Die Mensch-Natur-Beziehung im Lichte der sozio-kulturellen Evolution


Seminararbeit, 2004

25 Seiten, Note: 1 (CH: 6)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Fragestellung

3. Aufbau der Arbeit

4. Die Stadt aus soziologischer Perspektive: Analyseansätze und Definitionsversuche

5. Die Kulturfähigkeit des Menschen
5.1 Anthropologische und soziologische Grundlagen
5.2 Das Kultur-Natur-Verhältnis
5.3 Die Stadt als gesellschaftliche Überlebensstrategie des weltoffenen Menschen
5.4 Die strukturelle Koppelung von Mensch und Umwelt

6. Die Neolithische Revolution als Wegbereiterin der urbanen Evolution
6.1 Aktive Wirtschaft
6.2 Sesshaftigkeit
6.3 Technologischer Fortschritt
6.4 Surplusproduktion
6.5 Bevölkerungswachstum

7. Stadtentstehung und Implikationen

8. Die Industrielle Revolution und die totale Landschaft

9. Schlussfolgerungen und Ausblick

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit der permanenten Sesshaftigkeit der Jäger- und Sammlergesellschaften am Ende des Pleistozän ist eine Entwicklungsdynamik in Gang gekommen, die für den weiteren Verlauf der sozio-kulturellen Evolution wegweisend war (Lenski/Nolan 1995: 137; Sieferle 1997: 59). Die Neolithische Revolution, also die Zeitspanne des Übergangs von der nomadischen Existenzweise der Jäger- und Sammlergesellschaften zur sesshaften, Subsistenz sichernden und Überschuss produzierenden Wirtschafts- und Lebensform der Agrargesellschaften, hatte die Basis für jenen sozialen und ökonomischen Transformationsprozess geschaffen, der fortan den Modus und die Geschwindigkeit der sozio-kulturellen Evolution bestimmen und prägen würde. Ein wesentliches Resultat aus dieser Periode der radikalen Veränderungen war die Überführung des passiven ökologischen Abhängigkeitsdaseins der Jäger und Sammler zur aktiv-gestaltenden Ökonomie (Schurig 1976: 183), was wiederum den Weg für das spätere Emporkommen organisatorischer Machtzentren in Form von Städten und Stadtstaaten ebnete. Mit anderen Worten: Sowohl das heute als selbstverständlich geltende Faktum städtischer Existenz als auch die menschliche Tätigkeit der bewussten Umweltgestaltung haben ihren unmittelbaren Ursprung in ebendieser Übergangsphase vom Nomadismus zur Sesshaftigkeit. Aus diesem Grund kann die Neolithische Revolution als Wegbereiterin für die urbane Evolution angesehen werden, die in einem langen, stets noch andauernden Prozess die Welt zur Stadt und die Stadt zur Welt werden liess (Helbrecht 2002).

2. Fragestellung

Ziel dieser Seminararbeit ist nicht eine bloss deskriptive Nachzeichnung der historischen Stadtentwicklung und der globalen Stadtexpansion, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit der aller sozio-kultureller Evolutionsprozesse zugrunde liegenden Thematik der Mensch-Natur-Beziehung; der Tatsache also, dass wir unausweichlich mit der uns umgebenden Natur verbunden sind und als integrierte Elemente in ihr eingebettet leben. Gleichzeitig versuchen wir diese Umwelt unseren Ansprüchen anzupassen, indem wir sie fortwährend verändern und umgestalten. In diesem Kontext stellt sich die spezifisch soziologische Frage nach der Entstehung von Hilfsmitteln in Form von gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Organisationsformen, die der “unbehauste Mensch” (Holthusen) für den Zweck der eigenen Umweltadaptation und der Umweltgestaltung hervorgebracht hat (Scott 1989: 254ff). Diese Fähigkeit zur Hilfsmittelgenese, nämlich die Kulturfähigkeit, ist auch jene spezifische Eigenschaft, die den Menschen schlussendlich von der instinktgesteuerten Tierwelt unterscheidet (Esser 1996: 159f). Die beiden Fragestellungen, die ich in dieser Seminararbeit behandeln möchte, lehnen sich an diese Thematik an. Sie lauten wie folgt:

- Wie hat sich die Mensch-Natur-Beziehung seit der Neolithischen Revolution verändert und weiterentwickelt?
- Inwiefern hatte die urbane Revolution und Evolution einen Einfluss auf die Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur?

Kritische Stimmen könnten bereits an dieser Stelle intervenieren und den Einwand einbringen, dass es keinen logischen Sinn mache, von der Mensch-Natur-Dichotomie zu sprechen, weil der Mensch per definitionem Natur ist und deshalb sich diese Unterscheidung von selbst auflöst. Es ist mein Bestreben aufzuzeigen, dass dieser Einwand zugleich stimmt und nicht stimmt, weil sich die ursprüngliche Mensch-Natur-Einheit in die Richtung einer Dichotomie weiterentwickelt hat.

3. Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit werde ich verschiedene soziologische Analyseansätze und Stadtdefinitionen miteinander vergleichen und diskutieren. In einem zweiten Schritt stelle ich die menschliche Kulturfähigkeit detailliert dar, die dann in Beziehung zum Mensch-Natur-Verhältnis und dem urbanen Lebensraum gesetzt wird. Diese Ausführungen sollen als Grundlage für die weiteren Überlegungen dienen.

Im dritten Teil folgt eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Neolithischen Revolution und der darauffolgenden urbanen Evolution. Die Industrielle Revolution bildet den Schwerpunkt des vierten Kapitels, bevor schliesslich alle Gedanken in der Schlussfolgerung zusammengefasst und noch einige Bemerkungen zu zukünftigen Entwicklungen gemacht werden.

4. Die Stadt aus soziologischer Perspektive: Analyseansätze und Definitionsversuche

Seit der Entstehung und Etablierung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaftsbereich war sowohl die Analyse der städtischen Institutionen und Organisationsstrukturen als auch der Lebensstile und sozialen Milieus innerhalb des urbanen Lebensraumes ein interessantes und wichtiges Forschungsfeld (Friedrichs 1995: 15). Dementsprechend vielfältig sind auch die sozialwissenschaftlichen Analyseansätze und die damit verknüpften Versuche einer Stadtdefinition. Zusätzliche Schwierigkeiten hinsichtlich einer definitorischen Vereinheitlichung bereitet auch der Umstand, dass sich Städte durch Heterogenität, Komplexität und Wandelbarkeit auszeichnen. (ebd.: 17; Schäfers 2000: 373). Im Folgenden möchte ich einen Überblick der wichtigsten Analyseansätze und Stadtdefinitionen geben.

a) Demographischer und sozialökologischer Analyseansatz

Die Stadt wird als Konzentration einer oder mehrerer Bevölkerungsgruppe(n) angesehen, die sich permanent in einem geographisch abgeschlossenen Gebiet niedergelassen haben (Zenner 1996: 203). Sozialwissenschaftler, die diese Stadtdefinition verwenden, untersuchen die Heterogenität der Bevölkerung, das städtische System der Arbeitsteilung, die Meinungs- und Interessenvielfalt der verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften, die allfälligen Konflikte resultierend aus dem fehlenden Set gleicher Normen und Weltanschauungen und die Folgen des mangelnden persönlichen Sozialkontakts (ebd.). Stellvertretend sei die auf “historisch invariante Merkmale” (Friedrichs 1995: 17) beruhende Definition von Luis Wirth erwähnt, der die Stadt “als eine relativ grosse, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen” (Wirth zitiert in Schäfers 2000: 373) beschreibt.

