Behinderte und Gesellschaft


Essay, 2001

5 Seiten


Leseprobe


Walter Grode

BEHINDERTE UND GESELLSCHAFT

Welche behinderten Menschen sind welcher Art von Gesellschaft förderlich?

Notiz Nur auf den ersten Blick ist es ein Widerspruch, wenn einerseits Behinderte zunehmend als Teil gesellschaftlicher Pluralität anerkannt werden, sie zumindest als exotischer Part gesellschaftlicher >Vielfalt< massenmedial vermarktet werden, in der Gesetzgebung angemessene Berücksichtigung finden und doch gleichzeitig die vermeintlichen >Fortschritte< der Gentechnologie auf immer breitere gesellschaftliche Akteptanz stoßen, so daß mit der scheinbar realen Möglichkeit auch der allgemeine Wunsch wächst, Behinderung unter allen Umständen zu vermeiden. Der Artikel erschien im Heft 3-01 von >Gemeinsam leben< (Zeitschrift für integrative Erziehung)

Mit dem völlig zutreffenden Hinweis, daß z.B. nicht einmal drei Prozent aller Behinderungen rein genetisch bedingt und die übrigen das Ergebnis des ganz normalen Lebensrisikos sind: am Anfang, in der Mitte und am Schluß, wird man, so befürchte ich, nicht verhindern können, daß die gesellschaftliche Akzeptanz des Lebens von und mit Behinderten mehr und mehr schwinden wird.

Das hat (eher schlechte) Gründe: Lange habe ich geglaubt, es sei ein Widerspruch, wenn einerseits Behinderte zunehmend als Teil gesellschaftlicher Pluralität anerkannt werden, sie zumindest als exotischer Part gesellschaftlicher >Vielfalt< massenmedial vermarktet werden, in der Gesetzgebung angemessene Berücksichtigung finden und doch gleichzeitig die vermeintlichen >Fortschritte< der Gentechnologie auf immer breitere gesellschaftliche Akteptanz stoßen. Daß mit der scheinbar realen Möglichkeit auch der allgemeine Wunsch wächst, Behinderung unter allen Umständen zu vermeiden. [Vgl. W.G.: >Der Club der Vollkommenen<. Genetische Makellosigkeit könnte ein Privileg der Reichen und Mächtigen werden, in: >zeitzeichen<, Heft 6/2001, S: 8-10)]

Und doch bilden beide Entwicklungen, wenn man sie aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft betrachtet, keineswegs einen so scharfen Gegensatz, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn dann verbindet sich die Frage nach dem Verhältnis von Gentechnologie und Behinderung, mit der nach dem Charakter eines modernen Gemeinwesens. Und es geht dann vor allem um die Frage, welche behinderten Menschen, welcher Art von Gesellschaft förderlich sind.

Die Biomedizin fördert in der Gesellschaft ganz bewußt eine Erwartungshaltung für gesunde Kinder und suggeriert damit zugleich, man könne Behinderungen überhaupt abschaffen. Die sog. Präimpantationsdiagnostik (PID) bildet da lediglich einen Anfang. Einen Anfang am Anfang sozusagen. Denn mehr noch als an diesen Anfang, denn an das Ende des Lebens knüpfen sich die Erwartungen der Forschung und die Börsenphantasien um den Multi-Milliarden-Markt mit den (embryonalen) Stammzellen, der den Uralt-Mythos vom >Jungbrunnen für Alle< einzulösen verspricht.

Doch wie einst das Angebot exklusiver Schulen oder heute das Angebot exklusiver Wohnsiedlungen so verheißen morgen die Angebote der Genforschung und Humanprotetik nicht bloß das vermeintlich gute Leben, sondern vor allem auch gesellschaftliche Distinktion. Zu diesem >Club der genetisch Vollkommenen< werden nur verhältnismäßig wenige Zutritt haben. Man kann davon ausgehen, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, daß die enormen Kosten der Mitgliedschaft in diesem Zirkel keine Kinderkrankheit einer neuen Technologie darstellen, sondern ihr ständiges Merkmal bleiben werden.

Es wird immer wieder neue, unvermutet auftauchende Leiden zu kurieren geben, immer wieder neue Gene, denen die Gunst entzogen wird und die ersetzt werden müssen. Man kann sich dieses Privilegs also sicher sein - während die meisten traditionellen Privilegien von Tag zu Tag wackliger und zweifelhafter werden.

Das neue Privileg scheint lohnender zu sein als jedes andere. Die Distinktion wird nämlich nicht mehr so fragwürdige und umstrittene Begriffe wie mindere Intelligenz, geringeren Schneid, oder Fleiß, der rangniederen Sterblichen bemühen müssen. Gegen Statusüberlegenheit der Höhergestellten läßt sich nur Protest anmelden, wenn ihr sozialer Rang eine Klassenfrage, glücklicher Zufall oder einfach nur Skrupellosigkeit war. Aber wer will schon gegen die Gene protestieren?, fragt Zygmunt Bauman.

