Die Entstehung des Volkstribunats


Seminararbeit, 1993

10 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. Innenpolitischer Hintergrund: der Ständekampf

3. Aufgaben und Rechtsstellung der Volkstribunen

4. Die Quellenlage zur Entstehungsgeschichte

5. Theorien zur Entstehung des Volkstribunats
5.1 Theodor Mommsen, 1877
5.2 Carl Julius Beloch, 1926
5.3 Ulrich von Lübtow, 1955
5.4 Einar Gjerstad, 1972

6.Anmerkungen zur Historikerkontroverse
6.1 Die Argumentationsweise
6.2 Der Zahlenstreit

7. Schlußbemerkung

QUELLENVERZEICHNIS

LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung

Die Entstehung des Volkstribunats ist -wie viele Ereignisse der frühen römischen Republik- in der Geschichtsforschung umstritten. Einar Gjerstad hält sie gar für "eines der obskursten und unsichersten Abschnitte der frühen Geschichte Roms"[1]. Ziel dieser Arbeit soll es sein, die verschiedenen Theorien über den Ursprung des Tribunats nebeneinanderzustellen und zu diskutieren. Untrennbar verbunden mit der Entstehungsfrage sind die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Ständekämpfe, da das Volkstribunat in seiner revolutionären Idee als direkte Folge dieser Unruhen betrachtet werden muß. Ein kurzer Abriß dieser Entwicklungen steht hier deshalb am Anfang. Anschließend daran erfolgt eine Beschreibung der Funktionen, Zuständigkeiten und Rechte des Amtes. Im nächsten Schritt soll die Quellenlage skizziert werden, denn die Besonderheiten der literarischen Überlieferung relativieren das Urteil vieler Theorien und machen den Rückgriff auf andere Informationsträger notwendig. Die Reihe der verschiedenen Theorien zur Entstehungsgeschichte zeigt eine Auswahl der diversen Ansätze und soll einen Überblick über die Interpretation der Quellen bieten. In einem abschließenden Kapitel soll kurz auf die Beweisführung innerhalb der einzelnen Theorien eingegangen werden.

2. Innenpolitischer Hintergrund: der Ständekampf

Die Entstehung des Volkstribunats als politische Größe im römischen Staatssystem kann nur vor dem Hintergrund der Ständekämpfe in der frühen Republik verstanden werden.

Die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts war ein Zeitraum großer sozialer und politischer Umwälzungen im römischen Volk. Dem engen Kreis der führenden Familien stand ursprünglich die breite Masse der Bevölkerung mittel- und rechtlos gegenüber. Wirtschaftliche Neuerungen, wie das zunehmend wichtiger werdende Handelswesen, vertieften die soziale Kluft, ließen aber gleichzeitig die neue Schicht der künftigen ersten classis zu Wohlstand und Selbstbewußtsein gelangen. Ihren wachsenden Forderungen nach politischer Mitsprache begegneten die alten Familien mit Distanz und Abschottung, wobei die Grenzen zwischen den beiden Gruppen noch nicht klar gezogen waren[2]. Erst allmählich bildeten sich die Stände des Patriziats und der Plebs heraus, wobei letztere keineswegs eine soziale Einheit bildete, was besonders in ihren Forderungen zum Ausdruck kam. Die wohlhabenden Bürger verlangten ihren Anteil an der Macht im Staat. Sie kristallisierten sich als Führungsgruppe innerhalb der Plebs heraus und schufen durch die Mobilisierung der Masse die plebejische Sondergemeinde. Den unteren Schichten ging es weniger um politische Teilhabe, als um Sicherheit vor staatlicher Willkür durch die Magistrate und Schutz gegen Überschuldung[3].

Ein zweiter, paralleler Anlaß für die politische Dynamik innerhalb der Plebs waren die Veränderungen im Heerwesen. Die Einführung der neuen Taktik der Hoplitenphalanx verlangte den Einsatz der Bürgerschaft, während vorher ausschließlich die wenigen Adeligen gekämpft hatten. Die Inanspruchnahme ihrer militärischen Wehrkraft stärkte das Selbstbewußtsein der Plebs, insbesondere bei der Kerntruppe der schwerbewaffneten classis.