b) Funktionalistischer Ansatz

Die Stadt wird nicht als unabhängige und eigenständige Einheit betrachtet, sondern es wird die hierarchische Struktur eines Verbundsystems, zusammengesetzt aus verschiedenen Ballungszentren, hervorgehoben (Kostof 1992: 38; Zenner 1996: 203). Dementsprechend liegt der Fokus auf der Analyse des Beziehungsnetzwerks zwischen der Stadt/Städten (Zentrum) und dem angrenzenden Land (Peripherie). Beispielhaft für eine funktionalistische Stadtdefinition gilt der von Max Weber stammende Satz, dass die Stadt ein Marktplatz sei (Friedrichs 1995: 17). Hiermit akzentuiert er die sozialökonomische Bedeutung bzw. Funktion der Stadt als primärer Ort des wirtschaftlichen Warenaustauschs. Im Gegensatz zum demographischen Ansatz spielt bei der funktionalistischen Stadtanalyse die Bevölkerungsgrösse nur eine marginale Rolle. Wichtig sind einzig die Funktionen der Stadt “as a symbolic center, administrative capital, or marketplace, or a combination of those roles” (Zenner 1996: 203).

c) Mikrosoziologischer Ansatz [1]

Die Stadt wird als ein Sammelbecken vieler Individuen aufgefasst, die ein engmaschiges Interaktionsnetzwerk bilden. Untersuchungsgegenstände sind nicht Aggregate wie Stadtteile oder Bevölkerungsgruppen, sondern die subjektiven Erfahrungen der in der Stadt lebenden Individuen (Friedrichs 1995: 144). Insbesondere die von Georg Simmel verfassten Aufsätze “Die Grossstädte und das Geistesleben” und “Die Kreuzung sozialer Kreise” können exemplarisch für mikrosoziologische Analysen angesehen werden. In diesen beiden Schriften setzt sich Simmel mit identitätsbildenden Mechanismen in Zeiten der fortschreitenden Säkularisierung und Arbeitsteilung auseinander, indem er den wechselseitigen Einfluss des urbanen Lebensraums auf die Verhaltensweise des Grossstädters analysiert (ebd.: 144f; Simmel 1903 und 1890).

d) Makrosoziologischer Ansatz

Die Ausgangspunkte dieses Ansatzes bilden zwei universale Prozesse, die sich im Laufe der gesellschaftlichen Evolution entwickelt und durchgesetzt haben, nämlich die Arbeitsteilung und die soziale Differenzierung (Friedrichs 1995: 18f). Beide Prozesse haben auf fundamentale Art und Weise nicht nur den gesellschaftlichen Wandel geprägt, sondern zeitgleich auch das Stadtbild und die Stadtentwicklung verändert. In diese Kategorie der makrosoziologischen Stadtanalyse müssen vor allem die aus dem Blickwinkel der marxistischen Theorie analysierenden Stadtsoziologen David Harvey und Manuel Castells eingeordnet werden. Beide Autoren betrachten die Stadt als räumliche Einheit, “die durch den über die kollektive Konsumption vermittelten Prozess der Reproduktion der Arbeitskraft hergestellt wird” (Schäfers 2000: 374; siehe auch Giddens 1995a: 573ff).

e) Administrative Perspektive

Die Stadt wird als administrative Einheit definiert, wobei quantitative Mindestgrössen wie z.B. 2000 oder 20’000 Einwohner zur Kategorisierung gewählt werden (Friedrichs 1995: 17). Städte sind aber stets auf ihr Umland angewiesen und zwar “sowohl auf die Fläche als auch auf die Bewohner und die wirtschaftlichen Leistungen” (ebd.: 18). Diese Verflechtung von Stadt und Umland führt dazu, dass vermehrt ganze Stadtregionen zu administrativen Einheiten zusammengefasst und analysiert werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass jede Stadt über eine bestimmte Begrenzung materieller oder symbolischer Art verfügt (Kostof 1992: 38). Auf diese Weise werden die Mitglieder der städtischen Gemeinschaft von jenen abgegrenzt, die ausserhalb leben. Dieser Mechanismus der sozialen, ökonomischen und geographischen Separation bzw. Exklusion dient der Integration einer vielfach heterogenen städtischen Bevölkerung. Gleichzeitig fördert die Abgrenzung und Unterscheidung von Stadt und Land die Entstehung und Ausweitung eines hierarchischen Herrschaftssystems, das durch die Stadt-Land-Arbeitsteilung, die oftmals ungleiche Wohlstandsverteilung und Machtasymmetrien gestützt und aufrecht erhalten wird (ebd.: 39). Auf der anderen Seite ist aber jede Stadt mit der unmittelbaren Umgebung wirtschaftlich aufs Engste verflochten (Friedrichs 1995: 18). Deshalb ist eine strikte Aufteilung in Zentrum und Peripherie nur bedingt möglich. Diesbezüglich geeigneter scheint die Vorstellung eines Stadt-Land-Kontinuums zu sein, auf dem die ökonomischen, sozialen und kulturellen Schwerpunkte je nach den spezifischen Merkmalen des jeweiligen Landes an unterschiedlichen Stellen liegen, was den Eigentümlichkeiten der verschiedenen Gesellschaften Rechnung trägt (Kostof 1992: 41). Doch was treibt den Menschen in die Stadt? Und wie konnten solche künstliche Kolosse überhaupt entstehen? Dazu einige Erläuterungen zur Kulturfähigkeit des Menschen.

5. Die Kulturfähigkeit des Menschen

5.1 Anthropologische und soziologische Grundlagen

Von allen gegenwärtigen Lebewesen zeichnet sich der Mensch durch die höchste Variabilität und Plastizität bezüglich der Bildung von sozialen Organisationen aus (Esser 1996: 149). Diese Vielseitigkeit beruht auf individuellen und kollektiven Lernprozessen, auf der mannigfaltigen Fähigkeit zur Stilisierung der eigenen Individualität und der flexiblen Formbarkeit sozialer Verbände (ebd.; Boyd/Richerson 1997: 2, 16). Die zentralen Bausteine, die für eine Ausprägung solcher Qualitäten erforderlich sind, sind die beim Menschen hoch entwickelte Kommunikationsfähigkeit, die Möglichkeit der Symbolisierung von Bedeutungen und ein ausgeprägtes Abstraktionsvermögen (ebd.: 155-158; Boyd/Richerson 1997: 16, 24; Taflinger 1996: 7). Es sind ebendiese spezifisch menschlichen Eigenschaften, die ihn auch zur Wirklichkeitskonstruktion befähigen, was in einem kollektiven, unbewusst ablaufenden gesellschaftlichen Prozess vollzogen wird (Steiner 2000: 1; Berger/Luckmann 2000: 49-52).

Eigentliche Grundlage für diesen breiten Variationsspielraum sowohl im individuellen Verhalten als auch in der Formung von Sozialorganisation bildet jedoch die Ablösung der Anpassungsfähigkeit des Menschen von seiner genetischen Fixierung bzw. seine kaum vorhandene genetische Determiniertheit (Esser 1996: 159; Elias 1996: 115-118). Das damit einhergehende hohe Mass an Verhaltensflexibilität macht es dem Menschen möglich, sich den unterschiedlichsten Umweltbedingungen anzupassen resp. durch aktives Handeln Natur in Kultur umzuwandeln und in diesen von Menschenhand kreierten Umgebungen zu leben (ebd.: 150; Boyd/Richerson 1997: 19). Es ist ebendieser Aspekt der menschlichen Abkapselung und Isolierung, der in den Vordergrund rückt, wenn Kultur als “raum-zeitlich eingrenzbare Gesamtheit gemeinsamer materieller und ideeller Hervorbringungen, internalisierter Werte und Sinndeutungen sowie institutionalisierter Lebensformen” (Schäfers 2000: 196, Hervorh. R. van de Pol) definiert wird.[2]

Die menschliche Gabe der Kulturproduktion ist auch der wesentliche Grund dafür, dass der Prozess der gesellschaftlichen Evolution letztlich auf zwei verschiedenen Ebenen abläuft, die zwar miteinander verbunden sind, aber jeweils eigenen Logiken und Mechanismen folgen und deshalb separat betrachtet und analysiert werden müssen (Campbell 1965: 19ff). Auf der einen Ebene ist die sozio-kulturelle Evolution angesiedelt, die als Entstehungs- und Entfaltungsprozess gesellschaftlich erzeugter Artefakte, Organisationsformen und Institutionen verstanden wird. Sie ist der primäre Untersuchungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen Analyse, wobei die aus der Kulturanthropologie stammende Unterscheidung zwischen genereller (Entwicklungen auf der Makroebene) und spezifischer Evolution (kulturspezifische Entwicklungen) beachtet werden muss (Sahlins 1968: 233). Im Unterschied dazu beeinflusst die wesentlich langsamer ablaufende genetisch-biologische Evolution die physische und - bis zu einem gewissen Grad - mentale Grundausstattung des Menschen (Fog 1999: 1).

