Das Problem der Freiheit in Sartres `Die Fliegen`


Seminararbeit, 2004

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Freiheit und Existenz
2.1 Existenzphilosophie
2.1.1 Sartres Existentialismus
2.2 Freiheit in der Philosophie
2.2.1 Freiheit bei Sartre

3. Sartres „Die Fliegen“
3.1 Inhaltsangabe „Die Fliegen“

4. Freiheitsproblematik in Jean-Paul Sartres „Die Fliegen“
4.1 Das Verleugnen, Finden und Verschließen der Freiheit der Hauptfiguren
4.1.1 Die Figur Jupiter in Sartres Drama
4.1.2 Die Figur Orest in Sartres Drama
4.1.3 Die Figur Elektra in Sartres Drama

5. Zusammenfassung und Reflexion

Anhang

1. Einleitung

Der Einstieg in das Thema „Das Problem der Freiheit – in Sartres die Fliegen“ soll erleichtert werden, indem ein Rahmen um das Drama „Die Fliegen“ geschaffen wird, der sich dem Problem über die Existenzphilosophie im Allgemeinen nähert und dann in Sartres atheistischen Existentialismus übergeht. Den Kernpunkt der Ausarbeitung bildet der Be-griff der Freiheit in der Philosophie, der in Bezug auf den Existentialismus und besonders im Hinblick auf Sartres Definition von Freiheit Behandlung findet. Die Untersuchung des Stückes wird unter dem Aspekt der Freiheit – nach Sartre – durchgeführt; einen weiteren Schwerpunkt, den es zu analysieren gilt, ist der „Gegenstand des Widerrufs“, der in direktem Zusammenhang zur Thematik der Hausarbeit steht.

Das Verständnis der gesamten Materie ist nur durch die Klärung des Hintergrunds möglich, da dieser die Voraussetzung zur kritischen Betrachtung des Dramas darstellt. Die Definition der Existenzphilosophie muss folglich zu Beginn der Abhandlung stehen, um die Grundthesen der existentialistische Bewegung, die in Frankreich auf Sartre zurückzuführen sind, zu erläutern. Sartre als Begründer des französischen Existentialismus befasst sich intensiv in seinen Werken mit der Freiheitsproblematik, wobei sich speziell „Die Fliegen“ als Einführung deuten lassen. Einige Figuren des Dramas „Die Fliegen“ werden detaillierter beschrieben, so dass der Gang des Geschehens nachvollziehbar ist und das Hausarbeitsthema begründet und konkretisiert werden kann.

Am Ende der ausführlichen Analyse werden Sartres existentialistischen Grundaussagen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Existenz, reflektiert und die Titelgebung des Dramas hinterfragt, so dass geklärt werden kann, welche Rolle der Freiheitsgedanke bei Sartre spielt.

2. Freiheit und Existenz

In diesem Kapitel geht es zuerst um die allgemeine Klärung der Begriffe „Existenzphilosophie“ und „Freiheit“, später dann um die Ausführungen, die Sartre zu beiden Bereichen vornimmt.

2.1 Existenzphilosophie

Bei der Existenzphilosophie handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für viele philosophische Richtungen, die im 20. Jahrhundert vorwiegend in Europa auftreten, und im wesentlichen auf dem Begriff der „Existenz“ aufbauen. Als erster Zugang zum Verständnis dessen, was mit Existenz gemeint ist, bietet sich ein Vergleich mit dem Begriff der „Essenz“ an. „Der Begriff Existenz (von lateinisch existere = ins Leben treten) war in der religiösen und philosophischen Tradition immer mit dem der Essenz (lat. essentia = Wesen, esse = sein) verbunden. Der Begriff der Existenz bezeichnet das, was wirklich ist, während der Begriff der Essenz das nennt, was wesentlich ist, die Bedeutung, den Sinn und die Wahrheit des Existierenden.“[1] Der Existentialismus kann als sogenannte Befreiung des eben definierten Begriffpaars angesehen werden, da er die Überordnung der „Essenz“ über die „Existenz“ aufhebt und sie zugleich auf das menschliche Dasein beschränkt. Die Existenz des Menschen bedeutet nicht, dass er einfach nur „da“ bzw. vorhanden ist, sondern das der Mensch sich zu seinem „Dasein“ verhalten und Entscheidungen treffen muss. Dabei darf man nicht vergessen, dass es keine übergeordnete „Essenz“ gibt, nach der man sein Leben ausrichten könnte. Die Existenz gilt als innerster Kern der Seele, der durch die Grunderfahrungen aufgedeckt wird. Bei diesen elementaren Erlebnissen handelt es sich um drei verschiedene, so dass sich drei unterschiedliche Richtungen im Bereich der Existenzphilosophie aufzeigen, deren Hauptvertreter Kierkegaard und Jaspers, Heidegger, Sartre und die französischen Existentialisten sind.[2]

2.1.1 Sartres Existentialismus

Die französische Variante der Existenzphilosophie ist bedeutend von Jean-Paul Sartre[3] geprägt, der den Begriff der „Existenz“ auf einem anderen Wege definiert. „Der atheistische Existenzialismus erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, muss es mindestens ein Wesen geben, dessen Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und das dieses Wesen der Mensch [...] ist.“[4] Sartre unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Seinstypen in der Bewusstseinsanalyse; diese sind zum einen der Mensch (Für-sich-Sein), zum anderen die Welt (An-sich-Sein) der Dinge. „Das An-sich, das einfach das ist, was es ist, und das Für-sich, das zu sein hat, was es ist. Das Für-sich gewinnt sein Sein in seinem Verhältnis zum An-sich und zu sich selbst, sein Selbstverhältnis wiederum über die Erfahrung des Anderen.“[5] Sartres Interesse richtet sich in der Hauptsache darauf, das menschliche Dasein näher zu beschreiben und zu hinterfragen. Sein Werk „Das Sein und das Nichts“ ist als sogenannte Bibel des Existentialismus zu verstehen.