"Da nach damaligem Denken der Waffendienst mit dem Besitz politischer Rechte verknüpft war, äußerte sich das neue Selbstbewußtsein als ein politisches Bewußtsein, das zwar nicht gegen die herrschende Sozialstruktur und damit auch nicht auf die Beseitigung des Adels, aber doch als Konsequenz der veränderten sozialen Bedingungen auf eine bessere Absicherung der persönlichen Existenz und auf eine Beteiligung an den politischen Entscheidungen gerichtet war."[4]

Die Plebejer konnten ihren Forderungen durch die secessiones, die von der Rekrutierungs-Verweigerung bis zum Generalstreik ausgeweitet wurden, enormen Nachdruck verleihen. Notwendig für den Erfolg der plebejischen Kampfmaßnahmen war eine funktionierende und schlagfertige Organisation der Sondergemeinde: die Versammlung (concilium plebis) und die Volkstribunen (tribuni plebis) als ihre Vorsteher. Auf die besonderen Funktionen der Tribunen wird hier noch einzugehen sein.

Einen erstmaligen Ausgleich innerhalb der Ständekämpfe brachte das Nachgeben des Patriziats bezüglich der politischen Mitbestimmung. In der Heeresversammlung wurden fortan die Magistrate gewählt. Die untergliederten Hundertschaften dieser comitia centuriata waren nach Vermögensklassen gestaffelte Abstimmungskörper, die jeweils über eine Stimme verfügten. Die timokratische Ordnung sicherten dem Patriziat und der ersten Klasse der classis zusammen die Mehrheit der Stimmen, obwohl sie nicht die Mehrheit der Bevölkerungszahl stellten. Weitergehende Forderungen, wie das conubium und der Zugang zu den Imperien blieb den Plebejern in dieser Phase noch verwehrt und sorgte für ein Fortdauern der Ständekämpfe.

3. Aufgaben und Rechtsstellung der Volkstribunen

Als Vorsteher der concilia plebis waren die Volkstribunen das Sprachrohr der Plebs im Kampf um ihre politische und soziale Gleichstellung. Gleichzeitig hatten sie die Aufgabe, die Plebejer vor willkürlichen Übergriffen des Patriziats zu schützen. Um dem gerecht zu werden, beanspruchten die Tribunen verschiedene Rechte. Im ius auxilii manifestierte sich das Recht auf Hilfeleistung. Der Volkstribun konnte z.B. einem Patrizier verbieten, eine Strafaktion an einem Plebejer zu vollziehen, indem er sich einfach zwischen die beiden stellte. In enger Verbindung mit dem ius auxilii steht das ius intercessionis. Hier handelt es sich um ein Einspruchsrecht, das die Möglichkeit bot, unbegründete Verfügungen der Magistrate, Gesetze und Senatsbeschlüsse zu verhindern.

Da die "Rechte" der Volkstribunen usurpiert und damit nirgendwo einklagbar waren, das Amt selbst revolutionären Charakter hatte und gegen den Staat gerichtet war, bedurften die Tribunen irgendeiner Absicherung, die sie vor dem Zugriff der Magistrate schützte. So legte die Plebs vor ihrem Heiligtum auf dem Aventin einen feierlichen Eid ab, der die Unverletzlichkeit des Tribunats verbürgte. Jeder, der fortan den religiösen Status (sacrosanctitas) der Volkstribunen mißachtete und dennoch versuchte, gegen sie vorzugehen, galt als sacer und war der plebejischen Lynchjustiz ausgeliefert.

4. Die Quellenlage zur Entstehungsgeschichte

Für die Zeit der frühen Republik liegen der Geschichtsforschung an literarischen Quellen nur die Schriften der Annalisten augusteischer Zeit vor. Die Autoren, wie Livius und Dionysius von Halikarnaß, liefern wertvolle Informationen zu ihrer damaligen Zeitgeschichte, über die Ereignisse der römischen Frühzeit lagen ihnen jedoch keine vertrauenswürdigen Quellen vor. Darüber hinaus wurden die überlieferten Nachrichten nicht selten von ihnen aus stilistischen Gründen verändert, oder nach den politischen Maßstäben der Zeit neu konstruiert. Da kaum andere schriftlichen Quellen aus der römischen Frühzeit vorliegen, ist die Rekonstruktion der Ereignisse für die Forschung enorm schwierig. Die verschiedenen Theorien über die Entstehung des Volkstribunats sind entsprechend kontrovers.

