KZ-System und Asozialität im Nationalsozialismus


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2004

16 Seiten


Leseprobe


Walter Grode

KZSYSTEM UND ASOZIALITÄT IM NATIONALSOZIALISMUS

Die Vorgeschichte der 'Aktion 14f13'

Notiz: Bis auf wenige Ausnahmen gehörte das gesamte Stammpersonal der drei Venichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka, in denen zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Herbst 1943 mehr als 1,5 Millionen jüdische Menschen ermordet wurden, der 'Organisation T4' an, einer zum Zweck der Vernichtung von 'lebensunwerten' Insassen der Heil und Pflegeanstalten gegründeten Unternehmung. Die vorliegende Untersuchung weist nach, daß die 'T4'Mitarbeiter vor ihrer Abkommandierung zur 'Endlösung der Judenfrage' durch die Tötung von Konzentrationslagerhäftlingen im Rahmen der 'Sonderbehandlung 14f13' systematisch auf weitere Mordaktionen vorbereitet worden waren. Der folgende Text ist das 2004 überarbeitete erste Kapitel des Hauptteils der Studie des Verfassers: "Die 'Sonderbehandlung 14f13' in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Ein Beitrag zur Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik", Frankfurt a.M. 1987 Die im Text verwendeten einfachen Anführungszeichen verweisen distanzierend auf faschistische Termini.(vgl. Wulf 1963; Klemperer 1985)

Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann am 30. Januar 1933 die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland. Binnen weniger Monate wurde das bürgerlichdemokratische System liquidiert. Die KPD in die Illegalität getrieben, die SPD verboten und die Gewerkschaften zerschlagen. Alle rivalisierenden bürgerlichen Parteien wurden von den neuen Machthabern aufgelöst, demokratische, liberale und pazifistische Vereinigungen verboten und der Staatsapparat in Reich, Ländern und Gemeinden der faschistischen Politik voll dienstbar gemacht.

Dieser Prozeß wurde vor allem auch die Mittel des brutalen Terrors vorangetrieben, den die nationalsozialistischen Organisationen, insbesondere die SA und SS unterstützt von der allgemeinen und politischen Polizei, ausübten. Tausende Gegner des NSRegimes mußten ins Ausland flüchten, weitere Tausende wurden eingekerkert, mißhandelt und ermordet.

1. Zur Entwicklung des KZSytems in den ersten Jahren der NaziHerrschaft

Wenige Tage vor dem von den Nationalsozialisten inszenierten Reichstagsbrand 1 waren am 22. Februar 1933 vom preußischen Ministerpräsidenten Göring etwa 50.000 Mitglieder der SA, der SS und des Stahlhelm zu Hilfspolizisten ernannt worden. 2

Noch in der Brandnacht, nachträglich legitimiert durch die 'Verordnung zum Schutze von Volk und Staat', die ausdrücklich den Verfassungsartikel 114 aufhob, der die persönliche Freiheit garantiert hatte 3, nahmen Polizei und Naziorgane eine große Zahl von 'Staatsfeinden vorübergehend in Schutzhaft', ohne daß wie bis dahin gesetzlich vorgeschrieben eine mit Strafe bedrohte Handlung vorlag und die Verhafteten der Justiz zugeführt wurden. 4

Martin Broszat weist darauf hin, daß selbst offizielle Definitionen nationalsozialistischer Provinienz ausdrücklich bestätigen, daß die aufgrund der Verordnung vom 28. Februar 1933 angeordnete Schutzhaft "kein Instrument zur Ahndung strafbarer Handlungen sein sollte, sondern eine 'vorbeugende' Polizeimaßnahme zur Ausschaltung der von 'staatsfeindlichen Elementen' drohenden Gefahren. 5

Die erste auf diese Weise durchgeführte Terror und Verhaftungswelle richtete sich in den Tagen und Wochen nach dem Reichstagsbrand überwiegend gegen die KPD, deren Büros geschlossen, Zeitungen verboten und Funktionäre und Abgeordnete inhaftiert wurden. Ohne die nur für kurze Zeit festgehaltenen und die von SA und SS Verschleppten waren, wie Klaus Drobisch anführt, im März 1933 in Preußen, nach Aufzeichnungen des dortigen Innenministeriums, ständig etwa 15.000 Personen in 'Schutzhaft'. 6 Die tatsächliche Gesamtzahl der Verhafteten dürfte aber noch wesentlich höher gelegen haben, wie Martin Broszat am Beispiel des Regierungsbezirks Düsseldorf zeigt, in dem in den beiden ersten Monaten nach dem Reichstagsbrand allein 3.818 >Schutzhäftlinge< registriert waren. 7

Nach der Liquidierung der freien Gewerkschaften und dem Verbot der SPD folgte im Sommer 1933 eine zweite Verhaftungswelle mit dem Ergebnis, daß sich, so Falk Pingel, am 31. Juli 1933 im gesamten Reichsgebiet mehr als 26.000 Personen in >Schutzhaft< befanden. 8

In diesen Anfangsmonaten wurden die 'Schutzhäftlinge' zumeist in Kasernen, leere Fabrikgebäude, Justizanstalten oder auch alte Burgen gesperrt, die vorwiegend in Großstädten und Industriegebieten oder in deren Nähe lagen. Wesentlich seltener waren zu dieser Zeit noch Barackenlager wie Dachau bei München oder Börgermoor und Esterwegen im Emsland, die später zur Regelform der sog. Konzentrationslager wurden. 9

Für die eingekerkerten Häftlinge machte es allerdings nicht den geringsten Unterschied, ob sie in "wilden Lagern", Justizanstalten oder staatlichen Konzentrationslagern einem erbarmungslosen Prügel und Mordregime ihrer Bewacher, zumeist unter dem Kommando der SA, ausgesetzt waren. So gab es wohl kaum eine Form pervertierten Sadismus, die von den SALeuten nicht praktiziert worden wäre.