5.2 Das Kultur-Natur-Verhältnis

In bezug auf die dem Menschen umgebende Umwelt unterscheidet Sieferle zwischen dem Kultur-Natur-Gegensatzpaar. Die Natur hält er für “das Elementare, Selbständige, Spontane, Gewachsene, Nichtverfügbare, Nichtproduzierte” (Sieferle 1997: 18) und im Gegensatz dazu beschreibt er die Kultur als das “Künstliche, Technische, durch Verabredungen und Vereinbarungen Geordnete, das Gemachte und Erzwungene, das Gestaltete und Kultivierte” (ebd.). Seinem Verständnis nach entspricht die sozio-kulturelle Evolution einem graduellen historischen Prozess, in dessen Verlauf die ursprünglich reine Natur von der menschlichen Kulturarbeit verdrängt und verformt worden ist: “Der Natur entspricht ein Ursprung, während die Kultur ein Ende bezeichnet, wobei der Prozess selbst als einer verstanden wird, innerhalb dessen immer grössere Bestände der Natur in Kultur verwandelt wird” (ebd.: 19).[3]

Auf diesen Umgestaltungs- und Umwandlungsprozess macht auch Timothy Earle aufmerksam, indem er auf die menschliche Tätigkeit der Landschaftsbildung- und formung hinweist: “Landscapes are not static; they are transformed by human use and work. Complex societies build many facilities, such as houses, fields, irrigation canals, trails, paths, dance grounds, burials, and monuments, that transform the environment into cultural artifact. Construction of the cultural landscape is a means to build large human institutions in the processes of social evolution” (Earle 2001: 107). Als eines dieser kulturellen Artefakte, das im Laufe der sozio-kulturellen Evolution herangewachsen ist und sich seither als intermediäres Kunsterzeugnis zwischen Mensch und Natur stellt (Mann 1990: 128.), muss auch die Stadt angesehen werden, die von Kostof als “eine der beachtlichsten und dauerhaftesten menschlichen Institutionen” (1992: 41) bezeichnet worden ist. Doch wozu braucht(e) der Mensch die Stadt und wie konnte eine solche Institution entstehen?

5.3 Die Stadt als gesellschaftliche Überlebensstrategie des weltoffenen Menschen

Ilse Helbrecht scheint zumindest auf den ersten Teil der aufgeworfenen Frage eine passende Antwort gefunden zu haben. In Anlehnung an die soziologischen Arbeiten von Arnold Gehlen stellt für sie “die Stadtbildung ein ökonomisches, politisches und kulturelles Rezept der Menschheit zum Überleben” (Helbrecht 2002) dar. Der Mensch, der als instinktarmes Mängelwesen nur dank der stabilisierenden und regulierenden Wirkung menschlicher Handlungen, verdichtet in sozialen Institutionen, (über)leben kann, musste notgedrungen im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte ökologische und soziale Nischen aufsuchen oder selber generieren, um seiner natürlichen Weltoffenheit künstliche Grenzen zu setzten (Esser 1996: 169f). Auf diese Weise vermochte sich der Mensch im Kollektiv der Gesellschaft vor den Bedrohungen und Gefahren der Natur zu schützen; gleichzeitig befreite er sich von den Fesseln der passiven Willkürexistenz (Schurig 1976: 183).[4] Auch die Stadt, in der sich in einer Phase nach der Neolithischen Revolution Menschen aus den unterschiedlichsten Beweggründen niederzulassen begannen, symbolisiert eine selbst erbaute soziale Nische.[5] Sie war zum ökonomischen und sozialen Sammelpunkt geworden, in der eine grössere Menschenmenge erstmals von der Umwelt mehr oder minder losgelöst existieren konnte.

Doch wer glaubt, diese ökonomische, politische und kulturelle Überlebensstragie sei einem bewussten Plan der Menschen entsprungen, gewissermassen einer gewollten Orientierung hin zur städtischen Entwicklung, der verkennt den blinden, nicht zielgerichteten “trial-and-error” Charakter der sozio-kulturellen Evolution (Boyd/Richerson 1997: 22).[6] Denn Städte sind wie alle gesellschaftlich hervorgebrachten Institutionen urwüchsige, logisch und rational schwer fassbare Gebilde, die aus den verschiedensten Gründen entstanden sind und sich aufgrund vieler Einflussfaktoren in spezifische Richtungen weiterentwickelt haben. Solche Einflussfaktoren können ökologischer, ökonomischer und sozialer Art sein und in unterschiedlichen Kombinationen und Konstellationen auftreten. Dazu Giddens, der die Überlegungen Castells wiedergibt: “the spatial form of a society is closely linked to the overall mechanisms of its development. To understand cities, we have to grasp the processes whereby spatial forms are created and transformed (…) In other words, urban environments represent symbolic and spatial manifestations of broader social forces” (Giddens 1995a: 574). Auch Edward Soja akzentuiert den von Castells angesprochenen Konnex zwischen der physischen Veränderlichkeit des Stadtbilds und den individuellen und kollektiven Handlungen der Menschen. Für ihn ist der Menschen ein intrinsisch räumliches Wesen, das sich kontinuierlich um die kollektive Produktion von “spaces and places, territories and regions, environments and habitats” (Soja 2000: 6) bemüht. Gemäss seinen Darstellungen ist das Mensch-Natur-Verhältnis von einer Dialektik geprägt, die darin besteht, dass der Mensch einerseits durch individuelle und kollektive Handlungen die ihn umgebende Welt gestaltet; andererseits vermag aber die Umgebung auch Einfluss auf seine Handlungen und Gedanken auszuüben (ebd.). Es ist dieses interdependente, auf Rückkoppelung basierende System, das Soja “socio-spatial dialectic” (ebd.: 8) nennt und Thin ganz im Sinne der ökologischen Evolutionisten als “set of ongoing relations of mutual adaptation between culture and material context” (Thin 1996: 186) beschreibt.[7]

5.4 Die strukturelle Koppelung von Mensch und Umwelt

Trotz zahlreicher Indizien für eine Loslösung des Menschen aus dem festen Gefüge der Biologie und der damit verknüpften Konsequenz der Kulturproduktion resp. der Umweltgestaltung darf aber nicht vergessen werden, dass der Mensch strukturell an seine Umgebung gekoppelt ist, nämlich hinsichtlich der notwendigen Verträglichkeit zwischen Lebewesen und Umwelt (Steiner 2000: 1; siehe auch Dürr 2002). Diese existentielle Prämisse blieb während Tausenden von Jahren und zumindest für die ersten Phasen der gesellschaftlichen Evolution (Jäger- und Sammler-, und Nischengesellschaften) unangetastet (Artigiani 1991: 96). Gründe für den langen Bestand dieser Prämisse gibt es viele: magisch-mythisches Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, Ehrfurcht gegenüber den in der Natur innewohnenden Kräften und Gottheiten, mangelnde technologische Manipulationsmöglichkeiten, fehlendes finales Denkvermögen bzw. Ausbeutungsbewusstsein oder nicht effiziente soziale Organisations- und Kooperationsformen (ebd.; Steiner 2000: 6f). Viele dieser ursprünglichen gesellschaftlichen Pfeiler scheinen im Zuge der Neolithischen und insbesondere der Industriellen Revolution und der kapitalistischen Produktionsausdehnung brüchig geworden und schrittweise einem rationalen Naturbeherrschungskalkül gewichen zu sein.[8] Interessant ist diese Feststellung aus dem Grund, weil es auf den möglichen Umstand aufmerksam macht, dass die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit im Laufe der sozio-kulturellen Evolution gegenüber der biophysischen Welt realitätsfremd geworden ist (Steiner 2000: 1; Sieferle 1997: 102). Denn die Vorstellung, dass die Natur beherrsch- und manipulierbar sei und dementsprechend behandelt werden könne, ohne dabei auf die langfristigen Konsequenzen dieses Tuns Rücksicht zu nehmen, kann in die Richtung eines von der Realität losgelösten Wirklichkeitskonstrukts interpretiert werden. Dieses kollektive, auf Destruktion basierende Bewusstsein kann - nebst vielen anderen Faktoren - auch auf die städtische Wachstumsdynamik und expansive urbane Lebensweise zurückgeführt werden, da sich in diesen Ballungszentren eine von der Natur entfremdete und losgelöste Lebens- und Denkform schneller entwickeln konnte als in den peripheren Randregionen (Steiner 2000: 10; siehe Kap. 7). Die Kluft zwischen der Lebensweise und dem Weltbild der von der Landwirtschaft abhängigen Bauernschaft und den Herrschaftsschichten der städtischen Zentren weitete sich in dem Masse aus, wie es die Reichtumunterschiede und Machtasymmetrien zuliessen. Im Folgenden sollen die Anfänge dieses Prozess konkret dargestellt werden.

6. Die Neolithische Revolution als Wegbereiterin der urbanen Evolution

Obschon es verschiedene Modelle und theoretische Annahmen zur Erklärung jener Phase gibt, innerhalb derer die Gesellschaften zunehmend sesshaft geworden waren, scheint man sich dahingehend einig zu sein, dass klimatische und ökologische Turbulenzen am Ende des Pleistozän, also vor gut 14000 bis 12000 Jahren, einen starken Anpassungsdruck auf die bis dahin in nomadischen Jäger- und Sammlergruppen lebenden Menschen auszuüben begannen (Lenski/Nolan 1995: 137; Sieferle 1997: 59). Zusammen mit demographischen Fluktuationen bildeten diese Turbulenzen die Rahmenbedingungen für eine einsetzende Periode verschärfter Unsicherheit und überlebensnotwendiger Innovationsbereitschaft, was in einem langen gesellschaftlichen Lernprozess und Selektionsverfahren in eine neue Methode der Nahrungserzeugung, nämlich der Landwirtschaft und Viehzucht, mündete (Sieferle 1997: 58; Soja 2000: 21ff). Der Archäologe Gordon Childe bezeichnete diese menschheitsgeschichtlich signifikante Periode der wirtschaftlichen und sozialen Umorientierung als Neolithische Revolution, womit er die Bedeutsamkeit dieser Transformation zum Ausdruck bringen wollte. Childe selbst beschrieb den Prozess des Übergangs von der nomadischen Existenzweise der Jäger- und Sammlergesellschaften zur Ackerbauwirtschaft folgendermassen:

“Die Kultivierung essbarer Pflanzen, die Aufzucht von Tieren zu Nahrungszwecken oder die Kombination beider Beschäftigungen in der gemischten Landwirtschaft stellten ganz klar einen revolutionären Fortschritt in der Entwicklung der Wirtschaft dar. Er erlaubte eine beträchtliche Zunahme der Bevölkerung. Er ermöglichte und erzwang sogar die Produktion eines gesellschaftlichen Überschusses. Er bildete zumindest die Keime zum späteren Kapital. Und da Tiere und Pflanzen als biochemische Mechanismen betrachtet werden können, kontrollierten und verwerteten die Menschen mit ihrer Züchtung und Kultivierung zum erstenmal andere Quellen der Energie, als ihnen mit dem eigenen Körper zur Verfügung standen” (1968: 34).[9]

Im Folgenden soll dieser Transformationsprozess etwas ausführlicher wiedergeben und systematisch aufgeschlüsselt werden.

6.1 Aktive Wirtschaft

Lebten Jäger- und Sammlergesellschaften vorwiegend in Kleingruppen, die je nach Nahrungslage gezwungen waren, andere Sammel- und Jagdgebiete periodisch aufzusuchen, sicherten sich Agrargesellschaften aktiv ihre Subsistenz (Lenski 1970: 121). Das Jahrtausende währende Equilibrium zwischen Mensch und Natur war damit aufgelöst worden, und die passive ökologische Abhängigkeitsexistenz der Jäger- und Sammlergesellschaften verwandelte sich in jenen Gesellschaftszustand, der durch ‘ökonomische Beziehungen’ gekennzeichnet ist. Damit meint Schurig eine “vollständige Umkehrung der ökologischen Organismus-Umwelt-Kausalität als naturhafter Umweltabhängigkeitk” hin zur aktiven “Gestaltung der Umweltbeziehungen entsprechend den eigenen biologischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen” (Schurig 1976: 183).[10] Diese Umkehrung hatte nicht nur wirtschaftliche und soziale Folgen, sondern sie markierte auch den Ausgangspunkt für den beginnenden instrumentellen Umgang mit der Natur, die nun als passives Objekt wahrgenommen wurde und folglich aktiv gestaltet und den Bedürfnissen der Menschen angepasst werden konnte (Steiner 2000: 7). Sieferle unterstreicht diese Subjekt-Objekt-Unterscheidung, indem er schreibt: “Nur landwirtschaftliche Gesellschaften kennen die dualistischen Kategorien Subjekt-Objekt, Natur-Kultur. Nur ihnen erscheint die Welt als manipulierbar, und nur sie betonen die Sonderrolle des Menschen” (1997: 54). Veränderten Jäger- und Sammlergesellschaften ihre Umgebung eher zufällig und ohne Absicht, versuchten die Ackerbauern bewusst die Natur zu manipulieren und zwar mit dem Ziel eines zukünftigen Ertrags. Konnte der angestrebte Ertrag tatsächlich erwirtschaftet werden, hatte dieser Erfolg eine positive Rückkoppelung zur Folge, was der manipulativen Umweltgestaltung wiederum förderlich war und die Weiterentwicklung und Verfeinerung der eingesetzten Hilfsmittel vorantrieb.

6.2 Sesshaftigkeit

Im Verlauf der Neolithischen Revolution begannen sich Volksgruppen in der Nähe von fruchtbaren Landwirtschaftsgebieten anzusiedeln, was den Prozess der Sesshaftigkeit initiierte und den Nomadismus der Jäger- und Sammlergesellschaften zunehmend verdrängte (Mann 1990: 131).[11] Solche fruchtbare Zonen lagen hauptsächlich entlang von Flusslandschaften und in Mündungsgebieten wie archäologische Funde in Ägypten, China, Indien und Mesopotamien beweisen konnten (Sanderson 1999: 58-64). In der Folgezeit wuchsen kleine lokale Ballungszentren heran, die von der zunehmenden regionalen Prosperität zu profitieren begannen. Solche Zentren hatten anfangs nur die Funktion eines sprichwörtlichen Warenumschlagplatzes, auf dem Produkte aus der Region getauscht wurden. Zudem gab es erste Anzeichen eines Fernhandels, der hauptsächlich auf den Flusswegen stattfand.[12]

6.3 Technologischer Fortschritt

Die Voraussetzungen für eine kontrollierte landwirtschaftliche Bodennutzung sind einerseits die Beherrschung ausgefeilter Bewässerungstechniken und andererseits die Entwicklung von nützlichen Werkzeugen. Beide Eigenschaften wurden im Zuge der neolithischen Revolution erfunden und zur Bodenbearbeitung eingesetzt. Es sind solche technologischen, für die jeweiligen Gesellschaften existenziell notwendigen Grundlagen, die Lenski und Nolan als “subsistence technologies” (1995: 67) beschreiben und auf die sie ihre Theorie der sozio-kulturellen Evolution aufbauen. Erfindungen, Entdeckungen und Weiterentwicklungen in Bereichen der technologischen Fertigkeiten sehen sie als Motoren für die sozio-kulturelle Evolution an.

