Der Weimarer Grundschulkompromiss: Entstehung und Umsetzung


Examensarbeit, 2000

64 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Struktur des deutschen Bildungswesens am Vorabend der Novemberrevolution 1918

3. Die politische und schulpolitische Entwicklung von November 1918 bis Juni 1920
3.1. Die Schulreformen der Länderregierungen 1918/19.
3.1.1. Die Entflechtung von Staat, Schule und Kirche
3.1.2. Der Aufbau eines einheitlichen Schulsystems.
3.2. Der Entwurf einer Reichsverfassung.
3.2.1. Die schulpolitischen Positionen der Parteien
3.3. Die Weimarer Schulkompromisse
3.4. Die Schulartikel der Weimarer Verfassung
3.5. Das „Gesetz betreffend die Grundschulen und
Aufhebung der Vorschulen“ vom 28.4.1920.
3.6. Die Reichsschulkonferenz von 1920
3.7. Fazit

4. Die Umsetzung der Weimarer Schulkompromisse in den Jahren 1920 – 1933
4.1. Der Widerstand bürgerlicher Elternverbände gegen die Einrichtung der allgemeinen obligatorischen Grundschule.
4.2. Das „kleine“ Grundschulgesetz vom April 1925
4.3. Die preußischen Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule – die innere Reform der Volksschulunterstufe
4.3.1. Die Grundschule als Stätte kindgemäßer
und grundlegender Bildung.
4.4. Die Bewährung der allgemeinen Grundschule in der
Weimarer Republik

5. Anhang

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Eine Grundschule ist die für alle Kinder gemeinsame Eingangsstufe eines allgemeinbildenden staatlichen Schulwesens. Die Elementar-schuleinrichtung bildet einen tragenden Unterbau, auf dem sich die nach Funktion und Bildungsaufgaben unterschiedlichen Institutionen des Sekundarschulwesens aufbauen. Um beim Schuleintritt eine Trennung der Schüler und Schülerinnen nach der gesellschaftlichen Stellung der Eltern bzw. nach dem beabsichtigten Schulabschluss zu verhindern, ist eine Grundschule organisatorisch niemals aufgegliedert in die verschiedenen übergeordneten Schulformen. Vielmehr bildet sie eine einheitliche Basis, auf der sich die weiterführenden differenzierten Schularten stützen.

Grundschulen haben die Verpflichtung „allgemein“ zu sein. Dies bedeutet, dass die Elementarschuleinrichtung alle schulfähigen Kinder, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Begabung, unterschiedslos aufnimmt.

Als Eingangsstufe des Schulwesens hat die Grundschule die Aufgabe, in einer gesetzlich vorgeschriebenen Zeit ihren Schülern eine einheitliche Erziehung und Bildung zu vermitteln. Auf diese, in der Grundschulzeit erworbenen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten bauen die Lehrgänge der weiterführenden Schulen auf. Lässt man die individuellen Lernmöglichkeiten und Erfahrungen der einzelnen Kinder außer Acht, so ermöglicht theoretisch die Elementarausbildung der Grundschule jedem Schüler, eine beliebige, von ihm gewählte Schullaufbahn zu verfolgen.

Die allgemeine obligatorische Grundschule besteht in Deutschland seit 1919/20. Die Schulartikel der am 11. August 1919 verabschiedeten Weimarer Verfassung sowie das Reichsgrundschulgesetz von 1920 etablierten in Deutschland erstmals ein durch eine Grundschule allgemein zugängliches staatliches Schulwesen. Seit 1920 erhalten nun alle Kinder, ungeachtet der sozialen und wirtschaftlichen Stellung ihrer Eltern, in einer einzigen Schulinstitution die gleiche Elementar-ausbildung. Die Idee von der Errichtung eines staatlichen Schulsystems, dessen weiterführenden Schulinstitutionen sich auf den Lehrgang einer allgemeinen Grundschule aufbauen, besteht jedoch schon länger. Insbesondere die Einheitsschulbewegung engagierte sich jahrhundertelang für die Vereinheitlichung und Demokratisierung des deutschen Schulwesens. Obwohl die Vertreter der schulpolitischen Reformbewegung zum Teil sehr unterschiedliche pädagogische und bildungspolitische Auffassungen darüber vertraten, wie ein einheitliches Staatsschulwesen auszusehen habe, waren sie sich in einem sachlichen Aspekt jedoch immer einig: Die strikte Trennung des niederen vom höheren Schulwesens, die vor allem weniger privilegierten Schichten den Zugang zum höheren Bildungswesen verwehrte, sollte endgültig aufgehoben werden.