Allerdings, und hier liegt der wesentliche Unterschied gegenüber dem später von der SS praktizierten TerrorRegime, waren diese, wie Eugen Kogon betont, "durchweg Akte individueller Bestialität und kein durchorganisiertes kaltes System, das die Massen erfaßte." 10

Im gleichen Maße jedoch, wie es Himmler gelang, den Befehl über die politische Polizei im gesamten Reichsgebiet in seiner Hand zusammenzufassen 11, wuchs auch der Einfluß der SS über die Lager. Nachdem sich Hitler am 30. Juni 1934 seiner einstigen Gefolgsleute und späteren Kontrahenten aus den SAFührungskreisen entledigt hatte, wurden die Konzentrationslager gänzlich der SS unterstellt.

2. Zur Funktion der SSTotenkopfverbände

Die Übernahme der Konzentrationslager durch die SS ab Sommer 1934 bedeutete, daß der bis dahin von den SASchlägertrupps gegenüber den Häftlingen praktizierte "wilde" Terror vereinheitlicht und systematisiert wurde.

Durch die Auflösung kleiner Lager, die Übernahme von Lagern durch die Justiz und die Übergabe von Häftlingen an große Lager, wurde unter der Leitung des 'SSObergruppenführer' Eicke, der vom Lagerkommandanten des bereits im März 1933 als Modellager gegründeten KZ Dachau zum 'Inspekteur der Konzentrationslager' aufgestiegen war, ab Mitte März 1935 die Zahl der Konzentrationslager auf sieben (Dachau, Esterwegen, Lichtenburg, Sachsenburg, Berlin/ColumbiaHaus, Oranienburg und HamburgFuhlsbüttel) verringert, in denen sich insgesamt etwa 7.000 bis 9.000 Häftlinge befanden. 12

Bei sämtlichen KZ waren kasernierte SSWachverbände stationiert: Sie trugen die Namen >Oberbayern< (KL Dachau), >Ostfriesland< (KL Esterwegen), >Elbe< (KL Lichtenberg), >Sachsen< (KL Sachsenburg), >Brandenburg< (KL Oranienburg und ColumbiaHaus) und >Hansa< (KLHamburgFuhlsbüttel)" 13

Seit Ende 1934 gehörten diese Einheiten nicht mehr zum Gesamtverband der Allgemeinen SS, sondern wurden als eigenständige Wachverbände oder nach ihrem in Dachau schon 1933 eingeführten Totenkopfabzeichen auf den UniformKragenspiegel als >Totenkopfverbände< geführt. 14

Jeder 'Totenkopfverband' bestand aus etwa 1.000 bis 1.500 SSMännern. 15 Der Ausbau der Organisation lieferte jedoch nur den äußeren Rahmen für die systematische Weiterentwicklung des SSTerrors. Auf welche Art und Weise diese Systematisierung vollzogen wurde, zeigt beispielsweise die Übernahme der >Disziplinar und Strafordnung< des KZ Dachau in fast allen übrigen Lagern. 16 Eine eindrucksvolle Beschreibung der in dieser >Ordnung< festgelegten Methoden der Prügelstrafe, des Essensentzugs und des Arrestes, durch die die Häftlinge eingeschüchtert, demoralisiert und zerbrochen werden sollten, findet sich im Buch Ernst Antonis "KZ Von Dachau bis Auschwitz". 17

Über die Erniedrigung der Gefangenen hinaus sollten diese >Disziplinar und Strafordnungen< durch die Form, in der die vorgesehenen >Strafen< exekutiert wurden, den Tätern das Gefühl vermitteln, als sei ihr Tun unpersönlich und anonym: So wurde für die Ausführung der Prügelstrafe in Dachau angeordnet, diese sei vor angetretener Truppe der SSWachmannschaften und den Häftlingen sowie in Gegenwart des Lagerkommandanten bzw. 'Schutzhaftlagerführers' von mehreren SSLeuten zu vollziehen. 18 Dadurch sollte bewußt dokumentiert und vorexerziert werden, daß die KZ>Strafen< der Willkür des einzelnen Bewachers entzogen bleibt und damit quasi ein >ordentlicher< Strafvollzug seien. Durch die Durchführung der Bestrafung durch jeweils mehrere SSMänner sollte, so Martin Broszat, die Mißhandlung zugleich unpersönlich und anonym gemacht und auch der jüngste Angehörige der 'Totenkopverbände' gleichsam von Anfang an an diesen Vorgang gewöhnt werden, zu dem er jederzeit selbst abkommandiert werden konnte. 19

Wie die Strafen, so hatte auch die Arbeit der Häftlinge während der Vorkriegsphase und während der ersten beiden Kriegsjahre den Hauptzweck, insbesondere die inhaftierten politischen Häftlinge zu entwürdigen und zu zerbrechen. Dieses galt nicht nur für völlig sinnlose Arbeiten wie beispielsweise das Aufschichten von Mauern, die am nächsten Tag wieder abgetragen und am folgenden wiederum neu aufgebaut werden mußten 20, sondern auch für fast alle (für die SS) sinnvollen Arbeiten in Lageraußenkommands (Steinbrüche, Torfstiche, Straßenbauarbeiten u.a.), den Innenkommandos (Küche, Magazin, Holzhof, Gärtnerei, u.a.) und den ab 1938 von der SSFührung eingerichteten SSWirtschaftsunternehmungen, die, nach Auffassung Enno Georgs, ihren primären Ursprung zumeist in weltanschaulichen Zielsetzungen hatten. 21

Alle diese Tätigkeiten wurden von der SS so ausgestaltet, daß sie für die Gefangenen zu einer schikanösen, demoralisierenden und oftmals lebensbedrohlichen Sklavenarbeit wurden: das galt selbst, so erinnert sich Eugen Kogon, für die "Gartenarbeit, wie sie in der zivilisierten Welt als eine eher angenehme Tätigkeit, ja geradezu als Erholung bekannt ist." 22

