Leidenserinnerung als universelle Ressource des Humanen


Wissenschaftlicher Aufsatz, 1998

13 Seiten


Leseprobe


LEIDENSERINNERUNG ALS UNIVERSELLE RESSOURCE DES HUMANEN

(Rezensionsessay zu Johann Baptist Metz: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1976-1997. Mainz 1997, erschienen in: >Politische Vierteljahresschrift<. Zeitschrift der deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Heft 2, 1998)

Die Bourgeoise, wo sie zur Herrschaft gekommen, schrieben Marx und Engels (1974), habe alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie habe die heiligen Schauer frommer Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt, die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Nicht in der Wortwahl, wohl aber dem Sinne nach, war das auch die Position vieler konservativer Denker, die traditionell den unheilvollen Verdacht hegten, der Liberalismus verschleiße ihre kulturelle Tradition, ohne sie erneuern zu können (vgl. etwa Göhler/Klein 1991), denn die liberale Gesellschaft könne ihre vorpolitischen Bestandsvoraussetzungen nicht garantieren, sondern bloß politisch konsumieren.

Und bereits vor 150 Jahren warnte Toqueville (1976) vor den Folgen einer individualistischen Bürgergesellschaft: Jeder stehe in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber. Was die übrigen Mitbürger angeht, so stehe er neben ihnen, aber er sehe sie nicht; er berühre sie, aber er fühle sie nicht; er sei nur in sich und nur für sich allein vorhanden (vgl. Grode 1997). Dennoch verstanden die Liberalen diesen Prozeß stets als ein großes Paradoxon. Aber offenbar lebt ja selbst der moderne Rechts- und Verfassungsstaat von Voraussetzungen, die er selbst weder produzieren noch garantieren kann und die er deshalb ohne Restitutionsmöglichkeiten zunehmend verbraucht (vgl. Dahrendorf 1993).

Historisch betrachtet läßt sich von einer zweifachen Aufhebung wie auch von einer zweifachen Respektierung dieses Paradoxons sprechen.

Die zweifache Aufhebung ist von extrem gegenläufigen Tendenzen geprägt. Zum einen existierte bekanntlich eine staatstotalitäre Auflösung dieses Paradoxons: Der totalitäre Staat macht sich selbst zur "Religion" und hebt so seine Abhängigkeit von kulturellen und moralischen Bedingungen auf, die er selbst weder hervorbringen noch beherrschen kann. Man erinnere sich der religionsanalogen Auszeichnungen des Staates im Nationalsozialismus und im Kommunismus. Zum anderen gibt es die radikaldemokratische Aufhebung dieses Paradoxons in Demokratietheorien, die von strikt posttraditionalen bzw. enttraditionalisierten Charakter unserer avancierten Gesellschaften ausgehen: Die Demokratie bezieht nun alle kulturellen Ressourcen, aus denen sie lebt, ausschließlich aus dem demokratischen Diskurs selbst. So hätten die avancierten Gesellschaften, ist Dubiel (1994) gewiß, schon längst damit begonnen, die kulturellen Bedingungen ihrer Existenz selbst zu produzieren. Der säkulare Wandel der Moderne erzeuge, so Giddens (1997), die Voraussetzungen zu seiner Bewältigung gleich mit.

Dagegen sind es zwei - gegenläufige - Formen politischer Theologie, die dieses metapolitische Paradox ausdrücklich in Rechnung stellen. Zum einen ist es die politische Theologie Carl Schmitts. Zum anderen ist es die "neue" Politische Theologie, für die der Name des katholischen Theologen Johann Baptist Metz steht. Trotz einer gewissen theoretischen Nähe ist letztere, wie Metz betont, "keineswegs der Versuch, über eine rechte Hand des Carl Schmitt einen linken Handschuh zu stülpen" (181).

