Bilanz 2003: Die Verachtung von sozialen Minderheiten wächst


Essay, 2003

6 Seiten


Leseprobe


Walter Grode

Bilanz 2003: Die Verachtung von sozialen Minderheiten wächst

(Notiz: >Mit der Impolision des >Staatssozialismus< im Osten, dem geradezu katholischen, nämlich allumfassenden Siegeszug der Markt- und Börsenkräfte und dem neu entfachten >Kampf der Kulturen< ist in unserer Gesellschaft mehr in Bewegung gekommen, als wir es uns träumen lassen.< In: Ders: Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover 2003)

Pünktlich zum Jahresende stellte das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer, seine Studie für das Jahr 2003 vor (Heitmeyer 2003). Erinnert wird darin an >deutsche Szenen< aus dem zu Ende gegangenen Jahr: Im badischen Rastatt verhöhnt ein Bürgermeister afrikanische Asylbewerber mit dem Rat, sie sollten >tanzen, bis sie schwarz werden<. Im niedersächsischen Wolfsburg herrscht ein Ratsherr demonstrierende italienische VW-Arbeiter an: >Haut ab, ihr Kanaken<. Ein Bundestagsabgeordneter aus dem Osthessischen suggeriert anläßlich einer Gedenkrede zur deutschen Vereinigung ein jüdisches >Tätervolk<. Derselbe Volksvertreter attackiert bei anderer Gelegenheit - um seine Sorge um den Fortbestand der Völker auf der Nordhalbkugel zu illustrieren - einen sich >organisierenden Gruppenegoismus der Homosexuellenlobby<. Ein Bundestagsabgeordneter aus dem Sächsischen wiederum wählt zur Beschreibung der von ihm vermuteten politischen Vorlieben deutscher Muslime die Metapher, diesen andersgläubigen Mitbürgern würde eher die Hand abfaulen, als dass sie seiner (christlichen) Partei die Stimme geben. Diese Beispiele für verbale Aggression konnte man den Zeitungen entnehmen. Vergleichbare Feindseligkeiten gibt es aber auch im Windschatten der öffentlichen Berichterstattung. Sie sind beunruhigende Zeichen einer wachsenden Bereitschaft zur Abwertung von Behinderten, Obdachlosen, Bettlern Sozialhilfeempfängern, von neu Zugezogenen und nicht zuletzt, von Frauen.

Die zitierten Äußerungen haben eines gemeinsam: Keiner der Akteure gehört einer extremen Partei oder einer verfassungsfeindlichen Organisation an. Doch mit ihrer >gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit< sind sie allesamt in ihrer lokalen Umgebung durchaus populär - und entfalten auch Fernwirkung. Wieweit solche Sprüche verschwiegene Stimmungen in der Bevölkerung zum Ausdruck bringen oder sie erst erzeugen, ist eher zweitrangig. Bedeutsam ist, dass so die Grenzen der Normalität verschoben werden. Auf diese Weise bildet sich eine allmählich eine >neue Normalität<.

Dies geschieht, so die Studie, vor allem dann, wenn drei Bedingungen zusammenwirken: Erstens eine gesenkte Hemmschwelle der Eliten, vorhandene Stimmungen gegen Schwächere populistisch zu nutzen oder zu verstärken; zweitens eine Zustimmungsmentalität in der Bevölkerung, die populistisch aktivierbar ist; drittens die Existenz eines klar erkennbaren Aggressionsobjekts in Gestalt schwacher, deutlich kenntlicher Gruppen (sozialer Minderheiten) innerhalb der Gesellschaft. Diese drei Bedingungen sind inzwischen auch in Deutschland gegeben. Die genannten Äußerungen sind eindrucksvolle Beispiele für die sinkende Hemmschwelle innerhalb der politischen Eliten. Denn die Bereitschaft der Bevölkerung, die diversen Facetten der >gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit< zu akzeptieren, ist gravierend. Diese Einzelfacetten - so zeigt die Bielefelder Studie - sind derart eng miteinander verknüpft, dass sie ein >Syndrom< bilden. Das bedeutet, dass die feindselige Mobilisierung gegen eine Gruppe ansetzt und später - je nach politischer Stimmung - auf andere Gruppen überspringen kann. Die Feindseligkeit bleibt - was wechselt, sind die Ziele: Jude, Homosexuelle, Muslime, Obdachlose - Frauen.