Im Unterschied zur zweiten Kriegshälfte, als in den KZ die Auspressung der Häftlingsarbeitskräfte, insbesondere in der Rüstungsindustrie, immer weiter in den Vordergrund trat und die Häftlinge von der SS an die kriegswichtigen Betriebe "ausgeliehen" wurden und so dem unmittelbaren Druck der SS zumindest zeitweise entzogen waren, wurden, so schreibt Heinz Kühnrich, bis 1941 so gut wie nie politische Häftlinge privaten Betrieben überlassen. 23 Der Grund für diese Zurückhaltung, durch die der SS faktisch die unumschränkte Verfügungsgewalt über die KZHäftlinge eingeräumt wurde, lag wahrscheinlich in der Furcht der NSMachthaber vor einer Wiederausbreitung des 'marxistischen Bazillengiftes' unter der Arbeiterschaft, aus der heraus, wie Streit nachweist, im Sommer 1941 anfänglich auch der Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener in der Rüstungsindustrie verboten worden war. 24

Wie die Arbeit der KZHäftlinge, so hatte auch ihr gesamter übriger Tagesablauf den gleichen destruktiven Charakter. 25 Durch die systematische Entwürdigung und Herabsetzung sollten die politischen Häftlinge jedoch nicht nur zerbrochen und so als Gegner des NSRegimes 'ausgeschaltet' werden, sondern sie wurden darüber hinaus in den Augen ihrer Bewacher zu 'Untermenschen' gestempelt. 26 Denn je tiefer die Häftlinge in ihrer Existenz erniedrigt wurden, desto mehr erschienen insbesondere die Totenkopfverbände, die für die Ausbildung der gesamten SSArmee zuständig waren die bereits 1936 eine Stärke von 210.000 Mann erreicht hatte 27, als die Verkörperung des 'natürlichen Herrenmenschen'.

Das, wie Eugen Kogon es nennt, "psychologische TotenkopfTraining" 28 war von der SSFührung systematisch durch organisiert worden: Zu Beginn kamen die zumeist sehr jungen Männer der überwiegende Teil war im Alter zwischen 16 und 20 Jahren 29, in Ausbildungseinheiten, in denen sie nach allen Regeln der Kasernenhofkunst >gedrillt< wurden, damit aus ihnen 'stahlharte deutsche Männer' werden sollten, die wie es DachauKommandant Eicke auszudrücken pflegte, "nicht als Weichlinge vor diese Untermenschen zu treten brauchten." 30

Nachdem das zukünftige 'KLStammpersonal' am eigenen Leibe erfahren hatte, was Kasernenhof bedeuten kann, wurde es auf die politischen Häftlinge losgelassen, an denen es, so Eugen Kogon, seine doppelte Wut austobte: die Wut über die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und die Wut über das Ausbildungsreglement, das sie eben noch selbst zu erdulden hatten das ihnen aber kaum überwunden, schon als Vorbild und als Inbegriff männlichen Daseins erschien. 31

Wer sich von den jungen SSMännern in diesem 'Härtetest' als besonders tüchtig erwies, wurde rasch befördert. Diejenigen allerdings, die zu weich und >Sentimentalitäten< zugänglich waren, wurden vor versammelter Mannschaft degradiert; in Fällen, in denen nachgewiesen werden konnte, daß sie mit den Gefangenen gemeinsame Sache gemacht hatten, wurden sie, so Eugen Kogon weiter, "den Untermenschen beigestellt." 32

Umgekehrt hatte es die Mehrzahl der SSMänner ihrem in den KZStammannschaften bewiesenen Sadismus zu danken, wenn sie rasch Karriere machten und zu eigentlichen Führungsaufgaben herangezogen wurden. 33 Typische Beispiele für solche Karrieren waren im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit die Aufstiege der 'aktiven SSMänner' Oberhauser, Schwarz und Niemann aus der SSTotenkopfstandarte des KZ Buchenwald, die allesamt über die Durchgangsstation der EuthanasieOrganisation 'T4' 34, im Rahmen ihres Einsatzes bei der 'Endlösung der Judenfrage' zu Unteroffizieren und Offizieren wurden. 35

Auf diese Weise dienten die SSTotenkopfverbände in den KZ als Erziehungsanstalten für unerbittliche, keiner menschlichen Regung mehr zugänglichen Fachleute der Brutalität, wie sie von der faschistischen Führung nicht nur gebraucht wurden, um das eigene Volk im Zaum zu halten, sondern auch und vor allem, um die Herrschaft über die >minderwertigen Rassen< Osteuropas aufzurichten und aufrechtzuerhalten.

3. Zur Funktion der 'Asozialen' in den Konzentrationslagern

Während sich in den beiden ersten Jahren des NSRegimes fast ausschließlich politische Häftlinge, also explizite NSGegner, in den KZ befanden, so dienten sie ab 1935/36 zusätzlich zur Inhaftierung einer recht großen Zahl weiterer "unerwünschter" Bevölkerungsgruppen. 36

Unter diesen Gruppen soll die Rolle der sog. 'Asozialen' besonders berücksichtigt werden, weil sie zum einen für die SS u.a. zur Personifizierung des >GegenbildMenschen< wurden und darüber hinaus im Frühjahr und Sommer 1941 im wesentlichen die Gruppe von 'Auszumusternden' bildeten, die als erste der >Sonderbehandlung 14f13< zum Opfer fiel.

Den Hintergrund für die Einweisung von >Asozialen< und >Arbeitsscheuen< in die KZ bildete die Arbeitskräftesituation in Deutschland während der Phase der direkten Kriegsvorbereitung.

3.1 Aufrüstung und Arbeitskräftebedarf

Die Jahre von 1936 bis 1939 waren durch die unmittelbaren Vorbereitungen zum Kriege gekennzeichnet. Auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP wurde im September 1936 der sog. 'Vierjahresplan' verabschiedet, dessen Ziel es war, Deutschland innerhalb von vier Jahren kriegsbereit zu machen. 37

Schon als ein Jahr zuvor, im März 1935, hatte die "IG. Farbenindustrie AG" in einer Denkschrift für den Rüstungsbeirat des Reichswehrministeriums, in dem neben Vertretern der Reichswehr auch die wichtigsten Konzerne vertreten waren 38, zur Vorbereitung der Industrie auf den Krieg" die Schaffung einer "wehrwirtschaftlichen Neuorganisation" gefordert, "die den letzten Mann und die letzte Frau, die letzte Produktionseinrichtung und Maschine sowie den letzten Rohstoff der Erzeugung von kriegswichtigen Produkten zuführt und alle Arbeitskräfte, Produktionseinrichtungen und Rohstoffe in einem militärisch straff geführten wirtschaftlichen Organismus eingliedert." 39

Neben der Sorge um den Rohstoffnachschub bildete also die Sicherung des Arbeitskräftebedarfs den zentralen Gegenstand der Planungen der Konzerne im Rahmen der Kriegsvorbereitung. Das eigentliche Problem war hierbei allerdings nicht so sehr das Fehlen von Arbeitskräften, weist doch Lotte Zumpe darauf hin, daß im Herbst 1936 noch immer 1,3 Millionen Arbeitslose registriert waren 40, sondern das Lebensniveau der Arbeiter, das durch die wachsende Konkurrenz um die Arbeitskraft nicht mehr auf dem (katastrophal niedrigen) Niveau der Weltwirtschaftskrise festgehalten werden konnte.