2.2 „Freiheit“ in der Philosophie

„Freiheit“ wird im Allgemeinen in der Philosophie in drei unterschiedliche Gebiete eingeteilt: 1) Wahlfreiheit, 2) Handlungsfreiheit und 3) Willensfreiheit, die in ihren Bestimmungen voneinander abweichen. Wahlfreiheit besitzt eine formalpositive Bestimmung, welches bedeutet, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, seinem Willen entsprechend zu handeln, d.h. er hat Wahlmöglichkeiten, eigene Entscheidungen zu treffen und ist somit nicht instinktgesteuert. Die Handlungsfreiheit, die negativ bestimmt ist, stellt eine Freiheit des Menschen dar, der unabhängig von äußerem oder innerem Zwang zum Handeln fähig ist. Unter Willensfreiheit (materialpositive Bestimmung) versteht man die Fähigkeit und somit die Pflicht des Menschen entsprechend den gegebenen gesellschaftlichen Werten und Normen zu handeln.[6]

2.2.1 „Freiheit“ bei Sartre

Jean-Paul Sartre bezieht den Freiheitsbegriff auf das menschliche Individuum, welches als einziges Wesen in dieser Welt die Fähigkeit besitzt, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen und Entscheidungen zu treffen. Im Vergleich zu dem Freiheitsverständnis in der Philosophie im Allgemeinen, ist seine Definition der „Freiheit“ am ehesten mit der „Wahlfreiheit“ in Verbindung zu setzten.

Die Freiheit ist im Existentialismus die Besonderheit des Menschen, dem keine festgelegte Essenz, wie bei Dingen, vorgegeben ist. Dies bedeutet, dass es keinen Gott gibt, nach dessen Geboten und Werten sich der Mensch richten kann, er ist für sein Handeln und für sich selbst verantwortlich. „Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.“[7] Seine Verantwortlichkeit ist jedoch nicht nur auf sich alleine beschränkt, sondern ab dem Zeitpunkt, ab dem er engen Kontakt zu anderen Menschen pflegt, erstreckt sich diese auch auf seine Mitmenschen.

Der Mensch als Wesen, der in die Welt gelangt, ist von Anfang an frei, d. h. Menschsein und Freisein entsprechen einander, jedoch ist die Freiheit vor dem Menschen in der Welt existent. Der Mensch (Für-sich-Sein) ist gezwungen, sich seine Existenz erst durch sein Leben zu erschaffen, da er seiner Existenz bewusst ist, im Gegensatz zu den Dingen (An-sich-Sein). Diese Verwirklichung seiner Existenz erreicht er mit seiner Wahl, mit einem ständigen „Sich-Entwerfen“, welchem man sich nie entziehen kann. Selbst wenn man eine Entscheidung in einem bestimmten Augenblick nicht fällen möchte, sondern zu einem späteren Zeitpunkt, hat man sich bereits entschieden, nämlich dafür, erst später diese Entscheidung zu treffen. Die Gesamtheit der Handlungen des Menschen und somit sein Leben sind nichts anderes als seine verwirklichten Entwürfe, für die er die Konsequenz trägt, verantwortlich zu sein.

Die Freiheit des Menschen grafisch dargestellt:[8]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Sartres „Die Fliegen“

Zu Beginn dieses Kapitels wird eine kurze Inhaltsangabe gegeben, um die Hintergründe der Materie erfassen zu können.

Die Uraufführung des Stückes „Die Fliegen“ („Les Mouches“) fand am 03.06.1943 in Paris statt, in Deutschland wurde das Drama zum ersten Mal am 07.11.1947 in Düsseldorf aufgeführt.

Die Basis des Stückes bildet der griechische Atriden-Mythos, in dem das Geschlecht des Tantalos[9] von den olympischen Göttern mit einem Fluch belegt wird, durch den seine Nachkommenschaft, dem sogenannten „Familienmord“ verfällt.

Zum besseren Verständnis der Figurenkonstellation wird anschließend eine kleines Schaubild eingefügt:

Agamemnon °° Klytämnestra (°° Ägist)

Iphigeneia Elektra Orest

3.1 Inhaltsangabe „Die Fliegen“

In der Verkleidung eines Korinthers kommt Orest nach 15 Jahren Exil zurück in seine Geburtstadt Argos in Begleitung seines Lehrers, einem Pädagogen. Alle Bewohner der Stadt, die er auf seinem Weg trifft, verhalten sich abweisend und tragen schwarze Trauerkleidung. Überall in der Stadt wimmelt es von Fliegenschwärmen, die ein Symbol für die Gewissensbisse der Bewohner der Stadt darstellen sollen und die seit dem grausamen Mord an Agamemnon die Bevölkerung plagen. Orest begegnet in Argos dem Jupiter, der sich nicht als dieser zu erkennen gibt, sondern behauptet, ebenso wie Orest ein Fremder zu sein, jedoch ist Jupiter in der Lage, ihm die Situation der Bewohner zu erklären. – Jährlich findet eine Feier zu Ehren der Toten - vor allen Dingen wegen des Todes Agamemnons - statt, bei der die Toten aus einer Höhle, die mit einem Stein verschlossen ist, für einen Tag befreit werden. Die Menschen müssen während dieses einen Tages ihre Schuldigkeit bekennen und Reue gegenüber den Toten zeigen, was für sie mit großer Qual verbunden ist, da sie die Toten nicht sehen können und Angst vor deren Anschuldigungen haben. – Von dieser Selbstzermarterung abgestoßen, will Orest sofort weiterreisen, doch er trifft auf Elektra, seine Schwester, und als er ihr Leid vernimmt, entschließt er sich zu bleiben.

