke Versicherung (vgl. Oberholzer 2004: 24f.). Die Konzeption von Auseinandersetzung, resp. Verunsicherung, die wieder in Versicherung überführt werden muss, bevor der Mensch für neue Taten (erneute Verunsicherung) bereit ist, widerspricht also der Logik, dass mit einem Neuanfang alte Zöpfe abgeschnitten werden sollen.

Für eine Verhaltensänderung, die nicht nur Dressur30 ist, sondern anhaltend wirken soll, braucht es eine innere Bereitschaft. In einer Situation, die verunsichert, ist es schwierig diese Bereitschaft aufzubringen. Besonders wenn es so ist, dass genau dieses uner- wünschte Verhalten Sicherheit bietet. Nicht dass es unmöglich wäre, das Versichern über sozial unerwünschte Art in positiver Richtung zu verändern, aber eine Veränderung scheint mir schwieriger zu sein als z.B. beim Versichern über die dinglich-materielle Welt. Um jemand daran zu hindern, sich auf eine gewisse materielle oder dingliche Art zu versichern, kann evtl. einfach der dazu benötigte Gegenstand weggenommen wer- den. Nach Oberholzer ist das zentrale Element des Versicherns auf sozial unerwünschte Art der ritualisierte Ablauf (vgl. Oberholzer 2004: 29f.). Falls dieser ritualisierte Ablauf die Reaktion des Gegenübers miteinbezieht, bietet vielleicht genau dieses Einbeziehen eine Chance zu einer Verhaltensänderung. Ist sich der Klient, die Klientin beispielsweise ge- wohnt andere zu beschimpfen mit dem Resultat, dass diese aufgebracht und gehässig reagieren, gehört in diesem Fall sowohl das Beschimpfen wie die Reaktion der anderen zum Ritual. Das Beschimpfen und das Eintreten der erwarteten Reaktion ist etwas Be- kanntes, Vertrautes und gibt ein Gefühl der Sicherheit. Wenn sich die neuen Interakti- onspartner nicht so verhalten wie gewohnt, wird das Ritual unterbrochen, worauf der Klient, die Klientin sich auf eine andere Art versichern muss. Provokation ignorieren an- statt erwidern kann - gestützt auf obige Erklärung - von professionell Helfenden erwartet werden, nicht aber unbedingt von der betroffenen Klientel.

All diese Wenns und Abers zeigen die Schwierigkeit im Umgang mit sozial unerwünsch- tem Verhalten. Was auch dazu immer versucht wird, nach der Konzeption von Verunsi- cherung und Versicherung muss sich der Klient, die Klientin versichern können. Klienten, Klientinnen, die sich auf sozial unerwünschte Art versichern wollen und dabei gehindert werden, müssen alternative Formen des Versicherns offen stehen oder angeboten wer- den. Falls der Klient, die Klientin das Angebot wahrnimmt und sich auf die alternative Art versichert, ist zu bedenken, dass die Versicherung auf diese Art mehr Zeit braucht, weil es nicht die von der Klientel bevorzugte Art mit der grössten Effizienz ist. Wer beispiels- weise nicht mehr laut schreien darf, versichert sich in der Folge vielleicht über den Kör- per indem er sich am Kopf kratzt. Weil die Alternative nicht derart effizient wirkt, muss sich der Klient, die Klientin derart viel am Kopf kratzen, dass es einem selbstverletzen- den Verhalten gleichkommt. Die Alternative kann somit wiederum zu Problemen führen.

Wird erfolgreich versucht die Klientin, den Klienten daran zu hindern sich über (sozial) unerwünschte Weise zu versichern, ist zu bedenken, dass sie oder er eine alternative Form der Versicherung wählen wird, die unter Umständen ebenfalls zu Problemen füh- ren kann.

4.5.4. Versicherung über die eigene Person und Körperlichkeit

»Körperliche Formen des Sich-Beruhigens und des Sich-Zusammensetzens werden [. . .] der menschlichen Entwicklung entsprechend schon sehr früh entwickelt und in einem entsprechenden Verhaltensrepertoir angelegt« (Oberholzer 2004: 26).

Weil das Sich-Versichern über die eigene Person und Körperlichkeit so etwas Urtümli- ches ist und zudem die eigene Person immer verfügbar ist, versichern wir uns alle immer wieder auf diese Art und Weise. Vielfach ohne dass wir uns dessen bewusst sind, kauen wir Fingernägel, kratzen uns am Kopf (Verlegenheitskratzen) oder verschränken die Ar- me, einfach darum, weil uns das ein (evtl. nur kurzzeitiges) Gefühl der Sicherheit gibt. Bezüglich Unterstützung heisst das für uns professionell Helfende, dass der Klientel Raum und Zeit zugestanden wird, sich auf diese Weise zu versichern. Natürlich mit be- sagter Einschränkung, dass es für die Umwelt in einer verträglichen Art und Intensität geschieht.

Was nutzt uns nun dieses Wissen bezüglich Versichern? Es hilft das Verhalten der Klien- tel besser zu verstehen. Es hilft dem Bedürfniss nach Versicherung bei der Planung und Durchführung Rechnung zu tragen. Dabei gilt: Je besser unser Wissen bezüglich Versi- cherungsweisen eines Klienten, einer Klientin, umso gezielter können wir planen.

Wie und welche Angebote an Mikrosystemen, an Begleitung, an versichernden Mass- nahmen im konkreten Fall jeweils getroffen werden müssen, ist individuell verschieden. Ich denke jedoch, besser zu viel versichernde Massnahmen planen und einbauen als umgekehrt. Je besser das Sich-Versichern-Können gewährleistet ist, desto grösser die Bereitschaft sich auf Neues einzulassen. Der Klient, die Klientin ist dadurch flexibler im Umgang mit Unvorhergesehenem, was bei Vorhaben wie einem Organisationswechsel ganz gewiss eintreten wird.

Besser zu viele der Versicherung dienliche Massnahmen planen als zu wenig.

Die Verunsicherung ist zu Beginn von etwas Neuem oder Verändertem grösser und gleichzeitig wie das „Neue“ sich allmählich zu etwas Bekanntem wandelt, weicht die Ver- unsicherung allmählich einem Gefühl der Sicherheit. Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, sei es der Antritt einer neuen Arbeitsstelle oder der Prozess vom Neulenker zum routinierten Lenker im Strassenverkehr. Auf unser Projekt bezogen heisst das, dass der erste Schritt, die ersten Schritte wohl die schwierigsten sind und sich mit zunehmen- der Dauer ein Gefühl der Vertrautheit breit macht. Dies führt mit fortschreitender Zeit zu einer veränderten Gewichtung der Faktoren Versicherung und Verunsicherung.

Die Verunsicherung ist zu Beginn des Wechsels am grössten und nimmt mit zunehmender Zeitdauer ab. Professionell Helfende haben deshalb zunehmend weniger Unterstützung bezüglich Versicherung (und allmählich mehr bezüglich Angeboten der Verunsicherung) zu leisten.

Natürlich ist dies nur eine Hypothese und zudem keine allgemeingültige, so nimmt vielleicht bei den einen Klientel mit zunehmender Dauer das Heimweh nach der Herkunftsorganisation stärker zu als dass Gefühl eingelebt zu sein am neuen Ort. Vielleicht braucht gewisse Klientel aber einfach länger, bis das Heimweh überwunden ist. Ein gewisses Mass an Zielstrebigkeit und Ausdauer scheint mir aus diesem Grund bei der Durchführung eines Organisationswechsels wichtig.

4.6. RÜCKKEHR

Die Zeit des Organisationswechsel ist vorüber und es gilt zurückzukehren in die Her- kunftsorganisation31. Was aber, wenn jemand nicht mehr zurück will? Darf man jeman- dem den Speck durchs Maul ziehen, resp. jemanden erleben lassen, wie schön es an einem anderen Ort ist, und ihn dann nötigen dies alles wieder aufzugeben zu Gunsten der weniger geliebten Herkunftsorganisation? Diese Problematik könnte durchaus ent- stehen, zumal wir es mit Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung zu tun haben und viele dieser Menschen - mangels abstraktem und zeitlichem Vorstellungs- vermögen - erst über das Erleben ihrer Wünsche und Bedürfnisse gewahr werden.

Meines Erachtens ist gegenüber dem Klienten, der Klientin im Vorfeld und je nach des- sen oder deren Wahrnehmung auch immer wieder während des Organisationswechsels, auf die befristete Dauer des Wechsels hinzuweisen. Zusätzlich sollte aber von Beginn weg eine Anschlusslösung bestehen, die ein Verbleiben in der neuen Organisation er- möglicht.

Die Möglichkeit, dass aus einem vorübergehenden Wechsel - auf Wunsch der Klientin, des Klienten - ein definitiver wird, soll in die Planung einbezogen werden und eine Anschlusslösung bestehen.

Kommt der Klient, die Klientin zurück in die Herkunftsorganisation, ist es nicht mehr derselbe oder dieselbe, die vor einem halben oder ganzen Jahr fortgegangen ist. Zum einen verändert sich der Mensch fortwährend und zum andern wirkt sich so ein Wechsel auf das Ansehen einer Person aus. Den Eltern und Bekannten, den in der Herkunftsorganisation verbliebenen professionell Helfenden und der Klientel etc. erscheint die zurückgekehrte Person in einem ganz anderen Licht, in einer neuen „Rolle“.

Bronfenbrenner betont, dass Rollenwechsel, die nicht als »[. . .] kurzlebige Versuchssitu- ationen stattfinden, sondern als Statusänderungen in realen Lebensbereichen [. . .]« (Bron- fenbrenner 1989: 113), vermutlich ausgeprägte Verhaltensänderungen zur Folge haben. Als Beispiel nennt er u.a. die Geburt eines Geschwisters, das Wiederholen einer Klasse oder eine Beförderung.

Ein Organisationswechsel führt in diesem Sinne zu einer Statusveränderung, zumindest so lange wie noch Klientel und professionell Helfende in der Herkunftsorganisation sind, die sowohl Wegzug wie Rückkehr des Klienten, der Klientin erlebt haben. Der neue Sta- tus kann bei der anderen Klientel sowohl Bewunderung wie auch Neid hervorrufen. Die zurückgekehrte Klientin, der zurückgekehrte Klient spürt diese Empfindungen der ande- ren und kann sich als was Besonderes fühlen. Man ist jemand, der in der Fremde war. Dieses Ansehen wirkt sich demnach auf das Verhalten aus und kann zudem das Selbst- vertrauen stärken.

Mittels eines Organisationswechsels kann ein Klient, eine Klientin seinen, ihren Status steigern, was höheres Ansehen, verändertes Verhalten sowie gesteigertes Selbstvertrauen zur Folge haben kann.