Entsprechend bildeten "die übermäßig erhöhten Löhne" den Grund für einen der ersten Gesetzentwürfe der neu gegründete Vierjahresplanbehörde, der das Ziel hatte ein "Wegengagieren" der Arbeitskräfte zu verhindern. 41 Diesem Gesetzentwurf folgten innerhalb kürzester Frist eine Reihe von Verordnungen zur Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels, Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit und teilweisen Dienstverpflichtungen. 42

Doch insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich, in dem die Freizügigkeit bereits 1934 eingeschränkt worden war, hielt die Abwanderung in den industriellen Sektor unvermindert an. Hier waren es neben den eigentlichen Landarbeitern besonders die der Ausbeutung am stärksten unterworfenen Knechte und Mägde, die in die Städte abwanderten. 43 Als Folge dieser Entwicklung ging in den Vorkriegsjahren die Gesamtzahl der "familienfremden Arbeitskräfte" in der Landwirtschaft um weit über 100.000 zurück. 44

3.2 Einweisungsaktionen von 'Asozialen' und 'Arbeitsscheuen' als Beitrag zur Behebung des Arbeitskräftemangels und zur Stärkung der allgemeinen Arbeitsdisziplin

Im Februar 1937, so Heinz Kühnrich, verkündete SSChef Himmler, daß er von Göring, dem 'Beauftragten für den Vierjahresplan', den Sonderauftrag erhalten habe, "den Landarbeitermangel dadurch zu beheben, daß alle 'Arbeitsscheuen' in Lager gebracht werden, um Arbeitskräfte zu gewinnen." 45

Offiziell ordnete Himmler am 23. Februar an, daß "etwa 2.000 Berufs und Gewohnheitsverbrecher in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen" seien. 46 Der Begriff "Gewohnheitsverbrecher", so schreibt HansLudwig Siemen, war weit gefaßt. Eine Einordnung sollte sich aus der Gesamtwürdigung einer gewissen Mindestzahl von Taten ergeben. "Nach einer Statistik von 1937", so fährt Siemen fort, "nahmen unter diesen (den "Gewohnheitsverbrechern", W.G.) die 'Spitzbuben und Betrüger' mit 77,49% den ersten Rang ein. Die Eigentumsdelikte bestanden hauptsächlich in Mundraub, mehrmaligen Fahrraddiebstählen, nicht zurückgezahlten Schulden von wenigen Mark, Mietschulden etc." 47 Zusätzlich zu diesem Personenkreis sollten bei dieser Aktion auch diejenigen in Vorbeugehaft genommen werden, die "ohne Berufs oder Gewohnheitsverbrecher zu sein" durch ihr "asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährden." 48

Auch der Kreis der Personen, die wegen ihrer 'Asozialität' in 'Schutzhaft' genommen werden konnten, war bereits auf den Erlaßwege voran festgelegt worden: zu ihnen gehörten "Bettler, Landstreicher, Zigeuner, Landfahrer, Arbeitsscheue, Müßiggänger, Prostituierte, Querulanten, Gewohnheitsverbrecher, Raufbolde, Verkehrssünder und sogenannte Psychopathen und Geisteskranke". 49 Entsprechend dieser Definition ließ sich die Zahl der in die KZ einzuweisenden 'asozialen' Personen fast beliebig erweitern.

Im Unterschied zu dieser erste Aktion vom Frühjahr 1937, die unter der Rubrik 'Vorbeugende Verbrechensbekämpfung' ablief, war schon in Himmlers nächstem Erlaß zu lesen Komplex von Kriminalität lediglich noch im Titel die Rede. Am 16. Januar des folgenden Jahres kündigte der SS und Polizeichef der Geheimen Staatspolizei und dem Leiter der Staatspolizeileitstellen in einem Runderlaß "einen einmaligen, umfassenden und überraschenden Zugriff" gegen sogenannte Arbeitsscheue an. Als 'arbeitsscheu' galt, wer trotz ärztlich bescheinigter "Einsatzfähigkeit ... in zwei Fällen ... die angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltige Gründe wieder aufgegeben" hatte. 50 Die bei dieser Aktion, der sogenannten 'Aktion Arbeitsscheu Reich', ermittelten 'Arbeitsscheuen' sollten im Laufe des Monats März 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert werden. 51

Zusätzlich zur Aktion vom März ordnete das Reichskriminalpolizeiamt am 1. Juni 1938 eine weitere Maßnahme gegen 'Asoziale' an. Pro Kriminalpolizeistellenbezirk sollten "mindestens 200 männliche arbeitsfähige Personen (asoziale)" 52 in Vorbeugehaft genommen werden. Dabei sollten vor allem berücksichtigt werden:

"a) Landstreicher, die zur Zeit ohne Arbeit von Ort zu Ort ziehen;
b) Bettler, auch wenn diese einen festen Wohnsitz haben;
c) Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehende Personen, wenn sie keinen Willen zur geregelten Arbeit gezeigt haben oder straffällig geworden sind;
d) Zuhälter, die in ein einschlägiges Strafverfahren verwickelt waren selbst wenn eine Überführung nicht möglich war und heute noch in Zuhälter und Dirnenkreisen verkehren, oder Personen, die in dringendem Verdacht stehen, sich zuhälterisch zu betätigen;
e) solche Personen, die zahlreiche Vorstrafen wegen Widerstandes, Körperverletzung, Raufhandels, Hausfriedensbruchs u. dgl. Erhalten und dadurch gezeigt haben, daß sie sich in die Ordnung der Volksgemeinschaft nicht einfügen wollen." 53