Elektra ist verpflichtet, jedes Jahr an den Festlichkeiten teilzunehmen und sich als Tochter des neuen Königs (Ägist) zu präsentieren. Sie tritt als Rebellin gegen die Tradition an und zerstreut mit ihren Worten und ihren Tänzen die Bevölkerung. Das Eingreifen Jupiters verhindert ihr Vorhaben. Daraufhin wird sie von Ägist der Stadt verwiesen, möchte aber nicht fliehen und überzeugt ihren Bruder Orest davon, Klytämnestra und Ägist zu ermorden. Damit ist die Tat vollbracht, zu der Orest im Gegensatz zu seiner Schwester steht. Sie bereut die Tat und verstößt somit im gewissen Sinne ihren Bruder, der Argos mit samt den Fliegen verlässt.

4. Freiheitsproblematik in Jean-Paul Sartres „Die Fliegen“

In diesem Abschnitt werden ausgewählte Textstellen aus dem Drama „Die Fliegen“[10], die sich mit dem Problem der Freiheit beschäftigen, aufgeführt und erläutert, wobei im nächsten Kapitel speziell auf das Verhalten der Hauptfiguren eingegangen wird.

Im 1. Akt, in der 1. Szene, die in Orests Heimatstadt Argos spielt, findet ein Gespräch zwischen den Figuren Jupiter und Orest statt. Jupiter: „[...] haben sie nichts gesagt. Ein Wort hätte genügt, in jenem Augenblick, ein einziges Wort, aber sie haben geschwiegen, [...] Nun ja, ich habe auch nichts gesagt: ich bin nicht von hier, und das alles ging mich nichts an.“(S. 12) Der Gott Jupiter, der sich nicht als dieser zu erkennen gibt, sondern sich als Demotros aus Athen vorstellt, kritisiert das Verhalten der Bürger von Argos, da sie von den Mordplänen an ihrem König Agamemnon gewusst und trotzdem untätig zugesehen haben. In diesem Zitat zeigt sich deutlich, dass die Bewohner keine Verantwortung für das Wohl eines Mitmenschen übernehmen. Jupiter alias Demotros fühlt sich ebenfalls nicht verantwortlich, da er ein Fremder in dieser Gegend ist und somit sich mit dem Volk von Argos nicht verbunden fühlt.

Nach der existentialistischen Lehre Sartres ist jeder Mensch für sein Handeln verantwortlich und damit auch für die Gesamtheit aller Menschen, weil er als freies Individuum in die Welt gelangt. Die Aussage Jupiters veranschaulicht, dass die Bevölkerung von Argos (ebenso wie er als angeblicher Mensch) sich für den Weg des Nicht-frei-seins – der Unfreiheit – entschieden hat und dieses aus folgenden Motiven: „Feigheit oder Bequemlichkeit“[11].

Selbst Orest ist am Anfang des Dramas einer falschen Freiheit erlegen, indem er sich ebenfalls für das Volk und sein Leiden nicht verantwortlich fühlt: Orest: „[...] was man hätte tun sollen, und ich pfeife darauf, ich bin nicht von hier. (S.14); Orest: „ [...] das ist nicht mein, noch meine Tür, wir haben hier nichts zu suchen.“ (S.18); Orest: „[...] was habe ich mit diesen Menschen hier zu schaffen? [...] (S.19). Er fühlt sich mit seinen Mitmenschen – dem Volk von Argos – nicht verbunden, bedauert diese Bindungslosigkeit aber zutiefst: Orest: „[...] Ach! Wenn es eine Tat gäbe, eine Tat, siehst du, die mir das Bürgerrecht unter ihnen gäbe: Wenn ich mich – und wäre es durch ein Verbrechen – ihrer Erinnerung bemächtigen könnte, ihrer Furcht und ihrer Hoffnungen, um die Leere meines Herzens auszufüllen, und müsste ich dafür meine eigene Mutter töten...“ (S. 19) Orest: „[...] fest verwurzelt mitten in seinem Hab und Gut, [...] und mit sich selbst sein Land, sein Haus, seine Erinnerungen. [...] Ich existiere ja kaum!“ (S.43) Orest: „[...] Ich will meine Erinnerungen, meinen Boden, meinen Platz in mitten der Leute von Argos.“ Orest: „Es ist meine einzige Chance. Du kannst sie mir nicht verweigern, Elektra. Versteh mich! Ich will ein Mensch sein, der irgendwohin gehört, ein Mensch unter Menschen.“ (S.44). Diese Zitate verdeutlichen den starken Wunsch Orests nach Zugehörigkeit zu seinen Wurzeln. Ihm ist klar, dass diese Verbindung nur durch gemeinsame Erinnerungen entstehen kann. Um diese zu erlangen, ist er bereit, alles zu tun. Das Wichtigste im Leben ist für ihn zu wissen, zu wem und wohin er gehört. Orest: „[...] Es gibt Menschen, die werden mit einer Verpflichtung geboren: sie haben keine Wahl, man hat sie in eine Bahn geworfen, am Ende dieser Bahn steht eine Tat, die ihrer wartet, ihre Tat, sie gehen, und ihre nackten Füße graben sich in die Erde und reißen sich an den Steinen. Das scheint ihnen vulgär, die Freude, auf ein Ziel hinzugehen.“ (S. 18) Besonders auffällig an diesem Textauszug ist, dass Orest im Prinzip schon erkannt hat, was Freiheit eigentlich ist, nämlich die Entscheidungen, die man selbst trifft – das „Sich-Entwerfen“ auf ein Ziel hin - also die verwirklichten Taten auf das Ende eines Vorhabens. Noch ist er nicht in der Lage zu erkennen, dass der Weg, den jeder Mensch zu gehen hat, auch der seinige ist, und dass es ohne Bindungen und Verpflichtungen wesentlich einfacher ist, diesen Weg zu gehen. Sein alter Lehrer, der Pädagoge, macht ihn durch folgende Aussagen aber bereits darauf aufmerksam: Pädagoge: „[...] Heißt es denn den Menschen schaden, wenn man ihnen die Freiheit des Geistes gibt?“ (S. 16) Pädagoge: „[...] Da seid ihr nun jung, reich und schön, klug wie ein Alter, befreit von aller Knechtschaft und von jeglichem Glauben, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Religion, ohne Beruf, frei für jede Verpflichtung und wissend, das man sich nie verpflichten soll – kurz und gut, ein überlegener Mensch; [...]“. (S.18). Die Antwort, die Orest ihm entgegnet, zeigt auf, dass ihm die Freiheit des Geistes nicht genug ist – sie vermittelt ihm eine Schwerelosigkeit. Das Über-allem-stehen erweist sich für ihn als Defizit, da das Leben ohne Bindung für ihn keinen Halt bietet. Bindungen entstehen für Orest nicht durch das bloße Wissen, was einen über den Mitmenschen schweben lässt, sondern durch die Gesamtheit der Erinnerungen, die einen tagtäglich begleiten.

Maria Otto beschreibt Orests Zustand folgendermaßen: „Als er nach Argos kommt, ist er ein unabhängiger junger Mann, frei in der Weise des Ungebundenseins, in einem bloß negativen Sinne, und er schätzt diese Freiheit nicht besonders, die ihm sein Pädagoge so hoch preist; er ironisiert sie sogar; Orest: „Aber ich... ich bin frei, Gott sei Dank! Ach, und wie frei. Und welch herrliches Nirgend-sein ist meine Seele.“ (S.18)[12] Im Grunde genommen stellt Orest derzeit eine Figur dar, die sich in einer Zwischenposition befindet; er hat noch nicht das „wahre Dasein“ des Menschen erkannt und erlangt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in dem Drama sind die Schuld- und Angstgefühle der Bevölkerung von Argos. Das tatenlose Zusehen und das Nichteingreifen in die Geschehnisse wird ihnen zum Verhängnis und verhindert, dass sie als freie Wesen existieren können. Sie zwingen sich selbst zum permanenten sogenannten „Widerruf“ ihrer Handlungen in der Hoffnung, auf diesem Wege ihre Freiheit zurückzugewinnen. Sie wollen ihr stummes Dulden am liebsten ungeschehen machen, welches sie auf den direkten Pfad zu „Jupiters Machenschaften“ treibt; in eine Richtung, die sie noch tiefer in die Abhängigkeit der Herrscher bringt: Jupiter: „[...]dich um dich selbst zu kümmern und durch deine Reue dir die Vergebung des Himmels zu verdienen.“ Die Alte: „Ach, Herr, ich bereue; [...]“; Ein Mann: [...]Schaut, die Fliegen sind auf mir wie Krähen!“ (S. 32). Ägist, der König, der ebenfalls eine Herrscherposition innehat – öffentlich sich zu seiner Missetat bekennt, um eine vorgetäuschte Vorbildfunktion einzunehmen - profitiert von den Widerrufen seiner Untertanen: Orest: „[...] Und Ägist, bereut er?“ Jupiter: „Ägist? Das sollte mich wundern. Aber was tut´s. Eine ganze Stadt bereut für ihn. Sie zählt nach dem Gewicht die Reue! [...] Ach, wie hat es sich seither verändert, das leichte Volk von Argos,“ [...] (S. 14). Sie bekennen sich offen schuldig am Tag der Totenfeier, jedoch sühnen sie nur diese eine zugelassene Tat (Agamemnons Ermordung), während alle weiteren stillschweigend zur Kenntnis genommen werden. Eine Art Schauspiel findet damit jährlich seinen Vollzug, welches im Dialog zwischen Klytämnestra und Elektra (1. Akt, 5. Szene) eindeutig als „falsche Reue“ identifiziert wird: Klytämnestra: „[...] Aber niemand hat das Recht, meine Gewissensbisse zu richten.“ Elektra: „Siehst du, Philebes, das ist die Spielregel. Die Leute werden dich anflehen, damit du sie verurteilst. Aber hüte dich, sie für andere Fehler zu richten als die, welche sie dir gestehen: die andern gehen niemanden etwas an, und sie wüssten dir keinen Dank, sie zu entdecken.“ (S. 26).

Im Laufe des Stückes nimmt die Bedrohung für Jupiter durch Orest fortlaufend zu. Jupiter weiß von Beginn an, dass er Orest daran hindern muss, in der Stadt zu verweilen, da dieser ihm seine Macht nehmen kann. Er erahnt, dass Orest nicht so leicht zu unterdrücken ist wie die restliche Bevölkerung: Jupiter: „ Ihr könnt eure Reue nicht teilen, denn ihr habt an ihrem Verbrechen nicht teilgehabt. Eure freche Unschuld scheidet Euch von ihnen wie ein tiefer Graben. Geht fort, wenn Ihr sie auch nur ein wenig liebt. Geht fort, sonst werdet Ihr sie ins Unglück bringen [...]; Jupiter: „[...] die Ordnung einer Stadt und die Ordnung in den Seelen sind unbeständig; wenn Ihr daran rührt, werdet Ihr eine Katastrophe heraufbeschwören. Eine schreckliche Katastrophe, die auf Euch zurückfallen wird.“ (S.15). Die Äußerungen Jupiters können als Drohung interpretiert werden, weil er mit allen Mitteln verhindern will, dass Orest das Volk in die Freiheit führt, da Jupiter weiß, dass dieser unmittelbar der Erkenntnis der Freiheit auf der Spur ist.

Jupiter versucht mit allen Mitteln, Orest von seinem Vorhaben abzubringen und manipuliert Ägist in einem vertraulichem und schmeichlerischen Gespräch (2. Akt, 5. Szene). Er versucht, ihn zu überzeugen, Orest in Haft zu nehmen. Seine intensive Sorge gilt allerdings nicht Ägist und dessen Herrschaft, sondern Orest, der seine künstlich geschaffene Ordnung zerstören könnte, (Ägist: „[...] Ein freier Mensch in einer Stadt ist wie räudiges Schaf in einer Herde. Er wird mein ganzes Königreich anstecken und mein Werk verderben.“ Jupiter: „Wenn einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist, können die Götter nichts mehr gegen diese Menschen. Denn das ist eine Menschenangelegenheit, und es ist Sache der anderen Menschen – und nur ihre - , ihn laufen zu lassen oder ihn zu erwürgen.“(S.56)) da er bereits begriffen hat, dass er nicht den Weisungen der Obrigkeiten Folge leisten muss: Orest: „Es gibt einen anderen Weg.“; Orest: „Gebote? [...] niemand kann mir jetzt noch Befehle geben.“; Orest: „Ich sage dir, es gibt einen anderen Weg ... meinen Weg.“(S.45). Ägist und Jupiter sind sich der Bedrohung, die von Orest ausgeht, bewusst, da dieser erkannt hat, dass er frei ist und da er weiß, wie er den unterdrückten Bürgern von Argos verhelfen kann, auf den richtigen Pfad zu gelangen. Er will alle Schuld auf sich laden, um den anderen zu helfen und ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen: Orest: „[...] Nimm an, ich will mir den Namen `Dieb der Gewissensbisse` verdienen [...]; Orest: „ [...] Ich habe gesagt, dass ich eure Reue in mir aufnehmen will, [...]“ (S.46 –47).

In der Unterredung zwischen Ägist und Jupiter kommt ihre Angst vor der schwindenden Autorität zum Tragen, erstmalig spricht Jupiter über seine geschaffene Ordnung, die lediglich Zeichen seiner Macht ist und der Ergötzung am Elend anderer dient: Jupiter: „[...] Das schmerzliche Geheimnis der Götter und der Könige: dass nämlich die Menschen frei sind. Sie sind frei, Ägist. Du weißt es, und sie wissen es nicht.“ (S.54) Ägist: „[...] Seit 15 Jahren spiele ich Komödie, um ihnen ihre Macht zu verbergen.“ (S.55) Jupiter: „Orest weiß, dass er frei ist.“ Ägist: „Er weiß, dass er frei ist. [...] (S. 56). Jupiter weiht Ägist in die Mordplänen von Orest ein, da er weiß, dass er seine Macht nur mit Hilfe des jetzigen Königs aufrechterhalten kann.

In der 5. und 6. Szene des 2. Aktes wird deutlich, dass Ägist sich den Tod herbeisehnt, da er seinem Leiden überdrüssig und zu müde ist, seine Komödie fortzuführen; Orest hat damit ein leichtes Spiel, ihn und Klytämnestra zu töten. Nach begangenem Mord verspürt Orest keine Gewissensbisse, sondern fühlt sich frei (Orest: „Ich bin frei, Elektra! Die Freiheit hat mich getroffen wie der Blitz.“ ( S. 59)).

Jupiter, der im Grunde genommen wissentlich seinen Einfluss verloren hat, versucht im 3. Akt in der 2. Szene, Orest davon zu überzeugen, ein Verbrechen begangen zu haben, um ihm Gewissensbisse zu verschaffen und ihm seine gewonnene Freiheit zu nehmen. Sein Vorhaben scheitert, da Orest in sich so gefestigt ist (Orest: „Der feigst aller Mörder ist der, der bereut.“ (S. 69)), nichts bedauert und zu seiner Tat steht, da er sie für gut und gerecht hält. Mit dieser Einstellung ist er jedoch alleine, so dass er das von ihm befreite Volk, welches ihm die Freiheit nicht dankt, zu fürchten hat. In der letzten Szene des Dramas lädt er die Gewissensbisse der Bewohner von Argos – die Fliegen – auf sich und verlässt gehetzt von den Erinnyen die Stadt.

4.1 Das Verleugnen, Finden und Verschließen der Freiheit der Hauptfiguren

In diesem Teilbereich wird explizit auf die Personen Jupiter, Orest und Elektra eingegangen und ihr Bezug zur „Freiheit“ hergestellt. Aufgrund der Zitatfülle im vorangegangenen Abschnitt findet nur die Behandlung der Figur Elektra mit Hilfe von Textstellen statt.

4.1.1 Die Figur Jupiter in Sartres Drama

Jupiter, der Gott der Toten, der von der Freiheit der Menschen weiß, die sie bereits von Geburt an besitzen, lebt von einer Schreckensherrschaft, die durch die Furcht, Drohungen und Gewalt verwirklicht wird. Er stellt sich als schreckenserregender und grausamer Gott dar, der mit Hilfe des Königs Ägist, der sein Werkzeug ist, seine Herrschaft verfestigt. Dieser hat seinen Vorgänger Agamemnon ermordet und lässt für diese Missetat sein ganzes Volk büßen. Er sendet ihnen Fliegen, die ihre Gewissensbisse symbolisieren, um ihnen ständig ihre Sünden vor Augen zu halten und mit deren Unterstützung er seine Angst verschleiert, um seine Macht demonstrierten zu können. Er muss die Menschen ständig in seinem Bann halten, damit sie nicht beginnen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich selbst zu finden, da ihnen sonst bewusst wird, dass sie auf Jupiter (bzw. Götter) verzichten können. „Sartres Jupiter will herrschen, er will sich Freie als Knechte halten. Er will herrschen, d. h. er will gegen den Willen anderer wollen und seinen Willen gegen den ihrigen durchsetzen können. So braucht er Wollenkönnende, die er dazu überreden kann, ihren Willen gegen sich selbst zu kehren, nämlich ihn an den seinigen zu verraten, und dieser Irrsinn ist das Werk der Reue, die er nicht umsonst so sorgfältig in den Menschen hegt.“[13] Durch diese Buße sind sie ihrer Freiheit beraubt und befinden sich in den Händen Jupiters, der ihr Unwissen gut verbergen weiß und sie schamlos ausnutzt. Er hat die Menschen zwar frei geschaffen, aber nur darum, dass sie ihm dienen. „Der schreckliche Gott pflegt seine Herrschaft als Gerechtigkeit auszuweisen. Die Scheidung von Gut und Böse, mit der die Waage der Gerechtigkeit spielt, hebt ihn nur noch ausdrücklicher vom Guten ab. Das Gute ist für ihn ein wägbares Ding, das Ausgewogene des Bösen, und beide sind gerade nur Handhaben, um den Menschen in Zaum zu haben.“[14] Er ist derjenige, der bestimmt, was Recht und was Unrecht ist, und die Menschen haben sich nach dieser von ihm geschaffenen Gerechtigkeit zu richten. Im Endeffekt kann man sich Jupiter als Figur vorstellen, die als Spielführer in einem Spiel fungiert, welches zu ihrer Belustigung und nach ihren Regeln stattzufinden hat.

4.1.2 Die Figur Orest in Sartres Drama

Orest, der als Kind Argos verlassen musste, ist fern ab der grausamen Herrschaft Jupiters aufgewachsen, und sein Pädagoge hat ihn die Freiheit des Geistes gelehrt. Eine ungeheure Sehnsucht treibt ihn 15 Jahre später zurück in seine Geburtsstadt auf der Suche nach Bindungen und Verpflichtungen, da ihm sein jetziges Dasein keinen Halt in der Welt gibt. Er ist zu allem bereit, um sich diese Zugehörigkeit zu seiner Schwester Elektra und zu dem Volk von Argos, also seinem Volk, zu sichern. Die Teilnahme an ihrem Leben ist für Orest nur durch gemeinsame Erinnerungen herzustellen, und dies kann nur durch eine Tat gelingen, die in direkter Verbindung mit den Mitmenschen steht. Orest weiß, dass er frei ist, empfindet diese Freiheit jedoch als Qual, da für ihn zu Beginn des Dramas „frei sein“ eine negative Bedeutung hat und zwar in dem Sinne, frei zu sein von jeglichen Bindungen. Erst im Laufe des Stückes vollzieht sich bei Orest ein Wandel, indem er aus seinem unbeschwerten Leben heraustreten muss, dadurch, dass er das Leid Elektras und der Bürger von Argos sieht. Der Übergang in ein eigenverantwortliches Leben wird anhand der Morde an Ägist und Klytämnestra dargestellt. Diese Handlung erkennt Orest als seine eigene an und durch diese Identifikation mit seiner Tat beginnt für ihn die Freiheit. Walter Biemel bezeichnet diesen Vorgang folgendermaßen: „Das Entdecken der Freiheit ist also Befreiung und Belastung zumal.“[15] Orest wird auf eine harte Probe gestellt, da seine Tat nach seiner bisherigen Auffassung eine Sünde ist, und er sich zuvor nichts zu Schulden hat kommen lassen. Eine plötzliche Wandlung vollzieht sich in ihm, und er wird sich bewusst, dass er nur seinen eignen Gesetzen und nicht denen der Götter unterworfen ist. Infolgedessen hat er auch keine Entschuldigungen mehr für sein Handeln und muss dieses allein vor sich rechtfertigen können. Sein Entschluss steht fest, er will Elektra und das Volk von Argos von den Fliegen – den Gewissensbissen – befreien, so dass es sich für ihn keinesfalls um einen bloßen Racheakt handelt, sondern um ein reines Erlösen. „Sartre zeigt Orest ganz eins mit seiner Tat. Nicht als Idealisten will Sartre den Orest schildern, der sich selbst übertrifft durch seine Tat, sondern als Vollzieher seiner Existenz, der sich selbst einsetzend von der Welt absetzt, einzig, um frei zu sein, der weiß, dass die Tat in einer Gleichung zu ihm steht, ohne Rest, ohne das Überragende, dass ihm vor sich selbst oder anderen den Ruhm und Namen einer Idee entrüge.“[16]

4.1.3 Die Figur Elektra in Sartres Drama

Elektra, die in Argos lebt, ist seit dem Tod ihres Vaters Agamemnon vom Hass getrieben und hofft auf die Rückkehr ihres vertriebenen Bruders Orest, der den Tätern Ägist und Klytämnestra die gerechte Strafe zukommen lassen soll, nämlich den Tod. Sie bildet den Kontrastpunkt zu Jupiter und Orest, da sie sich in greifbarer Nähe der Freiheit befindet, sich jedoch vor ihr verschließt.

Die jährlich praktizierte Trauerfeier tituliert sie als „Nationalspiel“ ihrer Mutter Klytämnestra, da sie weiß, dass nur die Verbrechen öffentlich bereut werden, die allen bekannt sind. Sie empfindet keine Reue und fühlt sich für die Taten der anderen nicht verantwortlich, auch Jupiter erweist sie keinen Respekt und verspürt keine Angst ihm gegenüber. Bei der „Totenzeremonie“ versucht sie durch augenblicklich erhaltene Kühnheit, ihrer Freude und ihrer Unbefangenheit Ausdruck zu verleihen. Sie stachelt das Volk an, sich dem praktizierten Beichtspiel zu entziehen und ihre Reue nicht durch Selbstvorwürfe zu bekunden. Bereits am Anfang des Dramas wird deutlich, das Elektra eine ängstliche und zarte Person verkörpert: Elektra: „Den Mut habe ich nicht dazu. Ich würde mich fürchten allein auf den Straßen.“ (S. 22), die kurzfristig aus dem eigentlichen Charakterschema ausbricht, allerdings, durch Jupiters Eingreifen, erfolglos. Die Folge daraus sind Selbstzweifel und die Rückkehr zum sensiblen und hasserfüllten Leben: Elektra: „[...] Ich habe mir einreden wollen, dass ich die Leute von hier durch Worte heilen könnte. Du hast gesehen, was geschehen ist: sie lieben ihre Qual, sie brauchen eine vertraute Wunde, sie geben sich alle Mühe, sie offen zu halten, in dem sie sie mit ihren schmutzigen Nägeln aufkratzen.“ (S.41). Ihr ganzes Leben ist auf die Rückkehr ihres Bruders ausgerichtet, der sich für sie rächen soll, da sie selbst die Fähigkeit dazu nicht besitzt. Ihr gelingt es zwar, den Bruder in der Stadt zu halten und ihn zu der Tat zu bewegen, doch dieser vollzieht sie nicht aus Rache. Nach begangenem Mord, den sie sich so herbeigesehnt hat, fehlt ihr die Verbindung zwischen Fiktion und Realität. Die Rache hat sie stark gemacht, der Macht Jupiters sowie Ägists zu trotzen; ohne diesen Hass schwindet ihr Mut und ihr Ziel. Elektra: „Frei? Ich, ich fühle mich nicht frei. Kannst du machen, dass das alles nicht gewesen ist? Etwas ist geschehen, und wir sind nicht mehr frei, es ungeschehen zu machen. Kannst du es verhindern, dass wir die Mörder unserer Mutter sind?“ (S. 59). In dem vorangegangenen Zitat trauert sie nicht um ihre Mutter, sondern ist erschüttert von dem Mord an sich, da für sie diese Handlung grauenhaften Charakter hat. Die Reue, die daraus entspringt, stellt eine Flucht vor der Realität und den sie peinigenden Fliegen dar; sie gibt sich in Jupiters Hand, indem er sie manipuliert und sie von ihrer Tat distanziert. Durch die Deutung ihrer Tat von Jupiter verliert sie sich selbst und lässt andere über sie entscheiden und somit auch über ihr eigenes Leben (Orest: „Elektra! Elektra! Erst jetzt wirst du schuldig. Was du gewollt hast, wer kann es wissen, wenn nicht du? Du wirst doch nicht einen andern darüber entscheiden lassen?“ (S. 68)). Durch die Nichtidentifikation mit ihrer Rolle und ihrer Selbstverleumdung wird sie schuldig im Sinne Sartres. Zuvor hatte sie immer die Möglichkeit zu wählen, da sie ein freies Individuum gewesen ist, sich jedoch jetzt durch die Zurückweisung der Geschehnisse in die Abhängigkeit Jupiters begibt.

Abschließend lässt sich sagen – sieht man die drei Figuren im Vergleich – , dass eine Aufteilung der Freiheit auf verschiedenen Ebenen stattfindet; während Jupiter die Freiheit der Menschen am liebsten komplett verleugnen möchte, muss Orest sich erst auf den Weg der Freiheitsfindung begeben und Elektra, die der Freiheit nahe scheint, verschließt sich durch die Abkehr von sich selbst bereits den Zugang zur Freiheit.

5. Zusammenfassung und Reflexion

Sartre, der die Freiheit als Autonomie des Wählens definiert, zeigt in seinem Drama „Die Fliegen“ den Weg der Freiheit auf, jedoch nicht den Umgang mit dieser im weiteren Verlauf des Lebens. Der Schwerpunkt liegt auf den Möglichkeiten des Wählens, die auf das „Sich-Entwerfen“ auf ein Ziel hin nach sich zieht, und am Ende diese Vorganges steht die Tat und die Identifikation mit dieser. Diese Verkettung der Bedingungen wird am Beispiel der Figur Orest aufgezeigt. Die Charaktere des Dramas sind so angelegt, dass sie die Gedanken Sartres und somit seine Lehre unmissverständlich verkörpern. Alle ihre Äußerungen geben wortwörtlich wieder, was Sartre mit diesem Stück bezwecken möchte.

Der Mensch als freies Individuum, der dazu verurteilt ist, sich seine Existenz erst durch Taten zu erschaffen, muss diese durch Anerkennung und Selbstverantwortung verinnerlichen, um der Grundaussage Sartres über die menschliche Existenz entsprechen zu können. Die Ansicht des Existentialismus, dass die Existenz der Essenz vorausgeht, hat die Konsequenz der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Leben.

Die Titelgebung des Dramas lässt vermuten, dass Sartre bewusst die Fliegen als Symbol für die Gewissensbisse ausgewählt hat, da Fliegen als Vollinsekten gelten sowie zu den vielseitigsten Schädlingen gezählt werden. Sie sind Überträger von Seuchen und besitzen parasitären Charakter. Sie befallen und belagern die Menschen der Stadt Argos und breiten sich wie eine Seuche über ihnen aus. Die schwarze Farbe der Insekten bildet die Verknüpfung zum Tod und somit zu Jupiter; das Volk hat Angst vor seinen Toten, so dass das Auftreten der Fliegen in Schwärmen und deren Farbgebung die Angstgefühle schürt und unterstützt. So spiegelt sich in der Überschrift möglicherweise die weit verbreitete Auffassung wider, dass die Fliegen nach dem Sündenfall der Menschen vom Teufel, der auch häufig „Herr der Fliegen“ genannt wird, als Plage geschaffen worden sind.

„Die Fliegen“ ist das erste Drama Sartres, dass den Freiheitsbegriff thematisiert und als Einführung in die Materie gesehen werden kann. Die Wahl der Fliegen als Symbol für die Gewissensbisse sind geschickt gewählt, um das Abstoßende einer Existenz in der Unverantwortlichkeit zu verdeutlichen. Die Abfolge, die Sartre wählt, vom Erkennen und Erlangen der Freiheit bis hin zum Verlust oder der Ignoranz dieser entwickelt Stück für Stück seine Lehre.

LITERATURVERZEICHNIS

Biemel, Walter: Sartre, Hamburg 1984

Meyers großes Taschenlexikon, 7. Aufl. Mannheim 1999 (25 Bände)

Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie – Philosophie und Wissenschaftstheorie, Sonderausgabe Mannheim 2004 (4 Bände)

Nickl, Gertraud: Freiheit und Determination, 1. Aufl. Freising 2000

Otto, Maria: Reue und Freiheit – Versuch über ihre Beziehung im Ausgang von Sartres Drama, 2. Aufl. Freiburg 1987

Sartre, Jean-Paul: Ist der Existentialismus ein Humanismus? – Materialismus und Revolution – Betrachtungen zur Judenfrage – 3 Essays, Frankfurt am Main 1989

Sartre, Jean-Paul: Die Fliegen – Die schmutzigen Hände, Hamburg 1989

Seibert, Thomas: Existenzialismus, 1. Aufl. Hamburg 2000

Sloterdijk, Peter (Hrsg.): Sartre (in Philosophie jetzt!), München 1995

[...]


[1] Thomas Seibert: Existenzialismus, 1. Aufl. Hamburg 2000, S.8

[2] Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie – Philosophie und Wissenschaftstheorie, Sonderausgabe Mannheim 2004, S. 620 (Band 1)

[3] Anhang 1

[4] Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Materialismus und Revolution – Betrachtungen zur Judenfrage – 3 Essays, Frankfurt am Main 1989, S. 10

[5] Jürgen Mittelstraß: Enzyklopädie – Philosophie und Wissenschaftstheorie, Sonderausgabe Mannheim 2004, S. 679 (Band 3)

[6] Ebenda, S. 675 (Band 1)

[7] Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? – Materialismus und Revolution – Betrachtungen zur Judenfrage – Drei Essays, Frankfurt am Main 1989, S. 16

[8] Gertraud Nickl: Freiheit und Determination, 1. Aufl. Freising 2000, S. 36

[9] Meyers großes Taschenlexikon, 7. Aufl. Mannheim 1999, S. 161 (Band 22)

[10] Jean-Paul Sartre: Die Fliegen – Die schmutzigen Hände, Hamburg 1989

[11] Maria Otto: Reue und Freiheit – Versuch über ihre Beziehung im Ausgang von Sartres Drama, 2. Aufl. Freiburg 1987, S. 13

[12] Maria Otto: Reue und Freiheit – Versuch über ihre Beziehung im Ausgang von Sartres Drama, 2. Aufl. Freiburg 1987, S. 28

[13] Maria Otto: Reue und Freiheit – Versuch über ihre Beziehung im Ausgang von Sartres Drama, 2. Aufl., Freiburg 1987, S. 15

[14] Ebenda, S. 33

[15] Walter Biemel: Sartre, Hamburg 1984, S. 40

[16] Maria Otto: Reue und Freiheit – Versuch über ihre Beziehung im Ausgang von Sartres Drama, 2. Aufl., Freiburg 1987, S. 31

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Das Problem der Freiheit in Sartres `Die Fliegen`
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
1,0
Autoren
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V109114
ISBN (eBook)
9783640072989
Dateigröße
380 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Problem, Freiheit, Sartres, Fliegen`
Arbeit zitieren
Sabrina Heidrich (Autor:in)T. Vogler (Autor:in), 2004, Das Problem der Freiheit in Sartres `Die Fliegen`, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109114

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