Bei der Rückkehr erscheint aber nicht nur der zurückgekehrte Klient, die zurückgekehrte Klientin in einem anderen Licht, auch diesem Klienten, dieser Klientin präsentiert sich die Herkunftsorganisation anders als vor dem Weggang. Das meiste ist zwar altbekannt, aber dieses Altbekannte hat einen neuen Reiz, resp. altbekannte Mikrosysteme erschei- nen wieder attraktiver, weil ihr Neuigkeitswert - und damit das Entwicklungspotenzial - gestiegen ist. Damit meine ich, dass nicht mehr alles derart im Detail in Erinnerung ist, dass eine altbekannte Situation wieder mehr Auseinandersetzung abverlangt oder dass sich Beziehungen wieder spannender gestalten. Zu vergleichen mit einem Spielzeug, das ein Kind für eine gewisse Zeit nicht mehr findet. Sobald es dies wieder entdeckt, spielt es umso intensiver damit.

Das Entwicklungspotenzial altbekannter lebensbereichspezifischer Mikrosysteme ist gestiegen, weil es nach so langer Abwesenheit mehr Engagement braucht um diese erneut zu realisieren.

Die Rückkehr braucht nicht derart begleitende Massnahmen, wie dies Weggang und Einleben in der neuen Organisation bedurften, doch auch die Rückkehr ist nicht zu un- terschätzen. Wie gesagt ist das meiste wohl altbekannt, aber die Zeit ist während der Abwesenheit nicht still gestanden. Allerlei Änderungen, z.B. personelle Wechsel, verän- derte Wohneinrichtung, veränderter „Ämtliplan“ oder veränderte Tagesstrukturen, die in der Herkunftsorganisation nach und nach vollzogen wurden, treffen die zurückgekehrte Klientel massiert. Wieder zurückgekehrt braucht der Klient, die Klientin deshalb Zeit sich einzuleben.

Wieder zurückgekehrt in die Herkunftsorganisation braucht der Klient, die Klientin erst einmal genug Zeit um sich einzuleben.

In der neuen Organisation hat der Klient, die Klientin sicherlich viel Neues gelernt oder bestehende Verhaltensweisen verändert, so vielleicht: einen anderen Dialekt angenom- men, in gewissen Belangen selbständiger oder unselbständiger geworden, sich andere Tischsitten angeeignet, neue Ideen entwickelt, Haltungen und Einstellungen verändert und so weiter. Was geschieht nun aber bei der Rückkehr in die Herkunftsorganisation, oder noch wichtiger, werden diese Fortschritte nun auch in der Herkunftsorganisation gezeigt?

Ein Beispiel: Bis anhin wurden der Klientin die Schuhe gebunden. In der neuen Organi- sation hingegen wurde die Klientin zur Mithilfe (evtl. immer wieder) beim Schuhebinden aufgefordert. In der Folge wird die Tätigkeit „Schuhebinden“ neu in Form einer Dyade gemeinsamer Tätigkeiten vollzogen; die Klientin fixiert jeweils mit dem Finger die halbfer- tige Schlaufe. Für die „Dyadenpartner“ der Herkunftsorganisation schien eine solche Kooperation undenkbar. Zu zementiert war das Bild einer unselbständigen Klientin. Die neue Organisation hatte anscheinend - zum Glück - keine Infos bezüglich Schuhebin- den, ansonsten hätte sie vermutlich nicht so hartnäckig Mithilfe eingefordert. Erfährt nun aber die Herkunftsorganisation nichts von den Fortschritten, werden diese im schlechtes- ten Falle gar nicht bemerkt und alles läuft wieder wie vorher. Möglichst wenig Negatives, aber alles Positive zu übermitteln ist demnach das ideale, aber eher unrealistische Ziel.

Auch hier könnte wiederum eine Begleitperson von Nutzen sein. Ihre Funktion wäre diesmal nicht der Klientin, dem Klienten Sicherheit zu bieten oder als Vorbild zu fungie- ren, sondern zu gewähren, dass Fortschritte, zurück in der Herkunftsorganisation, vom Umfeld gefördert und nicht behindert werden. Diese Person könnte sowohl ein professi- oneller Helfer, eine professionelle Helferin der neuen Organisation wie der Herkunftsor- ganisation sein. Übernimmt diese Begleitung ein professioneller Helfer oder eine profes- sionelle Helferin der Herkunftsorganisation (evtl. die gleiche Begleitperson wie schon bei der Begleitung hin zur neuen Organisation), so müsste diese ein paar Tage oder Wo- chen vor der Rückkehr, zwecks Bestandesaufnahme, in der neuen Organisation verbrin- gen.

Um erwünschte Verhaltensweisen (Fortschritte) des Klienten, der Klientin - die in der neuen Organisation entwickelt wurden - in die Herkunftsorganisation zu übertragen, empfiehlt es sich, dass der Klient, die Klientin von einer (ein und derselben) Person eine gewisse Zeit vor und nach der Rückkehr begleitet wird.

Im Gegensatz zu diesen erwünschten Fortschritten bietet der Wechsel zurück evtl. eine Chance unerwünschtes Verhalten nicht mehr zu übertragen. Auf Grund der Konzeption von Verunsicherung und Versicherung stehen hier die Chancen besser mit unerwünsch- tem Verhalten (das mitunter versichernd wirkt) aufzuhören als beim Wechsel hin zur neuen Organisation (vgl. Kapitel 4.5.4.). Wenn auch die Rückkehr hin zur Herkunftsor- ganisation ebenfalls verunsichert - weil auch das Altbekannte nicht mehr so vertraut ist - , so doch in viel geringerem Ausmass als der Wechsel hin zur neuen Organisation. Mit besagter Verhaltensänderung kann gar schon in der neuen Organisation begonnen wer- den.

Ein Klient, eine Klientin zeigt gegen Ende des Wechsels voraussichtlich eine erhöhte Bereitschaft - z.B. bei übermässigem Fernsehkonsum auf Fernsehen zu verzichten - ein Verhalten aufzugeben und, wieder zurück in der Herkunftsorganisation, damit gar nicht mehr zu beginnen.

Die mit dem Wechsel zurück in die Herkunftsorganisation verbundene Verunsicherung ist gering, weshalb sich hier die Chance zu einem Neubeginn ohne ein gewisses unerwünschtes Verhalten (evtl. auch mehrere) bietet.

Was im Kapitel Abschied (4.2.) bereits erwähnt wurde, gilt grossenteils auch für den Wechsel zurück in die Herkunftsorganisation. So ist der Abschied von der neuen Organisation nicht ein Verlust, bleibt doch das erweiterte Mesosystem bestehen.

»[. . .] alle einmal realisierten individuellen lebensbereichspezifischen und personalen Mikrosysteme als realisierbare Mikrosysteme [bleiben, E.B.] erhalten« (Oberholzer 2004: 31).

Vielleicht werden gewisse dieser neuen Mikrosysteme nur noch im Gedanken erschlossen resp. eine Erinnerung sein, andere bedürfen für ihre Realisation evtl. gewisse Begebenheiten und Unterstützung. So braucht z.B. das neue Mikrosystem „Schuhbinden“, die Bereitschaft der professionell Helfenden diese Tätigkeit auch in einer Dyade gemeinsamer Tätigkeiten auszuführen.

Was für die Mikrosysteme gilt, gilt auch für die neuen sozialen Kontakte. Sollen die neu entstandenen Beziehungen mehr als nur Erinnerung sein (die evtl. durch Fotos gestützt werden), so müssen sie gepflegt werden. Viele Klienten und Klientinnen brauchen diesbezüglich Unterstützung beim Briefeschreiben, Weihnachtskartenversenden, Telefonanrufemachen oder beim Organisieren von Besuchen.

Das erweiterte Beziehungsnetz bedarf auch nach erfolgter Rückkehr der Pflege. Professionell Helfende haben die Klientel diesbezüglich zu unterstützen.

Trotz Pflege oder Vernachlässigung des nun vergrösserten Beziehungsnetzes - von den neuen Beziehungen werden vermutlich nur wenige Bestand haben. Sprachaufenthalte oder Militärdienst sind m.E. typische Beispiele, bei denen über ein längeres Beisammen- sein viele Kontakte geknüpft, aber nach einigen Jahren nur noch ganz wenige davon aktiv gepflegt werden.

Da ein Organisationswechsel für die ihn vollziehende Klientel nicht irgendein beiläufiges Ereignis ist, sondern ein biographischer Übergang, wird er im weiteren Leben der betref- fenden Klientin, des betreffenden Klienten immer von Bedeutung sein. Im Zusammen- hang mit dem Wechsel werden neu erworbene Rollen evtl. weiterhin realisiert. Auch neue erlernte Tätigkeiten können weiterhin von Nutzen sein. Vielleicht werden sie in Zu- kunft noch perfektioniert oder dienen als Grundlage für weiterführende Tätigkeiten. Falls auch viele der neuen Beziehungen nicht Bestand haben mögen und viele der neuen Mik- rosysteme nie mehr realisiert werden, unter dem Strich bleibt ein Zuwachs an Mikrosys- temen und Bekanntschaften. Und all das, was einmal war und mit der Zeit nicht mehr ist, die Erinnerungen daran bleiben; erfahrungsgemäss vor allem die schönen.

4.7. ENTWICKLUNG UND IHR NACHWEIS

Entwicklung ist nach Bronfenbrenner ein Prozess:

»[. . .] durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auch nach Form und Inhalt ähnlich komplexem oder komplexerem Niveau umzubilden« (Bronfenbrenner 1989: 44).

Doch wie lässt sich diese Entwicklung nachweisen und wer ist überhaupt interessiert an einem solchen Nachweis?

Interessiert, dass Entwicklung stattgefunden hat, sind vermutlich alle involvierten Perso- nen, aber auf unterschiedliche Weise. Der Klient, die Klientin schwelgt vielleicht gerne in den Erinnerungen oder ist stolz Neues gelernt zu haben. Ich persönlich bin gespannt, inwiefern sich meine Hypothesen bestätigen. Vormunde wollen wissen, welche Leistun- gen sie einkaufen. Geldgeber wie das Bundesamt für Sozialversicherungen oder der Kanton (zahlt Ergänzungsleistungen) sind interessiert, wie ihre Gelder verwendet wer- den.

