Nationalsozialistische Konzentrationslager: Entwicklung und Funktion


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1994

20 Seiten


Leseprobe


Walter Grode

NATIONALSOZIALISTISCHE KONZENTRATIONSLAGER ENTWICKLUNG UND FUNKTION

(Erschienen in: Ders.: >Nationalsozialistische Moderne<. Rassenideologische Modernisierung durch Abtrennung und Zerstörung gesellschaftlicher Peripherien, Frankfurt a.M. 1994, Kapitel III)

Die Konzentrationslager waren während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft ein zentraler Bestandteil des zwangsweisen Formierungs- und Unterdrückungssystems. In späteren Jahren dienten sie der Inhaftierung von aus sozialen und rassistischen Gründen Verfolgter; ihre Entstehung aber verdanken sie der Notwendigkeit der Zerschlagung der politischen Opposition.

Zerschlagung der politischen Opposition

Die Vernichtung der politischen Linken auf Geheiß nicht nur der NS-Führung, sondern auch der konservativen Eliten, bildete 1933 die erste Phase eines doppelten Prozesses der Zerschlagung der Opposition, der schließlich in der Auflösung der bürgerlichen Parteien und der Errichtung der Einparteienherrschaft am 14. Juli 1933 gipfelte.

Die vorhandene Maschinerie der Präsidialerlasse der Weimarer Republik genügte, um am 4. Februar 1933 oppositionelle Zeitungen und Versammlungen, die sich gegen den neuen Staat richteten, zu verbieten. Derartige Maßnahmen waren bereits vor Hitlers Machtübernahme von den Behörden geplant worden. Im Wahlkampf von 1933 wurden diese Machtbefugnisse vor allem gegen die Kommunisten voll ausgenutzt. Mitte Februar wies Göring die preußische Polizei an, die paramilitärischen NS-Verbände zu unterstützen, und versprach seine volle Rückendeckung, wenn von der Schußwaffe Gebrauch gemacht würde, um "dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen" ein Ende zu setzen.1 Die Orgie der Gewalt von nationalsozialistischen Schlägertrupps gegen Kommunisten und Sozialisten wurde noch weiter sanktioniert, als 50.000 Angehörige der SA, SS und des Stahlhelms (die man als >nationale Verbände< titulierte) in Preußen offiziell zu Hilfspo- lizisten gemacht wurden.2 Appelle der Zentrumspartei an Hindenburg, "den unglaublichen Zuständen ein Ende zu bereiten", bewirkten schließlich, daß Hitler und Göring zu mehr Disziplin mahnten.3

Hitler achtete in diesen Wochen sorgsam darauf, nichts zu tun, was die Zusammenarbeit mit seinen konservativen Partnern gestört hätte. Der Reichstagsbrand am Abend des 27. Februar 1933 bot ihm dann Gelegenheit, ihre Positionen weiter zu schwächen und seine eigene Macht be- trächtlich zu stärken.

Als das Kabinett am folgenden Tag zusammentrat war ein Haupttagesordnungspunkt die Beratung einer Notverordnung, die Innenminister Frick in aller Eile entworfen hatte. Hier wurde der Artikel 48 der Weimarer Verfassung benutzt, um auf unbestimmte Zeit alle persönlichen Rechte und Freiheiten aufzuheben, wie zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Vereins- und Versammlungsrecht sowie die Pressefreiheit. Es war nun möglich, politische Gegner ohne Gerichtsentscheid zeitlich unbegrenzt zu inhaftieren, ohne daß - wie bisher gesetzlich vorgeschrieben - eine mit Strafe bedrohte Handlung vorlag und die Verhafteten der Justiz zugeführt wurden.4 Im März und April wurden allein in Preußen 25.000 Personen in >Schutzhaft< genommen.5 Durch die Reichstagsbrandverordnung (die sog. >Verordnung zum Schutze von Volk und Staat<) wurde also ein Ausnahmezustand eingeleitet, der praktisch so lange wie das Hitlerregime selbst andauerte.6 Er war für die Konsolidierung der Macht Hitlers von entscheidender Bedeutung.

In den nächsten Wochen ging es wesentlich darum, die organisierte Linksopposition zu beseitigen und die verbliebenen nicht-nationalsozialistischen politischen Organisationen zu unterwerfen. Nach der Wahl vom 5. März 1933 (bei der die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen gewann und ihre nationalistischen Partnerparteien weitere 8 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten) führte die Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Ländern, die bis dahin noch nicht von den Nazis kontrolliert worden waren, zu einer drastischen Eskalation der Gewalt. Unzählige politische Gegner wurden in hastig errichteten SA-Gefängnissen und -Lagern geschlagen, gefoltert und ermordet. Um die Bedenken von Konservativen im In- und Ausland zu zerstreuen, appellierte Hitler öffentlich an die SA, die Belästigung von Einzelpersonen und die Störung des Wirtschaftslebens zu beenden, rief aber weiterhin offen zur "Ausrottung des Marxismus" auf und reagierte hinter verschlossenen Türen auf schwache Proteste der Konservativen gegen die Gewalttätigkeiten mit Hohn und Verärgerung.7

Am 20. März kündigte der zum Münchener Polizeipräsidenten avancierte SS-Chef Himmler die Errichtung des ersten Konzentrationslagers in der Nähe von Dachau an. Ähnliche Lager zur Aufnahme von politischen Gefangenen - überwiegend Kommunisten und Sozialisten - entstanden nun in rascher Folge an zahllosen Orten in Deutschland. Als am 23. März im Reichstag gegen die Stimmen der SPD, aber mit Unterstützung der katholischen Zentrumspartei das von Hitler gewünschte Ermächtigungsgesetz (das sog. >Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich<) verabschiedet wurde (mit dessen Hilfe die Regierung von nun an Gesetze beschließen konnte, ohne dazu den Reichstag einschalten oder vom Reichspräsidenten entsprechende Notverordnungen einholen zu müssen), waren die kommunistischen Abgeordneten entweder eingesperrt oder geflohen und die KPD in den Untergrund gedrängt worden. Zu einem formalen Verbot der Kommunistischen Partei ist es nie gekommen; es wäre auch irrelevant gewesen.