Obwohl auch im Vorwort dieses Erlasses wiederum darauf hingewiesen wurde, daß der 'vorbeugenden Verbrechensbekämpfung' dienen sollte, so läßt doch der Vortrag des Chefs der 'Dienststelle Vierjahresplan' im 'Persönlichen Stab des ReichsführersSS', SSOberführer Greifelt, vom Sommer 1938, kaum einen Zweifel, daß die Sonderaktionen, die 1937 und 1938 gegen 'Asoziale' und 'Arbeitsscheue' durchgeführt worden waren, in erster Linie den Zweck verfolgten, einen Beitrag zur Behebung des damals herrschenden Arbeitskräftemangels zu leisten.

In Greifelts Vortrag hieß es u.a.: "Bei der angespannten Lage am Arbeitsmarkt war es ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin, alle Personen, die sich dem Arbeitsleben der Nation nicht einpassen wollten und als Arbeitsscheue und Asoziale dahinvegetieren und Großstädte und Landstraßen unsicher machen, auf dem Zwangswege zu erfassen und zur Arbeit anzuhalten. Hier wurde auf Anregung der Dienststelle Vierjahresplan seitens der Geheimen Staatspolizei mit aller Energie durchgegriffen. Gleichzeitig wurden Landstreicher, Bettler, Zigeuner und Zuhälter von der Kriminalpolizei aufgegriffen und schließlich die böswilligen Unterhaltsverweigerer erfaßt. Weit über 10.000 derartiger asozialer Kräfte machen laufend eine Erziehungskur zur Arbeit in den hierfür hervorrgend geeigneten Konzentrationslagern durch." 54

Der Tenor der oben angeführten Erlasse und der zitierten Rede zeigt aber auch, daß die Ausnutzung der bisher nicht verwerteten Arbeitskraft der 'Asozialen' nur den Hauptaspekt der Verfolgungsmaßnahmen darstellte, lag doch die zweite Zielrichtung in der Bedrohung all derjenigen, die sich in den Betrieben den erhöhten Leistungsanforderungen der Kriegsvorbereitungen widersetzten.

Fritz Bringmann schreibt zu diesem Aspekt, daß "zur Abschreckung in den Betrieben unliebsame Arbeiter, die sich nicht widerspruchslos der Antreiberei der Meister und der Betriebsführung unterordneten, sogenannte Arbeitsbummelanten und Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgingen (Bettler, Hausierer) im Juni 1938 zu Tausenden verhaftet und in die Konzentrationslager verschleppt (wurden)." 55

Wie dringlich solche Drohungen gegen 'Arbeitsbummelanten' offenbar waren, zeigen die von Zumpe angeführten Berichte des 'Reichstreuhänders der Arbeit' aus dem Jahre 1938, in denen von anhaltenden Ermüdungserscheinungen in den Betrieben, von Ablehnungen von Überstunden und sogar von sich häufenden Sabotageakten die Rede war. 56

Die Maßstäbe für die Einlieferung von 'Asozialen' in die KZ wurden in der SS und Polizeipraxis offenbar eher noch über das in den oben genannten Erlassen vorgesehene Maß hinaus ausgedehnt. Dies zeigt auch Eugen Kogons Charakteristik dieser Häftlingsgruppe:

"Neben wirklichen Landstreichern, Speckjägern, kleinen Taschendieben und Jahrmarktgaunern, notorischen Säufern, Zuhältern und Alimentendrückebergern gab es unter den als asozial Verhafteten auch genug Leute, denen nichts anderes vorzuwerfen war, als daß sie etwa zweimal zur Arbeit zu spät gekommen waren oder unberechtigt Urlaub genommen, ohne Genehmigung des Arbeitsamtes den Arbeitsplatz gewechselt, ihr nationalsozialistisches Dienstmädchen 'schlecht behandelt', als Eintänzer ihr Brot verdient hatten, und was dergleichen 'Vergehen' mehr waren." 57

3.3 Weitere Gründe für die Einweisung von 'Asozialen' in die Konzentrationslager

Ab 1936 wurden die KZHäftlinge nicht mehr nur allein in den schon erwähnten Innen und Außenarbeitskommandos eingesetzt, sondern darüber hinaus zum Bau neuer Lager. Zumeist geschah dieses durch die Einrichtung von Außenstellen der sog. 'Stammlager', die nach entsprechender Ausdehnung zu eigenständigen Konzentrationslagern erklärt wurden. 58

Ausschlaggebend für die Standortwahl der neu errichteten Lager, und dieses zeigt sich besonders deutlich an den Beispielen Sachsenhausen und Ravensbrück, nördlich bzw. nordöstlich von Berlin und Buchenwald bei Weimar in Thüringen, waren Überlegungen der faschistischen Machthaber, daß die angrenzenden Regionen im Mobilmachungsfalle in besonderem Maße von 'staatsfeindlichen Elementen' heimgesucht werden würden. Ähnliches galt auch für die Wahl der Standorte Flossenbürg in der Oberpfalz, nahe der tschechoslowakischen Grenze und Mauthausen bei Linz in Oberösterreich. 59

Unmittelbar vor Kriegsbeginn bestanden im 'Großdeutschen Reich' sechs Hauptlager und vier Nebenlager, die gemeinsam eine Aufnahmekapazität von etwa 20.000 Häftlingen gehabt haben dürften. Vor diesem Hintergrund hatten die Einweisungsaktionen der 'Asozialen', nach Auffassung Falk Pingels, den Nebenzweck, die neuen, auf den Mobilmachungsfall hin geplanten Lager aufzufüllen, die für die bisherige Hauptkategorie der politischen Häftlinge zu groß waren. 61