6.4 Surplusproduktion

Dank verbesserter Bodennutzungstechniken erwirtschafteten Agrargesellschaften, im Gegensatz zu Jäger und Sammler, stabile Nahrungsüberschüsse, die entweder in Kornspeichern für den Eigengebrauch angesammelt oder im Fernhandel abgesetzt wurden (Lenski/Nolan 1995: 170f). Da der Nahrungsüberschuss in diesen fruchtbaren Gebieten rascher wuchs als die lokale Bevölkerung, konnte sich ein privilegierter Bevölkerungsteil von der landwirtschaften Arbeit abspalten und handwerklichen Tätigkeiten sowie dem Handel zuwenden (Mann 1990: 138; Kötter 1964: 23). Dies führte dazu, dass vollspezialisierte Berufsgruppen entstanden, die sich in den Ballungszentren zu konzentrieren begannen, und eine Elitenschicht, die durch die Überschussproduktion und den Fernhandel zu Reichtum und Macht kam.[13] Damit wurde das egalitäre Gemeinschaftssystem der Jäger- und Sammlergesellschaften von einer hierarchischen Wirtschafts- und Gesellschaftsaufteilung in Zentrum und Peripherie abgelöst: Die landwirtschaftliche Peripherie produzierte den ökonomischen Surplus, das Reichtum und Macht akkumulierende Zentrum war für den Handel und die Überschussverteilung zuständig (Sanderson 1990: 59ff).[14] Mit der Zeit gesellten sich Schlichtungsinstanzen, deren Aufgabe in der Bereinigung von Interessenunterschieden der zunehmend heterogenen Bevölkerung bestand und die anfangs von Priestern in Tempelbauten durchgeführt wurden (Mann 1990: 156f), und Militärapparate, die von den Eliten zwecks Beherrschung der Peripherie und Sicherung des Zentrums vor feindlichen Angriffen unterhalten wurden, zu den repräsentativen Bauten der Herrschaftsschicht hinzu. Diese Verschmelzung von weltlichen Palästen und quasi-religiösen Tempeln zu einem proto-urbanen Nukleus nennt Mumford ‘die urbane Implosion’ und datiert die städtische Geburtsstunde auf das Jahr 3000 v.Chr (Dickinson 1962: 302).[15]

6.5 Bevölkerungswachstum

Im Vergleich zu den in Kleingruppen lebenden Jäger und Sammler, für deren nomadische Lebensweise eine grosse Menschenmenge ein Hindernis gewesen wäre, konnten Agrargesellschaften dank einer intensiveren Flächennutzung eine dichtere Bevölkerung ernähren (Sieferle 1997: 98). In Kombination mit der Sesshaftigkeit, die einen Bevölkerungswachstum zusätzlich begünstigt, ist die gesteigerte Nahrungsproduktion der hauptsächliche Grund dafür, dass mit der Entstehung und Dominanz des Ackerbaus als primäre Wirtschaftsform die weltweite Bevölkerungszahl allmählich anzusteigen begann.[16] Proportional zu diesem globalen Bevölkerungswachstum nahm auch die Städtezahl und die Städtegrösse zu.[17] Sanderson vermutet, dass Städtewachstum, Bevölkerungsexpansion und ökonomische Intensität miteinander korrelieren und dass alle diese Faktoren nach der Neolithischen Revolution einen signifikanten Schub erhalten haben (Sanderson 1999: 113).

7. Stadtentstehung und Implikationen

In der Neolithischen Revolution entstand eine Wirtschaftsform, die das nötige Fundament für die spätere Entstehung von ersten grösseren Menschenansammlungen in Städten und Stadtstaaten legte. Wie diese Städte genau herangewachsen sind, darüber kann nur spekuliert werden. Soja fasst die möglichen Faktoren, die bei der Stadtentstehung mitgewirkt haben, folgendermassen zusammen:

“the administrative demands of large-scale irrigation and flood control technology; the new economy opportunities arising from long-distance trade and commerce; the closely related creation of a more reliable and sustained food surplus; the increasing institutional development of kingship and its administrative bureaucracy; the expansion of religious and ceremonial activities and their capability to maintain and reproduce larger-scale communities than ever before; the growing need for defense against the vagaries of nature and the invasion of ‘outsiders’; and the demographic pressure brought about by both increasing numbers and environmental degradation” (2000: 23)

Die Wechselwirkungen und Rückkoppelungen, die in der Periode der Neolithischen Revolution stattgefunden haben, liessen in einem sich über Tausenden von Jahren erstreckenden Prozess eine alternative Lebenswelt zur herkömmlichen, ländlichen Existenzweise entstehen, was wiederum Tür und Tor für neue inner-gesellschaftliche Dynamiken und sozio-kulturelle Entwicklungspotentiale öffnete. Das magisch-mythische Bewusstsein und das egalitäre, auf wechselseitiger Kooperation basierende Gemeinschaftsleben der Jäger- und Sammlergesellschaften wurde im Zuge der permanenten Sesshaftigkeit, der direkten Umweltgestaltung und der Stadt-Land-Arbeitsteilung fragmentiert, aufgespaltet und geographisch separiert: Auf der einen Seite lebte nun die Mehrzahl der Bevölkerung (rund 80%) als Ackerbauern (Sieferle 1997: 108), die zwar von den Zyklen der Natur unmittelbar abhängig und betroffen waren, jedoch durch aktive Naturgestaltung direkten Einfluss auf die wirtschaftlichen Resultate ausüben konnten.

Auf der anderen Seite wuchs mit der Stadt ein von der Natur mehr oder weniger isoliertes, künstliches Territorium, gewissermassen eine soziale Enklave für spezifische Bevölkerungsschichten, heran, das zwar auf die Nahrungs- und Rohstoffzuflüsse der angrenzenden Peripherie angewiesen war, jedoch nicht durch aktive Gestaltung am Subsistenz sichernden Prozess mitwirkte, sondern sich vermehrt der abstrakten, rationalen und kalkulierenden Tätigkeit der Organisation und der Verwaltung widmete (ebd.: 109; Artigiani 1991: 110f; Soja 2000: 58f).[18] Auf diesen gesellschaftlichen und ökonomischen Teilungsprozess weisen auch Berger und Luckmann explizit hin, die in der Surplusproduktion ein entscheidendes Merkmal für die Konstruktion einer neuen Lebenswelt sehen. Sie konstatieren, dass ein gewisser wirtschaftlicher Überschuss für einzelne Personen oder ganze Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit bietet, “sich mit spezialisierten Tätigkeiten zu befassen, die nicht dem direkten Lebensunterhalt dienen. Derartige Tätigkeiten führen (…) zur Spezialisierung und Aufgliederung des allgemeinen Wissensvorrates. Letztere wiederum ermöglichen ein Wissen, das sich subjektiv von jeder gesellschaftlichen Relevanz löst, das heisst: reine Theorie” (Luckmann/Berger 2000: 86). Dieser lebensweltliche Teilungsprozess in Theorie und Praxis ist deshalb von Interesse, weil durch eine theoretische Betrachtungs- und Denkweise die Möglichkeit der Konstruktion von mentalen Wirklichkeiten besteht, die nicht mit der praktischen Realität übereinstimmen müssen oder sogar ihr entgegengesetzt sein können (Steiner 2000: 1). In bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit der Natur könnte sich im Zuge der Neolithischen Revolution und der Stadtentstehung eine erste, von der Realität losgelöste Wirklichkeitsvorstellung entwickelt haben, die bis heute fortbesteht und sich in einem Beherrschungs- und Manipulationswahn gegenüber unserer natürlichen Lebensumgebung manifestiert (ebd.: 11). Die heilige Natur, in der sich die Jäger und Sammler in einer persönlich-intimen Ich-Du-Beziehung bewegten, erhielt durch die Erfahrung des zielgerichteten menschlichen Handelns einen instrumentellen Ich-Es-Charakter: Sie wurde immer mehr wie eine gestalt-, beeinfluss- und berechenbare Masse behandelt und verlor dadurch Schritt für Schritt ihren mystischen und magischen Inhalt, der auf der Unberechenbarkeit der Ereignisse beruhte (ebd.: 7ff). Dieser instrumentelle Umgang mit der Natur hatte sich zwar parallel zur Agrargesellschaft und der Stadtentstehung entwickelt, aber erst mit dem Aufkommen der industriellen Produktionsweise wurde dieser Ich-Es-Charakter auf die Spitze getrieben.

8. Die Industrielle Revolution und die totale Landschaft

Lange Zeit verharrte die Menschheit im Zustand der Agrargesellschaft, bis die auf Kohle- und Dampfkraft basierende Industrielle Revolution ihren Lauf nahm (Soja 2000: 76ff; Giddens 1995a: 52f). Kaum ein historisches Ereignis hat auf die Mensch-Natur-Beziehung, die Natur- und Umweltgestaltung und Stadtentwicklung einen solch dramatischen Einfluss ausgeübt wie dieser Übergang von der Agrargesellschaft zur industriellen Produktions- und kapitalistischen Wirtschaftsweise (Steiner 2000: 9ff). Die lukrative Allianz zwischen arbeitsteiliger und Ressourcen ausbeutender Ökonomie und Ressourcen zugänglich machender Technologie löste die für Agrargesellschaften konstitutive Zweiteilung der Welt in Natur und Kultur auf und verwischte dadurch die Grenze zwischen Kulturarbeit und natürlicher Lebensumgebung (Sieferle 1997: 103, 192f). Aus diesem Umwälzungsprozess hervorgegangen ist eine umfassend gestaltete Landschaft, die sich dem rationalen und ökonomischen Diktum der Menschen zu beugen hat. Giddens fasst diesen Aspekt der gestalteten Umwelt folgendermassen zusammen:

“Die durch das Bündnis von Wissenschaft und Technik geprägte moderne Industrie führt zu einer Umgestaltung der natürlichen Welt, die in dieser Weise für frühere Generationen nicht vorstellbar gewesen ist. In den industrialisierten Gebieten der Erdkugel - und in zunehmenden Masse auch an anderen Orten - leben die Menschen in einer gestalteten Umwelt, in einer Umwelt des Handelns, die zwar freilich eine physische, aber nicht mehr bloss eine natürliche ist. Nicht nur die bebaute Umwelt der städtischen Bereiche, sondern auch die meisten übrigen Landschaften werden der Koordination und Kontrolle durch den Menschen unterworfen” (1995b: 81, Hervorh. im Original).

Die Industrialisierung war aber nicht nur für die physische Naturbeherrschung und Landschaftsgestaltung verantwortlich, sondern auch für eine Periode der entfesselten Stadtentwicklung und Stadtexpansion, was Mumford die “urban explosion” nennt (Dickinson 1962: 302; siehe auch Kötter 1964: 24). Die Stadt, von der aus die Industrialisierung ihren Anfang nahm, wurde zur Hoffnungsträgerin einer verarmten und ausgebeuteten ländlichen Bevölkerung, die nun im grossen Masse in die städtischen Knotenpunkte zu migrieren begann (Giddens 1995a: 587).[19] Dadurch löste sich auch die ursprüngliche Trennung von ländlicher Peripherie und städtischem Zentrum auf und es setzte jener Prozess ein, der Suburbanisierung genannt wird (Soja 2000: 79; Schäfers 2000: 374). Gemeint ist damit ein Flächenwachstums über die Grenzen der Kernstadt hinaus (Giddens 1995a: 577). Sieferle beschreibt diesen Prozess folgendermassen:

“Die Siedlungen, die jetzt rapide wuchsen, verloren ihre fest umrissene Form und begannen, sich die Landschaft zu ergiessen, zu der sie keine spezifische Beziehung mehr unterhielten. Die Städte lösten sich von der überkommenen Bindung an ihr Umland” (1997: 178).

Physisches Resultat des Industrialisierungsprozesses, der keineswegs abgeschlossen ist und insbesondere in den Drittwelt- und Schwellenländern gerade erst begonnen hat,[20] war sowohl die “totale Landschaft” (ebd.: 205) als auch eine signifikante Verschiebung der gesellschaftlichen Lebensweise in die urbane Umgebung. Damit war der paradigmatische Bruch mit der alten, ländlich geprägten Weltordnung endgültig vollzogen worden. Die urbane Lebensumgebung hatte sich gegenüber der ländlichen Existenzweise durchgesetzt und die Impulse, die fortan massiert aus der Stadt kamen, waren (und sind) für den weiteren Verlauf der sozio-kulturelle Evolution umso entscheidender.

9.Schlussfolgerungen und Ausblick

Zu Beginn dieser Arbeit habe ich die Frage nach der Entwicklung der Mensch-Natur-Beziehung seit der Neolithischen Revolution gestellt und diese Entwicklung mit der Stadtentstehung und der urbanen Expansion in Verbindung gebracht. Mit der Darstellung einiger anthropologischer und soziologischer Grundlagen sollte die menschliche Fähigkeit zur Kulturproduktion hervorgehoben und ein Gerüst zur Erklärung menschlicher Verhaltensweisen erarbeitet werden. In einem zweiten Schritt beschrieb ich ich die Neolithische Revolution und deren Implikationen auf die Mensch-Natur-Beziehung. Es stellte sich heraus, dass sich in der Phase der Neolithischen Revolution folgenschwere Veränderungen, wie die permanente Sesshaftigkeit der vormals nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften, eine aktive Wirtschaftsweise, technologische Fortschritte in Bereichen der Bodennutzung und -bearbeitung, eine stabile Surplusproduktion in Form von Nahrungsüberschüssen und ein langsames, jedoch exponentielles Bevölkerungswachstum, ereignet hatten, die für den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Evolution von grosser Bedeutung sein würden. Auf der einen Seite war dies die gewichtige Zweiteilung der vormals einheitlichen Welt der Jäger und Sammler in Kultur und Natur. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte konnten Gesellschaften durch direktes und bewusstes Eingreifen in die Mechanismen der Natur gewollte und zielgerichtete Veränderungen erzeugen. Die Natur erhielt das Etikett eines passiven Objekts bzw. einen Es-Charakter, und sie verlor dadurch schrittweise ihre mystische und magische Aura.

Auf der anderen Seite schuf die Neolithische Revolution das nötige Fundament für die etwas später beginnende urbane Revolution resp. Evolution. Die Stadt avancierte zur organisatorischen Macht- und Schaltzentrale der zunehmend komplexen Gesellschaft und offenbarte den Menschen erstmals die Möglichkeit einer alternativen Lebensumgebung und Lebensweise. In der Folgezeit entwickelte sich innerhalb des kompakten urbanen Kommunikationsraumes eine von der Natur entfremdete, auf der abstrakten und rationalen Geldwirtschaft basierende Denk- und Handlungsweise, die zusätzlich den instrumentellen Umgang mit der Natur vorantrieb.

Doch bis zur Industriellen Revolution war die Teilung der Gesellschaft in eine ländliche, unmittelbar von der Natur abhängigen Lebenswelt (Peripherie) und eine auf Handel und Geldwirtschaft fokussierte urbane Lebensumgebung (Zentrum) mehr oder weniger intakt. Die Industrielle Revolution und die kapitalistische Wirtschaftsweise löste diese Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, Kultur und Natur endgültig auf. Die Natur wurde zum Ressourcen-Selbstbedienungsladen für die Profit orientierte Industrie, und revolutionäre Fortschritte in Bereichen der Naturwissenschaften und der Technik machten die Naturbeherrschung tatsächlich möglich. Die natürliche Umgebung wich einer zunehmend gestalteten Landschaft, in der unberührte Naturenklaven nicht mehr die Regel sondern die Ausnahme darstellten. Zeitgleich liessen Migrationsströme der verzweifelten, nach Arbeit suchenden Bauern die Städte in einem noch nie gesehenen Masse anwachsen. Es war die Zeit der urbanen Explosion, der Suburbanisierung, der städtischen Verwarlosung und des Chaos (Dickinson 1962: 304). Doch wo liegt der Stellenwert der Stadt aus heutiger Sicht? Wie präsentiert sich die Mensch-Natur-Beziehung anfangs des 21. Jahrhunderts?

Angesichts der Tatsache, dass bereits über 6,3 Mrd. Menschen auf der Erde leben (http://www.census.gov/cgi-bin/ipc/popclockw), ein Wachstumsstop keineswegs in Sichtweite ist und immer mehr Menschen in den Städten Zuflucht suchen (Helbrecht 2002), wird die urbane Expansion nicht nur neue quantitative Massstäbe auf der Makroebene setzen, sondern auch neue Reibungsflächen für gesellschaftliche Entwicklungen im Mikrobereich hervorbringen. Für die Mensch-Natur-Beziehung wird dabei entscheidend sein, ob der destruktive Weg, der insbesondere mit der Industrialisierung eingeschlagen worden ist, weiter begangen wird oder ob eine Kehrtwende vollzogen werden kann. Die angebliche Mensch-Natur-Dichotomie, die im Laufe der sozio-kulturellen Evolution herangewachsen ist, und die in Tat und Wahrheit einer von der Realität losgelösten Wirklichkeitskonstruktion gleichkommt, muss wieder in eine einheitliche Form gegossen werden, um den vermeintlichen Kollaps der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen zu vermeiden. Der Nuklearphysiker und Alternativnobelpreisträger Hans-Peter Dürr bringt es auf den Punkt, wenn er im Hinblick auf die Mensch-Natur-Beziehung die banal anmutende, jedoch konsequenzreiche Feststellung formuliert: “Die Natur kann nämlich ohne uns leben, aber wir nicht ohne die Natur und ihr auf der Erdoberfläche speziell ausgeprägtes Ökosystem, in das wir hineingewachsen und eingepasst sind” (Dürr 2002: 105).

10. Literaturverzeichnis

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Internet

http://www.census.gov/cgi-bin/ipc/popclockw (28.02.04).

[...]


[1] Es muss darauf hingewiesen werden, dass mikro- und makrosoziologische Stadtanalysen aufgrund der wechselseitigen Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft schwer voneinander zu trennen sind. Streng genommen kann nur die zur Analyse verwendete Methode Aufschluss darüber geben, ob eher Makroprozesse oder Mikroelemente ins Auge gefasst worden sind.

[2] Diesen Aspekt der menschlichen Isolierung hebt auch Renfrew hervor. Er definiert den Zivilisationsbegriff anhand dreier Isolatoren, “nämlich zeremonielle Zentren (Isolatoren gegenüber dem Unbekannten), die Schrift (Isolator gegenüber der Zeit) und die Stadt (jener Grossbehälter, der räumlich begrenzt ist und als Isolator gegen alles wirkt, was ausserhalb liegt)” (Renfrew zitiert in Mann 1990: 128). Diese drei Isolatoren entstanden nach der Neolithischen Revolution und sie bildeten fortan die Rahmenbedingungen für den weiteren Verlauf der sowohl generellen als auch spezifischen gesellschaftlichen Evolution.

[3] Je nachdem, ob nun dieser Prozess positiv oder negativ bewertet wird, lässt sich eine Unterscheidung zwischen Kulturoptimismus bzw. Enthusiasmus oder Kulturpessimismus treffen.

[4] Bereits Aristoteles hielt den Stadtstaat (Polis) als die einzig lebenswerte Umgebung für den sozialen, weil sprachbegabten Menschen. Für ihn stellte die Polis jener Lebensraum dar, innerhalb dessen der Mensch sich des guten Lebens widmen könne, sprich der philosophierenden Tätigkeit (Braun/Heine/Opolka 2000: 53-56).

[5] Auf den gesellschaftlichen Produktionsprozess von künstlichen Welten weist auch Giddens hin, wenn er Castells zitierend Städte als “wholly artificial environments, constructed by ourselves” (Giddens 1995a: 574) bezeichnet.

[6] In vielen gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Institutionen oder formale Organisationsstrukturen), können durchaus bewusste Entscheidungen getroffen und zielgereichtete Selektionsverfahren durchgeführt werden, um Verbesserungen herbeizuführen. Jedoch können auch in diesen Fällen unbeabsichtige Folgen und externe Effekte auftreten, die den anvisierten Verbesserungsprozess wiederum der ursprünglichen Zufälligkeit näher bringen.

[7] Sieferle schreibt dazu passend: “Der Kulturprozess wird nicht von der ökologischen Basis gesteuert, doch kann er sich von dieser auch nicht vollständig emanzipieren. Die Naturgrundlagen bilden vielmehr eine letzte Schranke, an welcher die kulturellen Selbstorganisationen zu einem Halt kommen können, wenn ihnen nicht gelingt, technische und physische Prozesse in Gang zu setzen, die es gestatten, diese Schranken zu überwinden” (1997: 126). Trotz zahlreicher Rückschläge scheint es seit der Neolithischen Revolution eine historische Konstante zu sein, dass die im Zitat angesprochenen natürlichen Schranken der sozio-kulturellen Selbstentfaltung ständig erweitert oder gar vollständig zerstört werden. Beispiele solcher gesellschaftlich produzierter Errungenschaften, die bei der Überwindung dieser Schranken geholfen haben, sind die landwirtschaftliche Bewässerungstechnik, die Feldbebauung mit Pflug und Hacke und die Erfindung des Rads; neue Transportmöglichkeiten durch die Schifffahrt, die dampf- und kohlebetriebene Eisenbahn und die Fliegerei; globale Interaktionssysteme dank neuer Kommunikationstechnologien wie der Telegrafie, der Telephonie und des Internets; Naturbeherrschungsprojekte wie Staudammkonstruktionen, Wasser- und Atomkraftwerke, sowie neue soziale Organisationsformen und verbesserte institutionelle Strukturen.

[8] Nicht nur die emanzipatorischen und philosophischen Gedanken und Schriften der europäischen Aufklärer, die in der Renaissance einsetzende allmähliche Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlicher Lebensbereiche und die parallel erfolgte Abnahme der kirchlichen Dominanz waren für das Emporkommen der kalkulierenden und rationalen Denkweise verantwortlich, die für den industriellen Kapitalismus charakteristisch sein würde, sondern auch die bereits viel früher stattgefundene Aufspaltung des egalitären Gesellschaftssystems der Jäger und Sammler in eine arbeitsteilige Schichtengesellschaft, die aus Kleinbauern, Handwerkern, Händlern, Priestern und Soldaten zusammengesetzt war. Signifikant ist dieser sozio-ökonomische Teilungsprozess deshalb, weil sich gewisse Schichten professionell mit der Waren- und Geldwirtschaft zu beschäftigen begannen, was der Förderung einer kalkulierenden, Nutzen maximierenden Denkweise dienlich war. Im Gegensatz zur nahrungsproduzierenden Bauernschaft der Peripherie zogen sich die mit der Geld- und Warenwirtschaft beschäftigten privilegierten Schichten ins städtische Zentrum zurück, so dass sich dort ein dichtes Interaktions- und Interessennetzwerk entwickeln konnte, was die Machtkonzentration in den Händen der privilegierten Schichten weiter vorantrieb (Friedrichs 1995: 19; Mann 1990: 132ff; Simmel 1903).