Die KPD hatte Hitler und die Nationalsozialisten von Anfang an stark unterschätzt. Jeder Gedanke an einen offenen Widerstand gegen das neue Regime durch einen Generalstreik erwies sich rasch als aussichtslos. Und obwohl die Partei Vorbereitungen für eine Widerstandsarbeit im Untergrund getroffen hatte, wurde sie von der Schnelligkeit und Grausamkeit der nationalsozialisti- schen Repressionsmaßnahmen nach dem Reichstagsbrand vollkommen überrascht. Zwar wurde die Opposition im Untergrund dank des aufopferungsvollen Einsatzes zahlreicher Parteimitglieder, trotz brutaler Unterdrückung, niemals völlig zum Schweigen gebracht, aber als politische Kraft wurde die Kommunistische Partei im Februar und März 1933 effektiv zerstört; danach stellte sie für die nationalsozialistischen Machtgelüste keine echte Bedrohung mehr da.8

Inzwischen war die einst mächtige SPD - trotz ihres letzten mutigen Aufbäumens gegen die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes - ebenfalls am Ende. In den ersten Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hatten sich die SPD, der Reichsbanner (ihre paramilitärische Massenorganisation) und die Gewerkschaften äußerst vorsichtig verhalten, um keinen Anlaß für Repressionsmaßnahmen zu bieten. Doch all das war vergebens. Der Reichsbanner wurde im März/April zur Auflösung gezwungen. Und die Gewerkschaften, die sich noch im März bereit erklärt hatten, ihre Bindungen zur SPD zu lösen und mit der neuen Regierung loyal zusammenzuarbeiten, wurden am 2. Mai aufgelöst. Die SPD selbst bestand offiziell noch fort, bis sie am 22. Juni 1933 verboten wurde. Doch viele ihrer Mitglieder gaben die Sache gezwungenermaßen schon im März oder April verloren. Zahlreiche Orts- und Bezirksverbände hörten auf zu bestehen; führende Sozialdemokraten gingen ins Exil;9 viele Mitglieder und Funktionäre leisteten Widerstand,10 wurden verhaftet, und zahllose andere versuchten, sich still und unauffällig zu verhalten. In weiten Teilen der Partei herrschten Angst, Verwirrung und Entsetzen. Viele Genossen waren von der Sozialdemokratie zutiefst enttäuscht.

Die liberalen Parteien (DDP/Staatspartei und DVP) lösten sich Ende Juni selbst auf. Die nationalsozialistischen Koalitionspartner, die seit der Wahl im März zunehmend unter Druck gerieten, gaben ihre eigenständige Organisation um ungefähr die gleiche Zeit auf. Die ka- tholische Zentrumspartei und ihr bayerischer Ableger, die BVP, hielten sich bis Anfang Juli 1933.

Geschichte und Entwicklung des NS-Konzentrationslagersystems

Die Geschichte der Konzentrationslager läßt sich in drei Perioden gliedern:

In der ersten Periode von 1933 bis 1936 dienten die Lager vor allem dazu, die inneren politischen Gegner des Systems auszuschalten, insbesondere die Mitglieder der verbotenen Organisationen der Arbeiterbewegung. Die ersten besonderen Haftstätten für politische Häftlinge entstanden nach den Razzien, die auf den Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 folgten. Vor allem Angehörige der Kommunistischen Partei Deutschlands, nach ihrem Verbot am 2. Mai bzw. 21. Juni 1933 auch der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei, wurden von Polizei, SA und SS in sogenannte >vorbeugende Schutzhaft< genommen. Nach den ersten Verhaftungswellen befanden sich Ende Juli 1993 etwa 27.000 Personen in >Schutzhaft<.11 Die Polizei- und Justizbehörden der Länder sowie SA- und SS-Einheiten richteten für die große Zahl der politischen Häftlinge besondere Haftlager ein.

In den Anfangsmonaten wurden die >Schutzhäftlinge< zumeist in Kasernen, leere Fabrikgebäuden, Justizanstalten oder auch alte Burgen gesperrt, die vorwiegend in Großstädten und Industriegebieten oder in deren Nähe lagen. Wesentlich seltener waren in dieser Zeit noch die Barackenlager wie Dachau oder Esterwegen im Emsland, die später zur Regelform der Konzentrationslager wurden. Der Häftlingsalltag in den "wilden" Konzentrationslagern der Anfangszeit, die man vereinfacht auch als SA-Lager charakterisieren könnte, war durchweg durch die individuelle Brutalität des KZ-Personals geprägt. Diese Brutalität war jedoch noch "kein durchorganisiertes kaltes System, das die Massen erfaßte."12

Die Anzahl dieser frühen KZ ist bisher nicht genau bestimmbar. Allein in Preußen bestanden mehr als 20 solcher Gefängnisse für >Schutzhäftlinge<. Sie wurden im Frühjahr 1934 der Leitung von SS-Chef Himmler unterstellt, in dessen Händen auch die Führung der Politischen Polizei in den einzelnen Ländern des Reiches lag. Polizei- bzw. Justizbehörden und SA wurde damit die Aufsicht über die KZ-Häftlinge entzogen.