Es gibt also verschiedene Parteien mit verschieden gewichteten Interessen bezüglich dessen, dass Entwicklung stattfindet. Doch was ist an diesem Organisationswechsel die Entwicklung? Und entwickelt sich der Mensch ohne diesen Wechsel nicht auch? Schon Heraklit, der griechische Philosoph sagte: Alles fliesst und nichts bleibt, was so viel heisst, dass alles immer in Bewegung ist, dass sich immer alles verändert, auch der Mensch. Der Klient, die Klientin unterliegt dieser Veränderung, ob mit oder ohne Organi- sationswechsel. Viele meiner in dieser Arbeit angeführten Argumente bedürfen nicht zwingend eines Organisationswechsels. Gewisse Mikrosysteme verändern sich auch in der Herkunftsorganisation ständig. Personelle Wechsel bei professionell Helfenden, Weg- oder Zuzug von Mitbewohnern und -bewohnerinnen, neue Arbeitsaufträge am Ar- beitsplatz,. . .all das führt zu einer Vielzahl von veränderten (neuen) Mikrosystemen.

Ein Wechsel der Organisation ist demgegenüber aber viel konzentrierter, es finden viele Veränderungen in kurzer Zeit statt. Ein Organisationswechsel ist markant genug um als biographischer Übergang zu gelten. Er ist zu einem gewissen Teil planbar, resp. auch all die damit verbundenen ökologischen Übergänge. Ausmass sowie Neuigkeitswert aller neuer, veränderter Mikrosysteme verleihen ihm ein enormes Entwicklungspotenzial. Ein Entwicklungspotenzial, das unter Berücksichtigung verschiedener Massnahmen (Beglei- tung, Gestaltung der ökologischen Übergänge,. . .) entwicklungsförderlich genutzt wer- den kann. Falls dies gelingen sollte, bleibt weiterhin die Frage, wie sich von der Klientel gemachte Entwicklungsprozesse nachweisen lassen. Nach Bronfenbrenner muss dazu die Klientel in verschiedenen Lebensbereichen zu verschiedenen Zeiten beobachtet wer- den.

»Wenn eine in Vorstellungen oder Aktivitäten und Tätigkeiten der Person (oder beidem) berwirkte Veränderung erwiesenermassen auf andere Lebensbereiche und andere Zeiten übergreift, kann gesagt werden, dass Entwicklung stattgefunden hat und Entwicklungsvalidität nachgewiesen wurde« (Bronfenbrenner 1989: 52).

Stattgefundene Entwicklung müsste demnach jeweils nach einem Wechsel des Lebensbereichs sichtbar werden, so unter anderem in der Herkunftsorganisation entwickeltes Verhalten in der neuen Organisation und umgekehrt.

Ist es beispielsweise in der Herkunftsorganisation gelungen, dass ein Klient, eine Klientin die Wörter Danke und Bitte in erforderlichen Situationen anwendet, das gelernte Verhalten aber in der neuen Organisation nicht mehr zeigt, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass dieses Verhalten nicht internalisiert ist. Das „gelernte“ Verhalten ist an einen gewissen Kontext gebunden, nicht übertragbar.

Umgekehrt müsste in der neuen Organisation stattgefundene Entwicklung nach erfolgter Rückkehr in der Herkunftsorganisation sichtbar sein. Dies bei „altbekannten“ Verhaltensweisen, welche der Klient, die Klientin nun (aufgrund eines Lerneffekts am neuen Ort) anders, evtl. besser, selbständiger, sorgfältiger etc. zeigt, oder gänzlich neue (situationsspezifische) Verhalten.

Zeigt der Klient, die Klientin nach erfolgter Rückkehr in die Herkunftsorganisation neue oder veränderte Tätigkeiten und Rollen, ist dies Zeugnis von stattgefundener Entwick- lung. Überträgt jedoch der Klient, die Klientin in einer Organisation gezeigtes Verhal- ten nicht in eine andere, kann dies ein Hinweis dafür sein, dass besagtes Verhalten nicht internalisiert ist.

»Wenn verschiedene Lebensbereiche sich unterschiedlich auf die Entwicklung auswirken, wäre anzunehmen, dass diese Auswirkungen die wichtigeren ökologischen Unterschiede zwischen ihnen wiedergeben, die sich in kontrastierenden Tätigkeits- und Aktivitätsmustern, Rollen und Beziehungen zeigen« (Bronfenbrenner 1989: 180).

Entwicklung ist also vor allem dort zu erwarten, wo die grössten Abweichungen zwischen den Lebensbereichen resp. den Mikrosystemen der beiden Organisationen bestehen. Der Klient, die Klientin zeigt - zurückgekehrt in die Herkunftsorganisation - eine neue Rolle (z.B. der oder die Gläubige) und/oder eine neue Tätigkeit (z.B. das Tischgebet sprechen oder Getränke selber einschenken), weil sich die zwei Organisationen sich bezüglich Gläubigkeit oder Tischsitten unterscheiden.

Der Klient, die Klientin wird sich voraussichtlich vor allem dort entwickeln, wo sich die Herkunfts- und die neue Organisation unterscheiden.

Die in der neuen Organisation durchlaufene Entwicklung kann, verkürzt gesagt, mit ei- nem Vergleich der Vorher- mit der Nachhersituation (in der Herkunftsorganisation) fest- gestellt werden. Nach wissenschaftlichen Kriterien müsste dazu eine sehr systematische Bestandesaufnahme aller Mikrosysteme und ihrer Elemente gemacht werden, und zwar bis ins kleinste Detail; geht es doch um Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträch- tigung, für die auch kleinste Fortschritte, die sie teils geduldig erarbeiten müssen, wert- volle Entwicklungsschritte bedeuten. Eine solch akribische Bestandesaufnahme scheint mir allerdings aus zeitlichen Gründen zu aufwändig und vor allem aus Gründen der öko- logischen Validität32 trotzdem nur beschränkt aussagekräftig. Für Bronfenbrenner ist es wichtig, dass eine wissenschaftliche Untersuchung über menschliches Verhalten und Entwicklung berücksichtigt, wie die betreffende Person die Untersuchungssituation wahrnimmt und interpretiert (vgl. Bronfenbrenner 1989: 46). Für uns heisst das: Wie er- lebt die Klientin, der Klient den Organisationswechsel? Wie bewertet sie oder er diesen? Tut es ihr oder ihm gut oder stresst der Wechsel?

Werden Betroffene in den Forschungsprozess einbezogen (Transparenz), verringert sich nach Bronfenbrenner das Fehlerrisiko bezüglich Auswertung der Beobachtungen (vgl. Bronfenbrenner 1989: 48). Säuglinge, Kleinkinder, aber auch erwachsene Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung können evtl. nicht um reflektierte Rückmeldungen gebeten werden, deshalb müssen wir:

»[. . .] soviel wie möglich über die Reaktion der Versuchsperson auf die gestellte Aufgabe wissen, weil diese Information für [die, E.B.] Vorstellungen von ökologischer Validität entscheidend sind« (Cole et al.1978: 37, zit. in: Bronfenbrenner 1989: 49).

Das heisst z.B., wenn eine Klientin laut grunzende Geräusche von sich gibt, muss ich wissen, dass sie sich sehr wohl fühlt; oder z.B., dass ich einem Klienten keine Fragen wie „Was gefällt dir besser, A oder B?“ stellen darf, weil er immer das Zweitgenannte bejaht.

Das Wahrnehmen von Entwicklungsfortschritten durch Beobachtung kann durch die für die Rückkehr vorgeschlagene Begleitperson geschehen. Allerdings bedeutet dies wiederum, dass diese Person den Klienten, die Klientin sehr gut kennen muss um möglichst wenig falsche Schlüsse aus deren Verhalten abzuleiten.

Soll auf Grund des Organisationswechsels stattgefundene Entwicklung eines Klienten, einer Klientin durch Fremdeinschätzung eruiert werden, dann durch eine Person, die den Klienten, die Klientin möglichst gut kennt (z.B. Begleitperson der Herkunftsorgani- sation).

Bezüglich Entwicklungsnachweis gilt es also zu beobachten und das Beobachtete richtig zu deuten. Was aber ist, wenn jemand nicht mehr zurück will? Können Fortschritte nicht auf ihre wahre Entwicklung geprüft werden, weil der Klient, die Klientin den Lebensbereich nicht mehr wechselt? Nach Bronfenbrenners Kriterien können Verhaltensänderung dadurch tatsächlich nicht mit Bestimmtheit als gemachte Entwicklung bestätigt werden. Allerdings ist fraglich, was die grössere Entwicklung ist: In die alte Struktur zurück (in den Schoss der Familie sozusagen) oder aus eigenem Willen sagen: Nein, ich schaue vorwärts, zurückkehren heisst für mich Rückschritt.

Aber auch das Umgekehrte dieser Situation sagt etwas aus. Kommt der Klient, die Klien- tin zurück (evtl. vorzeitiger Abbruch des Organisationswechsels) und ist sich im Klaren: so etwas will ich nie mehr machen („nicht mit mir!“), deutet dies auch auf eine Entwick- lung hin, in dem Sinne, dass sich der Klient, die Klientin im Klaren ist was er oder sie nicht will.

4.8. WECHSELSEITIGKEIT

Die wechselseitige Beeinflussung von Umwelt und Individuum ist ein zentrales Element des systemökologischen Ansatzes. Da zu dieser Umwelt auch die soziale Umwelt gehört, entwickeln sich auch die dieser Umwelt zugehörenden Personen.

Nach Bronfenbrenner basiert Entwicklung auf fortschreitender gegenseitiger »Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaf- ten seiner unmittelbaren Lebensbereiche« (Bronfenbrenner 1989: 37). Oder an anderer Stelle: »Wenn ein Beteiligter einer Dyade eine Entwicklungsveränderung durchmacht, trifft dies wahrscheinlich auch für den anderen zu« (Bronfenbrenner 1989: 80).

Der Wechsel der Organisation wirkt sich demzufolge nicht alleine auf die, den Wechsel vollziehende Klientel, sondern auch auf alle anderen - mit der Klientel direkt oder indirekt in Verbindung stehenden - Personen aus. Damit rückt der Klient, die Klientin nicht alleine ins Zentrum des Interesse, sondern zusätzlich die damit einhergehenden Veränderungen der Umwelt (und dieser Umwelt zugehörenden Personen und Elemente33 ) im Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem.

Der Organisationswechsel bietet nicht nur dem oder der die Organisation wechselnden Klienten, Klientin Entwicklungschancen, sondern allen involvierten Personen.

Natürlich werden nicht alle diese involvierten Personen im gleichen Masse von den Ge- schehnissen beeinflusst. Das grösste Potenzial an Entwicklungschancen bietet sich der, den Wechsel vollziehenden Klientel. Im Gegensatz zu den meisten anderen involvierten Personen wechselt diese Klientel ihre Lebenswelt. Sie leben für eine gewisse Zeit in den neuen Lebensbereichen und haben dort fortwährend lebensbereichspezifische Mikrosys- teme zu realisieren. Diese Massierung von zu realisierenden Mikrosystemen und das zeitliche Ausmass bescheren den die Organisation wechselnden Klienten und Klientin- nen die grösste Fülle an Entwicklungschancen. Auch dürfte das Ereignis nur für diese Personen derart markant sein, dass es einen biographischen Übergang darstellt.34

Wenn auch ein Organisationswechsel für alle involvierten Personen Entwicklungs- potential bietet, so ist dieses doch für die den Wechsel vollziehenden Klientel am grössten.