Die latente Zustimmungsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber den wichtigsten Ausdrucksformen des Syndroms gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vom Rassismus bis zum Sexismus, wird in den empirischen Befunden deutlich. Dazu einige Beispiele aus dem Projekt des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld:

Rassisimus: Der Auffassung, dass >die Weiße< zu Recht führend in der Welt seien, stimmen 18 Prozent der (von Infratest) Befragten zu.

Fremdenfeindlichkeit: Mehr als 59 Prozent vertreten die Meinung, in Deutschland lebten zu viele Ausländer. Fast 30 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Ausländer zurückgeschickt werden sollten, wenn die Arbeitsplätze knapp werden.

Antisemitismus: Mehr als 23 Prozent sehen >zu viel Einfluß< von Juden in Deutschland. (Grode 1994) Fast 18 Prozent weisen den Juden eine Mitschuld an ihren Verfolgungen zu. Fast 55 Prozent unterstellen, dass Juden aus der Vergangenheit Vorteile ziehen wollen.

Heterophobie: Ablehnung und die - mehr subtile Ablehnung von >Abweichenden< wird deutlich am Beispiel von zwei Gruppen. Für die Entfernung von Obdachlosen aus den Fußgängerzonen - die gegenwärtig rabiateste Form der Ablehnung von Randgruppen (Grode 1989) - treten 37 Prozent ein (46 Prozent empfinden Obdachlose als >unangenehm<). Was Homosexuelle angeht, sagen beispielsweise 36 Prozent, sie empfänden Ekel, wenn diese sich öffentlich küßten.

Islamphobie: Mehr als 25 Prozent plädieren schließlich dafür, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu untersagen. Mehr als 30 Prozent äußern, sie fühlten sich aufgrund der Anzahl der Muslime wie Fremde im eigenen Land. 65 P=rozent meinen, der Islam passe nicht in die westliche Kultur. Schließlich ist generelles Mißtrauen gegenüber Muslimen bei etwa 65 Prozent vorhanden und fast 50 Prozent sagen, sie hätten Probleme, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Muslime leben.

Etabliertenvorrechte: Rund 35 Prozent der Befragten meinen, diejenigen, die schon immer hier lebten, sollten mehr Rechte haben als jene, die später kamen. 58 Prozent sagen, Neuankömmlinge sollten sich zunächst mit weniger zufrieden geben.

Sexismus: Diese Spielart sozialer Feindseligkeit hat insofern einen Sonderstatus, als sie sich nicht gegen eine zahlenmäßige Minderheit richtet. Die Diskriminierung der Frauen, so erinnert die Studie, ist dessen ungeachtet eine zählebige Facette der sozialen Ausgrenzungs- und Abwertungsmentalität. So meinen mehr als 31 Prozent der Befragten, Frauen sollten sich wieder auf die Rolle der Hausfrau und Mutter besinnen.

Scheinbar harmlose distanzierende Einstellungen, so Wilhelm Heitmeyer, der wissenschaftliche Leiter der Studie, können sich in unsicheren Zeiten in feindliche Normalität verwandeln. Sie entsteht dadurch, dass die breite Öffentlichkeit die Verletzungen von Normen der Unversehrtheit nicht mehr zur Kenntnis nehmen will - oder das nicht mehr kann, weil die Medien solche Ereignisse >wegfiltern<. Auch >selektive Unaufmerksamkeit<, also Wegsehen bei gleichzeitiger Kenntnis der Normverletzungen - sei es mangels Courage, sei es aufgrund latenter Zustimmung - verändert Grenzlinien, fördert die Gewöhnung an verschobene Normen und erzeugt so allmählich eine veränderte Normalität Eine Normaltät, die beruhigend wirkt, weil sich Menschen darin (wieder) sicher fühlen können und sei es zulasten jener, die nicht dazugehören sollen. Es etsteht ein >Normalitätspanzer<, der umso härter wird, je mehr die Eliten mit ihrem Auftreten diese Entwicklung fördern. Das ist auch der Grund, warum die Erfolge im Kampf gegen die Mentalität der Feindseligkeit bescheiden sind.

Wie steht es um die politischen Auswirkungen dieses Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit? Im Jahre 2003 finden sich 25 Prozent in der Bevölkerung, die für eine mentale Kombination von Law-and-Order-Aggression gegen Außenseiter, für Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus stehen. Dies ist gegenüber 2002 eine Zunahme von etwa 5 Prozent. Auffällig ist, dass sich mehr als zwei Drittel dieser Personen selbst in der >Mitte< des politischen Spektrums einordnen, also im Milieu der neuen Selbstverständlichkeiten. Dazu gehört auch der mentale Hintergrund der aktuellen Antisemitismusdebatte und die Forderung nach endgültiger >Entschuldung<: Fast 70 Prozent der Bevölkerung ärgern sich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden. Diejenigen, die sich >eher links< einordnen, umfassen 25 Prozent, davon sind fast 60 Prozent verärgert.

Die >Entschuldung< ist somit nicht mehr nur ein Topos der extremen Rechten. Sie wird zum Thema der >unterwanderten Mitte<, die keine mehr ist (Grode 2000). Der Entschuldungsdiskurs hat in allen politischen Schattierungen der deutschen Gesellschaft Fuß gefaßt und kann, laut Heitmeyer, die potenzielle Basis eines neuen >unverkrampften< Antisemitismus bilden, weil man die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wähnt. Die Ergebnisse weisen also darauf hin, dass sich Normalitätsvorstellungen in der >Mitte< verschoben haben. Die dazu notwendigen Zustimmungsmentalitäten haben soziale und politische Ursachen.

Bereits im Jahre 2002 konnte die Bielefelder Studie zeigen, wie folgenreich soziale Desintegration ist. Dazu gehören nicht nur die Erfahrungen eines zeitweiligen oder dauerhaften Ausschlusses vom Arbeitsmarkt, von politischer Einflußlosigkeit und von instabilen sozialen Einbindungen. Relevant sind vor allem die Ängste vor Anerkennungsverliusten: im Beruf, als politischer Bürger oder im privaten Umfeld. Je negativer diese individuellen Anerkennungsbilanzen ausfallen, desto weniger sind Menschen bereit, ihrererseits die Gleichwertigkeit und Unversehrtheit von anderen - also der schwachen Gruppen - anzuerkennen. Abwertung, Ausgrenzung und diskriminierendes Verhalten dienen dann dazu, die eigene - scheinbare - Überlegenheit und Macht zu bewahren. Die eigene Integrations- und Anerkennungsbilanz wird so scheinbar verbessert.

Die negativen Trends haben sich 2003 unübersehbar verstärkt. Die Menschen sind pessimistisch, was Arbeitsplatzsicherheit, Lebensstandard und soziale Sicherung angeht. So verschlechtert sich für fast 38 Prozent ihre finanzielle Situation (24 Prozent im Vorjahr). Das Gefühl abnehmender sozialer Sicherung erhöhte sich um etwa 10 Punkte auf 42 Prozent. Die Angst vor Arbeitslosigkeit stieg um etwa acht Punkte auf 35 Prozent.

Begleitet werden diese Verschiebungen von einem Gefühl zunehmender politischer Einflußlosgkeit, ungeachtet offizieller Beteuerungen, wie wichtig die Einflußnahme der Bürger sei. Dieses Auseinanderentwicklung von Anspruch und Wirklichkeit verstärkt die Tendenz zu politischer Apathie. Für die Integrationsqualität der Gesellschaft kann dies gravierende Folgen haben, da sich zugleich deutlich das Gefühl verbreitet, das die fundamentale soziale Gerchtigkeit verletzt werde. Für 90 Prozent der Befragten steht fest, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Und für fast 86 Prozent vertieft sich die soziale Spaltung der Gesellschaft. Da überrascht es nicht, dass Ausländer im Jahr 2003 deutlich stärker als Belastung für das soziale Netz angesehen werden als noch ein Jahr zuvor. Hier zeichnet sich ein Abwertungspotential ab, das von steigender Aggressivität begleitet wird.

Mit der libralen Demokratie verbinden wir die Erwartung eines Höchstmaßes an Zivilität und an stabilisiender Wirkung, unter anderem aufgrund eines gut funktionierenden Interessenausgleichs zwischen sozialen, ethnischen und religisen Gruppen. Aus der Perspektive der Bevölkerung aber herrscht erhebliches Unbehagen am gegenwärtigen Zustand unserer Demokratie, ein Zustand, den man als qualitative >Entleerung< bezeichnen könnte. Über 75 Prozent der Bevölkerung sind der Ansicht, dass in der Wirtschaft anders als in der Politik relativ rasch entschieden werde. Für fast 80 Prozent bedeutet dies, dass die Wirtschaft und nicht die Politik in diesem Land entscheidet. Es ist quasi ein >Demokratieermäßigung< verbunden mit einem Einflußverlust der Betroffenen, die an den Entscheidungen nicht beteiligt sind. Eine >Demokratieaushöhlung< durch kontrollierende staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte beklagen 68 Prozent. Das es eine >Demokratiemissachtung< durch politische Eliten gibt, die zuerst an eigenen Vorteilen interessiert sind, meinen etwa 90 Prozent. Eine >Demokratievernachlässigung< durch unzureichendes Engagement beziehungsweise mangelnde Protestbereitschaft der Bürger beklagen fast 80 Prozent. Erhebliche >Demokratiezweifel< bestehen in dem Sinne, dass den demokratischen Parteien von etwa 90 Prozent die Lösungskompetenz bei schwierigen Problemen abgesprochen wird.

Dieses Gefühl eines Verlusts von demokratischer Qualität und das Empfinden einer Verletzung der Prinzipien eines sozialen Interessenausgleichs macht einen Teil der Menschen anfällig für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit. Diese Ausweitung des rechtspopulistischen Potentials, erklärt Wilhelm Heitmeyer, die >Infiltration der politischen Mitte< durch populistische Inhalte lassen das allmähliche Entstehen einer neuen Normalität befürchten, in der die besondere Aufmerksamkeit gegenüber der Verletzung von Gleichwertigkeit und Unversehrtheit nach und nach verloren geht.

Die Botschaft der Studie in Richtung >Disability Community< ist eindeutig: Die glückliche Zeit da es möglich war, die Entwicklung der >Mitte< der Gesellschaft souverän zu ignorieren und statt dessen >Normalität< und Behinderung diskursiv zu >dekonstruieren< (Grode 2003) oder auch nur auf der Schaffung und Umsetzung von - wie es schien - selbstverständlichen Gleichheitsregeln zu bestehen, geht unwiderruflich ihrem Ende entgegen.

Grode, Walter (1989): >Das Lebensrecht behinderter Menschen und die Solidarität der Bevölkerungsmehrheit<

http://www.wissen24.de/vorschau/16236.html

Grode, Walter (1994): >Judenhaß ohne Juden<. Soziokultureller Antisemitismus und der Protest gegen die Moderne

http://www.wissen24.de/vorschau/16618.html

Grode, Walter (2000): >Wir werden es erleben<. Politische Rechte und Extremismus der Mitte im reichen Westeuropa, in: >Die Zeichen der Zeit / Lutherische Monatshefte<, Heft 3

Demnächst bei: www.wissen24.de

Grode, Walter (2003): >Behinderte Identität<. Die Bremer Sommer-Uni 2003: >Disability Studies - Behinderung neu denken<

http://www.wissen24.de/vorschau/17426.html

Heitmeyer, Wilhelm (2003): >Feindselige Normalität<. In Deutschland breitet sich die Bereitschaft aus, Mitmenschen zu verachten, in: Die Zeit, Nr. 51, 19.

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Details

Titel
Bilanz 2003: Die Verachtung von sozialen Minderheiten wächst
Autor
Jahr
2003
Seiten
6
Katalognummer
V109449
ISBN (eBook)
9783640076307
Dateigröße
407 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: Walter Grode, Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover 2004.
Schlagworte
Bilanz, Verachtung, Minderheiten
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2003, Bilanz 2003: Die Verachtung von sozialen Minderheiten wächst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109449

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