Nach Angaben der Überlieferung[5] kam es 494 v.Chr. aufgrund innerer Spannungen zu einer ersten secessio der Plebs auf den mons sacer oder auf den Aventin. Dort erlangten, analog zur Zahl der römischen Magistrate, erstmals zwei Plebejer das Tribunat[6]. Die Historizität dieser secessio wird heute zumeist in Zweifel gezogen. Auch über die ursprüngliche Anzahl der Tribunen, die einen wichtigen Baustein in einigen Entstehungstheorien bildet, gehen die Meinungen auseinander. Einen Anhaltspunkt für die Erfoschung des Tribunats geben auch dessen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten der späteren Zeit, von denen ausgehend auf ursprüngliche Aufgaben zurückgeschlossen werden kann. Ferner hat auch die Etymologie des Wortes tribunus schon einen Ansatz für die Klärung der Entstehungsfrage geliefert. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die wissenschaftliche Diskussion hier weit von einem Konsens entfernt.

5. Theorien zur Entstehung des Volkstribunats

5.1 Theodor Mommsen, 1877

Theodor Mommsen deutet die bei Livius II, 32 geschilderte secessio auf dem sacer mons im Jahr 494 v.Chr. als bewaffneten Aufstand oder Militärrevolte der Plebs.

Et primo agitatum dicitur de consulum caede, ut soluerentur sacramento; doctos deinde nullam scaelere religionem exolui, Sicinio quodam auctore iniussu consulumin sacrum montem secessisse. Trans anienem amnem est, tria ab urbe milia passum.[7]

Die Interpretation gründet auf der Annahme, die Plebejer wären zu dieser Zeit bereits in den Militärdienst eingebunden gewesen und hätten Offiziere stellen dürfen. Für seine Argumentation stützt sich Mommsen auf die Etymologie der tribuni plebis in Varros Lingua latina.

Die Volkstribunen sind demnach aus den Offizieren hervorgegangen, die die Revolte des Jahres 494 anführten.

tribuni plebei, quod ex tribunis militum primum tribuni plebei facti, qui plebem defenderent, in secessione Crustumerina.[8]

Der Ursprung des Tribunats ist nach Mommsen also revolutionärer Natur gewesen[9]. Hinsichtlich der Zahl vertraut der Historiker auf die Angabe der meisten Geschichtsschreiber: zwei Volkstribunen legen auch die Analogie zum übrigen römischen Zweibeamtenstaat nahe.

Das Tribunat wurde zu Beginn des Decemvirates 450 abgeschafft und 449 erneut revolutionär konstituiert[10].

Mommsen gilt heute in seiner Methode und in seinen Ergebnissen weitgehend als überholt. Was aber seine Entstehungstheorie zum Volkstribunat anlangt, so wird ihm von vielen neueren Historikern darin gefolgt, über die Etymologie Varros einen revolutionären Ursprung zu suchen[11].

5.2 Carl Julius Beloch, 1926

Die zweite Theorie setzt ebenfalls mit einer Etymologie an. Beloch führt das Wort tribunus als Ableitung auf den Begriff tribus zurück, der die lokalen Bezirke Roms in Stadt und Land bezeichnete. Weiterhin zieht er eine Notiz Diodors aus dem Jahr 471 heran:

While these events were taking place, in Rome this year for the first time four tribunes were elected to office, Gaius Sicinius, Lucius Numitorius, Marcus Duillius, and Spurius Acilius.[12]

Nach Diodors Angaben wurden hier erstmals vier Tribunen gewählt. Aus dieser Zahl und der Etymologie von tribunus folgert Beloch, die tribuni plebis seien ursprünglich von den Bürgern gewählte Vorsteher der einzelnen Tribus gewesen und hätten die Verwaltung der einzelnen Bezirke geführt. Da die Aufgaben nicht für jedes Viertel allein lösbar waren, mußten die Tribunen zusammenarbeiten und ihre Arbeit koordinieren. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit eine gesamtplebejische Vertretung, die als solche zwar nicht staatlich anerkannt war, aber durch ihr starkes Auftreten, vor allem in der gemeinsamen concilia plebis aller Plebejer Roms, faktisch Macht erlangten.

"So wurden die concilia der städtischen Plebs allmählich zu concilia der Plebs überhaupt, und es war eine Art Staat im Staate geschaffen, der zwar zunächst noch der gesetzlichen Anerkennung entbehrte, aber mächtig genug war, in den öffentlichen Angelegenheiten ein gewichtiges Wort mitzusprechen."[13]

Ihre starke Stellung ermöglichte es den Tribunen, auch jene Schutzfunktionen zu beanspruchen, obwohl sie keinerlei Befugnis dazu hatten. Der Eid der Plebs, sie gegen staatliche Übergriffe zu verteidigen, sicherte das Amt ab.