Bis zur Gründung der Weimarer Republik war die Geschichte der Einheitsschulbewegung vorwiegend eine Ideengeschichte gewesen. Ihre Forderung nach einem, auf einer Grundschule aufbauenden einheitlichem Schulsystem entwickelte sich vor allem in Zeiten politischer Zusammen- und Umbrüche weiter. Versuche der staatlichen Erhaltung und Erneuerung nach politischen Katastrophen sollten durch eine verbesserte Erziehung und Bildung des ganzen Volkes unterstützt werden.

Amos Comenius (1592 – 1670) war der erste Pädagoge, der ein einheitliches Schulwesen für das Deutsche Reich entwarf. Seine Verbesserungs- und Neuordnungsversuche sollten nach den Gräueln und Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges den moralischen Wiederaufbau des zerrütteten Landes unterstützen. Comenius, der an die Gleichheit aller Menschen vor Gott glaubte, wollte jedem Kind eine, an seinen individuellen Begabungen orientierte Schulausbildung gewähren. Seine Pläne von einem gesamtdeutschen Einheits-schulsystem, welches die gegenseitige Achtung aller Berufe und Stände fördern sollte, ließen sich jedoch im 17. Jahrhundert nicht verwirklichen.

Die Aufklärungsphilosophie sowie die Französische Revolution (1789) nahmen im 18. Jahrhundert den Einheitsschulgedanken wieder auf. In dieser Zeit wurden ständische Vorrechte sowie ererbte Privilegien im Schulwesen zunehmend hinterfragt. Die Idee von der Gleichheit aller Menschen im Staat und vor dem Gesetz führte während der Revolution zu der Forderung nach einem einheitlichen, obligatorischen und für jedermann zugänglichen Staatsschulsystem.

Die im Zuge der Französischen Revolution entstandenen Schulreformpläne hatten jedoch nur einen geringen Einfluss auf die deutsche Einheitsschulbewegung. Vielmehr war es der in dieser Zeit entwickelte Gedanke der nationalen Volksgemeinschaft, welcher die Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen beeinflusste. Der Wunsch nach einer „Verbrüderung der Stände“ bzw. die Erkenntnis vom Zusammenhang zwischen Massenarmut und Bildungsstand der Bevölkerung führte nach der militärischen Niederlage Preußens im Jahre 1806 zu verschiedenen Konzeptionen von einer Neuordnung und Vereinheitlichung des deutschen Schulwesens. Als Reaktion auf die französische Fremdherrschaft entwarf Johann Gottlieb Fichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Schulreformprogramm, das die traditionelle Standeserziehung zu Gunsten einer einheitlichen Nationalerziehung ersetzen wollte. Eine allgemeine Nationalerziehungsanstalt, welche Funktionen einer Grundschule übernahm, sollte die Erziehung zum ganzheitlich gebildeten, der Nation verbundenen Menschen fördern. Auch die Schulorganisationsentwürfe des preußischen Staatsrats v. Süvern, welche die strikte Trennung der berufsständisch orientierten Schularten aufheben wollten, haben die Schriften der Einheitsschulbewegung nachhaltig beeinflusst. Die restaurative Schulpolitik der Ära Metternich verhinderte jedoch, dass die Konzeptionen der preußischen Bildungsreformer verwirklicht werden konnten.