Bei den anderen involvierten Personen dürfte das mit dem Wechsel verbundene Entwicklungspotenzial umso höher sein, je direkter und öfter sie in Kontakt mit dieser - den Wechsel vollziehenden Klientel - und ihrer Umwelt stehen.

Vormunde werden wegen des geringen und vermutlich hauptsächlich telefonischen und schriftlichen Kontaktes nur wenig von einem solchen Wechsel beeinflusst. Sie lernen vielleicht eine neue Organisation und deren Formulare, Pensionstaxenansätze etc. ken- nen oder werden unter Umständen mit Gesetzgebungen anderer Kantone konfrontiert.

Eltern, die alle paar Wochen ihren erwachsenen Sohn oder ihre Tochter für ein Wochenende zu sich nach Hause holen, werden schon in stärkerem Masse vom Wechsel beeinflusst. Sie werden in ihrer Haltung gegenüber einem Organisationswechsel evtl. bestärkt oder verändern sie. Sie sehen, wie dort gearbeitet wird, wie die Wohngruppe eingerichtet ist, oder erleben, wie dort die Elternarbeit funktioniert. Sie lernen aber auch viele neue Personen kennen, so z.B. Klientel und professionell Helfende der neuen Organisation oder andere Eltern bzw. Angehörige.

Diese Chance Kontakte zu knüpfen und das eigene Beziehungsnetz zu erweitern bietet sich natürlich auch vielen anderen am Organisationswechsel involvierten Personen. Vor allem jenen Personen, die der neue Organisation persönlich einen oder mehrere Besu- che abstatten.

Ein Organisationswechsel bietet auch anderen involvierten Personen, vor allem Eltern und Begleitpersonen, die Chance ihr Beziehungsnetz zu erweitern.

Noch stärker vom Wechsel betroffen als z.B. Eltern und Vormunde werden die Klientel und professionellen Helfer der neuen sowie der Herkunftsorganisation. Welche Entwicklungschancen ein Organisationswechsel der nicht am Wechsel teilnehmenden Klientel sowie der Organisation insgesamt mit ihren Angestellten mit sich bringt, will ich in den zwei folgenden Kapiteln erläutern.

4.8.1. Auch die Organisation profitiert vom Organisationswechsel

Allein schon die Bereitschaft einer Organisation an einem solchen Projekt mitzumachen bedeutet sich auf etwas Neues einzulassen, bedeutet Veränderung und damit die Chance sich zu entwickeln.

Bisher übliche Wechsel wie Neueintritte oder Aufnahme eines Feriengastes unterschei- den sich gegenüber dem hier behandelten Organisationswechsel in ihrer zeitlichen Dau- er (Organisationswechsel ist weder ein Kurzaufenthalt noch eine Langzeitunterbringung) und somit auch in der agogischen Planung. Der Feriengast nimmt beispielsweis nur die nötigsten Sachen mit. Jahresauswertung und sozialpädagogische Prozessgestaltung betreffen ihn nicht. In Zusammenhang mit dem Wechsel entstehen viele Fragen bezüg- lich Intensität der Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen der Behindertenhilfe oder inwiefern Ziele der sozialpädagogischen Prozessgestaltung am neuen Ort weiter verfolgt werden.

Als professioneller Helfer bin ich automatisch stärker gefordert im Umgang mit dem neuen Klienten, der neuen Klientin. Wie viel und wo braucht diese Person Unterstützung? Wie wird sie auf meine Forderungen und Interventionen reagieren? Problemstellungen dieser Art verunsichern und sind Teil eines Lernprozesses.

Professionell Helfende, die als Begleitperson ebenfalls eine gewisse Zeit die Organisati- on wechseln, sehen die von ihnen begleitete Klientel in neuen Lebensbereichen. Es fal- len dabei vielleicht Fähigkeiten und Verhalten auf (positive wie negative), derer man sich vorher gar nicht bewusst war. Die Begleitperson lernt zudem eine andere Organisation mit ihren Eigenheiten kennen, begegnet neuer Klientel sowie neuen Berufskollegen und -kolleginnen.

Für die in der Herkunftsorganisation verbliebenen professionell Helfenden wird die neue Organisation zu einem Exosystem. Sie erfahren evtl. über direkte oder indirekte Kontakte, wie die neue Organisation strukturiert ist, wie dort gearbeitet wird. Sollten die professionell Helfenden der Herkunftsorganisation der neuen Organisation einen Besuch abstatten, so wird auch für diese Personen das Exosystem neue Organisation dem eigenen bestehenden Mesosystem hinzugefügt.

Diese punktuelle Aufzählung zeigt die Vielfalt an möglichem Profit für andere Klienten, Klientinnen, professionell Helfende sowie alle anderen involvierten Personen. Dass alle beteiligten Personen von den Geschehnissen betroffen sind, gilt es sich immer wieder bewusst zu machen. Dies gilt speziell für uns professionell Helfenden. Wir sind nicht Experten, welche die Klientel beobachten und kontrollieren können, ohne von den Ereignissen selbst beeinflusst zu werden. Sich selber als Teil eines Systems wahrzunehmen, wird in der Praxis aber oft vergessen.

»[. . .] sobald der Forscher in seinen weissen Mantel wissenschaftlicher Unsichtbarkeit geschlüpft ist, neigt er dazu, sich ausschliesslich auf das Verhalten der Versuchsperson zu konzentrieren [. . .]« (Bronfenbrenner 1989: 76).

Eine gewissenhafte Selbstreflexion gehört deshalb zu unserer Arbeit. Was am Ende auch immer über einen durchgeführten Organisationswechsel festgehalten wird (Beobachtungsbericht, Schlussbericht) - Selbstreflexion gehört dazu.

Professionell Helfende haben sich in ihrer täglichen Arbeit bewusst zu sein, dass sie nicht über den Geschehnissen stehen, sondern von diesen ebenfalls beeinflusst wer- den.

Für eine Organisation stellt ein solcher Wechsel einen gewissen Mehraufwand dar, demgegenüber winkt aber ein Gewinn an Entwicklung. Sowohl für Klientel wie u.a. auch für die professionell Helfenden. Aus dieser Warte betrachtet kann ein Organisationswechsel auch als Organisationsentwicklung und als Personalförderung betrachtet werden. Bezüglich Personalförderung braucht es die Bereitschaft der Beteiligten sich auf diese Prozesse einzulassen. Unvoreingenommenheit, Flexibilität, Offenheit und die Bereitschaft sich zu verändern sind Voraussetzung dazu.

Ein Organisationswechsel kann der Organisationsentwicklung und Personalförderung dienlich sein.

4.8.2. Organisationswechsel bietet der gesamten Klientel Entwick- lungschancen

Die Ankunft der neue Klientin, des neuen Klienten verändert in der neue Organisation einiges: Beziehungsdyaden in neuer Besetzung sind entstanden, es gilt Mikrosysteme mit der neuen Klientin, dem neuen Klienten zu realisieren, das Hierarchiegefüge inner- halb der Wohngruppe verändert sich, neue gruppendynamische Prozesse entwickeln sich und so weiter. Werden Veränderungen als Entwicklungschancen aufgefasst, ist das Dazustossen der neuen Klientin, des neuen Klienten eine Bereicherung, die neue Impul- se bringt und bestehende Mikrosystemmuster verändert. Das damit einhergehende Ent- wicklungspotenzial ist aber nicht für die gesamte Klientel der neuen Organisation gleich gut nutzbar. Das heisst, nicht alle finden sich gleich schnell mit der neuen Situation zu- recht. Es ist deshalb bezüglich Wechsel nicht nur die neu dazukommende Person zu unterstützen, sondern je nachdem auch andere Klienten und Klientinnen der neuen Or- ganisation.

Auch die Klientel der neuen Organisation braucht im Umgang mit der - durch den Organisationswechsel verursachten - neuen Situation evtl. Unterstützung von den professionell Helfenden.

Für die neue Organisation gilt, was auch für die Herkunftsorganisation gilt. Der Wegzug der Klientin, des Klienten verändert vieles. Es fehlt nun plötzlich eine Person. Der Weg- zug einer Klientin, eines Klienten kann für die Zurückgebliebenen sowohl belastend wie auch entlastend wirken. So gilt es sich z.B. als Wohngruppe neu zu organisieren. Es muss oder darf nun jemand anders gewisse „Ämtli“ erledigen. All diese Veränderungen können, müssen aber nicht eine Unruhe bewirken. Führt der Wechsel in der Herkunftsorganisation zu einer ruhigeren Atmosphäre, erlaubt dies evtl. einer in sich gekehrten Klientin - die vorher vielfach irgendwo in ihre eigenen Gedanken versunken da stand oder sass - sich aktiver ins Gruppengeschehen einzubringen.

Entlastend kann der Organisationswechsel auch auf eine angespannte Beziehung wirken, weil sie dadurch unterbrochen wird. Bei all diesen möglichen entlastenden Wirkungsweisen, zu denen ein Organisationswechsel auch führen kann, Ziel des Organisationswechsels ist nicht Krisenintervention, sondern Entwicklungsförderung.

Ebenfalls gegen eine Krisenintervention spricht, dass der Wechsel m.E. auf Freiwilligkeit beruhen soll, sowie der Mechanismus von Verunsicherung und Versicherung. Sich erfolgreich auf Neues einzulassen, muss aus der Versicherung heraus geschehen. Wer aber in einer Krise steckt, ist verunsichert.

Ich habe hier nur ein paar Auswirkungen erläutert, die der Organisationswechsel von Klientel auf andere Personen haben kann. Die Vielzahl involvierter Personen und die vielen möglichen Auswirkungen auf diese Personen führt auch zu Problemen bezüglich Rücksichtnehmen und Bevorteilen. Geht es nur um die bestmögliche Entwicklung der Klientin, des Klienten, die oder der den Wechsel vollzieht, oder um die bestmögliche Ent- wicklung aller involvierten Personen? Passt es der ganzen Klientel der neuen Organisa- tion, dass jemand kommt, und passt es der Klientel der Herkunftsorganisation, dass die Klientin, der Klient wieder zurückkommt?

Wie das Sprichwort sagt: Allen Leuten recht getan ist eine Kunst, die niemand kann. Ich denke, primäres Ziel ist einem Klienten, einer Klientin einen Wechsel zu ermöglichen unter möglichst entwicklungsförderlichen Bedingungen, dabei sind Überlegungen bezüglich Wechselwirkung durchaus miteinzubeziehen, aber nicht in extremis.