Die Datierung dieser Vorgänge kann Beloch aus der Überlieferung nicht erkennen. Das Jahr 494 ist seiner Meinung nach bei weitem zu früh angesetzt. Er legt die Entstehungszeit etwa in die Mitte der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Eine Begründung dafür liefert er allerdings nicht.

Ulrich von Lübtow, 1955

Ulrich von Lübtow verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Beloch. Auch er führt die Volkstribunen auf ehemalige Vorsteher der örtlichen Tribus zurück, datiert sie allerdings bereits in die Regierungszeit des Königs Servius Tullius zurück. Nach dieser Theorie wären die Tribunen Beamte gewesen, die der König gezielt einsetzte, um der wachsenden Macht des Adels ein Gegengewicht aus der Bevölkerung entgegenzusetzen und seine eigene Stellung zu stärken.[14] Aufgabe dieser Beamten wäre neben der Verwaltungsführung auch eine gewisse Ordnungsfunktion gewesen, um willkürliche Aktionen der Patrizier gegen schutzlose Plebejer abzuwehren. Lübtow hält die Entstehung des Tribunats folglich nicht für einen revolutionären Akt, sondern für eine politische Maßnahme der Staatsmacht. Eigentlicher Urheber des ius auxilii und Protektor der Plebs ist also der König selbst. Diese Theorie paßt sehr gut in das annalistische Bild des Servius Tullius, das den König gerne als Volksfreund und idealen Herrscher zeichnet.

Nach dem Sturz des Königtums hält Lübtow das Jahr 494 für den Zeitpunkt der republikanischen Erneuerung des Tribunats. Die tribunische Schutzfunktion war noch zu lebendig in der Erinnerung der Plebs. Wenn das Amt nun auch nichts mehr mit dem der ehemaligen Bezirksvorsteher zu tun hatte, so war doch die Übernahme des alten Namens eine logische Fortführung der Tradition.

5.4 Einar Gjerstad, 1972

Eine ganz andere Deutung der frühen Geschichte des Tribunats wagt Einar Gjerstad. Er hält als Ursprungsdatum das Jahr 494 für annähernd korrekt. Da auch Gjerstad die These vertritt, die ersten Volkstribunen seien königliche Beamte gewesen, setzt seine Theorie die Existenz der römischen Monarchie noch in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts voraus. Der Historiker greift zwei Zitate von Livius auf, die 499 die Eroberung von Crustumerium und 495 die Schaffung eines neuen ländlichen Tribus Clustumina notieren. Beide Orte identifiziert er miteinander und folgert daraus, daß die bei Varro l.l. V,81 bezeugte secessio crustumerina keine revolutionäre Kampfmaßnahme war, sondern eine Siedlungsbewegung besitzloser Plebejer in das Gebiet des neuen Tribus. Die Volkstribunen waren demnach Beamte des Königs, die in dessen Auftrag die Landverteilung vornahmen.[15]

Unter den Einträgen des Jahres 471 berichtet Livius von der erstmaligen Wahl der Tribunen in der comitia tributa.[16] Diese Nachricht deutet Gjerstad als Bestätigung der königlichen Ernennung durch die Plebs.

Die Tribunen waren außerdem Vorsitzende der concilia plebis, die sakrale und zivile Rechtsangelegenheiten der Plebs selbst regelte. Weiterhin übten sie im Auftrag des Königs das ius auxilii aus, d.h. sie halfen den Plebejern im Konflikt mit dem Patriziat und unterstützten sie bei Rechtsgeschäften.[17]

Nach der Vertreibung des letzten Königs wurde das Tribunat 449 mit Beginn der Republik rekonstituiert. Eine endgültige Abschaffung war nicht möglich, da es bereits fest im Bewußtsein der Plebejer verankert war.

6. Anmerkungen zur Historikerkontroverse

6.1 Die Argumentationsweise

Die Theorie Gjerstads ist schon aufgrund eines methodischen Widerspruchs in seiner Arbeit in Zweifel zu ziehen. Der Historiker schreibt, er halte die annalistischen Quellen für den Zeitraum von 494 bis 449 alle für unglaubwürdig[18], während er seiner gesamten Theorie die Echtheit zweier Daten zugrunde legt, die Livius nur ein, bzw. fünf Jahre vor 494 notiert. Diese Auswahl erscheint äußerst willkürlich und wird sich kaum begründen lassen.