Die Vorfahren dieser Privilegierten, die die wunderbaren Erfindungen der Gentechnologie und der Humanprothetik demnächst für sich nutzen werden, wähnten einst die Götter auf ihrer Seite. Sie lassen sich noch heute im Fries des Pergamon-Altars bewundern: In seinen Roman >Die Ästhetik des Widerstands< interpretiert Peter Weiss den Sinn des dort in Stein gehauenen Reigens, in dem die gesamte, von Zeus geführte Götterschar zum Sieg schritt über ein Geschlecht von Riesen und Fabelwesen.

Die Giganten, die Söhne der klagenden Ge, hatten sich frevelnd gegen die Götter erhoben, andre Kämpfe aber, die über Pergamons Reich hingegangen waren, lagen unter dieser Darstellung verborgen. Die Regenten aus der Dynastie der Attaliden ließen sich von ihren Bildhauermeistern das schnell Vergehende, von tausenden mit ihrem Leben Bezahlte, auf eine Ebene des zeitlos Bestehenden übertragen und damit ein Denkmal ihrer eignen Größe und Unsterblichkeit errichten.

Aus der Unterwerfung der vom Norden eindringenden gallischen Völker war ein Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte geworden, und die Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen hatten das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt.

>In mythischer Verkleidung erscheinen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewunderung erregend, doch verständlich nicht als von Menschen hervorgerufen, sondern hinnehmbar nur als unpersönliche Macht, die Geknechtete, Versklavte wollte, in Unzahl, und wenige in der Höhe, die mit einem Fingerzeig die Geschicke bestimmten. Kaum wagte das Volk, als es vorbeizog an feierlichen Tagen, aufzublicken, zum Abbild seiner eigenen Geschichte<, schrieb Peter Weiss mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus.

Die gleichen Reichen und Mächtigen, die die >Segnungen< der Gentechnologie alsbald dazu nutzen werden, um ihre genetische und damit auch ihre soziale Fehllosigkeit zu demonstrieren, vermögen schon heute ihre Interessen allein über >die Macht des Faktischen< rigoros durchzusetzen. Ihre neuen Gesetzestafel feiern die Idee des aggressiven Wettbewerbs zwischen allen territorialen Gemeinschaften, allen Gesellschaftsgruppen, allen Individuen. Und überall wird der Eindruck vermittelt, als ginge es ums Überleben: >Ihr müßt die Besten, die Stärksten, die Gewinner sein; seid ihr es nicht, werden andere es sein<, lautet die Botschaft an jedes Land, jede Region, an jeden Einzelnen.

Flankiert wird das durch die von allen Medien kaum noch kaschiert lancierte Botschaft, nur schön und jung und koste es was es wolle, durchsetzungsfähig zu sein, sei die einzig lohnende Lebensform. Daß in dieser Perspektive jede Möglichkeit, menschliches Leben zu manipulieren, dankbar aufgegriffen wird, ist eine Selbstverständlichkeit. Rassismus? Mega out! Es lebe der Kult des Stärkeren! [Vgl. W.G.: >Die richtig in Ordnung sind< Rassismus und Sozialdarwinismus als Droge, in >zeitzeichen 12/2000, S. 10-12].

Und es ist durchaus kein Zufall, das es ausgerechnet diese sozialdarwinistischen Profiteure des Weltmarkts sind (und diejenigen, die sich auf ihrer Seite wähnen) die am intensivsten die Idee der Beseitigung aller Behinderungen (und zwar nicht nur im Sinne des Freihandels] propagieren. (Vgl. W.G. >Billig wie eine leere Cola-Dose<. Falsche Dogmen vom freien Welthandel, in: Lutherische Monatshefte, Heft 6/1996, S. 2-4)

Nein, natürlich nicht aller Behinderungen und Behinderten! Sie wissen selbst nur zu gut, daß die Mehrzahl aller Behinderungen auch in Zukunft überhaupt nichts mit der genetischen Ausstattung der Menschen zu tun haben wird, sondern auf unvermeidliche und vielleicht im gleichen Maße, auf gesellschaftlich vermeidbare Lebensrisiken zurückzuführen sein wird.

Ein sozialdarwinischer Kult des Stärksten, und eine auf diesem basierende Gesellschaft produziert nämlich nicht nur systematisch behinderte Menschen, sie benötigt sie geradezu: In Sport und Politik, Unterhaltung und Alltag dürfen sie sich als besonderes motivierte Verfechter des >survival of the fittest< präsentieren. In der festen Erwartung, daß dies von den (Noch-)Jungen, (Noch-)Starken und (Noch-)Gesunden im rechten Sinne re-interpretiert wird.