Ein weiterer wichtiger Grund für die 'Inschutzhaftnahme' der 'Asozialen' lag sicherlich darin, daß diese Bevölkerungsgruppe, schon allein wegen mancher Verhaltensweisen und äußeren Erscheinung dem Menschentypus zu entsprechen schien, mit dem die SS der Öffentlichkeit und dem Ausland gegenüber immer wieder das Bestehen des KZSystems zu rechtfertigen versuchte. 62

Auch bei den regelmäßig stattfindenden 'Massenbesuchen' von Polizeischulen und Offiziersnachwuchs in den Konzentrationslagern, auf die Eugen Kogon aufmerksam macht 63, dienten die 'asozialen' Häftlinge zur Darstellung jenes Bildes, das SSChef Himmler während eines Vortrags vor Wehrmachtsoffizieren folgendermaßen gekennzeichnet hatte: "Darüber hinaus wäre es für jeden einzelnen einigen Herren der Wehrmacht habe ich es schon ermöglichen können unerhört instruktiv, so ein Konzentrationslager einmal anzusehen. Wenn Sie das gesehen haben, sind Sie davon überzeugt: Von denen sitzt keiner zu Unrecht; keine lebendigere Demonstration für Erb und Rassengesetze, als so ein Konzentrationslager. Das sind Leute mit Wasserköpfen, Schielende, Verwachsene, Halbjuden, eine Unmenge rassisch minderwertigen Zeugs Ich wiederhole: So etwas an Typen werden Sie gar nicht für möglich halten. Unendlich viele Vorbestrafte sind darunter, gerade bei den politischen Verbrechern." 64

Auf diese Weise trugen die 'asozialen' Häftlinge mit dazu bei, daß die KZ für die Wehrmacht zu einer Art Schaufenster und für die 'SSTotenkopfverbände' zu einer Art Schule im Umgang mit 'Untermenschen' werden konnten.

4. Die Veränderung der Situation der 'asozialen' Häftlinge in der KZ durch den Kriegsbeginn

Parallel zur Entfesselung des Krieges erfolgte eine weitere Verschärfung des faschistischen Terrors gegenüber allen Regimegegnern. 65 Noch in den Nachtstunden des 31. August 1939 hatte SDChef Heydrich den Befehl gegeben, gemäß einer vorsorglich bereits 1936 angelegten Kartei aller 'Staatsfeinde' 66, mehr als 2.000 Kommunisten und Sozialdemokraten zu verhaften. 67

4.1 Die Inhaftierung von polnischen Staatsbürgern

Insbesondere jedoch erstreckten sich die Verhaftungsaktionen der Gestapo bei Kriegsbeginn auf die neu eroberten polnischen Territorien, die fortan, so stellt Martin Broszat fest, den überwiegenden Teil der Neuzugänge in den Konzentrationslagern stellten. 68 So erinnern sich ehemalige politische Häftlinge des KZ Buchenwald, daß im Oktober 1939 mehr als 2.000 als sogenannte 'Heckenschützen', in Wirklichkeit aber fast willkürlich festgenommene Polen ins Lager überstellt wurden, wo sie unter barbarischen Verhältnissen in Zelten auf dem halbfertigen Appellplatz untergebracht wurden. 69

Waren die Lebensverhältnisse für die deutschen Häftlinge schon entwürdigend genug, so tobte sich, wie Kogon schreibt, der systematische Terror der SSBewacher forthin noch viel maßloser an den polnischen Häftlingen, insbesondere denen jüdischer Herkunft, aus. 70

Bis Kriegsbeginn hatten die 'SSTotenkopfverbände' für ihre Schulungs und Anschauungszwecke mit 'Menschenmaterial' aus dem eigenen Volk vorliebnehmen müssen, das zu einem großen Teil erst hatte entsprechend zugerichtet werden müssen, ehe es als Gegenbild zu ihrem eigenen 'Herrenmenschentum' hatte dienen können. Mit der Inhaftierung der polnischen Menschen standen ab Herbst 1939 die vermeintlichen 'Untermenschen' zur unmittelbaren Verfügung.

Da Wehrmachts, Polizei und allgemeine SSVerbände mit dem Einmarsch in Polen nicht mehr auf das 'Anschauungsmaterial' der Konzentrationslager angewiesen waren, reduzierte sich der ideologische Wert der rassisch 'minderwertigen' KZHäftlinge weitgehend auf ihre Funktion als 'Schulungsmaterial' für die SSRekruten zu dienen.

Noch viel mehr traf dieser Funktionsverlust auf die in den KZ inhaftierten 'Asozialen' zu, die nunmehr, da aus NSSicht nunmehr die Originale zur Verfügung standen, als 'UntermenschenModelle' überflüssig geworden waren.

4.2 Die Veränderung der Arbeitskräftesituation durch den Kriegsbeginn

Der akute Mangel an Arbeitskräften, insbesondere in der Landwirtschaft, wie er sich schon in der Phase der Kriegsvorbereitung gezeigt hatte, wurde durch die Einberufungen zur Wehrmacht kurzfristig noch verstärkt.

Mit dem erfolgreichen Überfall auf Polen jedoch begann sich das Arbeitskräfteproblem innerhalb weniger Wochen zu lösen, da sich ein schier unerschöpfliches Arbeitskräftereservoir eröffnete: die Kriegsgefangenen und die arbeitsfähige Bevölkerung der besetzten Gebiete.

So wurden, wie Lotte Zumpe schreibt, allein in den ersten Wochen und Monaten des Krieges 300.000 polnische Kriegsgefangene vor allem auf den Besitzungen der mittel und ostdeutschen Großgrundbesitzer "zum Einsatz gebracht". 71

Offenbar aber schien durch diesen Großeinsatz von Kriegsgefangenen der landwirtschaftliche Arbeitskräftebedarf noch keineswegs gedeckt, sondern im Gegenteil erst richtig geweckt worden zu sein, denn schon sehr bald gingen die deutschen Besatzer in Polen gegenüber der einheimischen Zivilbevölkerung zur Methode der 'forcierten Anwerbung' über. So erklärte der zuständige 'Generalgouverneur' Frank im März 1940 in Berlin, daß er, "wenn man es von ihm verlange, einen Zwang etwa in der Weise ausüben könnte, daß er von der Polizei ein Dorf umstellen und die in Frage kommenden Männer und Frauen zwangsweise herausholen und sie dann nach Deutschland bringe." 72

Als Ergebnis dieser Bemühungen konnte der für den Arbeitskräfteeinsatz im sog. 'Generalgouvernement' zuständige 'Reichshauptamtsleiter Dr. Frauenhofer am 21. April 1940 melden, daß bisher etwa 160.000 Landarbeiter und ungefähr 50.000 gewerbliche Arbeiter ins 'Reich' verschickt worden seien. 73

In Deutschland wurden die verschleppten polnischen Bürger einem System totaler Diskriminierung unterworfen. So mußten alle 'Polen' ein sichtbares Zeichen tragen, jeder menschliche Kontakt mit Deutschen wurde untersagt, geschlechtliche Beziehungen mit dem Tod bestraft, die Bewegungsfreiheit wurde fast gänzlich eingeschränkt und bei 'unzureichender' Arbeitsleistung drohte die Einweisung in ein Konzentrationslager. 74

Ab Mitte 1940 war, so Lotte Zumpe, auf diese Weise der allgemeine Landarbeitermangel 'im Reich' behoben und es erfolgte von diesem Zeitpunkt an eine verstärkte Zuweisung auch von Kriegsgefangenen an die Industrie. 75

Spätestens seit Sommer 1940 also, so geht aus dem mir vorliegenden Material hervor, waren die für Arbeiten in der Landwirtschaft ohnehin wenig geeigneten 'Asozialen' und 'Arbeitsscheuen' auch als Arbeitskräfte für die SS uninteressant geworden.

4.3 Die Auswirkungen des Funktionsverlustes für die 'asozialen' Häftlinge

Da die 'Asozialen' und 'Arbeitsscheuen' mit Kriegsbeginn ihre Platzhalterfunktion in den KZ verloren hatten, als Anschauungsobjekte zunehmend überflüssig geworden waren und spätestens seit Mitte 1940 im landwirtschaftlichen Arbeitskräftekalkül keine Rolle mehr spielten, versuchte die SS, nach Meinung des Verfassers, sich dieser Häftlingskategorie wieder zu entledigen.

Dies wird auch aus den Aufzeichnungen Eugen Kogons deutlich, wenn er schreibt, daß die 'Asozialen' bei den Entlassungen aus den KZ den höchsten Prozentsatz<stellten und desgleichen bei den während des Krieges erfolgten Einziehungen von 'Schutzhäftlingen' zur deutschen Wehrmacht. 76

Diejenigen 'Asozialen' aber, die weder direkt aus den KZ entlassen, noch zur Wehrmacht einberufen wurden, sollten den 'modernen Methoden der Psychiatrie' unterworfen werden, damit aus ihnen 'gesunde Glieder des Volkskörpers' werden würden. Der mögliche Erfolg solcher therapeutischen Bemühungen schien allerdings von vornherein eher zweifelhaft. So schätze Der Würzburger PsychiatrieOrdinarius Prof. Heyde, auf Grund seiner Erfahrungen auf dem Gebiet der 'Euthanasie' zweifellos eine Kapazität im Zusammenhang mit der Bewertung 'minderwertiger Existenzen', im Januar 1940 den Anteil der "wirklich Besserungsfähigen" unter den "gemeinschaftsfeindlichen und gemeinschaftsstörenden Individuen" als sehr gering ein und obwohl sich nach seiner Meinung unter den Inhaftierten 'Asozialen' noch ein relativ hoher Anteil "dressurfähiger" befände, so sagte Heyde voraus, daß mit Sicherheit ein Rest von "weder besserungs noch dressurfähigen Individuen" übrigbleiben werde, der unter keinen Umständen aus den Konzentrationslagern entlassen werden dürfe. 77

Dieser übrigbleibende 'Rest' wurde von der SS, so Ernst Klee, zunehmend als 'Ballast' angesehen 78, den es bei Gelegenheit zu beseitigen galt. Die sich damit seit Kriegsbeginn, nicht zuletzt wegen des sich auf seiten des faschistischen Terrorapparats zunehmend verstärkenden Gefühls der Straflosigkeit, abzeichnende Vernichtung großer Teile der 'asozialen' Häftlinge in den KZ, war jedoch nicht allein, wie Martin Broszat betont, eine ideologisch motivierte Maßnahme "volksbiologischer Reinigung" 79, sondern vielmehr, wie oben dargestellt, auch Folge eines umfassenden Funktionsverlustes dieser Häftlingsgruppe innerhalb des nationalsozialistischen KZSystems.

ANMERKUNGEN

LITERATUR

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SIEMEN, HansLudwig (1982): Das Grauen ist vorprogrammiert. Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg; Gießen

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ZUMPE, Lotte (1980): Wirtschaft und Staat in Deutschland 19331945; Vaduz/Liechtenstein 1980.

QUELLEN

ARCHIV BROKMEIER am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Hannover. Protokolle der Hauptverhandlung des Schwurgerichtsprozesses vor dem LG Frankfurt/M. aus dem Jahre 1967/68 gegen Reinhold Vorberg und Dietrich Allers. ("Frankfurter Euthanasieprozeß")

BROSZAT, Martin (1961): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiert von M.B.; Stuttgart (3. Auflage)

MEDIZIN IM NATIONALSOZIALISMUS (1982). Ein Arbeitsbuch. Eingeleitet und herausgegeben von Walter WuttkeGroneberg; Rottenburg

NATIONALSOZIALISTISCHE MASSENTTUNGEN DURCH GIFTGAS (1983). Eine Dokumentation. Herausgegeben von Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl, u.a.; Frankfurt/M..

ABKÜRZUNGEN

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 Vgl. Drobisch 1980, S. 179208.

2 Vgl. ebd.

3 Vgl. Broszat 1965, S. 12/13.

4 Vgl. ebd. S. 13.

5 Ebd.

6 Vgl. Drobisch 1980, S. 183.

7 Vgl. Broszat 1965, S. 21

8 Vgl. Pingel 1979, S. 26.

9 Vgl. Drobisch 1980, S. 183.

10 Kogon, 1983, S. 61.

11 Vgl. Drobisch 1980, S. 184.

12 Vgl. Broszat 1965, S. 72.

13 Ebd.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. ebd. S. 77.

16 Vgl. ebd. S. 62.

17 Vgl. Antoni 1979, S. 18/19.

18 Vgl. Broszat 1961, S. 54/55.

19 Vgl. Broszat 1965, S. 59.

20 Vgl. Kogon 1983, S. 111.

21 Vgl. Georg 1963, S. 10/11.

22 Kogon 1983, S. 114.

23 Vgl. Kühnrich 1983, S. 54.

24 Vgl. Streit 1978, S. 193.

25 Zum Tagesablauf der Häftlinge in den Konzentrationslagern vgl. Kogon 1983, S. 101109.

26 Vgl. Kühnrich 1983, S. 52.

27 Vgl. Kogon 1983, S. 52/53.

28 Ebd. S. 57.

29 Vgl. Broszat 1965, S. 77.

30 Zit. nach: Kogon 1983, S. 57.

31 Vgl. ebd.

32 Ebd.

33 Vgl. ebd.

34 Vgl. die Zeugenaussage des ehem. stellvertr. Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, Kurt Franz, in "Frankfurter EuthanasieProzeß" am 10. April 1968; (Archiv Brokmeier; Ordner IIIb, 100. Verhandlungstag, Blatt 111)

35 Vgl. Arad 1983, S. 146193.

36 Einen Überblick über diese Gruppen gibt Kogon 1983 auf den Seiten 6774.

37 Während offiziell lediglich erklärt wurde, daß Deutschland in vier Jahren "in allen jenen Stoffen vom Ausland gänzlich unabhängig sein müsse, die irgendwie durch die deutsche Fähigkeit, durch unsere Chemie und Maschinenindustrie sowie durch unseren Bergbau selbst beschafft werden könnten", war in einer geheim gehaltenen Denkschrift Hitlers das Ziel des >Vierjahresplanes< so formuliert, daß die deutsche Armee in vier Jahren einsatzfähig zu sein habe. Vgl. Zumpe 1980, S. 215.

38 Vgl. Kühnl 1980, S. 285. (Anmerkung 1)

39 Denkschrift der IG Farbenindustrie AG für den Rüstungsbeirat des Reichswehrministeriums vom März 1935 über die Militarisierung der Wirtschaft zur Vorbereitung der Industrie auf den Krieg. Auszugsweise zitiert nach: ebd. (Dokument 181)

40 Vgl. Zumpe 1980, S. 272.

41 Vgl. ebd., S,. 274.

42 Vgl. ebd., S. 279/280.

43 Vgl. ebd. S. 284.

44 Vgl. ebd.

45 Kühnrich 1983, S. 57.

46 Erlaßsammlung >Vorbeugende Verbrechesbekämpfung<, Schriftenreihe des Reichskriminalpolizeiamtes Berlin, Nr. 15 Dezember 1941, Bl. 28/29; zit. nach Broszat 1965, S. 81.

47 Siemen 1982, S. 95.

48 Erlaßsammlung >Vorbeugende Verbrechensbekämpfung<, a.a,O., Bl. 41ff.

49 Vgl. ebd.

50 Runderlaß des RFSSuCHdDtPol vom 26. Januar 198; zit. nach Broszat 1965, S. 84.

51 Vgl. ebd.

52 Schnellbrief des RKPA vom 1.6.1938; zit. nach Buchheim (1958), S. 191.

53 Ebd. 191/192.

54 Vortrag des Chefs der >Dienststelle Vierjahresplan< im Persönlichen Stab des >Reichsführers SS<, >Oberführer< Greifelt vom Januar 1939; zit. nach ebd. S. 192/193.

55 Bringmann 1981, S. 11; im Mai und Dezember 1941 schließlich ordnete Himmler "zur Aufnahme von Arbeitsverweigerern und arbeitsunlustigen Elementen" die Einrichtung sog. Arbeitserziehungslager an. Vgl. Auerbach (1966), S. 196.

56 Vgl. Zumpe 1980, S. 279.

57 Kogon 1983, S. 69.

58 Vgl. Bringmann 1981, S. 11.

59 Vgl. Drobisch 1980, S. 189.

60 entfällt

61 Vgl. Pingel 1979, S. 71.

62 Vgl. Kühnrich 1983, S. 56.

63 Vgl. Kogon 1983, S. 307.

64 Rede des >Reichsführers SS< Heinrich Himmler vor Wehrmachtsoffizieren; zit. nach Kühnrich 1983, S. 58.

65 Vgl. dazu Drobisch 1980, S. 192195.

66 Vgl. ebd., S. 189/190.

67 Vgl. ebd., S. 193.

68 Vgl. Broszat 1965, S. 111/112.

69 Vgl. Buchenwald. Ein Konzentrationslager (1984), S. 25/26.

70 Vgl. Kogon 1983, insbesondere die Seiten 113124.

71 Zumpe 1980, S. 353.

72 Tagebucheintragung des >Generalgouverneurs< Frank, zit. nach Billstein 1980, S. 17.

73 Vgl. ebd.

74 Vgl. Zumpe 1980, S. 356.

75 Vgl. ebd. S. 354; sowie >Die 'Sonderbehandlung 14f13' in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches<, Kapitel 7

76 Vgl. Kogon 1983, S. 69

77 Vgl. den Bericht über die 1. Kriegstagung der beratenden Fachärzte am 3. Und 4. Januar 1940 in der Militärischen Akademie Berlin, Berlin 1940, (TOP) V: Neurose, Psychotherapie und organische Erkrankungen, S. 108111, zit. nach: Medizin im Nationalsozialismus (1982), S. 135/136 (Dokument 77)

78 Vgl. auch Klee 1983, S. 345.

79 Broszat 1965, S. 125.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
KZ-System und Asozialität im Nationalsozialismus
Autor
Jahr
2004
Seiten
16
Katalognummer
V109438
ISBN (eBook)
9783640076192
ISBN (Buch)
9783640118373
Dateigröße
386 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
KZ-System, Asozialität, Nationalsozialismus
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2004, KZ-System und Asozialität im Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109438

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