Als Gegner der Weimarer Republik und der parlamentarischen Demokratie hatte Carl Schmitt (1888-1985) seine politische Theologie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg unter Rückgriff auf aufklärungskritisches Gedankengut des französischen Traditionalismus entwickelt (vgl. Lukacs 1983). "Wer Menschheit sagt, will betrügen," lautete Schmitts Diktum. Seine "Politische Theologie" (1922) setzte von Anfang an nicht auf die Universalität der Menschenrechte, sondern, wie Metz schreibt, auf den "Universalismus der Erbsünde" (188).

Carl Schmitts Skepsis (vgl. insbes. 1963) galt der Fähigkeit des Menschen zur demokratischen Selbstregierung, sein politisches Grundprinzip war das der Freund-Feind-Konstellation, und seine Vorstellung von einer Gesellschaft, gingen von einem Gemeinwesen aus, das allemal latent in Bürgerkriege verstrickt ist und deshalb, zur Niederhaltung dieser konstitutionellen Gefahr, des starken, dezisionistischen Staates bedarf. Deshalb erhob Schmitt die resignierende Feststellung von Thomas Hobbes "Auctoritas, non veritas facit legem!" zur klassischen Formel des von ihm vertretenen Dezisionismus. Für ihn war es durchaus möglich, daß Autorität, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.

Theologisch war Carl Schmitts politische Theologie allenfalls insofern, als sie alle juristischen Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe verstand und den Katholizismus als Paradigma prädemokratischer Lebensformen pries Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre waren für Schmitt säkularisierte Begriffe.

Staatslehre und Theologie stünden, so führte Schmitt aus, nicht nur der Entwicklung, sondern auch der inneren Struktur nach in engem Zusammenhang. Beide befänden sich auf einer abschüssigen Bahn: Der Theologie sei mit dem aufklärerischen Deismus der Glaube an die Möglichkeit des Wunders ausgetrieben worden, der Staatslehre mit der Theorie des modernen Rechtsstaates der unmittelbare Eingriff des Souveräns in die Rechtsordnung abhanden gekommen. Letzterer habe in der Staatslehre die Rolle gespielt, die das Wunder in der Theologie einnahm. Damit aber sei der Staatslehre ihr tragendes Fundament verloren gegangen - denn eine "Rechtsordnung" könne doch kein selbständiges Subjekt der Macht sein, kein "Souverän" (vgl. Kremers 1993).

"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - lautete dagegen einer der apodiktischen Sätze in Schmitts "Politischer Theologie", die den bezeichnenden Untertitel "Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität" trug. Damit hatte er früh den Punkt entdeckt, von dem aus das Weimarer System aus den Angeln gehoben werden konnte. Und so hielt es Schmitt konsequenterweise für völlig inopportun, die Weimarer Republik frontal zu attackieren, wenn sich doch das erstrebte autoritäre Diktaturregime auch verfassungsmäßig etablieren ließ. Daher interessierte ihn strenggenommen an der Weimarer Verfassung nur der Artikel 48, der dem Reichspräsidenten das Recht einräumte, im Falle einer Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten. Schmitts dezisionistisches Denken kreiste immer wieder um diese Verfassungsbestimmung. Nicht wer im Normalfall regiert, war seiner Meinung nach der eigentliche Machthaber, sondern der, der im Ausnahmefall zu bestimmen vermochte, was Recht ist, und demzufolge im Konfliktfall politisch handlungsfähig blieb.

In der gegenwärtigen (nicht nur deutschen) Szene gewinnt die politische Theologie Carl Schmitts zunehmend wieder an Gewicht. Selbst für einen Teil der ehemaligen deutschen Linken ist der Universalismus jeder Menschenrechtsethik die eigentliche "moralische Falle" geworden, in einer Zeit, da doch das Bürgerkriegsproblem in jeder Hinsicht als vordringlich zu gelten habe. So habe nach Auffassung Enzensbergers (1993) der Bürgerkrieg längst in den Metropolen Einzug gehalten. Seine Metastasen gehörten zum Alltag der großen Städte. Dieser Krieg komme nicht von außen, er sei kein eingeschleppter Virus, sondern "ein endogener Prozeß". Doch nur auf den ersten Blick besteht ein Widerspruch zwischen Enzensbergers Mentekel vom Bürgerkrieg und Huntingtons "Kampf der Kulturen" (1996). Und diese Sicht wiederum kreuzt sich fatal mit jenem existentialpolitischen Dezisionismus, den die neuen konservativen Kulturkritiker propagieren. Weil der westliche Sozialstaat jahrzehntelang darüber hinweggetäuscht habe, daß die Weltgeschichte ein permanenter Ausnahmezustand sei, müsse Abschied genommen werden vom Traum der (universellen) Gerechtigkeit, der Kultur für alle und dem Wohlstand für jeden (vgl. Assheuer 1997).

Für Metz spiegelt sich in dieser neuen Konjunktur des dezisionistischen Gedankens jene Ungewißheit und Unsicherheit, die in die freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie im Stadium ihrer Reflexivität eingedrungen ist. Ist deshalb Demokratie nur noch als institutionalisierter Dauerdiskurs möglich? Hat Freiheit ihr Gedächtnis verloren? Ihr Leidensgedächtnis?

Westliche Demokratien verlieren ihr Gedächtnis und tilgen die entsetzlichen Spuren der Geschichte aus dem Bewußtsein. Schleichend neutralisieren sie kollektive Erinnerung an die Opfer der abgerungenen "Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit". Doch nicht nur die Freiheit ist, um einen Satz Rosa Luxemburgs abzuwandeln, stets die Freiheit der Anderen, sondern, was im Zeichen bedingungsloser Konkurrenz schon vergessen scheint, auch die Gleichheit und die Geschwisterlichkeit (vgl. Laschitza 1996). Ohne Vorsatz, als sei es das zynische Gesetz des Fortschritts, vergessen moderne Gesellschaften den fürchterlichen Preis, den frühere Generationen für ein Minimum an sozialer Gleichheit zahlen mußten (vgl. Beer 1971), bis ihr Kampf die "Wirklichkeit der Freiheit" erkennen ließ. Diese Vergeßlichkeit ist das heimliche Thema der "Dialektik der Aufklärung" (vgl. Horkheimer/Adorno 1986).

Gedächtnislosigkeit: Dieser Vorwurf, schreibt Metz, soll nicht nur den Brutalliberalismus treffen, der glaubt, eine Gesellschaft könne im Selbstlauf des Egoismus zusammengehaten werden. Vergeßlich nennt er auch die "zweite Generation" der Frankfurter Schule und vergeßlich sei auch Ulrich Beck. Denn Becks erlösende Botschaft von der "Erfindung der Freiheit" (Beck 1986, 1993; Beck/Beck-Gernsheim 1994) sei ebenso ein "existentialpolitischer Dezionismus" und damit nur eine andere Form von Gedächtnislosigkeit.

Metz kommt es vor, als würden Becks Kinder der Freiheit mit trauriger Fröhlichkeit durch Leben hetzen, im leidensleichten Vollgenuß ihrer bedingungslosen Modernität. Und er fragt deshalb mit Nachdruck, ob unsere posttraditionalen Diskursgesellschaften wirklich über die anonyme Herrschaft des Marktes, des Tausches und der Konkurrenz hinausgekommen? Ob sie noch eine Vision der Verantwortung der Einen für den Andern vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis kennen? Er ist überzeugt davon, daß liberale Gesellschaften zerfallen, wenn es ihnen nicht gelingt, das System negativer Freiheit und die Tauschverhältnisse des Marktes zu transzendieren. Damit hofft er nicht auf die Wiederverzauberung des Kapitalismus aus dem Geist einer mystischen Religiosität. Und damit meint er nicht eine psychotherapeutische Religion ohne Gott oder eine Gottesrede ohne Bergpredigt. Metz sagt nicht:

Athen statt Jerusalem. Denn dies wäre keine Religion, sondern Mythos - und der ist genauso vergeßlich wie die selbstherrliche Vernunft.