Unbeeinflusst von der reaktionären Kulturpolitik des Vormärz nahm die Volksschullehrerschaft im Revolutionsjahr 1848 die Bildungspostulate der preußischen Reformer wieder auf. Gemeinsam mit dem im September 1848 gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerverein traten sie für eine Verbesserung des Volksbildungswesens sowie für ein einheitliches staatliches Schulsystem ein.

Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 wurden in den deutschen Staaten alle Reformbemühungen der Einheitsschulbewegung rigoros unterdrückt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Zersplitterung des deutschen Schulsystems in völlig voneinander unabhängigen Schulinstitutionen weiter fortgeschritten. In dieser Zeit war die Entwicklung des deutschen Schulwesens häufig ein Thema zahlreicher wissenschaftlicher Auseinandersetzungen; auch die deutschen Lehrerversammlungen griffen den Gedanken von einer Neugestaltung des Schulwesens immer wieder auf. Die im Deutschen Lehrerverein organisierte Volksschullehrerschaft sowie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) galten um die Jahrhundertwende als stärkste Gruppen der Einheitsschulbewegung, die für eine einheitliche und sozial gerechtere Gestaltung des deutschen Schulwesens eintraten.

Bis 1918 hatten Persönlichkeiten, Gruppen und Parteien der deutschen Einheitsschulbewegung keinerlei Chancen gehabt, ihre Ideale zu verwirklichen. Die militärische Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sowie die Novemberrevolution von 1918 schufen jedoch die Basis für grundlegende bildungspolitische Veränderungen. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserstaates hatte sich die innenpolitische Situation in Deutschland so verändert, dass Gruppen und Parteien, welche ständische Vorrechte sowie ererbte Privilegien im Schulwesen ablehnten, nun in der Überzahl waren. In einer relativ kurzen Zeitspanne, vom November 1918 bis zum Frühjahr 1920, gelang es erstmals der Einheitsschulbewegung, ihre Schulreformvorstellungen zumindest teilweise durchzusetzen. Mit der Einführung der für alle gemeinsamen vierjährigen Grundschule wurde die Forderung nach einer sozial gerechteren Gestaltung des deutschen Schulwesens erstmals partiell verwirklicht (vgl. Nave 1961, S. 11 – 56).

2. Die Struktur des deutschen Bildungswesens am Vorabend der Novemberrevolution 1918

In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg fand man in Preußen, aber auch in meisten anderen Ländern des Deutschen Reichs ein im Zuge der Industrialisierung modernisiertes Schulwesen vor, dass sich aber durch eine Vielfalt von Schultypen auszeichnete. Das unzusammenhängende Nebeneinander der verschiedenen Schulformen sowie die Uneinheitlichkeit des Elementarschulwesens beschrieb 1916 sehr treffend Johannes Tews, ein bedeutender Schultheoretiker der Volkssschullehrerbewegung, mit folgenden Worten:

„Die Kinder besuchen in vielen Gemeinden vom ersten Tage an verschieden eingerichtete und ungleich bewertete Schulen, das eine die Volksschule, das zweite die Bürgerschule, das dritte die Mittelschule, das vierte die Vorschule einer höheren Lehranstalt. Außerdem kommen noch Privatschulen verschiedener Güte in Betracht und schließlich noch die Trennung der Geschlechter und Bekenntnisse, so daß man in mancher Mittel- und Großstadt bequem ein Dutzend verschiedener Schulen für die Erlernung des Abc unterscheiden kann.“[1]

