Deutsche Okkupationspolitik in der Sowjetunion. Rassenideologische Destruktion und "traditionelle" Herrschaftskonzepte


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1992

11 Seiten


Leseprobe


Deutsche Okkupationspolitik in der Sowjetunion

Rassenideologische Destruktion und "traditionelle" Herrschaftskonzepte auf dem Höhepunkt faschistischer Vernichtungskraft

(Erschienen in: >Das Argument<. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 191 (Jan. / Febr. 1992)

- Faschistische Vernichtungspolitik in der Sowjetunion
- Kolonisierungs-, Germanisierungs-, Deportations- und Ausrottungsplanungen
- Fazit
- Literaturverzeichnis

Angesicht der mildtätigen "Hilfe für Rußland" übersteigt es in der Tat unser Fassungsvermögen, daß deutsche Soldaten und Polizisten während des Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion Säuglinge zerschmettert und bajonettiert oder russische Menschen am lebendigen Leibe verstümmelt haben sollen.

Nun ließen sich all diese Grausamkeiten vielleicht noch einigermaßen in das Kriegsgeschehen einordnen, wären sie - wie es der Autor Paul Kohl in seiner kürzlich erschienen Studie zu den Aktivitäten der deutschen Heeresgruppe Mitte nahelegt - von den Resten einer erschöpften, ausgebluteten Armee ohne warme Kleidung und ohne ausreichende Versorgung begangen worden (1990). Doch das geradezu Gespenstische liegt darin, daß der größte Teil dieser "Massenmorde im Akkord" nicht in einer militärischen Paniksituation im Winter 1941/42, sondern bereits bis zum November 1941, also auf dem Höhepunkt militärischer Kampfkraft begangen wurde.

Dies mag mit dem spezifischen Charakter der deutschen Kriegführung in der UdSSR während des gesamten Jahres 1941 zusammenhängen, die nicht auf instrumentelle, gewissermaßen "traditionelle" Eroberung, sondern tendenziell auf umfassende, rassenideologisch geprägte Vernichtung und die vollständige Zerstörung der Wirtschafts- und Sozialstruktur der besetzten Gebiete zielte (vgl. Geyer 1986).

Faschistische Vernichtungspolitik in der Sowjetunion

Als Vorbild für eine solche Vorgehensweise konnte dabei die deutsche Okkupationsherrschaft in Zentral- und Ostpolen, dem sog. "Generalgouvernement" dienen. Dort waren von den deutschen Besatzern bereits seit 1939/40 entsprechende Maßnahmen ergriffen worden, die zur völligen Zerstörung der Wirtschafts- und Sozialstruktur dieses Gebiets geführt hatten (vgl. Grode 1991).

Alle diese Maßnahmen vollzogen sich in der Sowjetunion in einem kumulativen Prozeß. Daß der geplante Eroberungskrieg zugleich ein furchtbarer Ausrottungskrieg werden würde, begann sich im Februar 1941 abzuzeichnen, als die NS-Führung daran ging, die Ziele "Vernichtung des Bolschewismus" und "Beherrschung des Lebensraumes" im Detail zu planen. Von da an bis Anfang 1942 entwickelte sich ein Radikalisierungsprozeß, in dem der Kreis der möglichen Opfer ständig ausgeweitet wurde, mit der Folge der zunehmenden Zerstörung der Struktur der sowjetischen Gesellschaft.

War es im Februar 1941 "nur" die Absicht gewesen, die "bolschewistischen Führer zu erledigen" (Streit 1980, 61), so waren im Mai/Juni 1941 schon alle militärischen und zivilen Parteifunktionäre, auch auf unterer Ebene in den Kreis der Opfer einbezogen. Diese Entwicklung spiegelt sich in einem Komplex von "verbrecherischen Befehlen", die den Einsatz der Wehrmacht in der Sowjetunion vorbereiten sollten.

Zentral waren in diesem Zusammenhang insbesondere die >Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland< und der sog. Kommissarbefehl. Die >Richtlinien< vom 19. Mai 1941 (ebd., 49/50) erweiterten den Kreis der Opfer von den "bolschewistischen Führern", hin zu sämtlichen "Träger(n) der zersetzenden Weltanschauung des Bolschewismus", zu denen nunmehr auch "Hetzer", Freischärler, Saboteure und Juden gezählt wurden. Insbesondere sollte dies für die "asiatischen Elemente" unter ihnen gelten, die als in ganz besonderem Maße "undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos" angesehen waren.

Eine weitere Eskalation erfolgte durch den am 6. Juni 1941 an das OKH übersandten >Kommissarbefehl< (ebd., 44-49), in dem nicht nur die Unterscheidung zwischen Militär- und Zivilpersonen faktisch beseitigt, sondern darüber hinaus die Gesinnung zum entscheidenden Kriterium für die Vernichtung erhoben wurde. So richtete sich der Befehl zwar in erster Linie gegen die Truppenkommissare, schloß aber bereits zivile Kommissare jeder Art und Stellung mit ein, sobald sie nur des Widerstandes, der Sabotage oder der Anstiftung hierzu verdächtigt wurden. Lediglich "nicht feindselig auftretende" zivile Kommissare - was immer darunter auch zu verstehen war - sollten nicht sofort exekutiert, sondern zur "Überprüfung" an den SD übergeben werden. Bei der Frage ihrer "Schuld" sollte grundsätzlich der persönliche Eindruck von der Gesinnung und Haltung des Kommissars höher bewertet werden, als der vielleicht nicht zu beweisende Tatbestand. Diese Vorgehensweise bedeutete das direkte Anknüpfen an die Prinzipien des >Polenstrafrechts< in den >eingegliederten Ostgebieten< (vgl. Majer 1981, 720-793).

Gewissermaßen flankiert wurden die beiden Befehle durch den sog. >Kriegsgerichtsbarkeitserlaß< vom 13. Mai 1941 (vgl. Streit 1980, 33-44), der "Straftaten feindlicher Zivilisten" der Zuständigkeit der Kriegs- und Standgerichte entzog und Verbrechen von Wehrmachtsangehörigen gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung "unter keinen Verfolgungszwang" mehr stellte. Damit zielte der Erlaß zudem auf die völlige Unterwerfung der gesamten Zivilbevölkerung.

Mit Beginn des deutschen Überfalls - am 22. Juni - wurden diese konzeptionellen Vorbereitungen der Wehrmacht in die Tat umgesetzt. Zudem waren bestimmten Heeresverbänden vier sog. >Einsatzgruppen< der SS zugeteilt worden, die hinter der Front operierten und den Kreis der Opfer weiter ausweiteten. Die SS-Einsatzgruppen waren den Heeresverbänden "hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterkunft" unterstellt worden (Hillgruber 1972, 144) und arbeiteten mit ihnen auch in vieler anderer Hinsicht einvernehmlich zusammen (vgl. Streit 1980, 109-125).

Dieser etwa 3.000 Mann starken SS-Truppe war von Reinhard Heydrich, dem Chef des SS-Reichssicherheitshauptamts (RSHA), zunächst mündlich und am 2.Juli 1941 schriftlich der Befehl erteilt worden, in den besetzten sowjetischen Territorien "alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt alle kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, des Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.)" zu exekutieren (Drobisch 1975, 277).

Wenig später, am 17. Juli 1941, schloß das RSHA mit dem Oberkommando der Wehrmacht ein Abkommen, das den Kreis der Opfer noch weiter ausdehnte: Die SS-Einsatzkommandos sollten unter den sowjetischen Kriegsgefangenen alle "politisch untragbaren Elemente" "aussondern" und erschießen. Als "untragbar" galten nunmehr nicht nur alle Arten von Parteifunktionären, sondern auch alle "Intelligenzler" und - alle Juden (vgl. Streit 1980. 87-106).

Doch blieb es auch in den Kriegsgefangenenlagern nicht bei der Vernichtung der "Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung. Auch hier wurde die Absicht der totalen Destruktion der sowjetischen Sozialstruktur offenbar. Denn von 3,9 Millionen Soldaten der Roten Armee, die bis zum Februar 1942 in die Gewalt der Wehrmacht gerieten, waren bis zu diesem Zeitpunkt zwei Millionen umgekommen oder umgebracht worden (ebd., 128). Nach dem Krieg erklärten die verantwortlichen Generäle, dieses Massensterben der sowjetischen Gefangenen sei nicht vermeidbar gewesen, da man nicht in der Lage gewesen sei, die immensen Gefangenenmassen zu versorgen. Schon 1940 hatte man aber in Frankreich und Belgien binnen sechs Wochen mehr als zwei Millionen Gefangene versorgen müssen. "Von diesen Gefangenen starben bis Kriegsende 15.300 - so viele sowjetische Gefangene starben im Herbst 1941 an einem einzigen Tag" (Streit, 1987, 1294).

Etwa zum gleichen Zeitpunkt - Mitte August 1941, begannen die SS-Einsatzkommandos erstmals auch jüdische Kinder und alle jüdischen Frauen zu erschießen, nachdem vorher 90% der Opfer Männer gewesen waren (vgl. Streit 1980, 109-125). Die Folge war, daß allein in den ersten zehn Monaten der deutschen Okkupationsherrschaft von den Einsatzgruppen der SS über 500.000 (insbesondere jüdische) Menschen ermordet wurden (vgl. Henkys 1964, 113).

Der letzte - geteilte - Schritt in diesem Radikalisierungsprozeß war schließlich die Entscheidung, alle europäischen Juden zu ermorden, die im Januar 1942 auf der sog. "Wannsee-Konferenz" gefällt wurde (vgl. Poliakov/Wulf 1983, 116-126). Demgegenüber ließ im Frühjahr 1942 das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen allmählich nach. Der Grund lag vor allem in der Erkenntnis der deutsche Führung, daß die Arbeitskraft dieser Gefangenen in der deutschen Kriegswirtschaft dringend gebraucht wurde (vgl. Streit 1980, 192-223). Forciert erfolgten nunmehr - nach dem Scheitern der deutschen Blitzkriegsstrategie im Winter 1941/42 - die gewaltsame >Erfassung< der Ernten, die die Landbevölkerung selbst ohne Nahrung ließ und regelrechte Sklavenjagden zur Beschaffung von Zwangsarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft.

So waren allein vom April bis zum Dezember 1942 1,4 Mil. zivile Arbeitskräfte aus der Sowjetunion als sog.>Ostarbeiter< nach Deutschland deportiert worden. Sie waren so rechtlos wie die sowjetischen Kriegsgefangenen und wurden fast ebenso schlecht behandelt und ernährt. Auch unter den sowjetischen Zwangsarbeitskräften wurden die >politisch Untragbaren< von SS-Einsatzkommandos liquidiert. Und auch sie schickte man beim geringsten "Fehlverhalten" in die Konzentrationslager (vgl. Herbert 1986).

Kolonisierungs-, Germanisierungs-, Deportations- und Ausrottungsplanungen

Neben der - rassenideologisch dominierten - Perspektive der ersten Monate nach dem Überfall, bestanden "traditionelle" Konzepte primär ökonomischer Unterwerfung, die auf alten imperialistischen Traditionen basierten. Diese Konzeptionen lagen bereits vor dem Überfall fertig in der Schublade. Insbesondere die Vorstellungen der Agrarplaner sollen im folgenden näher beleuchtet werden, da gerade die Ausplünderungsvorhaben im landwirtschaftlichen Bereich im direkten Zusammenhang mit Vorhaben standen, die Bevölkerung bestimmter Territorien der Sowjetunion systematisch zu reduzieren und die sowjetische Gesellschaftsstruktur zu zerstören.

Somit gefolgert werden kann, daß "traditionelle" Konzepte des Eroberungskrieges und die "rassenideologisch" dominierte faschistische Praxis des Vernichtungskrieges keineswegs in einem unauflöslichen Widerspruch zueinander standen.

Mit der Erarbeitung von Konzepten zur ökonomischen Ausbeutung der UdSSR war bereits im Herbst 1940, also mehr als sechs Monate vor Beginn des militärischen Überfalls begonnen worden (vgl. Czollek 1968, 146). Kurze Zeit später - Anfang Januar 1941 - stellte General Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungshauptamtes des OKW auf Weisung Görings einen >Arbeitskreis Russland< zusammen (vgl. ebd., 143-147), aus dem heraus sich, unter Einschaltung "zuverlässiger Persönlichkeiten deutscher Konzerne" (IMG I 1984, Bd. 3, 390) im Laufe des Frühjahrs 1941 der sog. >Wirtschaftsführungsstab Ost< entwickelte (vgl. Czollek 1968, 148/149).

Diese Leistungsgruppe legte im Juni 1941, noch vor dem Einfall in die UdSSR, das zentrale Programm für die Ausraubung der sowjetischen Territorien, die >Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten<, die sog. >Grüne Mappe Görings<, vor (vgl. IMG II 1990, Bd. 28, 3-15). Gemäß den in dieser >Grünen Mappe< festgelegten grundsätzlichen Richtlinien war es die oberste Maxime, "die sofortige und höchstmögliche Ausnutzung der besetzten Gebiete zugunsten Deutschlands herbeizuführen", wobei dieses sich "in erster Linie auf den Gebieten der Ernährungs- und Mineralölwirtschaft vollziehen" sollte (ebd., 6).

Vor allen anderen industriellen Zielen wurde der Beschaffung von Mineralöl in den Richtlinien "unter allen Umständen der Vorrang" eingeräumt (ebd., 8). Für die Durchführung der auf dem Mineralölgebiet, insbesondere in Kaukasien, zu treffenden Maßnahmen wurde eine am 27. März 1941 unter maßgeblichem Einfluß der Deutschen Bank und der IG-Farben (vgl. Czollek 1968, 150) gegründete Monopol-Gesellschaft, die 'Kontinentale ÖL AG' eingesetzt (vgl. ebd.).

Ähnliches Gewicht wie der Mineralölwirtschaft kam in den Planungen des >Wirtschaftsführungsstabs Ost< lediglich noch der Ernährungswirtschaft zu (vgl. IMG II, Bd. 28, 6/7).

Die Ausplünderungsziele auf dem Agrarsektor waren im einzelnen in den bereits Ende Mai 1941 fertiggestellten >Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft< (vgl. IMG II, Bd. 36, 135-157) festgelegt und in der >Grünen Mappe< lediglich noch einmal summarisch aufgeführt worden (vgl. IMG II, Bd. 28, 7).

Das "Minimalziel" des Programms der >Gruppe Landwirtschaft< war die "Versorgung der Wehrmacht aus Feindesland im dritten und evtl. weiteren Kriegsjahr" (IMG II, Bd. 36, 148) und die Aufstockung der Lebensmittelrationen und -reserven in Deutschland (vgl. Boberach 1984, Bd. 8+9) mit der weitgesteckten Absicht, den europäischen Teil der Sowjetunion auf den Status einer Agrarkolonie herabzudrücken und die volkswirtschaftliche Struktur von 1909/1913 oder möglichst sogar diejenige von 1900/1902 wieder herzustellen (vgl. IMG II, Bd. 36, 140)

Das strategische Ziel der Richtlinien war die "Autarkie" des >europäischen Großwirtschaftsraumes<. Um dieses Ziel zu erreichen sollte das Problem des Ersatzes der Übersee-Einfuhren durch "Einfuhren aus dem Osten ... unter allen Umständen, selbst durch rücksichtsloseste Drosselung des russischen Eigenkonsums" gelöst werden, "wobei unterschiedlich gegenüber der Konsumzone und der Produktionszone vefahren werden" müsse (ebd., 157).

Diese unterschiedliche Vorgehensweise, so wurde in den >Wirtschaftspolitischen Richtlinien< erklärt, sei im Gegensatz zu den bisherigen besetzten Gebieten auch deshalb praktikabel, weil es sich in der Sowjetunion nicht um eine "Gemengelage" handele, sondern das "Hauptüberschußgebiet" vom "Hauptzuschußgebiet" räumlich scharf getrennt sei (vgl. ebd., 138). Die "Überschußgebiete" lägen im "Schwarzerdegebiet" im Süden und Südosten, während sich die "Zuschußgebiete" auf den sog. "Podsolböden" in der "Waldzone des Nordens" befänden (vgl. ebd.).

Gemäß den Planungen der "Gruppe Landwirtschaft" sollte in den südlichen Territorien des europäischen Teils der UdSSR mit einer "Erzeugungsschlacht" nach deutschem Muster, aber mit kontinentalen Methoden, in der Art einer Plantagenwirtschaft begonnen werden. Aus diesem Grunde wurde auch in den >Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost< ausdrücklich darauf hingewiesen, daß jeder Versuch, die bestehenden landwirtschaftlichen Großbetriebe aufzulösen, mit härtesten Mitteln zu bekämpfen sei (vgl. ebd., 146).

Das angestrebte Resultat der Ausraubungsaktion sah für 1941/1942 bereits genau berechnete Mindestanforderungen vor: 4,5 bis 5 Millionen Tonnen Getreide (Fleisch auf Futtergetreide umgerechnet) für die Ernährung der Wehrmacht aus dem Lande und 1,5 Millionen Tonnen Ölsaaten (das entsprach 400.000 bis 500.000 Tonnen Öl und einer Million Tonnen Ölkuchen) für die "Ausfuhr" nach Deutschland (vgl. 149/150).

Den deutschen Zugriff auf die Überschüsse der "Schwarzerdegebiete" wollten die Autoren der Wirtschaftspolitischen Richtlinien< durch systematische Abriegelung dieser Territorien von den übrigen Teilen der Sowjetunion sicherstellen (vgl. ebd. 138). Die Konsequenz dieser Absicht, so verkündeten die Planer, würde die "Nichtbelieferung der gesamten Waldzone einschließlich der wesentlichen Industriezentren Moskau und Petersburg" (ebd.) sein. Die Bevölkerung dieser Gebiete, insbesondere der Städte, so hieß es weiter, würde "größter Hungersnot entgegensehen" müssen (ebd., 141). Da man davon ausging, daß später, wenn der Hunger einsetzte, in diesen Gebieten nichts mehr zu holen sein würde, schlugen die Planer vor, in höchster Beschleunigung alles Vorhandene an Getreide, Vieh, Öl- und Faserpflanzen usw. in den "Zuschußgebieten" schlagartig zu requirieren (vgl. ebd., 151). Am zweckmäßigsten scheine es deshalb, die Einwohner frühzeitig in den sibirischen Raum "abzulenken", was allerdings in den Augen der Autoren ein "schwieriges Problem" darstellen würde, da ein Eisenbahntransport "nicht in Frage" käme (vgl. ebd., 141).

Auf gar keinen Fall dürften Teile der industriellen Struktur der "Zuschußgebiete" erhalten bleiben, und dieses gelte insbesondere mit Blick auf die "fernere Friedenszukunft Deutschlands" (ebd.,144); in Zukunft müsse "Südrußland das Gesicht nach Europa wenden" (ebd.). Denn die Nahrungsmittelüberschüsse dieser Territorien würden, so blicken die Autoren der landwirtschaftlichen Ausplünderungspläne voraus, nur bezahlt werden können, wenn "Südrußland" seine industriellen Verbrauchsgegenstände aus Deutschland bzw. dem >europäischen Großwirtschaftsraum< bezöge und deswegen die "russische Konkurrenz" der 'Waldzone' vorher vernichtet worden sei (vgl. ebd.).

"Aus all dem folgt", so schließt der Abschnitt über die geplante Behandlung der nördlichen und mittleren Gebiete der UdSSR, "viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort, (in den sog. "Zuschußgebieten", W.G.) vor dem Hungertod dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerdezone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas" (ebd., 145).

Das Massensterben der sowjetischen Bevölkerung gehörte also nicht nur zum kurzfristigen militärischen Herrschaftskalkül der Besatzungsbehörden. Es war auch grundlegend für "traditionelle" Konzepte ökonomischer Unterwerfung, wie die zitierten >Wirtschaftspolitischen Richtlinien< und bildete zudem den Ausgangspunkt für die Absichten Himmlers als "Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums" [RKF] und des "Ministeriums für die besetzten Ostgebiete", wie sie im berüchtigten >Generalplan Ost< dokumentiert sind.

Dieser wiederum war die Ausarbeitung und Präzisierung von Himmlers >Denkschrift über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten< vom Mai 1940 (VfZ 1957, 194-198). Der >Generalplan Ost< seinerseits, war ein detailliertes Dreißig-Jahres-Programm zur Besiedlung der künftigen Ostkolonien, zur >Germanisierung< des Raumes zwischen Weichsel und Ural. Darin wies Himmlers Planungsamt der sowjetischen Bevölkerung den Status von Sklavenarbeitern im Dienste der "germanischen Wehrbauern" zu. "Die Deutschen müßten die Stellung der Spartiaten, die aus Letten, Esten u. dgl. bestehende Mittelschicht die Stellung der Periöken, die Russen dagegen die Stellung der Heloten haben" (VfZ 1958, 296). Ihre Zahl sollte zunächst um 31 Millionen Menschen verringert werden. 14 Millionen "Gutrassige", die vorerst als Arbeitskräfte gebraucht wurden, sollten in Reservaten gehalten und allmählich abgeschoben werden.

Doch selbst diese Größenordnungen wurden von Teilen der NS-Eliten als noch zu gering eingestuft. So übte das Ostministerium z.T. massive Kritik am RKF-Plan, indem es zwar die Zielrichtung grundsätzlich billigte, jedoch den geplanten Umfang der Umsiedlungs- und Deportationsmaßnahmen als keineswegs ausreichend erachtete: "Geht man davon aus, daß 14 Mil. Fremdvölkische in den betreffenden Räumen bleiben, wie es der Plan vorsieht, so müßten demgemäß 46 bis 51 Mill. Menschen ausgesiedelt werden. Die Zahl von 31 Mill. auszusiedelnder Menschen, die der Plan angibt, dürfte nicht zutreffen" (ebd., 301). Ingesamt gesehen erscheint der >Generalplan Ost< wie ein gigantisches Deportations- und Ausrottungskonzept in das der Holocaust an den Juden als ein integraler Teil eingebettet war.

Diese verschiedenen Planungen, die den Tod von >zig Millionen Menschen< in der Sowjetunion auch als Voraussetzung für umfassende Strukturveränderungen bezeichneten und billigten, sind dann zwar bedingt durch den Kriegsverlauf nicht mehr zur Durchführung gekommen, haben aber doch erheblichen Einfluß auf die Formen der deutschen Kriegsführung und Besatzungspolitik gehabt. Das gilt für die Vorgehensweise der Wehrmacht und mehr noch für die Einsatzgruppen der SS, deren Morden durch die oben zitierten >Wirtschaftspolitischen Richtlinien< geradezu inspiriert gewesen zu sein scheint.

So ist aus den täglichen Meldungen der vier Einsatzgruppen an das Reichssicherheitshauptamt, in denen u.a. auch ihre "Ergebnisse" mitgeteilt wurden, ersichtlich, daß die Einsatzgruppen 'A' und 'B', in den baltischen Republiken und in "Weißrußland" stationiert, zusammen genommen von Beginn des Überfalls bis Mitte Oktober 1941 ca. 180.000 Menschen ermordeten. Die in der Ukraine operierenden Einsatzgruppen 'C' und 'D' exekutierten während des gleichen Zeitraumes ca. 90.000 Menschen (vgl. Drobisch 1975, 279).

Gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl der jeweiligen Territorien fielen damit den Einsatzgruppen 'A' und 'B', die in den Regionen operierten, die in den >Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft< als "Zuschußgebiete" ausgewiesen waren, sechsmal mehr Menschen zum Opfer, als den Einsatzkommandos der Einsatzgruppen 'C' und 'D', die im "Hauptüberschußgebiet", der Ukraine, stationiert waren.

Fazit

Erst nach dem Scheitern der "Blitzkriegsstrategie" vollzog sich im Umgang mit der sowjetischen Bevölkerung ein allmählicher Wandel, von einer politisch und rassenideologisch geprägten Strategie der Vernichtung hin zu einer "instrumentellen" Strategie. Damit begann die zweite Phase des Besatzungsregimes, die bis zum Sommer 1943 andauerte. Sie war vor allem durch das Bestreben gekennzeichnet, alle materiellen und personellen Potenzen der besetzten Gebiete für die deutsche Kriegsführung auszuschöpfen.

Vom Sommer 1941 bis zum Jahresbeginn 1942 jedoch, auf diesem absoluten Höhepunkt faschistischer Vernichtungskraft, war die >fremdvölkische< Bevölkerung Osteuropa einschließlich der jüdischen Bevölkerung Polens und der Sowjetunion - von den deutschen Okkupanten relativ einheitlich der Maxime rassenideologischer Destruktion unterworfen worden. Eine Vorgehensweise, die jedoch keineswegs in einem unauflöslichen Widerspruch zu "traditionellen", ökonomisch dominierten Konzepten des Eroberungskriegs stand.

Erst als im Dezember 1941 die deutsche Offensivstrategie "vor Moskau" gescheitert war, wurde damit begonnen gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung differenzierte Vorgehensweisen zu praktizieren.

Gegenüber der jüdischen Bevölkerung wurde die Strategie der rassenideologischen Destruktion hingegen bis zum Ende fortgesetzt. Diese Strategie, die ab 1942 in der Vernichtung der mittel- und westeuropäischen Juden gipfelte, erscheint jedoch geradezu wie die, durch das militärische Kräfteverhältnis begrenzte, noch mögliche Verwirklichung eines ideologischen Kern- und Restprogramms - mißt man sie an der umfassenden faschistischen Vernichtungspraxis in der Sowjetunion auf dem Höhepunkt deutscher Destruktionskraft und den im gleichen Bewußtsein entstandenen immensen Kolonisierungs-, Germanisierungs- und Ausrottungskonzepten für den gesamten >Ostraum<.

Literaturverzeichnis

Boberach, Heinz (Hg.), 1984: >Meldungen aus dem Reich<. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945. 17 Bde, Herrsching

Czollek, Roswitha, 1968: Zur wirtschaftlichen Konzeption des deutschen Imperialismus beim Überfall auf die Sowjetunion. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, T. 1, 141-181

Drobisch, Klaus u.a., 1975: Juden unterm Hakenkreuz, Frankfurt/M.

Geyer, Michael, 1986: Krieg als Gesellschaftspolitik. Anmerkungen zu neueren Arbeiten über das Dritte Reich im Zweiten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte 26, 557-601

Grode, Walter, 1991: Modernisierung und Destruktion. Regionale Differenzierungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im besetzten Polen. In: Wolfgang Schneider (Hg.), Vernichtungspolitik. Hamburg, 53-63

Henkys, Reinhard, 1964: Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht. Stuttgart, Berlin

Herbert, Ulrich, 1986: Der >Ausländereinsatz<. Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in Deutschland 1939-1945 - ein Überblick. In: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 3, 26-32

Hillgruber, Andreas, 1972: Die "Endlösung" und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassistischen Programms des Nationalsozialismus. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20, 135-153

IMG I, 1984: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Fotomech. Nachdruck der Bde 1-23, München, Zürich

IMG II, 1989: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Fotomech. Nachdruck der Bde 24-42. Urkunden und anderes Beweismaterial, München, Zürich

Kohl, Paul, 1990: "Ich wundere mich, daß ich noch lebe", Sowjetische Augenzeugen berichten. Gütersloh

Majer, Diemut, 1981: "Fremdvölkische" im Deutschen Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtsetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements. Boppard am Rhein

Poliakov, Leon und Joseph Wulf, 1983: Das Dritte Reich und die Juden. Frankfurt, Berlin, Wien

Streit, Christian, 1980: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945. Stuttgart

Streit, Christian, 1987: Es geschah Schlimmeres, als wir wissen wollen. Der Fall Barbarossa. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 32, 1287-1300

VfZ 1957: >Denkschrift über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten<. Dok. in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 5, 194-198

VfZ 1958: >Der Generalplan Ost<. Dok. in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 6, 281-324

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Details

Titel
Deutsche Okkupationspolitik in der Sowjetunion. Rassenideologische Destruktion und "traditionelle" Herrschaftskonzepte
Autor
Jahr
1992
Seiten
11
Katalognummer
V109298
ISBN (eBook)
9783640074792
ISBN (Buch)
9783640118274
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: 'Das Argument', Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 191 (Jan./Feb. 1992).
Schlagworte
Deutsche, Okkupationspolitik, Sowjetunion, Rassenideologische, Destruktion, Herrschaftskonzepte
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1992, Deutsche Okkupationspolitik in der Sowjetunion. Rassenideologische Destruktion und "traditionelle" Herrschaftskonzepte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109298

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