Allgemein ist bei der Verfolgung der einzelnen Argumentationslinien auffällig, daß sich die verschiedenen Historiker weniger die Mühe machen, ihre eigenen Theorien durch entsprechende Nachweise zu belegen, als Gegenargumente zur jeweiligen Theorie des wissenschaftlichen Gegners zu suchen. Während Mommsen z.B. noch der Meinung war, nur mit Gewalt hätte sich die Plebs Rechte erkämpfen können, sieht Beloch in den secessiones Vordatierungen der späteren Zeit. Er vertritt die Ansicht, daß die Offiziere der römischen Armee zu Beginn im 5. Jahrhundert noch alle Patrizier waren, und eine Revolution aus den Reihen des Heeres daher unwahrscheinlich ist.

In einem Zitat Lübtows zeigt sich die Quelleninterpretation in ihrer ganzen Subjektivität:

"Es ist nämlich genau zu unterscheiden, inwieweit die Berichte der römischen Annalisten auf echter historischer Rückerinnerung beruhen und inwieweit sie typische Erzeugnisse konstruktiver Phantasie sind, die republikanische Einrichtungen in die Königszeit zurückprojizieren will."[19]

Lübtow ist der Meinung, er könne die Unterscheidung treffen. Die anderen Historiker beanspruchen für sich dasselbe.

6.2 Der Zahlenstreit

Bezüglich der Anzahl der Tribunen hält sich Mommsen an die Haupttradition, nach der analog zu den Konsuln zwei Tribunen gewählt wurden. Weiterhin lasse die politische Dimension des Amtes keinerlei Rückschlüsse auf Verwaltungsaufgaben zu, d.h. es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Tribunat und den Gebietstribus. Mommsen glaubt, Diodor habe die vier Namen der ersten Tribunen bei Piso[20] abgeschrieben und den fünften Namen, den Piso nennt, einfach vergessen.[21]

Beloch hält die vier Namen Diodors für historisch, da sie auf der Liste der zehn Volkstribunen des Jahres 449[22] verzeichnet sind, in der er eine Fortführung der älteren Liste Diodors sieht. Da der fünfte Name Pisos hier nicht steht, erklärt ihn Beloch als nachträgliche Projektion Pisos.

Gjerstad behauptet, die Liste von 449 sei die ältere gewesen, von der Diodor und Piso ihre vier Namen übernommen hätten. Der fünfte Name Pisos sei nur als Vorbereitung auf die spätere Zehnzahl zu betrachten, da man diese als Verdoppelung der vorherigen Zahl erklären wollte. Insgesamt seien alle Zahlenangaben unzuverlässig und -so Gjerstad- nicht für irgendein Erklärungsmodell heranzuziehen.

7. Schlußbemerkung

Die Entstehung des Volkstribunats wird auch weiterhin ein dunkles Kapitel der römischen Frühzeit bleiben. Die Angaben der Annalisten sind äußerst unsicher, so daß eine Rekonstruktion der historischen Ereignisse aus den Quellen nicht möglich ist. Die Bewertung der einzelnen Entstehungstheorien der Forschung bestätigen diesen Befund: die Althistoriker widerlegen sich gegenseitig und verweisen alle Erklärungsversuche grundsätzlich ins Land der Spekulation. Festzuhalten bleibt, daß der Ursprung des Tribunats in seiner politischen Dimension nicht isoliert von den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Ständekämpfe betrachtet werden kann. Das Amt hatte revolutionären Charakter, und es liegt aufgrund dessen nahe, hier auch auf einen revolutionären Ursprung zu schließen. Was diese Einschätzung anlangt, hat Theodor Mommsen vor über 110 Jahren einen interessanten Erklärungsansatz gemacht, indem er das Tribunat auf einen bewaffneten Aufstand zurückgeführt hat. Eine zuverlässige Antwort auf die Ausgangsfrage liefert jedoch auch er nicht.

QUELLENVERZEICHNIS

Diodorus of Sicily in twelve volumes, with an english translation by C.H. Oldfather, London/Camebridge 1970.

Titi Livi, Ab urbe condita, Scriptorum classicorum, Bibliotheca Oxoniensis, Oxonii 1974.

M. Terenti Varronis, De Lingua Latina, Lipsiae in Aedibus B.G. Teubneri 1910.

LITERATURVERZEICHNIS

Beloch C.J., Römische Geschichte bis zum Beginn der punischen Kriege, Berlin und Leipzig 1926.

Bengtson H., Grundriß der römischen Geschichte mit Quellenkunde I. Republik und Kaiserzeit bis 284 n.Chr. (HdA III), München 1982.

Bleicken J., Geschichte der römischen Republik (Oldenbourg Grundriß der Geschichte), München 1982.

Gjerstad E., Innenpolitische und militärische Organisation in frührömischer Zeit, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultus Roms im Spiegel der neueren Forschung I., hg. Hildegard Temporini, Berlin 1972, 136-188.

Lübtow U.v., Das römische Volk, sein Staat und sein Recht, Frankfurt 1955.

Meyer Ed., Kleine Schriften I, Halle 1924.

Meyer E., Römischer Staat und Staatsgedanke, Darmstadt 1961.

Mommsen, Th., Römisches Staatsrecht II.1. Leipzig 1877.

Paulys Realenzyklop„die der classischen Altertumswissenschaft, Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa, Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hrsg.v. Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus, Zweite Reihe, Zwölfter Halbband, Stuttgart 1937/1958.

Siber H., Die plebejischen Magistraturen bis zur Lex Hortensia, Leipzig 1938.

Thommen L., Das Volkstribunat der späten römischen Republik, Historia 59, 1989.

Wieacker, F., Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur I. Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik (HdA X), München 1988.

[...]


[1] E. Gjerstad, Innenpolitische und militärische Organisation in frührömischer Zeit, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultus Roms im Spiegel der neueren Forschung I., hg. Hildegard Temporini, Berlin 1972, S.183.

[2] vgl. F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur I. Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik (HdA X), München 1988, S.232f.

[3] vgl. F. Wieacker, Röm. Rechtsgeschichte, 1988, S.233f.

[4] J. Bleicken, Geschichte der römischen Republik (Oldenbourg Grundriß der Geschichte), München 1982, S.22.

[5] Von einer ersten secessio im Jahr 494 v.Chr. wird berichtet in Cic. p.Corn. 60; rep. II 50. Dion. Hal. VI 90. Fest. 318. Liv. 33,2. 58,1. Zonar. VII 15.

[6] Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht bildet Livius. Er führt an, daß auch bei Piso die Zweizahl überliefert sei, während er selbst die Zahl der Tribunen durch Kooptation auf fünf erhöhen läßt. Livius versucht damit die spätere Zehnzahl vorzubereiten.

[7] Liv. II, 32, 2.

[8] Varro, l.l. V, 81

[9] vgl. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht II.1, Leipzig 1877, S.263.

[10] vgl. Th. Mommsen, Staatsrecht, 1877, S.267.

[11] vgl. E. Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, Darmstadt 1961, S.44f.

[12] Diod. XI, 68, 8.

[13] C.J. Beloch, Römische Geschichte bis zum Beginn der punischen Kriege, Berlin und Leipzig 1926, S.279.

[14] vgl. U.v. Lübtow, Das römische Volk, sein Staat und sein Recht, Frankfurt 1955, S.54.

[15] vgl. E. Gjerstad, Innenpolit. u. milit. Organisation, 1972, S.184.

[16] Liv. II, 58, 1: Tum primum tributis comitiis creati tribuni sunt.

[17] vgl. E. Gjerstad, Innenpolit. u. milit. Organisation, 1972, S.187.

[18] vgl. E. Gjerstad, Innenpolit. u. milit. Organisation, 1972, S.184.

[19] U.v. Lübtow, Das römische Volk, 1955, S.52.

[20] Piso bei Liv. II, 58, 2: Numero etiam additos tres, perinde ac duo antea fuerint, Piso auctor est. Nominat quoque tribunos, cn. Siccium, L. Numitorium, M. Duillium, Sp. Icilium, L. Maecilium.

[21] vgl. Th. Mommsen, Staatsrecht, 1877, S.263.

[22] Liv. III, 54, 11-13.

Ende der Leseprobe aus 10 Seiten

Details

Titel
Die Entstehung des Volkstribunats
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
Proseminar
Note
Gut
Autor
Jahr
1993
Seiten
10
Katalognummer
V108894
ISBN (eBook)
9783640070855
Dateigröße
439 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entstehung, Volkstribunats, Proseminar
Arbeit zitieren
Christian Plätzer (Autor:in), 1993, Die Entstehung des Volkstribunats, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108894

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Entstehung des Volkstribunats



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden