Groteske und ironische Elemente in Friedrich Dürrenmatts "Die Panne"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Welt der Pannen

2. Versuch einer Begriffsbestimmung des Grotesken
2.1 Definition und Abgrenzung
2.2 Wesensmerkmale des Grotesken bei Dürrenmatt

3 Groteske Elemente in „Die Panne“
3.1 Die Kulisse
3.2 Die Gerichte und die Gerechtigkeit
3.3 Die Greise

4 Ironische Elemente
4.1 Die Figur Traps
4.2 „Die Panne“ als Parodie
4.2.1 „Die Panne“ und Edgar Wallaces „The Four Just Men“
4.2.2 Dürrenmatts Parodie auf das Genre der Kriminalerzählung

5 Gerechtigkeit oder Zufall?

6 Literaturverzeichnis

1. Die Welt der Pannen

„Gibt es noch mögliche Geschichten, Geschichten für Schriftsteller?“ (38)[1]. Diese Frage stellt Friedrich Dürrenmatt an den Beginn seiner Erzählung „Die Panne“ aus dem Jahre 1955, und gerade diese gehört zu eben jenen „noch möglichen Geschichten“. In einer Rede anlässlich der Verleihung des Kriegsblindenpreises für seine Hörspielfassung der „Panne“ nennt Dürrenmatt auch den Grund für diese Tatsache: „Je mehr ich mich in meinem, oder besser, mit meinem Beruf beschäftige, desto klarer wird mir, daß ich meine Stoffe im Alltag, jenseits der Fiktionen, in der Gegenwart zu suchen habe. (...) Nicht Herzöge und Feldherren, sondern Geschäftsleute, kleine Krämer, Industrielle, Bankiers, Schriftsteller sind die Rollenträger unserer Zeit – noch genauer: wir alle sind es, und die Handlung, die wir durchmachen, durchstehen müssen, ist die unseres Alltags“[2]. Somit ist die Stoßrichtung der Erzählung sowie des Hörspiels und auch der 1979 erschienen Komödienfassung vorgegeben: es geht – wie so oft bei Dürrenmatt – um die moderne Welt der Widersprüche, der Ellbogenmentalität, des Wirtschaftsaufschwungs, und vor allem geht es darum, wie „der Einzelne die Welt besteht oder wie er untergeht“[3].

Die vorliegende Arbeit soll nun die Gestaltung dieses Stoffes analysieren, zum einen die grotesken Aspekte der Erzählung, die vor allem in den Bereichen Handlungsverlauf, Kulisse und in der Beschreibung der vier Greise deutlich erkennbar sind, zum anderen die häufig ironische Darstellungsweise. Hier liegt der Schwerpunkt einerseits auf der Figurenzeichnung des Alfredo Traps, zum anderen auf den parodistischen Zügen der Erzählung.

2. Versuch einer Begriffsbestimmung des Grotesken

2.1 Definition und Abgrenzung

Das Groteske wird immer wieder als eines der entscheidenden Wesensmerkmale der Dürrenmattschen Werke gesehen. Jedoch fällt trotzdem eine Begriffsbestimmung nicht leicht. Zwar wird in Abhandlungen über diesen Aspekt immer wieder Wolfgang Kaysers Werk über „Das Groteske in Dichtung und Malerei“ zitiert, genauso oft jedoch auch kritisch beäugt und schließlich als zu umfassend verworfen[4]. Somit kann dieses Kapitel lediglich den Versuch einer Begriffsbestimmung der Wesenseigenschaften des Grotesken bieten.

Der Begriff, der in der Renaissance geprägt wurde und zunächst für den Bereich der Malerei verwendet wurde, wird von Wieland 1775 noch sehr abwertend benutzt. Er spricht vom

sogenannte[n] Groteske[n], wo der Maler, unbekümmert um Wahrheit oder Ähnlichkeit, sich (…) einer wilden Einbildungskraft überläßt, und durch das Übernatürliche und Widersinnige seiner Hirngeburten bloß Gelächter, Ekel und Erstaunen über die Kühnheit seiner ungeheuren Schöpfungen erwecken will.[5]

Später fand der Begriff jedoch auf positivere Weise auch für eine spezifische literarische Schreibweise Anwendung, der eine „eigene Technik der intensivierten Verfremdung [eigen ist], deren Spektrum (…) vom bloß Skurillen über das Obszöne und Makabre bis hin zum Bedrohlichen reicht“[6]. Diese sehr allgemein gehaltene Begriffsbestimmung zeigt bereits das Problem, den Spielraum des Grotesken entweder sehr weit zu fassen oder sehr stark einzuschränken. Eine Äußerung Dürrenmatts über das Groteske mag helfen, zumindest zu einem Minimalkonsens zu gelangen:

Es ist wichtig, einzusehen, daß es zwei Arten des Grotesken gibt: Groteskes einer Romantik zuliebe, das Furcht oder absonderliche Gefühle wecken will (etwa indem es ein Gespenst erscheinen läßt), und Groteskes eben der Distanz zuliebe, die nur durch dieses Mittel zu schaffen ist. (…) Das Groteske ist eine äußerste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein. (…) Das Groteske ist eine der großen Möglichkeiten, genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden, daß diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt, doch ist sie nicht die Kunst der Nihilisten, sondern weit eher der Moralisten (Anmerkung zur Komödie)[7].

Es ist deutlich, dass Dürrenmatt für sein Schaffen eben diese zweite Form des Grotesken wählt, das Groteske gleichsam als Brennglas für seine Analyse der Missstände der zeitgenössischen Gesellschaft nutzt. Somit ergibt sich eine deutliche Abgrenzung hin zum Absurden, denn im Gegensatz zum Nihilismus, der vor allem im Absurden Theater maßgeblich ist, mutet sich das Groteske zu, die „himmelschreienden Verzerrungen der modernen Welt wenn nicht verbessern so doch entschleiern zu können“[8]. Eng verbunden ist das Groteske jedoch mit dem Paradoxen. Dürrenmatt stellt diese Verbindung selbst her, wenn er sagt:

das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“ (Theaterprobleme)[9].

Hier wird ein weiterer entscheidender Wesenszug des Grotesken deutlich, nämlich die Verbindung widersprüchlicher, sich offenbar ausschließender Aspekte. Das Duden-Wörterbuch der deutschen Sprache bringt die teils bereits erwähnten Merkmale des Grotesken in kurzer und prägnanter Form zusammen, indem es das literarische Groteske definiert als „Darstellung einer verzerrten Wirklichkeit, die auf paradox erscheinende Weise Grauenvolles, Missgestaltetes mit komischen Zügen verbindet“[10].

2.2 Wesensmerkmale des Grotesken bei Dürrenmatt

Das Groteske ist, wie obige Definition bereits deutlich macht, kein bloßes Phantasieprodukt, sondern fußt auf der dem Leser bekannten Wirklichkeit. Diese Realität wird jedoch entfremdet und verzerrt dargestellt. Proportionen sowie Statik werden aufgehoben, die Protagonisten verlieren ihre Identität, die geschichtliche Ordnung wird aufgehoben sowie die sinnvolle Rolle des Einzelnen in einem Geschichtsprozess in Frage gestellt. Wirkliche Phänomene und Ordnungen werden deformiert und destruiert.

Wie oben bereits erwähnt, werden an sich unvereinbare Bereiche miteinander verknüpft. Menschliches und Tierisches oder Pflanzliches sowie Organisches und Mechanisches werden zusammengefasst und in einer befremdenden Synthese dargeboten. Wachen wird kombiniert mit Traum, Sein mit Schein, das Leben verwirrt sich mit dem Tod, so dass der Rezipient am Ende nicht mehr zu entscheiden vermag, was wirklich ist und was erdacht.

Das wichtigste Merkmal des Grotesken ist jedoch, dass es zugleich schauderhaft und lächerlich ist. Dämonisches, Furchterregendes wird durch das Lächerliche entwaffnet. Dennoch bewirkt das Groteske kein befreiendes Lachen. Im Gegenteil, seine Wirkung wäre eher zu beschreiben als „das Lachen, das im Halse stecken bleibt, das verlegene Grinsen neben der Leiche“[11], denn dass Dürrenmatts groteske Erzählweise schwerwiegende Probleme thematisiert, lässt sich leicht aus einer seiner weiteren Äußerungen über das Groteske ablesen: „In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in dem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. (…) Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe“ (Theaterprobleme)[12].

3 Groteske Elemente in „Die Panne“

Die bisher erläuterten Aspekte des Grotesken sollen nun am konkreten Beispiel der Erzählung „Die Panne“ von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahr 1955 gezeigt werden. Um Übersichtlichkeit zu gewährleisten, werden sie nach Themengruppen besprochen, was natürlich auch dazu führt, dass nicht jeder einzelner Aspekt zur Sprache kommen kann.

3.1 Die Kulisse

Als erster, sozusagen grundlegender Gesichtspunkt soll zunächst der Schauplatz der Geschichte untersucht werden.

Traps findet sich in einer kitschigen Schweizer Alpenidylle wieder. Hinter schmucken Häuschen mit roten Dächern und gepflegten Gärten sind „die bewaldeten Hügel und in der Ferne die Vorberge und einige Gletscher“ (53) zu sehen, es herrscht „Friedensstimmung, Stille einer ländlichen Gegend, feierliche Ahnung von Glück, Gottessegen und kosmischer Harmonie“ (53). Diese stilisierte Heimatfilmkulisse will jedoch nicht recht zu dem anachronistischen, überladenen, eher bürgerlichen Interieur des Richterhauses passen. So lautet die Kurzbeschreibung des Salons (der an sich schon nicht in einem Heimatfilm-Alpenhaus zu erwarten wäre) folgendermaßen: „Enorme Stiche an den Wänden, Stadtansichten, Historisches, Rütlischwur, Schlacht bei Laupen, Untergang der Schweizergarde, das Fähnlein der sieben Aufrechten, Gipsdecke, Stukkatur, (...) bequeme Sessel, niedrig, riesig, Stickereien darauf, fromme Sprüche ‚Wohl dem, der den Weg des Gerechten wandelt’, ‚Ein gutes Gewissen ist das beste Ruhekissen’“ (82/83). Diese Zimmergestaltung wirkt an sich ziemlich lächerlich, weckt jedoch zugleich leichtes Unbehagen. Die Regeln der Zeit scheinen aufgehoben, fühlt man sich doch etwa ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Verstärkt wird das etwas ungemütliche Gefühl durch die an Lächerlichkeit kaum zu übertreffenden Spruchkissen, die jedoch in Anbetracht der soeben gegen Traps erhobenen Mordanklage und des unheimlichen Prozesses sehr schauderhaft wirken.

Der für das Groteske entscheidende Aspekt des unauflösbaren Gegensatzes lässt sich auch im Verhältnis des Orts zum sich darin abspielenden Geschehen finden. Die kitschige, überzogene und altmodische Alpenidylle ist der Ort, an dem sich ein abstruses „Mordverfahren“ entwickelt, in dessen immer schaurigerem Verlauf ein Mann in den Selbstmord getrieben wird. Der Idylle steht der Wahnsinn, ja, der Tod gegenüber.

Dieser Widerspruch zwischen Ort und Handlung findet sich auch in einigen Einzelszenen. In friedlicher Abendstimmung[13] erfährt Traps von der Anwesenheit eines Henkers mit Berufserfahrung (62). Der Höhepunkt der Vernehmung, nämlich der Nachweis der bösen Absicht Traps’, wird von „fernen Handorgelklängen, Männergesang“ (67) untermalt, und rechtzeitig zur Mordanklage gegen Traps steigt ein „später Mond auf, eine schmale Sichel“, das einzige Geräusch, das zu hören ist, ist „ein mäßiges Rauschen in den Bäumen, sonst Stille“ (85).

[...]


[1] In Klammern angefügte Seitenzahlen beziehen sich auf: Dürrenmatt, Friedrich. Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. Erzählungen. Zürich 1998.

[2] Dürrenmatt, Friedrich. Die Panne. Ein Hörspiel und eine Komödie. Zürich 1998, S.178/179.

[3] Ebd., S.179.

[4] Vgl. Helbling, Robert E. „Groteskes und Absurdes – Paradoxie und Ideologie. Versuch einer Bilanz“. In: Knapp, Gerhard P. (Hg.). Friedrich Dürrenmatt. Studien zu seinem Werk. Heidelberg 1976, S. 233-253.

[5] Christoph M. Wieland. Unterredungen mit dem Pfarrer von ***. Zitiert nach: Kayser, Wolfgang. Das Groteske in Malerei und Dichtung. München 1960, S.22.

[6] Weimar, Klaus (Hg.). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band I. Berlin, New York 1997, S.746.

[7] Brock-Sulzer, Elisabeth (Hg.). Friedrich Dürrenmatt. Theaterschriften und Reden. Zürich 1966, S. 137.

[8] Helbling, Robert E. „Groteskes und Absurdes – Paradoxie und Ideologie. Versuch einer Bilanz“. In: Knapp, Gerhard P. (Hg.). Friedrich Dürrenmatt. Studien zu seinem Werk. Heidelberg 1976, S.239; eine Abgrenzung hin zum Absurden liefert Dürrenmatt selbst in seinen „21 Punkten zu den Physikern“: „Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig)“ - Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker. Werksausgabe Band 7. Zürich 1985, S. 92.

[9] Brock-Sulzer, Elisabeth (Hg.). Friedrich Dürrenmatt. Theaterschriften und Reden, S. 122.

[10] Scholze-Stubenrecht, Werner u.a. (Hg.). Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Band 4. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999³, S.1599.

[11] Borchmeyer, Dieter und Viktor Zmegač (Hg.). Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994², S.187.

[12] Brock-Sulzer, Elisabeth (Hg.). Friedrich Dürrenmatt. Theaterschriften und Reden, S. 122.

[13] „Sterne spiegelten sich im Wasser, Kühle stieg auf. Vom Dorf her Handharmonikaklänge und Gesang, auch ein Alphorn war jetzt zu hören“, S. 60.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Groteske und ironische Elemente in Friedrich Dürrenmatts "Die Panne"
Hochschule
Universität Regensburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V109189
ISBN (eBook)
9783640073719
ISBN (Buch)
9783640858279
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Groteske, Elemente, Friedrich, Dürrenmatts, Panne, Grotesk, Ironisch, Traps, Greise, Erzählung
Arbeit zitieren
Agathe Schreieder (Autor:in), 2004, Groteske und ironische Elemente in Friedrich Dürrenmatts "Die Panne", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109189

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