Primäres Ziel soll der Organisationswechsel sein und nicht, es allen Recht machen zu wollen, weil es sonst nie zu einem Wechsel kommen wird.

Das Prinzip der Wechselseitigkeit mag zwar den ganzen Organisationswechsel noch viel komplexer und unberechenbarer erscheinen lassen, macht aber auch deutlich, wie stark der Mensch in seine Umwelt eingebettet ist, was ich als grosse Ressource betrachte, die es bestmöglich zu nutzen gilt.

5. REFLEXION

Der zu wählende theoretische Ansatz war bekannt, ebenso die mit diesem Thema zu behandelnde Materie. Sogleich machte ich mich daran die Theorie des systemökologi- schen Ansatzes nach Bronfenbrenner und deren Spezifizierung und Erweiterung nach Oberholzer in gekürzter Fassung und eigenen Worten wiederzugeben. Die Schwierigkeit dabei war die Selektion. All jenes, auf das ich später in der Arbeit Bezug nehmen würde, sollte hier erwähnt werden, das Restliche, zwar interessant, aber für die Arbeit nicht von Bedeutung, galt es wegzulassen. Ich tat mich schwer mit dieser Selektion. Der Theorie- teil ist in der Folge relativ lang geworden. Mir scheint es allerdings schade um die Mate- rie, wenn ich ihn noch mehr kürze.

Eine Theoriewiedergabe, die sich über mehr als fünfzehn Seiten erstreckt, verlangt aber auch einen dem Verhältnis entsprechenden Hauptteil. Schien es mir schon zu Beginn der Arbeit undenkbar über mehr als zehn Seiten das Für und Wider aus systemtheore- tischer Sicht abzuhandeln, so machte sich auf Grund dieses langen Theorieteils noch grösseres Unbehagen breit. Allerdings, kaum hatte ich zu schreiben begonnen, kamen mir mit jedem niedergeschriebenen Gedanken zwei weitere. Diese Gedanken waren hauptsächlich positiv gefärbt. Nicht weil es keine Argumente gegen einen solchen Orga- nisationswechsel gibt, sondern weil ich einfach grundsätzlich positiv gegenüber solchen Wechseln eingestellt bin. Dies hat sicherlich viel mit meiner Vergangenheit zu tun. Mich hat ein Wechsel immer ein Stück vorwärts gebracht, ob der Wechsel nun eine positive oder negative Erfahrung war. Falls es ein negative Erfahrung war, so machte sie mir jeweils klar, was ich nicht oder was ich nächstes Mal besser machen wollte, ganz nach dem Motto: Aus Schaden wird man klug. Diese Parteilichkeit behinderte mich dann im- merfort in meiner Arbeit in der Weise, dass es mir Probleme bereitete auch die negativen Aspekte zu sehen resp. nicht alles Negative ins Positive zu verdrehen. Wenn ich nun auch all meine Hypothesen vorwiegend positiv formuliert habe, so werden doch bei der Hinleitung dazu jeweils die negativen Aspekte sichtbar. Negative Aspekte, die es zu be- rücksichtigen und mit Massnahmen zu entschärfen gilt.

Was den Aufbau der Arbeit betrifft, ist es mir wichtig, den Leser und die Leserin auf das Thema hinzuführen resp. darauf hinzuweisen, dass die Zeit m.E. reif ist für solche Organisationswechsel. Der kurze geschichtliche Exkurs, der dies aufzeigen soll, bereitete mir mehr Mühe als im Voraus gedacht. Einfach deshalb, weil ich nicht das fand, was ich eigentlich suchte, einen kurzen geschichtlichen Abriss von der Unterbringung und dem Umgang mit erwachsenen Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung in Europa. Alle Texte hatten immer irgendein Schwergewicht. Bei den einen ging es um die Selbstbestimmung, bei den anderen eher um Kinder und ihre Frühförderung, wiederum andere waren sehr stark nur auf Deutschland ausgerichtet.

Nachdem ich den geschichtlichen Exkurs und den Theorieteil niedergeschrieben hatte, galt meine Aufmerksamkeit dem Hauptteil. Dieser gewann zunehmend an Umfang, ka- men mir doch wie gesagt auf jeden niedergeschriebenen Gedanken zwei neue. Leider kamen diese wild durcheinander und nicht nach einer erkennbaren Ordnung. Es war schwierig in dieser riesigen Fülle unterschiedlicher Ideen etwas Verbindendes, Gemein- sames zu finden, damit ich Kategorien resp. Kapitel bilden konnte. Ich entschied mich schliesslich für eine chronologische Ordnung. Wenn sich auf diese Weise auch eine ge- wisse Struktur in die niedergeschriebenen Gedanken bringen liess, so gab es auch im- mer wieder Gedanken oder ganze Kapitel, die nirgends zu passen schienen. Wo soll ich die Kapitel Wechselseitigkeit oder versichernde/verunsichernde Faktoren einfügen? Wo soll ich das Thema Begleitperson abhandeln, bei Wechselseitigkeit, da sich schliesslich auch die Begleitperson entwickelt, oder beim eigentlichen Übertritt in die neue Organisa- tion? Noch unübersichtlicher wird es dadurch, dass ich an mehreren Stellen des Wech- sels eine Begleitperson fordere, beim Wechsel hin und zurück sowie die erste Zeit in der neuen Organisation. Soll ich die Begleitperson zurück auch schon im Kapitel Begleitper- son erwähnen, das sich aber hauptsächlich mit dem Wechsel hin zur neuen Organisation befasst? Jetzt in der Endfassung der Arbeit liest es sich gut, der mit solch formalen Prob- lemen verbundene Ärger und zeitliche Mehraufwand ist nicht mehr spürbar.

Bezüglich des Hauptteils war das Herausarbeiten der Hypothesen eine spannende und befriedigende Arbeit. Getraute ich mich zu Beginn kaum eine Hypothese zu formulieren, musste ich gegen Ende aufpassen, dass nicht jeder noch so kleinste Gedanke in einer Hypothese gipfelte, wollte ich doch nur die wesentlichen Punkte als Hypothese formulie- ren, sonst wäre der ganze Text eine Aneinanderreihung von Hypothesen geworden.

Schliesslich habe ich nicht alle Hypothesen systemtheoretisch hergeleitet und begründet. Aspekte wie Selbstbestimmung, Normalisierung, Empowerment haben auch zu gewissen Hypothesen geführt oder gewisse systemtheoretisch hergeleitete Setzungen in ihrer Formulierung beeinflusst. Sie alle schienen mir aber wichtig genannt zu werden, so dass ich sie in dieser Arbeit nicht missen möchte.

Alle von mir formulierten Hypothesen und die theoriegeleiteten Überlegungen dazu sind stark von meiner Sicht der Dinge geprägt. Was zum Mikrosystem, zum Mesosystem und zum Exosystem gehört, wird aus dieser Optik heraus definiert. Wenn ich das für mich selber mache, meine Mikrosysteme etc., kann ich das genauer, als wenn ich das für jemand anders mache. Systeme der Klientel, deren Umfang sowie deren Bausteine aus einer Aussenperspektive definieren und analysieren ist immer mit einem gewissen Grad an Willkür verbunden. Bronfenbrenner sagt dazu:

»[Der Beobachtungsperson, E.B.] bereitet die Ermittlung der Wahrnehmung der Ver- suchssituation durch die Versuchsperson ernste Schwierigkeiten. Die Entwicklungsfor- schung im besonderen steht oft vor der unlösbaren Aufgabe, die phänomenale Welt von Säuglingen oder Kleinkindern zu erfassen, die noch keine sprachlichen Hinweise auf ihr psychisches Erleben geben können. Und auch bei Erwachsenen stellt sich immer wieder das Problem idiosynkratischer Wahrnehmung, die durch frühe Erlebnisse oder dem Beob- achter verborgene innere Zustände begründet ist« (Bronfenbrenner 1989: 49).

Wenn ich hier, in dieser Arbeit, auch versuche allgemeingültige Aussagen zu machen, weiss streng genommen nur der Klient, die Klientin in der jeweiligen Situation, inwiefern sie für ihn oder sie gut ist oder nicht.

Trotz dieser Einschränkung bin ich von meinen Hypothesen überzeugt. Falls diese Arbeit lesende Personen gewisse meiner Hypothesen für banal und logisch halten, ist das für mich ebenfalls ein Beweis, dass ich mit meiner Einschätzung nicht allzu falsch liege. Wenn auch Aussagen noch so logisch klingen mögen, vollständigkeithalber gehören sie dazu. Zudem zeigt dies auf, wie griffig die Theorie auf die Praxis angewendet werden kann, sind doch (fast) alle Aussagen aus der systemökologischen Theorie generiert.

Die Komplexität des Themas war eine grosse Herausforderung, die damit verbundenen Probleme waren schwierig zu lösen. Komplex ist die Arbeit bezüglich der schon erwähn- ten formalen Gestaltung des Textes, komplex aber auch wegen der Wortwahl. Wo gebrauche ich Bronfenbrenners Ausdrücke und wo braucht es für eine differenziertere oder erweiterte Sicht Oberholzers Ausdrücke? Kompliziert bezüglich Wortwahl resp. ge- nauer Umschreibung, wer gemeint ist, ist auch, dass es hier wie dort eine Organisation gibt mit Klientel und professionell Helfenden und dass der Wechsel von dort nach hier wie auch umgekehrt geschieht.

Eine weitere Komplexität ist die Theorie an sich. Die verschiedenen Lebensbereiche und Systeme (vom Mikro- bis Makrosystem) sowie die Wechselseitigkeit lassen bei solchen Wechseln Analysen in alle Richtungen und von allen Blickpunkte zu.

Komplex erscheint mir auch die Umsetzung, so wie ich sie hier mit meinen Empfehlun- gen skizziere. Schnuppertage, Schnupperwochen, Begleitpersonen, versichernde Mass- nahmen, eine Begleitung auf Abruf habe ich ebenfalls erwähnt, wie die Möglichkeit einer vorzeitigen Rückkehr oder Anschlusslösung. All diese Möglichkeiten parat halten heisst Aufwand betreiben (organisatorisch, finanziell. . .) und werden sie dann nicht genutzt, kommen schnell Argumente gegen dieses Bereitstellen von Möglichkeiten. Meine Emp- fehlungen müssen in der Realität jeweils bestmöglich der Situation angepasst werden, das heisst auch dem beschränktem Budget oder den beschränkten personalen Ressour- cen (Begleitperson). Dabei ist natürlich zu überlegen, für welche Klientel und unter wel- chen reduzierten Massnahmen ein Wechsel noch diskutabel erscheint.