Friedrich Nietzsche, der im Hintergrund der geistigen Situation der Zeit längst Hegel und Marx abgelöst hat, knüpfte seine "neue Art zu leben", mit der er einen Schlußstrich unter das Christentum und alle monotheistischen Religionen zu ziehen suchte, an den Triumph der kulturellen Amnesie. "Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen", zitiert ihn Metz. "Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist" (150). Die Vision vom Glück der Menschen gründet nun ganz schlicht im Vergessenkönnen, in der Amnesie der Sieger oder eben auch der Durchgekommenen.

Die total vernetzte Informationsgesellschaft, in die wir heute immer mehr hineinwachsen, kann diesem Vergessen meines Erachtens nicht widerstehen. Sie ist in Gefahr, zur eigentlichen Vergessensmaschine zu werden; denn das "Speichern" von Informationen ist eben kein Erinnern.

Um der Frage nach dem Gedächtnis auf den Grund zu kommen, zitiert Metz nochmals Nietzsche, der in seiner ganzen Ambivalenz, keineswegs ein blinder Fanatiker des Vergessens war. In seinen Überlegungen "Zur Genealogie der Moral" schreibt er: "Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?' ... 'Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: Nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis" (150).

Was also mit kultureller Amnesie gemeint ist, ist die Stillegung der Erinnerung des Schmerzes im kulturellen Gedächtnis der Menschen. Und hierfür gibt es grundsätzlich zwei völlig entgegengesetzte Methoden: zum einen die Vernichtung sämtlicher Spuren, so daß nichts mehr erinnert werden kann, wie das die Nazis versuchten (vgl. Arendt 1986, 1990); zum anderen aber auch die "perfekte" Erinnerung, nämlich die vermeintliche Gewißheit, das Geschehen in und mit seiner (nachträglichen) Repräsentation aufgehoben und erklärt zu haben.

Der Unterschied zwischen Johann Baptist Metz und Carl Schmitt ist einer ums Ganze: Schmitt gibt dem autoritären Staat den Segen gegen die Freiheit. Metz fordert die Erinnerung der Gesellschaft aus Freiheit. Die alte Politische Theologie droht mit der Erbsünde und hält es mit den Siegern, während die neue das Bewußtsein der Sünde wachhält und den Opfern anamnetisch verpflichtet ist.

In dreifacher Weise markiert sie einen Wendepunkt der Theologie: Den Abschied von ihrer gesellschaftlichen und politischen Neutralität; den Abschied von ihrer geschichtlichen Unschuld und den Abschied vom Eurozentrismus. Durch ihren Primat von Subjekt, Praxis und Alterität beeinflußte die Politische Theologe sowohl die Befreiungstheologie wie auch die Feministische Theologie.

Am eindrucksvollsten und eigentlich auch am hoffnungsvollsten begegnete Metz der Geist dieser Theologie in Lateinamerika. Dort in den Favelas, wo die basisgemeindliche Arbeit "ganz unten" ansetzt, dort, wo einem die fromme Metaphysik im Halse stecken bleibt, wo einem das sprachlose Elend das Wort verbietet und zunächst nur das Dabeisein zählt, gehört, zum basiskirchlichen Leben etwas, was bei uns, in einer bürgerlich sozialisierten Kirche, nicht (mehr) gegeben ist, daß nämlich ein sozialer und kultureller Kampf um Identität Hand in Hand geht mit dem Aufbau und der Erfahrung religiöser Identität.

Gleichzeitig begegnete Metz in den Gesichtern der Indios, die geprägt sind von den dunklen Schatten dessen, was man dort die andinische Mystik nennt, eine unsagbare Trauer. "Es regnet Trauer in den Anden" steht in seinem andinischen Tagebuch. Diese Trauerantlitze der Indios haben nichts Romantisches an sich. Die Indios tun sich nicht eigentlich deswegen so schwer mit unserer westlichen Zivilisation, weil sie "unterentwickelt" sind, sondern, weil sie anders sind und dieses Anderssein seine zu respektierenden Geheimnisse hat. In diesem Sinne kleben an Worten wie "Befreiung" und "Basisgemeinde" zu viel Schmerz und Lebensrisiko, daß Metz vor einem ungenierten Gebrauch hierzulande nur warnen kann.