Neben der Typenvielfalt zeichnete sich das Schulwesen im Deutschen Kaiserreich vor allem durch eine strikte Trennung von niederer und höherer Bildung aus. Volksschule und Gymnasium waren zwei in sich geschlossene Schulformen, die unterschiedlichen Gesetzgebungen unterlagen, unterschiedliche Lehrinhalte mit ebenso unterschiedlichen Lehrmethoden vermittelten, unterschiedlich ausgebildete Lehrer besaßen und Schüler aus unterschiedlichen sozialen Kreisen ausbildeten. Vor der Novemberrevolution 1918 war das deutsche Schulwesen ständisch gegliedert. Die unteren Sozialschichten, welche die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, besuchten die unentgeltlichen Volksschulen. Während die Berechtigungen der höheren Bildungsanstalten den Zugang zu den höheren Ämtern im Staatsdienst

und zu den freien akademischen Berufen eröffneten, konnten Volksschüler und –schülerinnen nur niedere soziale und berufliche Positionen in der wilhelminischen Gesellschaft erhalten. Abgesehen von der Ausbildung zum Volksschullehrer besaßen sie zudem keinerlei Weiterbildungsmöglichkeiten. Eine Ausbildung im höheren Schulwesen, welche den Zugang zu privilegierten Stellungen in der Gesellschaft ermöglichte, war allerdings mit erheblichen Kosten verbunden und konnte nur von den oberen Schichten finanziert werden. Vor 1918 hing die Wahl einer bestimmten Schulform also nicht von den individuellen Begabungen und Interessen eines Kindes, sondern vielmehr von der gesellschaftlichen Stellung bzw. von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern des Kindes ab. Besitz und Bildung waren im Kaiserstaat eng miteinander verbunden (vgl. Becker / Kluchert 1993, S. 1 –27).

Abb. 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Schulaufbau in Deutschland (Preußen um 1910)

Aus: Berthold Michael / Heinz Hermann Schepp: Die Schule in Staat und Gesellschaft. S. 206. Göttingen 1993.

3. Die politische und schulpolitische Entwicklung von November 1918 bis Juni 1920

Die militärische Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sowie die Novemberrevolution von 1918 waren für den Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs verantwortlich. Die Revolution in Deutschland richtete sich nicht nur gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, auch das traditionelle Konzept der Standes- und Berufserziehung wurde in den Nachkriegsmonaten grundlegend hinterfragt. Im Zuge der revolutionären Ereignisse hatte sich die politische Stimmung so verändert, dass ein offenes Eintreten für das traditionelle dreigliedrige Schulwesen in den ersten Monaten der Weimarer Republik undenkbar war. Mit der Abdankung Kaiser Wilhelm II. wurde der politische Einfluss der führenden Schichten des alten Reichs erheblich geschwächt. Bis zur Wahl der Nationalversammlung im Januar 1919 bestimmten Arbeiter- und Soldatenräte gemeinsam mit dem Rat der Volksbeauftragten die aktuelle Regierungspolitik (vgl. Dithmar / Willer 1981, S. 127).

3.1. Die Schulreformen der Länderregierungen 1918/19

Im Deutschen Kaiserreich hatte die Schulgesetzgebung ausschließlich in der Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten gelegen. Deren Unterrichtsverwaltungen arbeiteten bis zur Gründung der Weimarer Republik weitgehend autonom, da eine zentrale Reichsbehörde, welche die Bildungspolitik der 18 Länder koordinierte, fehlte. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserstaates begannen insbesondere die unter sozialistischem Einfluss stehenden Länderregierungen ihr Schulwesen grundlegend zu reformieren. Die strikte Trennung von Schule und Kirche sowie der Aufbau einer „organischen Einheitsschule“ waren zentrale Elemente der neuen Kulturpolitik, welche die traditionellen Bildungsschranken abbauen wollte (vgl. Führ 1970, S. 18, 31).