Die bei einer Diplomarbeit übliche Frage bezüglich Relevanz einer Arbeit für ein jeweili- ges Berufsfeld halte ich hier für sehr hoch. Das heisst, die erarbeiteten Hypothesen las- sen sich grossenteils eins zu eins für einen Wechsel zwischen Organisationen der Be- hindertenhilfe verwenden. Aus herausgearbeiteten Hypothesen, aus den niederge- schriebenen Gedanken und noch viel mehr aus der zu Grunde gelegten systemökologi- schen Theorie lassen sich noch mehr Hypothesen oder/und Abwandlungen für andere Tätigkeitsgebiete erarbeiten, z.B. für den Kinder- und Jugendbereich, aber auch für die Thematik Alter und Wohnen. Natürlich geht es hier um eine Diplomarbeit und ich bin auch keine bekannte Koryphäe im Fachgebiet Sozialpädagogik oder Sonderpädagogik. Da aber die Diplomarbeit Teil eines Forschungsvorhabens ist, bestehen reelle Chancen, dass viele meiner Empfehlungen direkt oder in abgeänderter Form umgesetzt werden.

Das Thema und erarbeitete Gedanken werden mir auch in meinem persönlichen berufli- chen Schaffen von Gewinn sein, wenn vielleicht nicht im Rahmen eines befristeten Or- ganisationswechsel, so doch bei Ferien oder „definitiven Organisationsübertritten“.

Auf Grund meiner Arbeit sind Organisationswechsel unter Berücksichtigung gewisser unterstützender begleitender Massnahmen empfehlenswert und als entwicklungsförder- lich anzusehen. Inwiefern solche Wechsel aber schliesslich umgesetzt werden, da bin ich sehr skeptisch. Dies, weil ich mir die Klientel meines Arbeitsplatzes vor Augen führe.

Nicht wegen den Anforderungen, ich denke, diese würden sie bewältigen, nein, weil ich mir es schwierig vorstelle, sie von den Chancen eines Wechsels zu überzeugen. Sie überhaupt erst dazu zu bewegen, sich auf einen Auseinandersetzungsprozess mit der Thematik Wechsel einzulassen, scheint mir die erste grosse Hürde, auch wenn ich in meiner Diplomarbeit Ausführungen zu diesem Vorgehen mache (z.B. Erleben über Schnupperbesuche).

Die von mir formulierten Hypothesen lassen sich wohl am besten verifizieren oder falsifi- zieren über die Durchführung tatsächlicher Wechsel. Dabei können sich unter Umstän- den ganze Ketten von Hypothesen als falsch erweisen, insbesonders wenn sie aufein- ander aufbauen. Ich gewichte z.B. an diversen Stellen die Begleitperson sehr hoch. Eine Begleitperson, die einen besonders guten Draht zum Klienten, zur Klientin hat. Andere professionell Helfende orientieren sich vielleicht sehr stark an dieser Begleitperson, ver- lassen sich auf sie. Was aber, wenn diese Begleitperson nicht die erwartete Wirkung hat? Die Begleitperson kennt die Klientin, den Klienten hauptsächlich aus den Lebensbe- reichen der Herkunftsorganisation, aber nicht aus anderen Lebensbereichen (abgesehen von ein paar Lagern und Ausflügen).

All diese Ungewissheit bezüglich Umsetzung des weiteren Forschungsvorhabens35, die von mir erarbeiteten Gedanken werte ich als Erfolg. Nur schon das Forschungsvorhaben als Absicht und meine Diplomarbeit als eine Fülle von niedergeschriebenen Gedanken bieten viel Diskussionsstoff. Zum Beispiel über eine „neue“ Möglichkeit der Entwicklungs- förderung.

Ich hoffe, mit meiner Diplomarbeit vor allem der Klientel einen Dienst erwiesen zu haben, auch wenn die Umsetzung eines solchen Wechsels stark vom Wohlwollen oder anderen Aspekten (Finanzen, Organisatorisches) des Umfelds abhängig ist. Wichtig scheint mir, dass die Möglichkeit besteht (zur Auswahl steht) und der Klientel zugänglich gemacht wird, so dass sie die Wahl hat.

6. SCHLUSSWORT

Mit dem Näherrücken des Abgabetermins sowie mit der Gewissheit, die Diplomarbeit bis dahin auch fertiggeschrieben zu haben, machen sich verstärkt Gefühle breit. Positive Gefühle, eine umfangreiche Arbeit geschrieben zu haben, aber auch negative Gefühle, weil ich sie noch besser schreiben könnte und möchte.

Das Schreiben einer solchen Arbeit ist eine grosse Herausforderung, die mir viel abverlangte, aber auch viel Freude bereitete. Im Gegensatz zu den Semesterarbeiten, die immer parallel zum Schulunterricht zu erstellen waren, konnte ich mich über geraume Zeit intensiv mit einem Thema befassen, was ich sehr schätzte.

Ich bin froh, mich für dieses Thema entschieden zu haben. Es war, wenn ich es mir auch im Vorfeld nicht vorstellen konnte, ein sehr ergiebiges Thema. Ich würde mich wieder zu Gunsten dieses Themas entscheiden. Es ist mir nicht überdrüssig noch glaube ich, dass zu diesem Thema schon alles gesagt ist.

Die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema war nicht nur interessant, sondern auch sehr lehrreich. Ich kenne Bronfenbrenners und Oberholzers Theorie nun vertieft, wodurch es mir z.B. im Alltag besser gelingt eine systemökologische Sichtweise einzu- nehmen.

Aber auch Lerneffekte im Bereich EDV sind mit dem Schreiben einer solchen Arbeit verbunden. Wie befürchtet traten auch bei dieser Arbeit wieder da und dort Probleme mit Dateivorlage, Druckereinstellungen etc. auf, die es zu meistern galt.

Diese Arbeit habe ich primär für mich, zum Erlangen meines Diploms geschrieben. Was mich aber besonders freut ist, dass sie ebenso einmal Grundlage sein wird resp. teilweise als Grundlage beigezogen werden kann für einen allfälligen Organisationswechsel und dadurch vor allem die betroffene Klientel profitiert. Ich verfolge deshalb das Forschungsvorhaben gespannt und wer weiss, vielleicht beteiligt sich ja auch unsere Organisation resp. unsere Klientel an einem solchen Wechsel.

Wie erwähnt, löst der bevorstehende Abgabetermin verschiedenste Gefühle aus. Der Gedanke, dass nun auch eine Arbeit von mir in einer Bibliothek zur Ausleihe aufliegt, erfüllt mich mit Stolz. Im Bestreben eine bestmögliche Arbeit abzuliefern hätte ich noch gerne weitere Zeit an dieser Arbeit geschrieben, weil ich überzeugt bin, dass durch wie- derholtes und weiterführendes Überdenken der Thematik noch mehr und differenziertere Aussagen in Form von Folgerungen und Empfehlungen möglich sind. Anderseits bin ich natürlich froh, wenn der mit der Diplomarbeit verbundene Stress ein Ende findet. Die Mehrfachbelastung von Diplomarbeit, beruflicher Tätigkeit und familiären Pflichten war in den letzten Monaten gross.

Verschiedene Personen haben mich in dieser Zeit tatkräftig unterstützt und haben ein Dankeschön verdient. Von der Diplombegleitung der Schule über Berufskollegen und

Berufskolleginnen, welche die Arbeit gegengelesen haben, bis hin zur Hilfe bezüglich Korrektur. Namentlich will ich hier aber nur zwei Personen erwähnen, meine Frau Franziska und unseren Sohn Nicolas (zwei Jahre). Diesen meinen Liebsten stand ich in letzter Zeit lediglich in sehr beschränktem Umfang zur Verfügung, umso mehr freut es mich nun diesbezüglich wieder mehr Zeit zu haben.

7. LITERATURLISTE

Bronfenbrenner, Urie (1989) Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Ungekürzte Ausg. Fischer Taschenbuch Verlag GmBH, Frankfurt am Main.

Flammer, August (2003) Entwicklungstheorien. Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung. 3., korrigierte Aufl. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen u.a.

Hähner, Ulrich (1999) Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.) Vom Betreuer zum Begleiter. 3. Aufl. Lebenshilfe Verlag, Marburg, 25-51.

Meyer, Peter C. (2000) Rollenkonfigurationen, Rollenfunktionen und Gesundheit. Zusammen- hänge zwischen sozialen Rollen, sozialem Stress, Unterstützung und Gesundheit. Leske und Budrich, Opladen.

Müller, Elisabeth (2000) Entwicklung: die ökologische Sichtweise. Unterrichtsunterlagen zum Fach Entwicklungspsychologie, Fachhochschule Aargau.

Oberholzer, Daniel (2003) Aktuelle Begriffliche Sprachregelungen. Fachhochschule Aargau.

Oberholzer, Daniel (2004) Fragen der Entwicklungsförderung - Systemische Entwicklungs- konzepte und Zugänge. Unterrichtsunterlagen zum Thema Entwicklungsbeeinträchtigung, Fachhochschule Aargau.

Schweitzer, Jochen (1998) Gelingende Kooperation. Systemische Weiterbildung in Gesund- heits- und Sozialberufen. Juventa Verlag, Weinheim/München.

Speck, Otto (1997) Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Erziehung. Ein heilpädago- gisches Lehrbuch. 8. Aufl. E. Reinhardt Verlag, München/Basel.

Theunissen, Georg/Lingg, Albert (1999) Wohnen und Leben nach der Hospitalisierung. Perspektiven für ehemals hospitalisierte und alte Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.

Wörterbuch Medizin (2000) Ungek. Ausg. der 2. neubearbeiteten und erw. Aufl. des Verlags Urban und Fischer. Deutscher Taschenbuchverlag, München.

8. ANHANG

Forschungsvorhaben

Der Wechsel von Lebenswelten und Lebensbereichen in der Behindertenhilfe

Ökologische Übergänge im Erwachsenenalter von Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen

Das Forschungsprojekt untersucht die Frage, ob erwachsenen Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen die Möglichkeit(en) zu einem mittelfristigen, resp. längerfristigen Wohnort- und Arbeitsortwechsel geboten werden könnte und sollte. Das Interesse liegt mit anderen Worten darin, herauszufinden, ob Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen, die bereits stationär in einer Organisation der Behindertenhilfe untergebracht sind, die Gelegenheit erhalten sollen, für ein halbes Jahr bis zu mehreren Jahren in eine andere Organisation der Behindertenhilfe ihrer Wahl umzuziehen und da diese Zeit zu verbringen.

Bis heute sind und bleiben erwachsene Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen meist zeitlebens in derselben Organisation untergebracht. In diese treten sie nach der obligatorischen Schulzeit und mit dem Verlassen des Elternhauses ein. Ein oder mehrere Wechsel des Wohn- und Arbeitsortes sind im Erwachsenenalter weder von gesellschaftlicher, kultureller noch von institutioneller Seite her vorgesehen. Dies ganz im Gegensatz zu den Lebenssituationen und Lebensläufen derjenigen Menschen in unserem Kulturkreis, die nicht oder nur leicht entwicklungsbeeinträchtigt und behindert sind. Hier gehören ein oder mehrere Wechsel des Wohn- und Arbeitsortes längst zur Normalbiographie.

Ausgehend vom Postulat der Normalisierung von Lebenssituationen könnte also argumentiert werden, dass auch Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen diese Möglichkeit(en) zugestanden werden müsste(n); dass der Ausschluss von solchen Möglichkeiten im Endeffekt weiterer ‚Behinderung’ gleichkommt. Andererseits muss aber auch kritisch vermerkt werden, dass nicht wenige der in diesem Sinne ‚nichtbehinderten’ Menschen unter den aktuellen an sie gestellten Anforderungen an Flexibilität, Mobilität oder generell unter dem Diktat gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Wandels leiden und nicht wenige sehen und fühlen sich von Diskontinuitäten und Entwurzelungen bedroht und erleben tiefgreifende Verunsicherungen, die ihre Handlungsfähigkeit in Frage stellen.

Wechsel zwischen Lebensbereichen und Lebenswelten können also nicht grundsätzlich als positiv für den betreffenden Menschen und seine / ihre Entwicklung gesetzt werden. Negative Effekte sind insbesondere da bekannt, wo solche Wechsel nicht oder nicht nur freiwillig erfolgen (müssen).

Erschwerend zeigt sich im Bereich der Behindertenhilfe, dass Wechsel nicht nur kaum vorkommen, sondern im alltäglichen Zusammenhang sogar negativ besetzt sind, weil sie meist erst dann diskutiert und realisiert werden, wenn die Zusammenarbeit zwischen der Organisation und den betreffenden Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen konflikthaft ist oder nicht mehr möglich scheint; also dann, wenn ein Mensch bspw. wegen zu grosser Verhaltensschwierigkeiten die Organisation verlassen muss oder soll. Damit entsteht der alltagslogische Sinnzusammenhang, dass Wechsel erst dann ins Auge gefasst und realisiert werden, ‚wenn es nicht mehr geht’. Wechsel werden unter dem Aspekt des Ausschlusses betrachtet und sind damit nicht erstrebenswert.

Aber auch individuell und gemeinschaftlich erwünschte Wechsel zwischen Lebensbereichen und -welten können negative Effekte nach sich ziehen, bspw. da, wo der subjektiv erlebte Verlust an mit den Lebensbereichen und -welten verbundenen Qualitäten grösser ist (scheint) als der mit dem Wechsel verbundene Gewinn an neuen, positiv erlebten Qualitäten.

Dieselbe Schwierigkeit einer einheitlichen Bewertung des Wechsels von Lebensbereichen und -welten zeigt sich auch in der Bestimmung des Entwicklungspotentials solcher Wechsel. Zwar kann entwicklungslogisch dargelegt werden, dass jeder Wechsel zwischen Lebensbereichen für jeden Menschen mit neuen Anforderungen und Möglichkeiten verbunden ist und damit ein bestimmtes Entwicklungspotential in sich trägt. Der betreffende Mensch erhält über und im Wechsel die Gelegenheit, sich von Neuem und neu mit sich und seinen Umwelten auseinanderzusetzen und gewinnt darüber ein immer differenzierteres Bild von sich und seinen Umwelten. Oder, negativ ausgedrückt, zeigt sich, dass sich Menschen in hoch routinisierten und ritualisierten Lebensbezügen, immer weniger mit kontingenten Lebensweisen auseinandersetzen, d.h. entsprechendes Entwicklungspotential tendenziell zu verlieren scheinen und sich gegenüber neuen Möglichkeiten und Ansprüchen eher abschliessen.

Dieses Potential, Neuem zu begegnen, sich mit Neuem auseinanderzusetzen und Neues zu lernen, wird in der Arbeit mit Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen bspw. in Ferienlagern nur allzu deutlich. Gerade in diesen ‚besonderen’ Situationen zeigen die betreffenden Menschen Interessen und Kompetenzen, die im routinierten und allzu gut bekannten Alltag in den Organisationen nicht zum Vorschein treten (können). Von diesem Standpunkt aus wären Wechsel von Lebensbereichen und -welten also grundsätzlich zu begrüssen.

Andererseits birgt jeder Wechsel nicht nur Entwicklungs-, sondern auch Kränkungspotential. Beispielsweise dann, wenn es einem Menschen nicht gelingt, sich in die neuen Lebensbereiche und -welten zu integrieren und wenn er / sie die Erwartungen und neuen Ansprüche an eine gelingende Partizipation nicht zu erfüllen vermag. Oder dann, wenn die mit dem Wechsel eines Lebensbereiches oder einer Lebenswelt verbundene Unsicherheit vom betreffenden Menschen nicht wieder in eine Konsolidierung der Lebenssituation und Versicherung überführt werden kann. In diesem Fall bleibt der betreffende Mensch verunsichert, was sich wiederum negativ auf sein / ihr Entwicklungspotential auswirkt1. Dementsprechend werden von theoretischer Seite solche Wechsel als kritische Lebensereignisse konzipiert, die immer ein entsprechendes Krisenpotential in sich tragen. Ob es schlussendlich zu einer Krise, resp. zu derer erfolgreichen Bewältigung kommt, hängt schlussendlich wieder von den Kenntnissen und den Handlungskompetenzen des betroffenen Menschen ab. Und gerade diese sind bei Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen zuweilen nur schwer zu bestimmen. Das erschwert im Endeffekt die Vorhersage von Entwicklungsverläufen (eines möglichen Wechsels) und das Bestimmen notwendiger Begleit- und Unterstützungsleistungen.

Diesen Umständen entsprechend wird das Forschungsprojekt die Fragen zu beantworten versuchen, welches die zu erwartenden positiven und negativen Effekte eines möglichen Wechsels von Lebensbereichen und Lebenswelten wären. Und, falls von positiven Effekten eines solchen Wechsels ausgegangen werden könnte, wie ein solcher Wechsel vorbereitet und realisiert werden müsste, damit die positiven Effekte auch erzielt werden können.

Schlussendlich bleibt festzustellen, dass das Bedürfnis nach solchen Wechseln auf Seiten der Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen noch nicht geklärt ist. Oder es muss mit anderen Worten festgehalten werden, dass von der überwiegenden Zahl aller erwachsenen Menschen im stationären Bereich der Behindertenhilfe bisher kein solches Bedürfnis formuliert wird.

Dabei ist aber die Frage nur schwer zu beantworten, warum dies nicht der Fall ist. Mögliche Gründe sind:

- Das Bedürfnis und der Wunsch besteht bei den betreffenden Menschen nicht.

- Das Bedürfnis kann von den betreffenden Menschen nicht verständlich ausgedrückt

werden. Bspw. weil sie Mühe haben, sich verbal auszudrücken oder weil ihre soziale Umwelt Mühe hat, solche (unter Umständen unerwarteten) Bedürfnisse als sprachliche Mitteilung zu verstehen.

- Die betreffenden Menschen zeigen zwar ein klares Bedürfnis, dieses wird aber von

ihren InteraktionspartnerInnen in den Organisationen und bei den Angehörigen nicht wahrgenommen, aus Angst oder eigener Unsicherheit verdrängt oder als unrealistisch eingestuft.

- Das Bedürfnis besteht nicht, weil den betreffenden Menschen die Möglichkeit eines

solchen Wechsels nicht bekannt ist, resp. dass entsprechende Bedürfnisse nicht geweckt sind (innere Isolation) und zuerst entwickelt werden müss(t)en.

- Dahinter könnte wiederum der Grund stehen, dass Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen eine Wahl des Wohn- oder Arbeitsortes abgesprochen wird,
- resp. dass gar keine Wahlmöglichkeiten bestehen (bspw. wenn das Angebot an Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten begrenzt ist),
- oder dass Angehörige oder professionelle HelferInnen möglichen Wechseln
aus den unterschiedlichsten Gründen kritisch gegenüber stehen und aus diesen Gründen mögliche Informationen nicht weitergeben.

- Das Bedürfnis kann nicht entwickelt werden, weil relevante (gesellschaftlich und kulturell legitimierte) Anlässe zu einem Wechsels fehlen (wie bspw. Heirat, Elternschaft, Scheidung, Ausbildung, Wechsel des Arbeitsortes u.a.)

Das Forschungsprojekt wird also auch den Fragen nachgehen, warum ein Bedürfnis oder eben kein Bedürfnis von Seiten der Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen formuliert wird. Dabei werden sich die ForscherInnen von der agogischen Setzung leiten lassen, dass jeder Mensch die lebenslange Möglichkeit besitzt, sich in der Auseinandersetzung mit sich und seinen Umwelten zu entwickeln und dass dementsprechend jedem Menschen die entsprechenden (Wahlmöglichkeiten) ermöglicht werden müssen.

Zusammenfassung:

Es ist das Ziel des Forschungsprojektes herauszufinden, ob erwachsenen Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen im stationären Bereich der Behindertenhilfe das Angebot eines mittel- oder längerfristigen Wechsels von Lebensbereichen und Lebenswelten (bspw. durch Wechsel der Organisation) gemacht werden soll.

Zur Erreichung dieses Zieles untersucht das Forschungsvorhaben folgende Fragestellungen:

Das Forschungsprojekt untersucht erstens die Frage, ob erwachsenen Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen aus entwicklungslogischer und agogischer Sicht die Möglichkeit zu einem mittelfristigen, resp. längerfristigen Wohnortund Arbeitsortwechsel geboten werden könnte und sollte.

Aufbauend auf den Erkenntnissen des ersten Schrittes wird das Forschungsprojekt zweitens die Grundlagen erarbeiten, wie positive Effekte durch den Wechsel von Lebensbereichen und -welten zu erzielen sind, resp. wie negative Effekte zu verhindern sind. Dabei sind insbesondere diejenigen Aussagen von Interesse, wie mögliche Wechsel in der Praxis vorbereitet, realisiert und ausgewertet werden können.

Das Forschungsprojekt wird drittens die Frage zu klären versuchen, ob auf Seiten der Menschen mit schwereren Entwicklungsbeeinträchtigungen und Behinderungen bereits ein Interesse am Wechsel von Lebensbereichen und -welten besteht. Und falls nicht - wo die Gründe für das Fehlen eines solchen Interesses liegen.

Das Forschungsprojekt wird viertens die Einstellungen und Haltungen anderer für einen Wechsel relevanter Bezugssysteme (Organisationen, professionelle HelferInnen, Angehörige) untersuchen und diese in den Zusammenhang mit den bereits vorliegenden Ergebnissen stellen.

Kann die Hauptfrage positiv beantwortet werden, so wird in einem zweiten Schritt ein Konzept zur Realisierung der beschriebenen Wechsel erarbeitet werden. Dieses soll dann in einem dritten und vierten Schritt in der Praxis implementiert und prozessevaluiert werden.

[...]


1 Schwere Entwicklungsbeeinträchtigung: Jemand ist in einer oder mehreren Entwicklungsdimensionen (z.B. Kognition, Wahrnehmung, Motorik, . . . ) derart stark beeinträchtigt, dass er/sie deswegen in der gesamten Entwicklung (lebenslange Entwicklung) stark handicapiert ist (vgl. Oberholzer 2003).

2 Ein Forschungsvorhaben der Fachhochschule Aargau über den „Wechsel von Lebenswelten und Lebensbereichen in der Behindertenhilfe“, Näheres siehe Anhang.

3 Für Menschen mit gewissen spezifischen Beeinträchtigungen wurden hingegen, je nach Land (z.B. Gehörlose in Frankreich), schon früh spezifische Einrichtungen geschaffen.

4 »Bei Bronfenbrenner sind offensichtlich folgende Termini synonym: Tätigkeit, Aktivität, molare Tätigkeit, molare Aktivität« (Flammer 2003: 207).

5 Im Gegensatz dazu nennt er kurz dauernde, relativ zufällige Tätigkeiten, die seines Erachtens für die Entwicklung nicht von Bedeutung sind, molekulare Tätigkeiten (vgl. Bronfenbrenner 1989: 61).

6 Dyade wohl deshalb, weil mindestens zwei Personen miteinander in Beziehung stehen. Grössere, mehr als zwei Personen umfassende Systeme nennt Bronfenbrenner N+2-Systeme (vgl. Bronfenbrenner 1989: 83).

7 Ein Kooperationsangebot (z.B. Jemanden zu etwas auffordern) ermuntert zu einer Reaktion. Nicht mitmachen, resp. sich verweigern ist auch eine Reaktion, eine im Sinne von nicht kooperieren. Schweitzer selbst sagt, dass er eine weite Begriffsdefinition verwendet, »die auch konflikthafte, konkurrenzbetonte, absichtslose, und kontraproduktive Formen von Kooperation einschliesst« (Schweitzer 1998: 215).

8 »Die Präzisierung erfolgt deswegen, weil schlussendlich jede Bestimmung von Qualität auf bestimmte

Wertsysteme verweist, die sich wiederum auf gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Setzungen beziehen - also wiederum überindividuell sind« (Oberholzer 2004: 11).

9 Neu im Sinne von nie dagewesen aber auch neu im Sinne von altbekanntem Mikrosystem das erneut reali- siert wird.

10 Risakant-kontingentes Muster nach Oberholzer.

11 Wird keine Gelegenheit der „Versicherung“ gewährt, bleibt das Individuum entsetzt und verunsichert. Werden ebenfalls keine Angebote der Auseinandersetzung offeriert und zeigt das Individuum wenig Eigeninitiative, besteht die Gefahr von »zur Abgeschlossenheit tendierenden Mikrosystemen«, die isolierend und entwicklungshemmend wirken (vgl. Oberholzer 2004: 23).

12 Ich wähle hier bewusst nicht den Begriff Lebensbereich, weil ich nicht einen Lebensbereich, sondern mehrere zusammengehörende meine. Zwar ist auch der Begriff Lebenswelt nach soziologischer Definition nicht ganz passend, trotzdem gebrauche ich ihn. Ich will ihn hier aber in erster Linie verstanden wissen als eine gewisse örtliche Umgebung mit den dazugehörenden Personen und natürlich auch mit den dort herrschenden Werten und Normen.

13 Dieser Tendenz der Routine und Langeweile wird von den professionell Helfenden, durch immer wieder neue Angebote der Auseinandersetzung, entgegengewirkt. Trotzdem, je länger jemand derselben Umwelt ausgesetzt ist, desto vertrauter wird sie ihm und deshalb evtl. langweilig.

14 Diese Präzisierung scheint mir nötig, weil eine „fremdbestimmte“ Umplatzierung den meisten bekannt sein dürfte, z.B. vom Schulheim ins Wohnheim, oder eine Umplatzierung, weil jemand als nicht mehr trag- fähig gilt.

15 Damit verweise ich erneut darauf, dass m.E. viele Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigung gegen ihren Willen platziert werden. Zum einen besteht nur wenig Auswahl an geschützten Wohnplätzen und zum andern werden sie aus organisatorischen Gründen umplatziert oder weil sie an einem Ort als nicht mehr tragbar gelten.

16 Bei einer schweren Entwicklungsbeeinträchtigung muss aber nicht zwingend eine kognitive Beeinträchtigung vorliegen (vgl. Oberholzer 2003: 1).

17 Je unbekannter etwas ist, desto grösser der Neuigkeitswert und desto grösser dadurch die Verunsicherung.

18 In späteren Kapiteln werde ich auf diese Bezugs- resp. Begleitperson zurückkommen.

19 Das heisst nicht, dass ich Wechsel zwischen unterschiedlichen Typen von Organisationen ausschliesse, aber dass jene noch viel mehr begleitende und unterstützende Massnahmen (auf die ich später noch zu sprechen kommen werde) benötigen als ein Wechsel zwischen möglichst ähnlichen Organisationen.

20 Primäre Lebensbereiche sind für die sich entwickelnde Person wichtige, prägende Lebensbereiche wie z.B. Familie oder Arbeitsplatz (vgl. Bronfenbrenner 1989: 261).

21 Unter Entwicklungsbahn versteht Bronfenbrenner »die dauerhaften individuellen Motivations- und Tätigkeitsmuster« (Bronfenbrenner 1989: 261), die in einem Primär-Lebensbereich gebildet und in andere Lebensbereiche übertragen werden können.

22 Besagte Massnahmen sind ganz unterschiedlich und werden teilweise auch in anderen Kapiteln abgehandelt, weil sie mir dort passender scheinen.

23 Inwieweit eine Organisation der Behindertenhilfe ein Makrosystem darstellt, ist Willkür. Ich denke aber, dass die in einer Organisation herrschenden Normen und Werte die Klientel stärker beeinflussen als die ausserhalb dieses geschützten Rahmens.

24 In diesem geschilderten Beispiel ein »Person-Rollen-Konflikt«. Dieser beruht nach Meyer auf einem »Widerpruch zwischen den persönlichen Zielen und Werthaltungen einer Person und bestimmten Rollenerwartungen ihres Rollenhaushaltes« (Meyer 2000: 42).

25 Nach Meyer bezeichnet »Rollenhaushalt [. . .] die Summe aller von einem Individuum übernommenen sozialen Rollen [. . .] der Begriff ›Rollenhaushalt‹ ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff ›Roll-Set‹, der die verschiedenen Rollensektoren einer bestimmten sozialen Rolle umfasst« (Meyer 2000: 25).

26 Meine Erfahrung zeigt mir, dass nur wenige Klienten und Klientinnen mehrheitlich der Versicherung dienliche Angebote brauchen. Das Gross der Klientel realisiert, die ihr der Entspannung und Reorganisation dienenden Mikrosysteme selbständig.

27 Ein anderer oft verwendeter Ausdruck ist Förderplanung.

28 »rhythmisches Sichhinundherwerfen [. . .] oder ein entsprechendes Kopf- oder Gliederwerfen« (Wörterbuch Medizin 2000: 367).

29 »Dabei sind solche Verhaltensweisen nicht ohne weiteres als ›Versicherungsbemühungen‹ zu erkennen, werden doch konflikthafte Verhaltensweisen zumeist als ›Auseinandersetzungen‹ zwischen Interaktionspartnern wahrgenommen und bewertet. Die hier gemeinten Auseinandersetzungen dienen aber der Stabilisierung eines oder beider Interaktionspartner [. . .]« (Oberholzer 2004: 29).

30 Damit meine ich ein nicht internalisiertes Verhalten, das nur bei gewissen Begebenheiten gezeigt wird, z.B. auf Grund von Belohnung oder Bestrafung.

31 Trotz Rückkehr werde ich an den bisherigen Begriffen „Herkunftsorganisation“ und „neue Organisation“ festhalten. Das heisst, mit neuer Organisation bezeichne ich weiterhin die Organisation, in welcher der Klient, die Klientin den zeitlich befristeten Aufenthalt verbracht hat.

32 »Ökologische Validität oder Gültigkeit bezeichnet das Ausmass, in dem die von den Versuchspersonen einer wissenschaftlichen Untersuchung erlebte Umwelt die Eigenschaften hat, die der Forscher voraussetzt« (Bronfenbrenner 1989: 46).

33 Die Veränderung betrifft nicht nur Personen. Vielleicht werden Konzepte, Leitbilder etc. auf Grund der Erfahrungen verändert.

34 Zu einem biographischen Ereignis kann es in einzelnen Fällen auch für andere Person werden. Beispielsweise für ein Klienten, eine Klientin, die in sehr enger Beziehung zu der nun abwesenden Person stand. Die Trennung kann derart belastend und prägend wirken, dass es ebenfalls einem markanten Ereignis gleichkommt, resp. einen biographischen Übergang darstellt.

35 Für eine Umsetzung braucht es zumindest Klienten und Klientinnen, die solche befristete Organisationswechsel machen wollen.

1 Vielleicht liegt hier ein Grund, warum von Seiten professioneller HelferInnen oder von Angehörigen immer wieder sichere und konstante Lebenssituationen für Menschen mit Entwicklungsbeeinträchtigungen gefordert werden.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Mittel- bis längerfristige Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung unter systemökologischer Betrachtung
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
81
Katalognummer
V109495
ISBN (eBook)
9783640076765
Dateigröße
774 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mittel-, Wechsel, Wohnung, Arbeitsplatz, Menschen, Entwicklungsbeeinträchtigung, Betrachtung
Arbeit zitieren
Eugen Bürgler (Autor:in), 2004, Mittel- bis längerfristige Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung unter systemökologischer Betrachtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109495

Kommentare

  • Gast am 7.2.2006

    Ergänzung.

    Gewisse Sätze scheinen bei dieser Arbeit nich in den Textfluss zu passen. Dies deshalb, weil im Original diverse Kernsätze mittels Kästchen hervorgehoben sind, in dieser Version aber diese Kästchen fehlen, resp. die Kernsätze nicht graphisch hervorgehoben sind. (der Verfasser)

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Titel: Mittel- bis längerfristige Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz bei Menschen mit schwerer Entwicklungsbeeinträchtigung unter systemökologischer Betrachtung



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