Johann Baptist Metz' "Neue Politische Theologie" ist im Gegensatz zu Carl Schmitts "Politischer Theologie" zunächst und in dezidierter Weise nichts als Theologie. Ihr geht es um die Frage, ob und wie sich der biblische Monotheismus in Beziehung setzen läßt zur modernen Politik bzw. der radikalen Privatisierung von Religion gegen die Grundlagen und Möglichkeiten einer demokratischen Politik an den Grenzen der Moderne gerichtet sein muß. Diese Theologie geht davon aus, daß eine traditionsgeleitete Vergewisserung über die moralischen und kulturellen Grundlagen dieser Politik - und eine darin sich abzeichnende kritische Annäherung zwischen Religion und Politik - keineswegs zu Aufklärungs- und Demokratiefeindlichkeit, führen muß, nicht zu einer dezisionistischen Staatstheorie und nicht zu einer Absage an jede vernunftrechtliche und in diesem Sinn universalisierungsfähige Begründung politischen Handelns.

Dabei ist die neue Politische Theologie von einer speziellen Theorie der Moderne geleitet. Diese ist nicht verfallstheoretisch orientiert - wie etwa bei C. Schmitt, wie zuweilen bei den Kommunitaristen, z.B. bei A. MacIntyre; sie ist aber auch nicht vom posttraditionalen Charakter des sich vollendenden "Projekts der Moderne" geleitet - wie bei den reinen Diskurstheoretikern, wie auch mit unterschiedlichen Prämissen, bei U. Beck und A. Giddens. Am ehesten weiß sie sich jener Theorie der Moderne nahe, wie sie sich - gewiß in korrektivistischer Übertreibung - in der "Dialektik der Aufklärung" (M. Horkheimer / Th. W. Adorno) abzeichnete. Mit ihr nämlich lassen sich meiner Meinung nach die Probleme an den Grenzen der Moderne - immer noch - besser erfassen als mit der Rede von der "Postmoderne" oder auch von einer "Zweiten Moderne" usw. An ihr läßt sich - immer noch am ehesten lernen, wie man die Moderne gegen sie denken muß, um ihre Errungenschaften, speziell ihre Kultur der Freiheit, zu retten.

Nun hat die Aufklärung in der von ihr entwickelten Vernunftgestalt ein tiefsitzendes Vorurteil nicht überwunden: Das Vorurteil gegenüber der Erinnerung: Sie fördere Diskurs und Konsens und unterschätzte - in ihrer abstrakt-totalen Kritik an Traditionen - die intelligible und kritische Macht der Erinnerung, also die anamnetische Rationalität. Doch erst im Lichte erinnerungsbegabter, also anamnetischer Vernunft läßt sich den inzwischen meist schon wieder vergessenen, verdrängten und allemal unterschätzten Einsichten der "Dialektik der Aufklärung" Rechnung tragen; erst in ihrem Licht kann die Aufklärung sich über das von ihr selbst angerichtete Unheil aufklären, und erst in ihrem Licht kann sich die europäische Moderne über ihre moralische und politische Erschöpfung verständigen.

Die Universalisierbarkeit ihrer Leidenserinnerung sichert die Politische Theologie dadurch, daß sie diese Leidenserinnerung nicht als selbstbezüglich versteht, sondern als Erinnerung fremden Leids und als Eingedenken der Opfer der Freiheitsgeschichte. Solches Eingedenken fremden Leids gehört zu den kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie.

Wenn es stimmt, daß liberale und demokratische Gesellschaften fundamental auf das Gedächtnis ihrer Lernprozesse angewiesen sind, dann würde die Zeit des Vergessens ihre ethischen Grundlagen gefährden.

Nun spart auch Johann Baptist Metz als "Politischer Theologe", nicht mit Kritik an einem selbstgefälligen, hedonistisch verkümmerten und intellektuell ausgetrockneten Liberalismus. Allerdings wiederholt er nicht einfach die landesüblichen Beschwerden einer elitärkonservativen Kulturkritik - zum Beispiel die begüterte Klage, vor lauter Sozialstaat entgehe den verzärtelten Mitmenschen die schlagende Härte des tieferen Daseins. Und ganz abwegig erscheint Metz der elastische Mehrzweckvorwurf von der "Seinsvergessenheit", der verleugneten "Erbsünde" oder dem unbekannten "Bösen".

Es ist eine viel radikalere Überlegung, die ihn auf Distanz bringt zu liberalen Theoretikern - gleichviel, ob sie Sympathisanten der ersten oder der zweiten Moderne sind oder bei der Postmoderne eine Nullrunde drehen. Weil Metz die Sorge um den Gedächtnisverlust aufnimmt, ohne sie in eine konservative Werttheorie abzubiegen, kann er den Verteidigern der Moderne vorwerfen, sie hätten zuwenig Gespür für die Zweideutigkeit ihres Unternehmens. Denn mit jedem Triumph über Mythen und Vorurteile, mit jedem Sieg über Unrecht und Herrschaft, mit jeder Bewegung der Aufklärung selbst entfesselt die moderne Welt eine Dynamik des Vergessens. Unersättlich scheint die Absorption der Erinnerung und ungeheuerlich die Neutralität des Bewußtseins. Am Ende wird dieses Bewußtsein so vergeßlich, das es seine Vergeßlichkeit vergißt, und dann weiß auch die liberale Gesellschaft nicht mehr, warum sie überhaupt auf der Welt ist. Was ist, so fragt Metz, "wenn sich die Menschen eines Tages nur mehr mit der Waffe des Vergessens gegen das Unglück wehren können, wenn sie ihr Glück nur noch auf das mitleidlose Vergessen der Opfer bauen können, auf eine Kultur der Anmesie, in der nur noch sie alle Wunde heilt und eines Tages auch die Wunde, die den Namen Auschwitz trägt? Woraus nährt sich dann der Aufstand gegen die Sinnlosigkeit des Leidens in der Welt, was inspiriert dann noch zur Aufmerksamkeit für das fremde Leid und die Vision einer neuen, größeren Gerechtigkeit?"(185)

Die neue Politische Theologie, deren Entfaltung die Aufsatzsammlung eindrucksvoll nachzeichnet, ist viel radikaler und, theologisch gesprochen, gottesfürchtiger. Eindringlich versucht Metz die liberalen Adressaten davon zu überzeugen, daß die pragmatische Vernunft ohne Leidensgedächtnis moralisch erblindet. Ohne das Eingedenken der schrecklichen Opfer, ohne die Imagination des Anderen, kann die Vernunft gar nicht wissen, warum sie vernünftig sein soll. Metz setzt alle Hoffnung auf die Solidarität mit den Toten und fordert die moralische Selbstbindung der Gesellschaft durch solidarische Erinnerung: Hat die Menschheitsgeschichte ihr Golgatha nicht stets wiederholt?

Anamnetische Solidarität, historisches Eingedenken: Die neue Politische Theologie macht die unvergeßliche wie unbeantwortbare Thodizeefrage - Warum gibt es ein ungerechtes Leiden in der Welt? - zur stummen Provokation der Lebenden. Das Opfer, der Gefolterte, die Ermordete ist Gott am Kreuz oder in der Sprache der Kreuzestheologie: Menschengedächtnis wird Gottesgedächtnis. Während die halbierte Vernunft nur selbstbezogen vernünftig ist, entdeckt die Religion im Antlitz des Anderen das Abbild des Absoluten.

"Theodizee" ist eine Begriffserfindung von Leibniz. Es gibt eine Theodizeefrage und eine Theodizeeantwort. Die Frage: Wie kann ein Gott, von dem es heißt, er sei allgütig und liebe die Menschen, einen Weltlauf zulassen, in dem so viel Blut und Tränen fließen? Wie kann er das Böse zulassen, wenn er doch - und das soll doch auch von ihm gelten - allmächtig ist? Die Antwort: Gott weiß es, er ist nämlich auch allwissend. Wir aber wissen es nicht. Aus Bösem entsteht Gutes. Zwar ist die Welt nicht ein Paradies - es gibt das Böse zweifellos. Aber das Böse ist nötig. Ohne Hunger keine Arbeit, ohne Arbeit kein Leben. Wir leben zwar nicht in einer durchgängig guten, aber in der besten aller möglichen Welten. Leibniz zieht mit seiner Theodizeefrage Gott vor Gericht, mit seiner Theodizeeantwort spricht er ihn wieder frei.

Metz (1995) dagegen will an der Frage nach der Theodizee stets und unbedingt festhalten. Sie ist für ihn die eschatologische Frage schlechthin. Sie verhindere, daß die Schöpfung identitätsphilosophisch, universalgeschichtlich, evolutionslogisch oder wie immer auf ihr gelingendes Ende hin durchsichtig gemacht werden könne. Hier wird Eschatologie, das heißt der Blick über die Ränder der Realität, zur negativen Theologie der Schöpfung. Gott, behauptet Metz, passe einfach nicht zu uns, weder zu unseren klerikalen Phantasien noch zu unseren Selbstverwirklichungsphantasien. Was bleibt, sei "der lautlose Seufzer der Kreatur, der wortlose Schrei nach Licht vor dem dunklen Antlitz Gottes" (211).

Die Welt steuert unerbittlich auf einen dieser tragischen Momente zu, der künftige Historiker und Politologen fragen lassen wird, warum nicht rechtzeitig etwas unternommen wurde, konstatiert Metz. Haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten nicht bemerkt, zu welch todgreifenden Verwerfungen der ökonomische und technische Wandel führte? Und was hat sie davon abgehalten, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um eine globale soziale Krise zu verhindern? Wo wären hier die Kräfte, die noch rechtzeitig die humanen Grundlagen der Politik gegenüber einer immer rapider sich durchsetzenden Eigengesetzlichkeit von Ökonomie und Technik reklamieren und verteidigen? Keine dieser Fragen, lehrt uns Adorno (1966), könnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbewahrt wäre und weiterdrängte. Genügt hier also eine neue Subpolitik der zur riskanten Individualisierung befreiten Bürgergesellschaft? Oder eine Weltpolitik durch die renommierten Subinstitutionen wie Amnesty International, Terre des hommes oder Greenpeace? Handelt es sich hier nicht vielmehr um eine Situation, in der gerade auch die weltweit verwurzelten religiösen Institutionen politischer sein müßten als die "normale" Gesellschaft? Ist das nicht die Stunde, in der sich die Weltreligionen, im Stile der indirekten Ökomene, also im gemeinsamen Widerstand gegen die Ursachen ungerechten Leidens in der Welt, in die Politik einschalten müßten? Nicht um einer traumtänzerischen Gesinnungspolitik oder gar einer fundamentalistischen Religionspolitik das Wort zu reden, sondern um eine gewissenhafte Weltpolitik - in der Stunde großer Gefahr - zu stützen. Die Weltreligionen werden das freilich nur zustandebringen, mahnt Metz, wenn sie dabei nicht das Selbsterhaltungsinteresse ihrer Institutionen, sondern das fundamentale Interesse am fremden Leid im Auge haben. Es waren die Erfahrungen in der sog. Paulusgesellschaft, die sich bereits in den frühen 60er Jahren dem Dialog zwischen Christen und Marxisten gewidmet hatte, dann besonders Ernst Bloch und die Frankfurter Schule, die Johann Baptist Metz "herauspolitisierten aus dem existentialen und tranzendentalen Zauberkreis der Theologie" (208). Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus hat er eigentlich immer als Auseinandersetzung mit der gesellschaftskritischen Dramatisierung des Theodizeethemas verstanden.

Metz will der Politik und der politischen Kultur nicht - wie das jeglicher Pragmatismus empfiehlt - diese Theodizeeperspektive ersparen, er will sie freilich auch anders als der Marxismus zur Sprache bringen: nämlich immer und unbedingt auch als Frage nach dem Leid der Anderen, dem Leid gar der Feinde, und als Frage nach dem vergangenen Leiden, an die kein noch so leidenschaftlicher Kampf der Lebenden versöhnend rühren kann.

Diese Verquickung von Politik und Theodizee hatte einen hohen Preis; sie machte seine Politische Theologie, wie Metz in einer biograpraphischen Notiz (207-212) einräumt, immer wieder zum Gespött aller politischen Pragmatiker und eigentlich auch aller politischen Utopisten außerhalb und innerhalb des Christentums.

Die ehemaligen Utopisten sehen sich inzwischen selbst dem Gespött der Feuilletons ausgesetzt. Den siegreichen Pragmatikern aber mißfällt die memoria passionis eines Johann Bapist Metz nach wie vor. Vermutlich gerade deshalb, weil das Eingedenken fremden Leids, die einzige universelle Ressource des Humanen ist, die selbst von einer "rein prozeduralen Universalität" und einem entfesselten Kapitalismus nicht (gänzlich) konsumiert werden kann.

Literatur

Adorno, Theodor, W.,1966: Negative Dialektik, Frankfurt a.M.

Arendt, Hannah, 1986: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich.

Arendt, Hannah, 1990: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig.

Assheuer, Thomas, 1997: Ach, die Rossini-Deutschen. Überdruß am Überfluß: Die konservative Kulturkritik träumt vom rohen Leben, in: Die Zeit, Nr. 14, 1.

Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.

Beck, Ulrich, 1993: Die Erfindung des Politischen - zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a.M.

Beck, Ulrich/ Beck-Gernsheim, Elisabeth,1994: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.

Beer, Max, 1971: Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, Erlangen.

Dahrendorf, Ralf, 1993, Freiheit und soziale Bindungen. Anmerkungen zur Struktur einer Argumentation, in: Michalski, K. (Hrsg.), Die liberale Gesellschaft, Stuttgart, 11-20.

Dubiel, Helmut,1994: Ungewißheit und Politik, Frankfurt a.M.

Enzensberger, Hans Magnus, 1993: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a.M.

Giddens, Anthony, 1997: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a.M.

Göhler, Gerhard/ Klein, Ansgar,1991: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, Kap.3: Konservativismus, in: H.J. Lieber (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn, 317-362.

Grode, Walter, 1997: Jeder dem anderen fremd. Auf der Suche nach dem guten Gemeinwesen, in: Lutherische Monatshefte, Heft 12, 3-6.

Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.,1986: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.

Huntington, Samuel P., 1996: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien.

Kremers, Helmut, 1993: Der Leviathan will nicht sterben. Der totale Staat bei Thomas Hobbes und Carl Schmitt, in: Lutherische Monatshefte, Heft 1, 12-15.

Laschitza, Annelies, 1996: Im Lebensrausch trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie, Berlin.

Lukacs, Georg, 1983: Die Zerstörung der Vernunft, Darmstadt/Neuwied.

Marx, Karl/ Engels, Friedrich,1974: Manifest der Kommunistischen Partei, Ausgewählte Schriften, Bd. I, Berlin, 17-57.

Metz, Johann Baptist, 1995: "Landschaft aus Schreien". Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz.

Nietzsche, Friedrich, 1968: Zur Genealogie der Moral - Eine Streitschrift, Berlin.

Schmitt, Carl, 1922: Politische Theologie, München/Leipzig.

Schmitt, Carl, 1963: Der Begriff des Politischen, Berlin.

Tocqueville, Alexis de, 1976: Über die Demokratie in Amerika, München.

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Details

Titel
Leidenserinnerung als universelle Ressource des Humanen
Autor
Jahr
1998
Seiten
13
Katalognummer
V109295
ISBN (eBook)
9783640074761
ISBN (Buch)
9783640118243
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erschienen in: 'Politische Vierteljahresschrift' Zeitschrift der deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Heft 2: Juni 1998.
Schlagworte
Leidenserinnerung, Ressource, Humanen
Arbeit zitieren
Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1998, Leidenserinnerung als universelle Ressource des Humanen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109295

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