Dieses >survival of the fittest< ist die unausgesprochene Grundlage fast allen Gengeschäfts. Es hat den militärischen Einzelkämpfers zum Vorbild. Dieses Menschenbild, das keineswegs ein spezifisch soldatisches ist, widerspricht allen europäischen Grundwerten, allen christlichen und humanistischen Idealen. Aber es ist uns aufgrund unserer mehr als 100jährigen autoritären und nahezu 1000 jährigen nationalsozialistischen Vergangenheit durchaus nicht fremd. Und gerade deshalb ist es ein so mächtiger Hebel zur Rückgängigmachung einer (in den letzten drei Jahrzehnten) so mühsam errungenen zivilgesellschaftlichen Orientierung.

Insbesondere schwer- und mehrfachbehinderte Menschen aber, sind das genaue Gegenteil von isolierten Einzelkämpfern. Um ihre Qualitäten auch nur ansatzweise entfalten zu können, benötigen sie - wie grundsätzlich alle anderen Menschen auch ! - Unterstützung. >Ein Mensch soll des anderen Helfer sein<, könnte ihre (ebenso Brechtsche wie christliche) Lebensmaxime lauten.

Und so bringen gerade auch geistig behinderte Menschen, allein durch ihre pure Existenz, das unbewußte Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, Humanität und Solidarität in die Welt, das in jedem von uns steckt: >Ich bin glücklich, wenn ich verstanden werde!<.

Behinderte sind per se, ein Kristallisationskern, um den herum sich (bewußt oder unbewußt) der potentielle Widerpart zum Sozildarwinismus bildet. Sie mindern, allein dadurch, daß man sie gesellschaftlich trägt und/ oder erträgt, den Normierungs- und Selbstanpassungsdruck der auf der ganzen Gesellschaft lastet. Und zwar sowohl im direkt anschaulichen Sinne: >Egal, wie krank, schwach und behindert Du auch sein magst, Du wirst von dieser Gesellschaft getragen.<

Aber auch im abstrakt-normativen Sinne: Jede moderne, rationale Konkurrenzgesellschaft bringt - weil sie die >Normalität< als allgemeinen Maßstab benötigt - ganz automatisch auch das Nicht-Normale, das Nicht Angepaßte, das Behinderte hervor. Würde dies (z.B. durch die aktuell avisierten >Fortschritte< der Humangenetik) beseitigt, so würden zukünftig ganz neue, heute noch völlig >normale< Menschen an ihre Stelle treten, die nunmehr als >unnormal< gelten.

Behinderte Menschen sind, wenn man so will, der personifizierte Ausdruck all derjenigen Probleme und Lebensrisiken, die beispielsweise die moderne Medizin und die Ernährungsindustrie, das Moblilitätsdenken und das Militär zu lösen vorgeben. Deshalb tragen sie, allein durch ihre gesellschaftliche Anwesenheit, dazu bei, daß soziale Problemlagen und Konflikte als solche identifiziert und nicht biologisiert werden können.

Ganz allgemein gesprochen, läßt sich davon ausgehen, daß das Leben von und mit Behinderten ein Potential in sich birgt, das auf ganz spezielle Weise die Gesetze der Markt- und Konkurrenzgesellschaft zu unterlaufen in der Lage ist. Es birgt - wie jeder bewußte Umgang mit existentiellen Lebenssituationen (Krankheit, Geburt und Tod) - das Potential, um einen ganz anderen Maßstab, sowohl für den Umgang mit der eigenen Natur, als auch den mit der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt zutage zu fördern:

Weil es gezwungen ist, sich auf die eigenen (natürlich begrenzten) Ressourcen zu besinnen, vermag das Leben von und mit behinderten Menschen zugleich die eigenen Glücksversprechen und Hoffnungen zu bewahren. In der simplen Erkenntnis, daß es geradezu kontraproduktiv ist, alles uns mögliche (sofort) haben zu wollen und/oder (unverzüglich) tun zu müssen.

Die Frage, unter welchen Bedingungen angesichts der vermeintlichen gentechnologischen >Fortschritte<, in Zukunft ein Leben von und mit behinderten Menschen möglich sein wird, betrifft also keineswegs nur die unmittelbar Betroffenen. Zumindest im gleichen Maße geht es sowohl um das grundlegende gesellschaftliche Selbstverständnis, wie auch um den profanen gesellschaftlichen Alltag. Nämlich darum, ob >der Kältestrom, der unsere Gesellschaft durchfließt< (Oskar Negt) in Zukunft noch eisiger wird.

Ende der Leseprobe aus 5 Seiten

Details

Titel
Behinderte und Gesellschaft
Autor
Jahr
2001
Seiten
5
Katalognummer
V109441
ISBN (eBook)
9783640076222
Dateigröße
428 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Behinderte, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2001, Behinderte und Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109441

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