Behinderte Forscher. Fremdheit als Ressource des Humanen


Essay, 2003

5 Seiten


Leseprobe


Walter Grode

BEHINDERTE FORSCHER

Fremdheit als Ressource des Humanen

In: ders.: Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover 2003

Die Erschwernisse denen sich behinderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tagtäglich gegenübersehen, sind offensichtlich. Gleichfalls auch die Einpassungs- und Normalisierungspraxen deren sie sich selbst unterwerfen (müssen), um überhaupt Aufmerksamkeit, geschweige denn Anerkennung zu finden. Diese Restriktionen sind aber gesamtgesellschaftlich gesehen keineswegs außergewöhnlich. Auch wenn ich gern einräumen will, daß meine folgenden Erfahrungen im Umgang mit einem beschädigten Leben keineswegs repräsentativ sind

Im Vergleich zu allen Einpassungs- und Selbstnormalisierungspraxen vor Eintritt meiner Behinderung, erscheinen mir nämlich alle Erfahrungen, die ich als behinderter Wissenschaftler und Publizist im Rollstuhl machte, geradezu wie eine riesige Entwicklungschance.

Der sog. "Zweite Bildungsweg", der vor Eintritt der sozialdemokratischen Reformen Anfang der 70er Jahre (des vergangenen Jahrhunderts), noch ein rigides soziales Ausleseinstrument war, ermöglichte mir den Aufstieg aus kleinsten sozialen Verhältnissen zum Ingenieur und Offizier. (Grode 1998). All das schaffte ich in vorbildlich kürzer Zeit - also genau so, wie es auch heute wieder vom Zeitgeist, der ja bekanntlich >stets der Herren eigener Geist< ist, gefordert wird.

Im Vergleich zu dieser >Ochsentour< war bereits mein Berufspädagogik-Studium, das mitten in die Anfangsjahre der nunmehr institutionalisierten Bildungsreform fiel, geradezu ein Ausdruck von >akademischer Freiheit und Abenteuer<. Als ich dann Anfang der 80er Jahre im Rollstuhl nochmals ein weiteres Studium begann, waren die Illusionen über den Versuch via Hochschule und Pädagogik die Gesellschaft verändern zu können zwar bereits verflogen - ich traf (und treffe auch heute noch) aber immer wieder Menschen, die grundsätzlich an die Veränderbarkeit der Verhältnisse glauben, und deshalb ihr Leben an der Brechtschen Maxime auszurichten versuchen: >Der Mensch soll des anderen Helfer sein<

Ob dieser Maxime eine Chance gegeben wird, hängt nach meiner Überzeugung, nicht zuletzt auch von denjenigen ab, die der Hilfe bedürftig sind. Gesellschaftliche Fremdheit und Bedürftigkeit (z.B. die von alten Menschen und Behinderten), ist in Wirklichkeit ein Ferment, das etwas (ganz) anderes erst hervorbringt: im Schlechten, wie im Guten

Über all das Negative, das die Konfrontation mit dem Fremden individuell und gesellschaftlich hervorbringen kann, brauche ich an dieser Stelle kaum ein Wort zu verlieren: Nicht umsonst ist die Faschismusforschung mein Lebensthema geworden. (Grode 1994)

Kommen wir also gleich zur positiven Seite: Behinderung konfrontiert jeden Menschen mit seiner eigenen Fremdheit. Das geschieht nicht nur in den (Un-)Tiefen der eigenen Biographie und in den Ebenen des Alltags, sondern auch auf den Höhen der Wissenschaft und ihres Betriebs. Aber gerade dort bin ich immer wieder Menschen begegnet, die sich nicht nur ihrer eigenen Fremdheit bewußt waren, sondern gerade daraus ihre Stärke schöpften

Drei für mich prägende Beispiele möchte ich besonders hervorheben: Zum einen meine marxistische Studentengruppe während des Politikwissenschaftsstudiums an der Universität Hannover. (Grode 2002) Hier war ich ein >stinknormaler Exot< unter vielen anderen Fremdlingen jeder Art, die (vordergründig) nach einer politischen Heimat suchten. >Kommt in Massen!< stand deshalb auch auf meinem Flugblatt, >an alle Behinderten< zur Verbreiterung unserer politischen Basis, das im Mai 1981 zu einem Austausch über die Studiensituation, die katastrophalen technischen Voraussetzungen und "unsere Berufsperspektive" aufrief.

Doch bereits hier machte ich die Erfahrung, daß es sich beim Umgang mit Behinderung um keine quantitative, sondern um eine qualitative Frage handelt. Der einzige behinderte Mensch der damals auf diesen Aufruf reagierte, war vierzehn Tage später ein Biologe, der heute - so darf ich bekennen - mein bester (TischFußball)Freund ist. Und auch die besagte politische Studentengruppe vom Anfang der 80er Jahre, in der einst, vielleicht gerade wegen ihrer dogmatischen Enge, ein Klima des Wohlwollens und der Anerkennung herrschte, bildet noch heute einen wichtigen Kern meines Freundeskreises. .

Das zweite Beispiel ist mein 1937 im französischen Exil geborener Doktorvater Peter Brokmeier. Ich erlebte ihn erstmalig bei einem Vortrag über den Aufstand und die Vernichtung des Warschauer Ghettos. Er hatte, wie sich später herausstellte, 1967/68 als Assistent den Frankfurter-Euthanasie-Prozeß mitstenographiert, war aber durch persönliche Umstände und den tragischen Tod seines Mentors gezwungen worden, sein eigenes Projekt fallenzulassen. 1983 stellte Prof. Brokmeier mir sein Archiv zur Verfügung. Und meine Dissertation über die Euthanasie in den NS-Konzentrationslagern wiederum wurde für ihn zur Basis einer Veröffentlichung über die Vernichtung von Geschichte. (Brokmeier 1986)

Und drittens schließlich: meine publizistische Heimat die >Lutherischen Monatshefte<, die sich in ihrem Untertitel dem kirchlichen Dialog mir Kultur, Wissenschaft und Politik verschrieben hatten. Auch hier ließ ich mich instrumentalisieren: als exotischer linker Kontrapunkt nämlich. Dafür aber hatte ich im Gegenzug die Möglichkeit, das >schwarze Loch< in meiner Biographie schreibend zu umkreisen, das in der Erkenntnis besteht, daß ich während des Nationalsozialismus mit (zumindest) der gleichen Wahrscheinlichkeit nicht nur Opfer (der Euthanasie), sondern auch Täter (der Wehrmachtsverbrechen) geworden wäre.

Bis Mitte der 90er Jahre störte übrigens kein einziges Photo den Fluß der Gedanken in den >Lutherischen Monatsheften<. Und auch heute noch sind ihre Nachfolgerinnen absolute Fremdlinge im Meer der Publizistik. Ihre Maxime lautet: "Nicht viel lesen, sondern Gutes lesen, macht klug und gelassen"

Um innere Ruhe zu finden und >glücklich alt zu werden< (Grode 2003) ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Täter-Opfer-Verstrickungen (selbst für Nachgeborene) nicht nur förderlich. (Grode 2002). Auf die realen Opfer aber, scheint das >schwarze Loch< (das ja nicht nur der Nationalsozialismus darstellt) eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben - und mehr noch einen unwiderstehlichen Sog. Zumal, wenn ihre >Fremdheit in der Welt< keine >Ressource des Humanen< aktivieren kann. Erinnert sei hier exemplarisch an das Schicksal des fast vergessenen Autodidakten und ehemaligen Auschwitz-Häftlings Josef Wulf. Und zwar deshalb, weil er derjenige war, für den 1967/68 mein Doktorvater Peter Brokmeier den >Frankfurter Euthanasie-Prozeß< mitstenographiert hatte.

Josef Wulf veröffentlichte zwischen 1955 und 1960 (gemeinsam mit Leon Poliakov) vier große Dokumentationen (Das Dritte Reich und die Juden; Das Dritte Reich und seine Diener; Das Dritte Reich und seine Denker; Das Dritte Reich und seine Vollstrecker), die den Mord an den Juden in den Mittelpunkt rückten und das Verhalten der Deutschen eingehend beleuchteten. Mit der vorweggenommenen Golhagen-These, daß Hitler viele willige Helfer gefunden habe (Grode 1996), widersprach er der vorherrschenden Meinung in der akademischen Zunft. Auch Martin Broszat (Jg. 1927), von 1972 bis zu seinem Tod 1989, der Direktor des renommierten Instituts für Zeitgeschichte, dem heute von einem jungen Historiker (Berg 2003) sein hartnäckiges Schweigen über seine (späte) NSDAP-Mitgliedschaft (Eintrittsdatum: 20. April 1944!) vorgeworfen wird, lehnte die Arbeiten Wulfs als polemisch und "unwissenschaftlich" ab. Er vertrat die Auffassung, daß das Thema der Judenvernichtung nicht Holocaust-Überlebenden überlassen werden dürfe, weil sie nicht objektiv urteilen könnten.

Angesichts des Widerstandes, auf den seine Forschungen stießen, begann Wulf zu resignieren. "Ich habe 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratische Regierung sein - und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen", klagte er im August 1974 einem Freund,. Wenige Wochen später, am 10. Oktober 1974, stürzte sich aus dem 4. Stock seiner Berliner Wohnung in den Tod. (Ullrich 2003)

Literatur

Berg, Nicolas (2003): >Der Holocaust und die westdeutschen Historiker<. Erforschung und Erinnerung, Berlin

Brokmeier, Peter (1986): >Geschichte vernichten<. Reflexionen über den organisierten Massenmord im deutschen Faschismus, in >Düsseldorfer Debatte<, Heft 10

Grode, Walter (1994): >Nationalsozialistische Moderne<. Rassenideologische Modernisierung durch Abtrennung und Zerstörung gesellschaftlicher Peripherien, Frankfurt a.M. www.wissen24.de/vorschau/17424html

Grode, Walter(1996): >Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust<, in: >Lutherische Monatshefte<, Heft 12 - demnächst bei www.wissen24.de

Grode, Walter (1998): >Mehrwert und Humboldt vertauscht<. Erinnerungen an >1968<, in: >Die Zeichen der Zeit / Lutherische Monatshefte<, Heft 8 - demnächst bei: www.wissen24.de

Grode, Walter (2002) >Ein Verzicht auf die Ausschöpfung der Potentiale der Gentechnologie bedeutet die Akzeptanz von Behinderung, Alter und Schwäche<. Eine biographisch-politische Skizze, in. >Gemeinsam leben<, Heft 2 - demnächst bei www.wissen24.de

Grode , Walter (2003): >Glücklich Altwerden<. Altern zwischen Defekt und Weisheit, in: ders. Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover www.wissen24.de/vorschau/18617html

Ullrich, Volker (2003): >Forschung ohne Erinnerung<. Nicolas Bergs Buch über den Holocaust und die deutschen Historiker sorgt für Streit, in: >Die Zeit<, Nr. 29

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Details

Titel
Behinderte Forscher. Fremdheit als Ressource des Humanen
Autor
Jahr
2003
Seiten
5
Katalognummer
V109451
ISBN (eBook)
9783640076321
Dateigröße
334 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: Walter Grode: Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover 2003
Schlagworte
Behinderte, Forscher, Fremdheit, Ressource, Humanen
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2003, Behinderte Forscher. Fremdheit als Ressource des Humanen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109451

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