[9] Obwohl der Revolutionsbegriff einen punktuellen Explosionszeitpunkt suggeriert, muss die neolithische Revolution im Sinne eines graduellen gesellschaftlichen Umgestaltungsprozess verstanden werden (Lenski/Nolan 1995:136; Sanderson 1999: 87).

[10] Obwohl Schurig mit dieser Kausalitätsumkehrung den Übergang des Primatenstadiums zum homo sapiens beschreibt, scheint mir eine Applikation auf die Übergangsphase von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Agrargesellschaft durchaus möglich und nützlich zu sein. Denn eine tatsächliche Umweltunabhängigkeit wurde erst mit dem Aufkommen des Ackerbaus und des erwirtschafteten Nahrungsüberschusses möglich.

[11] Die Sesshaftigkeit zog auch die Konsequenz der ökologischen und sozialen Isolation nach sich, da Agrargesellschaften in einem höheren Masse als Jäger und Sammler an fruchtbare Gebiete gebunden waren. Diese gesellschaftliche Isolierung bzw. die wirtschaftliche Abhängigkeit von alluvialen Schwemmlandschaften war für den weiteren sozio-kulturellen Entwicklungsverlauf von grosser Bedeutung, denn die an solchen Orten ansässige Bevölkerung war “im Unterschied zu den Bewohnern des Rests der Welt genötigt, Zivilisation, soziale Schichtung und den Staat zu akzeptieren” (Mann 1990: 131). Die Aufgabe der ursprünglichen Mobilität zugunsten der permanenten Sesshaftigkeit kam einem sozialen und ökologischen Käfig gleich, in dessen Grenzen ein dichtes Geflecht ökonomischer, sozialer und kultureller Beziehungen zu einem einzigen Netzwerk heranwachsen konnte (ebd.: 212; Giddens 1995b: 130). Auch Sieferle macht auf die Bedeutsamkeit der Sesshaftigkeit für die sozio-kulturelle Entwicklung aufmerksam. Seiner Meinung nach verhinderte die Mobilität und die permanente Umgruppierung der Elemente bei Jäger- und Sammlergesellschaften die Ausdifferenzierung und Stabilisierung komplexer kultureller Muster, “da die Kommunikationen permanent abgebrochen werden, so dass es nur ansatzweise zu einer Verfestigung und Objektivierung der Kultur kommen kann” (1997: 38).

[12] Insbesondere Sanderson betont den engen Zusammenhang zwischen dem Fernhandel, der rund 2250 v.Chr. in Mesopotamien einzusetzen begann, und dem Urbanisierungsgrad gewisser Weltregionen (Sanderson 1999: 111ff; siehe auch Mann 1990: 137; Childe 1968: 36). Interessant ist auch die Entdeckung, dass die ersten Staatsformationen, die allesamt kleine Stadtstaaten waren, ungefähr zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten entstanden, was als Beweis für das Vorhandensein von parallelen gesellschaftlichen Evolutionen angesehen werden kann (Sanderson 1999: 58).

[13] Gutkind stellt fest, dass “many other types of specializations, only became possible when people had learned to produce surplus of staple foods. When this was achieved, however, the basis for larger social groupings had been created” (1974: 3).

[14] Eisenstadt und Shachar haben in einer komparativen Länderanalyse den Anfang der Urbanisierung auf den weiteren Verlauf der städtischen Entwicklung untersucht. Sie kamen zum Schluss, dass “many differences arose among societies based on the elites’ structure and orientations, especially the degree of interweaving or separation between their this- and other-wordly orientations, as well as on the relations among the elites (…) The more closely the major elites were interwoven (…) the stronger would be their tendency to combine the various functions into one major (if highly differentiated) center, which formed an integral part of the town fabric” (1987: 318). Mit diesem Ergebnis stützen sie jene theoretische Linie, die auf die Wichtigkeit der organisatorischen Fähigkeiten einer lokalen, technokratischen Elite in bezug auf Staats- und Stadtentstehung verweist.

[15] Die erste Stadt, die einen solchen Nukleus aufweisen konnte, war Uruk in Mesopotamien. Doch bereits einige tausend Jahre vorher gab es stadtähnliche Formationen, namentlich Jericho (~8300 v.Chr.) und Catal Hüyük (~7000 v.Chr.) (Soja 2000: 27-42).

[16] 3000 v.Chr. betrug die weltweite Population rund 14 Millionen Menschen. 2000 v.Chr. waren bereits 27 Millionen Individuen auf diesem Planeten, 1000 v.Chr. 62 und 1 n.Chr. lag die globale Bevölkerungszahl bei 252 Millionen (Sanderson 1999: 103).

[17] 2250 v.Chr. gab es weltweit 8 Städte (nur in Mesopotamien und Ägypten) mit jeweiligen Einwohnerzahlen von rund 30’000 Menschen. Im Jahr 430 v.Chr. war die globale Städtezahl bereits auf 51 hochgeschnellt mit jeweiligen Einwohnerzahlen von 30’000 - 200’000 Menschen (ebd.: S. 112).

[18] In diesem Zusammenhang muss auf die Erfindung der Schrift resp. eines einheitlichen Zeichensystems hingewiesen werden, ohne dass die städtische Verwaltungstätigkeit kaum möglich gewesen wäre (Childe 1968: 35). Zum logischen Zusammenhang zwischen der städtischen Funktionsweise und der dahintersteckenden Rationalität schreibt Simmel passend: “Die Grossstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine Wichtigkeit verschafft, zu der es bei der Spärlichkeit des ländlichen Tauschverkehrs nicht gekommen wäre. Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart” (Simmel 1903).

[19] In Grossbritanien, das als Ursprungsland der industriellen Revolution gilt, verlagerte sich das Verhältnis von ländlicher und städtischer Bevölkerung in nur 150 Jahren (1750-1900) von 80/20 zu 20/80 (Soja 2000: 77).

[20] Insbesondere in Drittwelt- und Schwellenländern steigt der Urbanisierungsgrad derzeit am rapidsten. So lebten im Jahre 1970 gut 25.5% der Bevölkerung der Dritten Welt in Städten, 1980 waren es bereits 27.3%, 1990 37.1% und 2000 45.1%. Schätzungen prognostizieren, dass im Jahre 2010 51.1% der Bevölkerung der Dritten Welt in Städten wohnen wird. Eine besonders explosive Mischung befördern diese Zahlen dann zu Tage, wenn man bedenkt, dass in diesen armen Ländern auch die Bevölkerungszahl am schnellsten ansteigt (Findley 1993: 4f; Rondinelly/Kasadara: 95f).

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Mensch-Natur-Beziehung im Lichte der sozio-kulturellen Evolution
Hochschule
Universität Zürich
Note
1 (CH: 6)
Autor
Jahr
2004
Seiten
25
Katalognummer
V109384
ISBN (eBook)
9783640075652
ISBN (Buch)
9783640115686
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Natur, Evolution, Stadt, Neolithische Revolution, Industrialisierung
Arbeit zitieren
Robert van de Pol (Autor:in), 2004, Die Mensch-Natur-Beziehung im Lichte der sozio-kulturellen Evolution, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109384

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