3.1.1. Die Entflechtung von Staat, Schule und Kirche

Vor der Novemberrevolution 1918 existierte in Deutschland ein dreigliedriges Schulsystem, welches die ständische Ordnung der damaligen Gesellschaft widerspiegelte. Die Volksschulen, welche von der Mehrheit der Bevölkerung besucht wurden, waren im 19. Jahrhundert überwiegend konfessionell geprägt. Die Regierungen der Einzelstaaten nutzten insbesondere im Volksschulwesen die Zusammenarbeit mit den Kirchen, die aufgrund ihrer besseren finanziellen Möglichkeiten die Kosten für die materielle und personelle Ausstattung der Volksschulen sowie für die Schulaufsichtsämter übernahmen. Die Kooperation von Staat und Kirche im Volksschulwesen spiegelten auch die Volksschullehrpläne wider. Während in den wissenschaftlich orientierten höheren Schulen der Religionsunterricht nur eine untergeordnete Rolle spielte, dominierte die religiöse Erziehung in den Lehrplänen der Konfessionsschulen. Die christliche Volksbildung war quantitativ begrenzt und beschränkte sich auf die Vermittlung elementarer Kulturtechniken sowie auf die religiöse und vaterländische Erziehung. Auch die Bildung der Volksschullehrer in den Lehrerseminaren und Präparandenanstalten unterlag dem Prinzip der inhaltlichen Begrenzung. Ihr Aufgabenfeld beschränkte sich auf die Erziehung der Schüler und Schülerinnen im Sinne der Krone (vgl. Friederich, G.: Das niedere Schulwesen. In: Jeismann, K.-E. u. Lundgreen, P. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band 3. München 1987. S. 123-147).

Seit der Etablierung des niederen Schulwesens unterstützten Krone und konservative Parteien den Einfluss der Kirchen auf das Volksschulwesen. Die standesgemäße Bildungsbegrenzung der Bekenntnisschulen war von den traditionellen Herrschaftseliten gewollt, da nur durch sie die Stabilität der monarchischen Gesellschaft gewahrt werden konnte. Um jegliche demokratischen bzw. revolutionären Bestrebungen zu unterdrücken, nutzten die herrschenden Schichten den inhaltlich begrenzten Volksschulunterricht als „Instrument zur herrschaftskonformen Glaubenserziehung christlicher Untertanen“[2] bzw. als Mittel zur Unterordnung der Volksmassen. Dieser, im 19. Jahrhundert verbreitete Lehr- und Bildungsauftrag des Volksschul-wesens, spiegelt auch der folgende Auszug aus den Stiehlschen Regulativen wider, welche nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Preußen 1854 erlassen wurden:

„Der Gedanke einer allgemein menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos, oder schädlich erwiesen. Das Leben des Volkes verlangt seine Neugestaltung auf dem Fundament des Christenthums, welches Familie, Berufskreis, Gemeinde und Staat in seiner kirchlich berechtigten Gestaltung durchdringen, ausbilden und stützen soll. Demgemäß hat die Elementarschule ... nicht einem abstrakten System, oder einem Gedanken der Wissenschaft, sondern dem praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf, Gemeinde und Staat zu dienen, und für dieses Leben vorzubereiten.“[3]

Auch die Kirchen nutzten den Einfluss auf das Schulwesen, um ihre gesellschaftliche Stellung und Macht zu festigen. So war vor allem die evangelische Kirche mit dem gesellschaftlichen und politischen System des Deutschen Kaiserreichs eng verflochten. Anders war die Situation bei der katholischen Kirche. Sie vertrat gemeinsam mit dem politischen Katholizismus die katholische Bevölkerung, welche in Preußen sowie im gesamten Deutschen Reich eine Minderheit bildete. Zwar lehnten auch große Teile der katholischen Kirche sowie des katholischen Zentrums jegliche revolutionären Bestrebungen ab, doch nutzten sie das Bekenntnisschulwesen primär nicht zur Aufrechterhaltung einer konservativ geprägten staatlichen und sozialen Ordnung. Mit der religiösen Erziehung der Kinder und Jugendlichen wollten sie vor allem zum „Erhalt eines geschlossenen katholischen Milieus und gegen sein Aufgehen in protestantisch geprägten Umwelt“[4] beitragen.