Am 4. Juli 1934 ernannte Himmler Theodor Eicke, den Kommandanten des KZ Dachau, zum Inspekteur der Konzentrationslager und SS-Wachverbände. Die Wachverbände wurden nach ihren Uniformabzeichen auch >Totenkopfverbände< genannt.13 Eicke legte den Tagesablauf der Ge-fangenen ebenso fest wie die Strafmaßnahmen und die Aufgaben der SS-Wachen. Er betonte dabei ein "angemessenes" Verhältnis zwischen den Wachen und den Gefangenen. Eickes System wurde mit Abwandlungen auf alle anderen Konzentrationslager übertragen, und viele seiner Untergebenen besetzten später Schlüsselpositionen in diesen Lagern. Die >Inspektion der Konzentrationslager< gehörte organisatorisch zum SS-Hauptamt unter SS-Gruppenführer August Heißmeyer, handelte aber weitgehend selbständig. Die meisten der kleinen im Jahr 1933 er- richteten Schutzlager wurden nun aufgelöst. Im September 1935 galten als offizielle Konzentrationslager Dachau, Lichtenburg (an der Elbe in Sachsen), Sachsenburg, Esterwegen, Oranienburg und Columbus-Haus (bei und in Berlin). In ihnen waren bis zu 9.000 Häftlinge unterge- bracht.14

Ab Herbst 1933 wurden auch andere als "politische" Häftlinge in die Konzentrationslager eingeliefert, wie z.B. mehrfach Vorbestrafte, sogenannte Berufsverbrecher sowie Landstreicher und Bettler, die die Nationalsozialisten als >Asoziale< bezeichneten.15 Der Anteil der politischen Häftlinge sank bis 1936 dadurch auf etwa 75 Prozent. Zeitweilig wurde in der NS-Hierarchie disku- tiert, ob das Lagersystem auch angesichts der Konsolidierung des Regimes aufrechterhalten werden solle. Hitler machte der Diskussion ein Ende, indem er die Befürworter der Konzentrationslager unterstützte. Die Zahl der Häftlinge nahm 1935 und 1936 ab, stieg jedoch später wieder an, als neue Gefangenenkategorien - wie die >Asozialen< - hinzukamen.

Vorbereitung und Durchführung des Krieges führten zwischen 1936 und 1942 zu einer Ausweitung des Konzentrationslagersystems. Die Lager der ersten Periode wurden mit Ausnahme von Dachau aufgelöst (bzw. anderen Bestimmungen übergeben) und durch neue, größere, ersetzt: 1936 Sachsenhausen, 1937 Buchenwald, 1938 Mauthausen, Flossenbürg, 1939 das Frauenkonzentra-tionslager Ravensbrück, 1940 Auschwitz, 1941 Natzweiler-Struthof; im Juni 1940 wurde das bisherige Außenlager von Sachsenhausen, Neuengamme, selbständiges Lager, ebenso im Mai 1941 Groß-Rosen; im Februar 1942 wurde das Lager Stutthof, das bisher dem >Höheren SS- und Polizeiführer< in Danzig unterstand, Konzentrationslager. Dachau wurde mit Beginn der zweiten Periode auf ein Fassungsvermögen von etwa 6.000 Häftlingen vergrößert. Neben diese offiziell als >Konzentrationslager< bezeichneten Haftstätten traten noch andere, von der Sicherheits-polizei, der Justiz oder auch privaten Firmen unterhaltene >Strafarbeits<- und >Erziehungs<-Lager.16

Im Juni 1936 übernahm Himmler das neugeschaffene Amt eines >Chefs der Deutschen Polizei<. Im Oktober 1939 wurden Kriminalpolizei und Politische Polizei (Gestapo), in deren Verantwortung die Verhaftung und Einlieferung von Konzentrationslager-Häftlingen lag, als Sicherheitspolizei im Reichssicherheitshauptamt zusammengefaßt.17 In seiner Funktion als Polizeichef setzte Himmler die verstärkte Einlieferung nichtpolitischer Häftlinge durch, vor allem von mehrfach Vorbestraften, von Personen ohne festes Arbeitsverhältnis und ohne festen Wohnsitz (Landstreicher, Bettler, >Zigeuner<) sowie von Homosexuellen und Prostituierten. Die administrativen Grundlagen für diese Maßnahmen bildeten ein Runderlaß des >Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei< vom 26. Januar 1938,18 ein Schnellbrief des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) vom 1. Juni 1938,19 und abschließend die RKPA-Erlaßsammlung >Vorbeugende Verbre-chensbekämpfung< vom Dezember 1941.20

Mit den umfangreichen Einlieferungen nichtpolitischer Häftlinge, die 1937 und 1938 einen Höhepunkt erreichten, verfolgte die SS-Führung auch wirtschaftliche Ziele. Der Vierjahresplan, der Wehrmacht und Wirtschaft auf den Krieg vorbereiten sollte, führte insbesondere im Baugewerbe schnell zu einem Arbeitskräftemangel.21 Die SS versuchte daher, die Arbeitskraft der Konzentrationslagerhäftlinge für militärische und zivile Bauvorhaben des Regimes zu nutzen und so ihre eigene Stellung zu stärken.22 Den ab 1937 neuangelegten Lagern gliederte sie in der Regel Steinbrüche oder Ziegeleien an, in denen Häftlinge arbeiteten. Die SS gründete hierfür ei-gene Wirtschaftsunternehmungen. Eine weitere Kategorie bildeten die jüdischen Häftlinge, die ab Sommer 1938 und vor allem nach den Pogromen der >Reichskristallnacht< allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit in die Lager gebracht wurden.

Durch die verstärkte Einlieferung nichtpolitischer Häftlinge sowie die allgemeine Verschärfung der Verfolgung im Lauf der Kriegsvorbereitung stiegen die Häftlingszahlen in der zweiten Phase. Bei Kriegsbeginn befanden sich wiederum fast 25.000 Gefangene in den Konzentrationslagern. Nach Kriegsbeginn nahmen die Einlieferungszahlen noch einmal dramatisch zu und überstiegen die vorhandene Unterbringungskapazität, so daß die Lager zum Teil katastrophal überbelegt waren. Zur Jahreswende 1941/42 betrug die Zahl der Konzentrationslagerhäftlinge ungefähr 60.000. Bereits nach dem >Anschluß< im März 1938 waren Häftlinge aus Österreich, später aus den dem Reich angegliederten Gebieten der Tschechoslowakei eingeliefert worden. Jetzt folgten Häftlinge aus allen besetzten Ländern, die weitaus meisten aus Polen. In der Regel handelte es sich um politische oder jüdische Häftlinge. Doch waren insbesondere in Polen die Razzien gegen wirkliche oder vermeintliche Widerstandskämpfer so umfassend,daß alle Bevölkerungsschichten unabhängig von konkreten politischen Manifestationen oder Einstellungen betroffen waren.23

Nach Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion wurden auch sowjetische Kriegsgefangene in Konzentrationslager eingeliefert. Die meisten wurden im Rahmen der Vernichtungsmaßnahmen des >Kommissarbefehls< in eigens eingerichteten Erschießungsanlagen sofort ermordet. Allein in Buchenwald und Sachsenhausen sind bis zum Frühjahr 1942 etwa 21.500 sowjetische Kriegsgefangene erschossen worden. Inzwischen war in Auschwitz I (dem Stammlager) eine kleine Gaskammer installiert worden, in der "Experimente" mit Zyklon B durchgeführt wurden. Bei diesen Experimenten wurden etwa 600 sowjetische Kriegsgefangene und 250 andere Gefangene ermordet.24 Insgesamt kamen in Auschwitz und im >Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS< Lublin (dem späteren Konzentrationslager Majdanek) durch Erschießen und katastrophale Haftbedingungen bis zum Mai 1942 etwa 15.000 sowjetische Kriegsgefangene um.

In der dritten Periode von 1942 bis 1944/45 wurden die Konzentrationslagerhäftlinge systematisch in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Die hohen Verluste, insbesondere an der Ostfront, zwangen die nationalsozialistische Führung immer mehr deutsche Arbeitskräfte für die Wehrmacht abzuziehen. Diese wurden weitgehend durch Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten und - allerdings zu einem weitaus geringeren Teil - durch Konzentratinslagerhäftlinge ersetzt. Zuvor war die Arbeit in den Konzentrationslagern eine Strafmaßnahme gewesen, die die Gefangenen demütigen und durch Überarbeitung zum Tode führen sollte. Nun vereinbarte die SS mit Rüstungsminister Speer, daß staatlichen und privaten Firmen, die Arbeitskräfte für bestimmte Rüstungsaufträge benötigten, KZ-Häftlinge gestellt wurden.

Hierzu ließ das neu geschaffene SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt vor allem in den Jahren 1943 und 1944 in der Nähe der entsprechenden Industriebetriebe eine Vielzahl von Außenlagern anlegen, die den alten Hauptlagern unterstellt wurden. 24 a

Haftbedingungen und Lageralltag

Die Haftbedingungen in den Konzentrationslagern waren von Periode zu Periode und von Lager zu Lager sehr unterschiedlich.25 In der ersten Periode betrug die Haftdauer selten mehr als ein Jahr. Unterbringung, Ernährung und Arbeit waren im Vergleich zu späteren Jahren erträglich. Todesfälle waren meist auf Mißhandlungen oder Erschießungen mißliebiger Häftlinge durch SS und SA zurückzuführen.

Mißhandlungen, vor allem beim Arbeitseinsatz, primitive Arbeitsbedingungen mit schwersten körperlichen Anforderungen, unzureichende Ernährung und überfüllte Häftlingsbaracken führten in der zweiten Periode zu einem ständigen Anstieg der Sterblichkeitsrate. Besonders betroffen waren hiervon die polnischen, russischen und jüdischen Häftlinge. Aber auch die sogenannten Spanien- kämpfer, die auf republikanischer Seite am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatten und vor allem in Mauthausen inhaftiert waren, hatten in den Jahren 1940 bis 1942 nur eine geringe Chance, das Lager zu überleben. Dachau hatte bis Kriegsbeginn die relativ besten Bedingungen; Mauthausen, das als Straflager zur strengsten Kategorie III zählte, wahrscheinlich die schlechtesten. Das SS-WVHA hatte drei Stufen von Konzentrationslagern geschaffen. Stufe I (Arbeitslager) stellte die mildeste Form dar. Stufe II eine Verschärfung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse, Stufe III, die "Knochenmühlen, die man nur in den seltensten Fällen lebend verließ."26 Die nie voll verwirklichte Absicht der Gestapo war es, alle Kriminellen, Homosexuelle, Juden und besonders gefährlich erscheinende politische >Schutzhäftlinge<, gleichgültig welcher Nation, in ein Lager der Stufe III einzuweisen.

Dachau war also, was die Aufbauphase des KZ-Systems angeht, ein Modellprojekt, andererseits jedoch in mancher Hinsicht ein Sonderfall. So war in Dachau als Teil der Grundlagenforschung einer >Neuen Deutschen Heilkunde<27 eine umfangreiche Plantage zur Kultur von Heilkräutern aufgebaut worden.28 Vom 27. Oktober 1939 bis 18. Februar 1940 war Dachau von Häftlingen geräumt und diente als Ausbildungsstätte für die Waffen-SS. Danach nahm es vor allem körperlich geschwächte Häftlinge aus anderen Lagern auf. Daher erhöhte sich auch in Dachau die Todesrate erheblich.

Trotz der steigenden Häftlingszahlen besserten sich im Laufe des Jahres 1943 die Lebensverhältnisse für die Masse der Häftlinge geringfügig, die Unterschiede zwischen den Lagern verringerten sich. Denn der Einsatz der Häftlinge in der Rüstungsindustrie zwang die SS bzw. die betreffenden Firmen zu einer besseren Behandlung und ausreichender Ernährung. Dies traf jedoch nur für Häftlinge auf Arbeitsplätzen zu, die technisches oder handwerkliches Können verlangten. Bei den zahlreichen Bauvorhaben machte sich die generelle Senkung der Sterb- lichkeitsrate nicht bemerkbar. Auch für Majdanek und Auschwitz traf sie nur bedingt zu. Besonders im für die jüdischen Häftlinge eingerichteten Lagerteil Auschwitz-Birkenau blieb sie extrem hoch. Im Gesamtlager sank sie z.B. von 15 Prozent im März 1943 bis auf 3 Prozent im August. Während der Phase der Auflösung der Lager kam es noch einmal zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate.

Die Zahl der Toten in den Konzentrationslagern insgesamt (abgesehen von den Vernichtungslagern) läßt sich nur schätzen. Einzeln dokumentiert sind bisher über 450.000 Todesfälle.29 Anzunehmen ist aber eher eine Zahl von 700.000 bis 800.000. Die Schätzung von Eugen Kogon aus dem Jahre 1946, 30 von 1,2 Millionen Toten dürfte zu hoch sein. Dagegen dürfte seine Berechnung, es habe insgesamt 1,6 Millionen Konzentrationslagerhäftlinge gegeben, einen brauchbaren Richtwert darstellen. Den bisher bekannten höchsten Häftlingsgesamtstand zu einem bestimmten Zeitpunkt verzeichnete die SS im Januar 1945 mit 714.211 Personen.31

Die SS schrieb den Tagesablauf der Häftlinge bis ins kleinste Detail vor. Vergehen gegen die Lagerordnung wurden scharf geahndet, u.a. mit Prügelstrafe, Einzelhaft oder Essensentzug.32 Die SS übertrug Häftlingen Aufgaben in der Überwachung der Mithäftlinge und in der Verwaltung der Lager (Stuben-, Block- und Lagerälteste; und sog. Kapos - Häftlinge, die den Arbeitskommandos vorstanden). Häftlinge waren in der Lagerküche, im Krankenbau und in der Schreibstube beschäftigt. Von der Art der Ausübung dieser Funktionen hing für die Gesamtheit viel ab. Manche der sogenannten Funktionshäftlinge verhielten sich nicht weniger brutal als die SS und nutzten die ihnen übertragenen Aufgaben zu ihrem eigenen Vorteil. Andere versuchten, den SS-Terror zu mildern und bedrohte Häftlinge zu schützen. Die Beurteilung der Funktionshäftlinge variiert in der Erinnerungsliteratur und ist stark von den jeweiligen eigenen Erfahrungen geprägt.33

Die SS teilte die Häftlinge je nach nationaler Herkunft und nach Einlieferungsgrund in verschiedene Kategorien ein, denen sie unterschiedliche Haftbedingungen und damit unterschiedliche Überlebenschancen zumaß. Die Kategorien waren durch verschiedenfarbige Abzeichen, meist in Form von Dreiecken, an der Häftlingskleidung kenntlich gemacht. Um einflußreiche Funktionen rivalisierten vor allem Häftlinge aus der Gruppe der >Politischen< (die >Roten<) und der >Kriminellen< (die >Grünen<). Die deutschen Häftlinge standen in der Regel an der Spitze der internen Lagerhierarchie. In Auschwitz spielten auch politische Häftlinge eine wichtige Rolle. Für sowjetische oder jüdische Häftlinge - unabhängig von ihrer Nationalität - war es nahezu unmöglich, Funktionen zu erhalten.

Arbeit und Terror

Die Absolute Macht der SS, so zeigt bereits Eugen Kogons Analyse der deutschen Konzentrations- lager, veränderte auch die Struktur der Arbeit in den Konzentrationslagern grundlegend.34 Sie befreite sich vom Kalkül der Nützlichkeit und Effektivität und unterwarf die Arbeit dem Gesetz des Terrors. Weder Ideologie noch Ökonomie, sondern Gewalt, Terror und Tod regierten die soziale Struktur der Arbeit. Die Lagerökonomie war in einem radikalen Sinne politische Ökonomie. Das Terroregime war nicht so sehr an Leistungen interessiert als am Prozeß des Arbeitens, an der auszehrenden Plackerei. Wer nicht mehr arbeiten konnte, war überflüssig. Er wurde aussortiert und getötet. Wer aber arbeitete, dessen Kräfte waren in wenigen Wochen erschöpft, falls es ihm nicht gelang, in ein geschütztes Kommando zu kommen. "Arbeit sicherte nicht das Leben, sondern ruinierte es".35

Auch eine Arbeit in der industriellen Fertigung war, so Wolfgang Sofsky in seiner Binnenanalyse der nationalsozialistischen Konzentrationslager, keine Garantie fürs Überleben. In der Regel arbeiteten die Gefangenen unter den elendsten Bedingungen. Außenlager waren nichts anderes als "Konzentrationslager im Kleinformat". Die Tötung der dort Sterbenden fand freilich meist nicht im Werk selbst statt. Wer nicht mehr zu gebrauchen war, wurde zurückgeschickt ins Stammlager, nach Auschwitz oder, in den letzten Monaten, nach Bergen-Belsen. Auch in den Privatbetrieben schufteten sich die Menschen zu Tode. Auf das Leben kam es auch der Privatwirtschaft nicht an. Zwar war sie weniger an Terror als an billigen Arbeitskräften interessiert. Doch sie nahm den Massenmord in Kauf, wenn dies der Steigerung der Produktion diente. So waren die Außenlager für viele nur eine Zwischenfrist, ein aufgeschobenes Todesurteil.

Für ihre Arbeit bekamen die Gefangenen nichts, weder Geld noch Brot. Von Ausbeutung im "klassischen" Sinne kann schon deshalb keine Rede sein, weil ein ungleicher Tausch nicht stattfand. Die Häftlinge wurden nicht ausgenutzt, sie wurden gehetzt, geschunden, bis alle Kraft aufgerieben war. Das einzige, was der Häftling erhielt, war ein kurzer Aufschub, eine Gnadenfrist bis zur vollkommenen Erschöpfung. Die Arbeit sollte die Menschen beschädigen, ihre Widerstandskraft brechen. Sie war - nach Sofskys Analyse - kein Mittel des Überlebens, sondern der absoluten Macht und des Terrors.

Zwar räumt auch Wolfgang Sofsky ein, daß sich die Liste der Nutznießer der Häftlingsarbeit "wie ein Firmenverzeichnis der deutschen Industrie" liest.36 Aber Macht wäre für ihn nicht absolut, müßte sie sich den Geboten der Sachlichkeit und Produktivität unterwerfen. Für ihn war die Lagerökonomie in einem radikalen Sinne politische Ökonomie. Macht dominierte die Wirtschaft und bestimmte die Bedeutung der Arbeit.

Ausgehend von dieser Grundentscheidung, erscheint es konsequent, wenn Sofsky in diesem Zusammenhang weder den Begriff "Zwangsarbeit" noch "Sklavenarbeit" akzeptiert. So kritisiert er die These vom Konzentrationslager als Sklaven- und Zwangsarbeitssystem. Die herrschende Logik der KZ sei die des Verlusts, Arbeit daher nicht Zweck, sondern Mittel der Tortur gewesen. Sie habe sowohl ökonomische Erwägungen wie das menschliche Sachverhältnis zur Arbeit überformt und im Kapo-System ihren adäquaten Ausdruck gefunden. Das Konzentrationslager produziert krasse Verelendung und menschlichen Abfall; den Insassen herrscht es Gleichgültigkeit als Fluidum absoluter Macht und Ohnmacht auf. Terrorstrafen und Exzesse zerreißen willkürlich den Zusammenhang von Anlaß und Sanktion. Sie folgten aus dem standardisierten Ensemble der Gewalt und bedurften keiner besonderen Neigung zur Grausamkeit.

Um seine These vom Sieg der absoluten Macht in den Konzentrationslagern zu stützen, blendet Sofsky nicht nur jenes "Firmenverzeichnis der deutschen Industrie" 36 a aus, sondern spricht der von den KZ-Häftlingen gelei- steten Arbeit jede reale Bedeutung für ihr Überleben ab. Und selbst in den fortwährenden Selektionen der nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlinge sieht Sofsky lediglich eine "beispiellose Situation absoluter Macht", in welcher der einzelne Gewaltträger die "Drehscheibe des Todes" bewegt.37

Wolfgang Sofsky geht damit noch weit über Eugen Kogon oder Hannah Arendt hinaus, die schon früh auf die ökonomische Unproduktivität der in den Konzentrationslagern geleisteten Arbeit hingewiesen hatten. Nirgends, so schrieb Hannah Arendt, seien bisher Konzentrationslager um der möglichen Arbeitsleistung willen eingerichtet worden; ihre einzige ökonomische Funktion war und ist die Finanzierung des sie bewachenden Apparats, und das heißt für sie: "ökonomisch sind die Konzentrationslager um ihrer selbst willen da. Überall hätte die gleiche Arbeit, wenn Arbeit geleistet wurde, unter anderen Bedingungen unvergleichlich viel besser und billiger geleistet werden können".38

Verläßt man jedoch die Binnenperspektive, so war die Rolle der Arbeit in den Konzentrationsla-gern zutiefst widersprüchlich: Einerseits produzierte sie geradezu "lebendige Leichname", gleichzeitig aber bot sie den KZ-Häftlingen einen gewissen Schutz, indem sie ein Minimum an Vorhersehbarkeit in das Handeln der Täter brachte.

Den Hintergrund dieser Ambivalenz bildete die Rolle der Konzentrationslager im Gesamtgefüge der nationalsozialistischen Macht und die Entwicklung, die zur Vernichtung der europäischen Juden führte. Beide Zusammenhänge waren für das Überleben bzw. Nichtüberleben der KZ-Häftlinge von ausschlaggebender Bedeutung. Da beide ein Spannungsfeld schufen, das der "absoluten Macht" und damit dem "Überflüssigwerden" der Menschen teils minimale, teils bestimmende Grenzen setzte.39

Die Tendenz, die Konzentrationslager zu einem SS-eigenen Arsenal von Zwangsarbeitern umzugestalten, kam schon vor dem Winter 1941/42 zum Ausdruck,40 und sie überkreuzte sich in paradoxer Weise mit gleichzeitigen, ebenfalls seit Kriegsbeginn forcierten Bestrebungen zur Ausmerzung und Beseitigung bestimmter unerwünschter Bevölkerungsgruppen. Das gilt vor allem für das Schicksal der Juden. Da Himmler zur gleichen Zeit aber das Ziel verfolgte, den Arbeitseinsatz von Konzentrationslagerhäftlingen für die Kriegsindustrie zu intensivieren, wurde selbst ein Teil der deportierten Juden dem Zwangsarbeitsprogramm der KZ eingegliedert und, wenigstens vorläufig, von der Vernichtung ausgenommen.41

Das Neben- und Gegeneinander der beiden Zwecke charakterisierte in den Jahren 1942-1944 vor allem das Geschehen im Lager Auschwitz. Alle anderen Judenvernichtungslager im Osten (einzige Ausnahme das Lager Lublin-Majdanek) waren eigens und ausschließlich als Endstationen zur fabrikmäßigen Liquidierung eingerichtet. In Treblinka, Belzec, Sobibor, Chelmno wurden die mit Bahn- und Lastwagentransporten eintreffenden Juden regelmäßig kurz nach der Ankunft so gut wie ausnahmslos vernichtet.42 Es handelte sich hier mithin gar nicht um Lager im eigentlichen Sinne, da eine langfristige Unterbringung der Gefangenen von vornherein nicht beabsichtigt war.

Auschwitz

Dagegen stellte Auschwitz mit seinen drei großen Lagerkomplexen (Stammlager, Birkenau, Monowitz) einerseits das größte aller KZ dar und wurde als solches ein Riesenarsenal von Häftlingsarbeitern für die Rüstungsindustrie. In Monowitz wurde ein drittes Lager gebaut, das Auschwitz III (Buna-Monowitz) genannt wurde. Der Name Buna leitete sich von den synthetischen Gummiwerken der I.G. Farben in Monowitz ab. Die I.G. Farben zeigten zwar die Initiative, beim Häftlingseinsatz auch Elemente der materiellen Stimulation geltend zu machen, aber in erster Linie forderten sie - so wie die anderen Konzerne -, nur leistungsfähige Häftlinge zur Verfügung zu haben. Die Voraussetzung dafür war der radikale Abtransport der erschöpften und ernstlich kranken Häftlinge aus den den der I.G. Farben in den Außenlagern der KZ zur Verfügung gestellten Kommandos. Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss, schätze, daß in Betrieben mit besonders schweren Arbeitsbedingungen jeden Monat ein Fünftel der Häftlinge gestorben bzw. wegen Arbeitsunfähigkeit zur Vernichtung von den Betrieben an das Lager zurückgeschickt worden sei.43 Im Zusammenhang mit Monowitz wurden weitere Lager errichtet und ebenfalls als Teil von Auschwitz III bezeichnet. Im Laufe der Zeit wurden so weitere 45 Nebenlager u.a. für die >Reichswerke Hermann Göring< (Salzgitter) und den Siemens-Konzern gebaut.44

Andererseits entwickelte sich gerade Auschwitz mit den außerhalb des Lagerzaunes von Birkenau errichteten großen Vernichtungsbunkern und Krematorien zur größten Judenver-nichtungsanlage.45 Das bedeutete: Nur in Auschwitz, wo die beiden Zwecke (Vernichtung und Arbeitseinsatz der Juden) an einem Ort konkurrierten, entstand jenes Ausleseverfahren der sogenannten Selektion, dem fast jeder ankommende Judentransport unterworfen wurde: aus der Masse der deportierten jüdischen Männer, Frauen und Kinder sonderten SS-Ärzte und SS-Führer auf der sogenannten "Rampe" von Birkenau - wohl je nach Bedarf und dem Gesundheitszustand der Transporte - eine größere oder kleinere Zahl von Arbeitsfähigen (bevorzugt Jugendliche, Männer mittleren Alters und arbeitsfähige Frauen ohne Kinder) aus, die von der Vernichtung ausge- nommen, als Häftlinge registriert und ins angrenzende Lager überwiesen wurden, wo sie eine Chance des Überlebens hatten, solange sie arbeitsfähig blieben.46

Eine Art "Probelauf" für ein solches Selektionsunternehmen fand bereits ab Sommer 1941 in den Konzentrationslagern unter der Tarnbezeichnung >Sonderbehandlung 14f13< statt, als im Verlauf weniger Monate systematisch Tausende von KZ-Häftlingen von "Euthanasie"- Ärzten ausgewählt und in drei ehemalige Irrenanstalten verbracht wurden, die in Todesfabriken umfunktioniert worden waren.47 Sofsky ist der Auffassung, daß die Konzentrationslager durch diese Aktion "eine Doppelfunktion als Arbeits- und Vernichtungslager" erhielten.48 Träfe dies zu, so wäre nicht nur die oben aufgezeigte Unterscheidung zwischen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern nebensächlich, sondern auch die These von der Singularität des Holocaust. Doch selbst wenn diese beiden Aspekte als sekundär ausgeklammert blieben: Entscheidendes Kriterium für die Aussonderung und Vernichtung der KZ-Häftlinge war bereits während der "Pilotaktion >14f13<" die nicht mehr vorhandene Arbeitsfähigkeit.49

Inbesondere in der zweiten Kriegshälfte führte dann die Erhöhung der Arbeitszeit für die Häftlinge, ihr Einsatz bei meist körperlich sehr schweren Bauarbeiten, den ein großer Teil der Häftlinge nicht gewohnt war, zu einer fortgesetzten Auszehrung der Kräfte der Gefangenen. Die Arbeit in der Kriegsproduktion brachte also einerseits geradezu zwangsläufig jene todgeweihten "lebenden Skelette" hervor, die in der Alltagssprache der "Konzentrationäre" zu "Muselmännern" wurden, andererseits bot sie den KZ-Häftlingen die Chance des Überlebens und verhinderte (solange sie "arbeitsfähig" blieben) ihr Üšberflüssigwerden" (von dem im Schlußkapitel noch die Rede sein wird). Die Arbeit gewährte den Häftlingen eine "Gnadenfrist", die selbst für die jüdischen Häftlinge in Auschwitz-Monowitz drei bis vier Monate betrug. Damit aber eröffnete sich für die KZ-Häftlinge ein (wenn auch zumeist nur minimaler) Zeithorizont, der über das "Hier und Jetzt" des Lagers hinausreichte und auf das Heranrücken der alliierten Armeen und die Befreiung des La-gers gerichtet war.

Bis zur Jahreswende 1941/42 galten für das Überleben in den KZ jedoch andere Bedingungen. Insbesondere kam dem Faktor Arbeit keine wesentliche Bedeutung zu. Bis zu diesem Zeitpunkt galt, daß die registrierten, nummerierten und immer wieder gezählten Häftlinge, infolge einer der zahllosen, dem KZ eigenen Ursachen, einfach umkamen. Doch insbesondere waren Lageralltag und Haftbedingungen bis dahin durch jene exzessive Gewalt geprägt, die die >kranken< Teile des >Volkskörpers< - und das waren sämtliche KZ-Insassen per se - willkürlich vernichtete.

ABKÜRZUNGEN

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

LITERATURVERZEICHNIS

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ABKÜRZUNGEN (Literaturverzeichnis)

# DH Dachauer Hefte

# IfZ Institut für Zeitgeschichte

# P&G Psychologie und Gesellschaftskritik

# PVS Politische Vierteljahresschrift

# VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

ANMERKUNGEN

[...]


1 Ministerialblatt für die Preußische Innere Verwaltung V, 1933, I, S. 170, zit. nach Broszat 1989, S. 93.

2 Vgl. Drobisch 1980, S. 182.

3 Broszat 1989, S. 95.

4 Vgl. Broszat 1965, S. 12f.

5 Ebd., S. 20.

6 Vgl. Fraenkel 1984.

7 Vgl. Hofer 1982, S. 56f: Broszat 1989, S. 110f.

8 Vgl. Herlemann 1986.

9 Vgl. Behnken 1989.

10 Vgl. Peukert 1986.

11 Vgl. Pingel 1979, S. 26.

12 Kogon 1983, S. 61.

13 Vgl. Grode 1987, S. 57ff.

14 Vgl. Broszat 1965, S. 72.

15 Vgl. Grode 1987, S. 45ff.

16 Vgl. Auerbach 1958; Dudek 1988.

17 Vgl. Tuchel 1991.

18 Zit. bei Broszat 1965, S. 84

19 Zit. bei Buchheim 1966, S. 191.

20 Zit. bei Broszat 1965, S. 81.

21 Vgl. Grode 1987, S. 43f.

22 Vgl. Georg 1963.

23 Vgl. Grode 1987, S. 51f.

24 Vgl. Kogon u.a. 1983.

24 a Vgl. Grode 1987, S. 234ff.

25 Vgl. Kogon 1983, S. 81ff.

26 Ebd. S. 64.

27 Vgl. Wuttke-Groneberg 1983.

28 Vgl. Sigel 1988.

29 Vgl. Weinmann 1990.

30 Kogon 1983, S. 177.

31 Sofsky 1983, S. 52.

32 Vgl. Kogon 1983, S. 101ff.

33 Vgl. Sofsky 1993, S. 169ff.

34 Vgl. Kogon 1983, S. 114ff.

35 Sofsky 1993, S. 194.

36 Sofsky 1993, S. 210.

36 a Vgl. nochmals Grode 1987, S. 234ff.

37 Sofsky 1993, S. 279.

38 Arendt 1986, S. 684.

39 Vgl. Grode 1993a.

40 Vgl. Georg 1963.

41 Vgl. Arnt/Scheffler 1976.

42 Vgl. Arad 1983.

43 Vgl. Broszat 1961, S. 87ff.

44 Vgl. Grode 1987, S. 234ff.

45 Vgl. Czech 1982.

46 Vgl. Lifton 1986.

47 Vgl. Grode 1989.

48 Sofsky 1993, S. 278.

49 Vgl. Grode 1987 und 1989.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Nationalsozialistische Konzentrationslager: Entwicklung und Funktion
Autor
Jahr
1994
Seiten
20
Katalognummer
V109457
ISBN (eBook)
9783640076383
ISBN (Buch)
9783640118434
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: Walter Grode: "Nationalsozialistische Moderne", Frankfurt a.M. 1994, Kapitel III
Schlagworte
Nationalsozialistische, Konzentrationslager, Entwicklung, Funktion
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1994, Nationalsozialistische Konzentrationslager: Entwicklung und Funktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109457

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