Im November 1918 forderte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine demokratische Regierungsform für das Deutsche Reich, die gesellschaftliche Macht der traditionellen Eliten des Kaiserstaats sollte endgültig gebrochen werden. Alle Institutionen und Organisationen der bisherigen Machthaber, welche zu deren Herrschaftssicherung gedient hatten, sollten grundlegend reformiert werden. Insbesondere die unter sozialistischem Einfluss stehenden Länderregierungen setzten sich deshalb für ein weltliches Volksschulwesen ein, indem die konfessionell bedingte inhaltliche Bildungsbegrenzung gänzlich aufgehoben war. Beeinflusst von einem (spät-) aufklärerischen Fortschrittsdenken, wollten sie mit diesen schulpolitischen Maßnahmen die Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus ihrer bisherigen intellektuellen und sozialen Abhängigkeit befreien. Religion war nach Ansicht der Sozialdemokratie und der von ihr repräsentierten Arbeiterschaft Privatsache. Aus diesem Grund sollten zukünftig die Kirchen, und nicht mehr die öffentlichen Schulen, die religiöse Erziehung der Kinder und Jugendlichen übernehmen (vgl. Becker / Kluchert 1993, 159 ff).

3.1.2. Der Aufbau eines einheitlichen Schulsystems

Der Abbau der öffentlichen und privaten Vorschulen war 1918/19 ein weiterer zentraler Bestandteil der neuen bildungspolitischen Maßnahmen. Mit dem Verbot der ständisch orientierten Elementarschuleinrichtungen wollten die Revolutionsregierungen ererbte Vorrechte und Privilegien im Bildungserwerb endgültig beseitigen und somit für die Mehrheit der Bevölkerung bessere Bildungsmöglichkeiten eröffnen. Die überkommene strikte Trennung der verschiedenen Schulformen sollte zukünftig durch ein einheitliches Schulwesen ersetzt werden, welches eine gerechtere Verteilung der Bildungschancen garantierte.

Ungünstige Lernbedingungen im deutschen Volksschulwesen waren dafür verantwortlich, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem in den Ländern nördlich des Mains sowie in Württemberg vermehrt öffentliche und private Vorschulen eingerichtet wurden, welche die Kinder in einem dreijährigen intensiven Lehrgang auf die Anforderungen der höheren Bildungsanstalten vorbereiteten. Diese Elementar-schuleinrichtungen erhoben zwar Schulgeld, waren dafür aber materiell und personell wesentlich besser ausgestattet als die Volksschulunterstufe. Den Besuch der kostenpflichtigen Vorschulen, die den höheren Schulen unmittelbar angeschlossen waren, konnte sich jedoch nur eine privilegierte Minderheit leisten.

Bis zum November 1918 nahmen Gymnasien und Mittelschulen bevorzugt die Schüler und Schülerinnen ihrer eigenen Vorschulen auf. Waren noch weitere Plätze im höheren Schulwesen vorhanden, so wurden diese an Kinder vergeben, welche die vier ersten Jahre der unentgeltlichen Volksschulunterstufe besucht und eine entsprechende Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Bei einer Überbesetzung der Vorschulinstitutionen hatten Volksschüler und –schülerinnen keinerlei Möglichkeiten, eine höhere Bildungsanstalt zu besuchen. So entwickelten sich die Vorschulen im Deutschen Reich zu einer Art Bildungssperre für sozial schwächere Schichten, was auch folgende Aktennotiz aus dem Verwaltungsbericht eines Duisburger Gymnasiums verdeutlicht:

„Zu Ostern 1913 wird voraussichtlich überhaupt keine Aufnahme von Volksschülern durch Prüfung möglich sein. (Die Vorschule hatte 1913/14 127 Schüler), wenngleich es bedauert wird, daß“[5]

Auch Johannes Tews beschrieb die damalige Situation treffend mit folgenden Worten:

„Da, wo man Vorschulen hat und die höheren Lehranstalten dem Bedarf nicht ganz genügen – und der Bedarf ist ja heute groß - , sind die Vorschulen tatsächlich ein Abonnement auf den Besuch der Sexta. Wir haben es in Berlin in manchen Stadtteilen Jahrzehnte hindurch gehabt, daß andere Kinder kaum in die Sexta aufgenommen wurden, weil alle Plätze durch Vorschüler besetzt waren; das heißt, man kauft sich für 360 bis 450 Mark für seinen Sohn einen Platz in der Sexta, aber auf Kosten eines anderen, der vielleicht weit besser für die Ausbildung in einer höheren Schule geeignet ist.“[6]

Bis zum November 1918 entschied die Wahl einer Elementareinrichtung in der Regel über den zukünftigen Schulabschluss bzw. über die künftige beruflich-soziale Position eines Schülers in der Gesellschaft. Der Besuch der schulgeldpflichtigen Vorschulen und der sich daran anschließenden höheren Bildungsanstalten eröffnete den Zugang zu besseren beruflichen und gesellschaftlichen Stellungen, während Absolventen und Absolventinnen der Volksschule später meist nur niedere berufliche und soziale Positionen in der Gesellschaft einnehmen konnten. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg besaßen die oberen Schichten des Deutschen Kaiserreichs ein Bildungsprivileg, dass zunehmend von verschiedenen Bevölkerungsgruppen hinterfragt wurde.

Nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates begannen einige Städte, Gemeinden sowie die unter sozialistischem Einfluss stehenden neuen Länderregierungen mit dem radikalen Abbau ihrer Vorschulen. In dem neuen deutschen Staat sollte ein einheitliches Schulsystem die überkommene soziale Privilegierung im Bildungswesen endgültig aufheben (vgl. Nave 1961, S. 29-31, 58).

3.2. Der Entwurf einer Reichsverfassung

Bis zum Sommer 1919 existierten im Deutschen Reich weder eine amtliche Behörde, noch eine reichseinheitliche Gesetzgebung, welche die Schulpolitik der 18 Länder koordiniert bzw. kontrolliert hätte. 1918/19 bestand nun die Gefahr, dass das ohnehin schon zersplitterte deutsche Bildungswesen aufgrund der bildungspolitischen Maßnahmen der Revolutionsregierungen noch unübersichtlicher würde. Die Aufnahme von Schulartikeln in der neu zu erarbeitenden Reichsverfassung bzw. die Verabschiedung von Reichsschulgesetzen eröffneten Möglichkeiten, dieser Situation entgegen zu wirken und eine einheitliche Reform des gesamten öffentlichen Erziehungswesens zu ermöglichen (vgl. Nave 1961, S. 58).

Am 9. November 1918 übertrug der letzte kaiserliche Reichskanzler sein Amt dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Ebert setzte sich gemeinsam mit linksliberalen Demokraten, Vertretern der Sozialdemokratie sowie des Zentrums für eine demokratisch-republikanische Staatsform im Deutschen Reich ein. Am 19. Januar 1919 wurden die Mitglieder der Verfassungsgebenden National-versammlung gewählt, etwas mehr als drei Viertel aller Stimmen erhielten die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), das Zentrum und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) (siehe auch Abb. 2). Aus der Wahl zur Nationalversammlung waren also die SPD sowie die Parteien der bürgerlich-demokratischen Mitte als Sieger hervorgegangen. Eine sozialistische Mehrheit, welche uneingeschränkt die bildungspolitischen Ziele der Einheitsschulbewegung in der Reichsverfassung verankert hätte, war aber nicht vorhanden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

Aus: Robert H. Tenbrock / Kurt Kluxen: Zeiten und Menschen. Band 4. S.41. Paderborn 1978.

Wegen politischer Unruhen in Berlin trat die Nationalversammlung zum ersten Mal in Weimar zusammen. Friedrich Ebert wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Da keine politische Partei eine absolute Mehrheit besaß, bildeten die SPD mit dem Zentrum sowie der DDP die Weimarer Koalitionsregierung. Der Mehrheitssozialist Scheidemann erhielt das Amt des Reichskanzlers, das Reichsinnenministerium wurde Hugo Preuß (DDP) übertragen. Dem Staatsrechtler Preuß fiel die Aufgabe zu, eine neue Verfassung für die Weimarer Republik auszuarbeiten, in der auch das zukünftige deutsche Bildungswesen berücksichtigt werden sollte. Die bildungspolitischen Auffassungen der Weimarer Koalitionsparteien waren jedoch zum Teil sehr unterschiedlich. Um die Verabschiedung der Reichsverfassung nicht unnötig zu gefährden, wollte der Innenminister alle strittigen Punkte über die zukünftige Gestaltung des deutschen Schulwesens aus dem Verfassungswerk ausklammern. Eine spätere Reichs- bzw. Landesschulgesetzgebung sollte die kontroversen bildungspolitischen Positionen der Parteien wieder aufgreifen und die reichseinheitliche Neuorganisation des gesamten Bildungssystems regeln. Lediglich folgende inhaltliche, das Bildungswesen betreffende Aspekte, wollte Preuß in der neuen Reichsverfassung verankert wissen:

1) Die Verfassung der neuen Republik sollte die Freiheit der Wissenschaft gewährleisten sowie jedem deutschen Staatsbürger eine, den individuellen Begabungen entsprechende Bildung garantieren. Diese, dem Grundsatz der Chancengleichheit entsprechende Forderung, garantierte später auch Artikel 109 der Weimarer Verfassung:

„Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden.“[7]

2) Preuß wollte die Kompetenzen der Weimarer Reichsregierung im Bereich des Bildungswesens ausweiten. Hatten bisher die einzelnen Bundesstaaten ihr Schulwesen weitgehend autonom gestaltet, so sollte in der neuen Republik der Gesamtstaat die Rahmengesetzgebung im Schul- und Hochschulwesen erhalten. Tatsächlich wurden später die Vorstellungen des Verfassungs-rechtlers im Artikel 10;2 der Weimarer Verfassung verwirklicht:

„Das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für (2.) das Schulwesen einschließlich des Hochschulwesens.“[8]

3) In seinem Verfassungsentwurf hatte Hugo Preuß die Schaffung eines organisch gestalteten Einheitsschulsystems angedeutet. So findet man in Artikel 31, Absatz 4 seines Entwurfes folgenden Wortlaut:

„Das Schul- und Unterrichtswesen ist in allen Gliederstaaten so einzurichten, daß sich auf die Volksschulbildung der Unterricht in den mittleren und höheren Lehranstalten aufbaut.“[9]

[...]


[1] Tews 1916, S. 13 ff.; zit. n. Sienknecht 1968, S. 178

[2] Herrlitz / Hopf / Titze 1998, S.63

[3] Drittes Preußisches Regulativ 1854; zit. n. Friedrich, G. 1987, S. 134

[4] Becker / Kluchert 1993, S. 160

[5] zit. n. Nave 1961, S. 30

[6] Tews 1911; zit. n. Scheibe 1965, S. 45

[7] Deutsche Verfassungen 1974, S. 90; zit. n. Friedeburg 1992, S. 214

[8] Auszug aus der Weimarer Verfassung; zit. n. Nave 1961, S. 165

[9] Entwurf von Hugo Preuß; zit. n. Nave 1961, S. 61

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Der Weimarer Grundschulkompromiss: Entstehung und Umsetzung
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
64
Katalognummer
V10898
ISBN (eBook)
9783638172035
ISBN (Buch)
9783656503989
Dateigröße
879 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entstehung d. Grundschule in der Weimarer Republik
Arbeit zitieren
Claudia Köhler (Autor:in), 2000, Der Weimarer Grundschulkompromiss: Entstehung und Umsetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10898

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Weimarer Grundschulkompromiss:  Entstehung und Umsetzung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden