Die Ebenen des Verbrechens in Ingeborg Bachmanns "Der Fall Franza"


Seminararbeit, 1993

11 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


INHALT

1. Vorbemerkung

2. Der Schlüsselbegriff "Faschismus"
2.1 Faschismus als Wort für privates Verhalten
2.2 Bachmanns Anklage der Nachkriegsgesellschaft

3. Die Schauplätze des Verbrechens
3.1 Der Faschismus Jordans
3.2 Der Sexismus der Männer
3.3 Der Imperialismus der "Weißen“

4. Die Methode des Verbrechens: das Denken als Organ der Herrschaft
4.1 Die Grundlage: Kritik der Aufklärung
4.2 Franzas "Fall"
4.3 Frauen in der Welt männlichen Denkens
4.4 Die "Papuas" in der Welt "weißen" Denkens
4.5 Die "magisch Lebenden" als allgemeine Opfer rationaler Denkstrukturen

5. Schlußgedanke

LITERATURVERZEICHNIS

1. Vorbemerkung

Bereits in der Vorrede zum "Fall Franza" macht Ingeborg Bachmann deutlich, worum es ihr in ihrem Buch geht: im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Krankheit und der Tod der Protagonistin. Gleichzeitig läßt Bachmann keinen Zweifel daran, daß diese Krankheit Folge eines an Franza begangenen Verbrechens ist.

"Das Buch ist aber nicht nur eine Reise durch eine Krankheit. Todesarten, unter die fallen auch Verbrechen. Das ist ein Buch über ein Verbrechen."[1]

Dieses Verbrechen wird im Text nicht explizit bezeichnet und ist somit nur sehr schwer zu erfassen. Zunächst besteht es in dem psychischen Terror des Arztes Jordan, der damit die Krankheit und den Tod seiner Ehefrau Franza hervorruft. Das Verbrechen vollzieht sich aber auf weiteren Ebenen. Viele Andeutungen und Vergleiche, Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und das imperialistische Verhalten der "Weißen", lassen es in den verschiedensten Zusammenhängen erscheinen. Das komplizierte Netz von Gedanken, Hinweisen und immer neuen Parallelen deutet bereits an, daá es in dem Text nicht nur um Franzas eigenen "Fall", also die individuelle Geschichte ihrer Zerstörung geht. Der fragmentarische Charakter des Romans ist dafür verantwortlich, daß dieser Aspekt sehr stark in den Vordergrund geraten ist.

Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, die verschiedenen Ebenen des Verbrechens in "Der Fall Franza" darzustellen. Dabei wird die eingehende Untersuchung des Begriffs Faschismus eine wichtige Rolle spielen, da dieser immer wieder im Zusammenhang mit dem Verbrechen fällt und als Schlüssel dazu angesehen werden kann. Ausgehend davon, soll untersucht werden, wo sich das Verbrechen vollzieht: im Verhältnis zwischen Franza und Jordan, allgemein zwischen Frauen und Männern und letztlich zwischen dem "zivilisierten" Europa und der restlichen von ihm mehr oder weniger beherrschten Welt. Im zweiten Schritt sollen Gegenstand und Methode des Verbrechens diskutiert werden. Zentral ist hierbei Horkheimers und Adornos "Kritik der Aufklärung", die auf die Ambivalenz rationalen Denkens aufmerksam macht, welches die Grundlage des vorliegenden Verbrechens bildet.

2. Der Schlüsselbegriff "Faschismus"

2.1 Faschismus als Wort für privates Verhalten

Bei der Lektüre des Textes fällt es schwer, den Inhalt des Verbrechens zu konkretisieren. Es handelt sich hier nicht um ein einmaliges Delikt im Sinne einer Straftat. Die Ursache für Franzas Krankheit liegt vielmehr in Vorgängen, die "so sublim (sind), daß wir sie kaum wahrnehmen und begreifen können, obwohl sie täglich in unserer Umgebung, in unserer Nachbarschaft begangen werden." [2]

In diesem Zusammenhang werden schon in der Vorrede Mechanismen angedeutet, die an faschistischen Terror erinnern. Auch später im Text zieht die Autorin immer wieder Vergleiche von der aktuellen Situation Franzas zum Gewaltapparat des Nationalsozialismus. Faschismus kann als Schlüsselbegriff zum Verständnis des komplexen Verbrechens dienen, das an Franza begangen worden ist.

Der Begriff Faschismus darf im Romanfragment jedoch nicht mißverstanden werden. Obwohl immer wieder Bezüge zu historischen Ereignissen hergestellt werden, geht es nicht um die vergangene Gesellschaftsform, die staatliche Gewalt und Brutalität legitimiert hatte. Bachmann verwendet den Begriff als Bezeichnung für ein privates Verhalten im alltäglichen zwischenmenschlichen Bereich.

"Du sagst Faschismus, das ist komisch, ich habe das noch nie gehört als Wort für ein privates Verhalten, nein, verzeih, ich muß lachen, nein ich weine bestimmt nicht. Aber das ist gut, denn irgendwo muß es ja anfangen, natürlich, warum redet man davon nur, wenn es um Ansichten und öffentliche Handlungen geht."[3]

Die Übertragung des Begriffs vom politischen in den rein privaten Bereich geht im Grundgedanken auf Bertolt Brecht zurück. Er beschreibt in seinem Text "Viele Arten zu töten" die Methoden der Menschen, andere umzubringen, ohne sich außerhalb der Legalität zu begeben.

"Man kann einem ein Messer in den Bauch stecken, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken [...] Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten"[4].

2.2 Bachmanns Anklage der Nachkriegsgesellschaft

Wenn Ingeborg Bachmann ihren Begriff des privaten Faschismus im Sinne Brechts verwendet, so impliziert dies eine Anklage der Nachkriegsgesellschaft, die trotz Neubeginns nach 1945 und sogenannter Entnazifizierung immer noch Gewaltmechanismen nach den alten Mustern zuläßt.

"Es ist mir, und wahrscheinlich auch Ihnen oft durch den Kopf gegangen, wohin das Virus Verbrechen gegangen ist - es kann doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein, bloß weil hier Mord nicht mehr ausgezeichnet, verlangt, mit Orden bedacht und unterstützt wird."[5]

Hier schneidet die Autorin ein Thema an, das sie schon in früheren Werken mehrfach aufgegriffen hat: die nicht aufgearbeitete, verdrängte und daher stets präsente Geschichte im Dritten Reich. Der Faschismus bildete die Staatsform für das Verbrechen schlechthin. Im "Fall Franza" setzt sich der Totalitarismus im privaten Bereich fort, ohne daß Staat oder Gesellschaft einschreiten.

"Nun hat dieses Buch aber wenig, nur sehr wenig damit zu tun. Es versucht, mit etwas bekanntzumachen, etwas aufzusuchen, was nicht aus der Welt verschwunden ist."[6]

Ein Verbrechen wird möglich, das eigentlich längst der Vergangenheit angehören müßte.

3. Die Schauplätze des Verbrechens

3.1 Der Faschismus Jordans

Die Zeit des Nationalsozialismus ist im "Fall Franza" allgegenwärtig. Es ist die Rede von Jordans Bruder, der einige Zeit im KZ verbracht hat und auch jetzt noch als Alibi für Jordans eigene Vergangenheit dient. Erwähnt wird weiterhin Jordans Arbeit über die Spätschäden weiblicher Versuchsopfer und schließlich auch die Begegnung Franzas mit dem KZ-Arzt Körner in Ägypten.

Franza selbst identifiziert sich im Leiden an ihrer Krankheit immer mehr mit den Opfern der Nazis, was vor allem in Träumen zum Ausdruck kommt:

"ich bin in einer Gaskammer, ganz allein, alle Türen sind verschlossen, kein Fenster, und Jordan läßt das Gas einströmen".[7]

Ihr Mann Jordan steht auf der anderen Seite. Er ist derjenige, der für Franzas konkreten "Fall" verantwortlich zu machen ist. Faschismus als privates Verhalten beginnt hier in der Beziehung zwischen Mann und Frau, und Franza sieht in ihrem Mann Jordan den Repräsentanten des faschistischen Terrors:

"er ist heutiger als ich, ich bin von niedriger Rasse, seit das geschehen ist, weiß ich, daß sich das selbst vernichtet, ich bin es, er ist das Exemplar, das heute regiert, das von heutiger Grausamkeit ist".[8]

Jordan hat Franza in den Wahnsinn getrieben. Sie wird mehrmals von ihrem Bruder Martin als verrückt bezeichnet. In ihrer eigenen Perspektive ist aber nicht sie, sondern ihr Mann Jordan der Verrückte. Diese Wahrnehmung steht im Gegensatz zur gesellschaftlichen Sichtweise, für die Jordan nach wie vor als der besonnene und vernünftige Mann gilt, der sich nicht außerhalb der festgelegten Normen und Regeln bewegt.

3.2 Der Sexismus der Männer

Diese ver-rückte[9] Sichtweise Franzas wird ganz besonders deutlich in der Szene am Kairoer Bahnhof. Franza entsetzt sich über einen Mann, der eine gefesselte Frau so an den Haaren hält, daß sie den Kopf nicht mehr bewehen kann. Der Mann erscheint ihr wahnsinnig, während ihr von den Umstehenden versichert wird, daß nicht er, sondern die Frau wahnsinnig sei. Franza identifiziert sich mit dieser Frau. Sie sieht sich selbst von ihrem Mann Jordan gefangen gehalten und in die gleiche Situation wie diese Frau gebracht.

"Ich liege dort an ihrer statt. Und mein Haar wird, zu einem langen, langen Strick gedreht, von ihm in Wien gehalten. Ich bin gefesselt, ich komme nie mehr los."[10]

Bachmann geht es nicht nur darum, der Person Jordans die Schuld für Franzas Krankheit zuzuweisen. Es ist die Gesellschaft, die von Männern wie Jordan geprägte Welt, die Ausbrüche aus ihr unmöglich macht. Die allgegenwärtige strukturelle Gewalt läßt keine weiblichen Lebensentwürfe zu. Der Tod Franzas ist letztlich auch in diesen Strukturen begründet. Wie die anderen Todesursachen in Bachmanns Todesarten sind es "gesellschaftliche Konstellationen, Zustände und Verhältnisse, die in verhängnisvoller Weise als fremdbestimmende Rollenbilder und Mächte vor allem die Frauen den herrschenden Zwängen ausliefern und sie zu Opfern machen."[11]

3.3 Der Imperialismus der "Weißen"

Ingeborg Bachmann führt ihre Anklage noch weiter. Vom Bild des privaten Faschismus über das des gesellschaftlichen Sexismus kommt sie geradewegs auf den "weißen" Imperialismus. Die Weißen macht Franza verantwortlich für die Ausbeutung der Welt, für die Kolonisation der Erde mit ihrer europäischen Kultur, die alles andersartige zerstört. In Franzas persönlichem "Fall" ist sie die Ausgebeutete, Jordan der "Weiße".

"Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist."[12]

Sie sieht in Jordan den Eroberer, der sie ihrer menschlichsten Eigenschaften beraubt hat: den Ausdrucksformen und dem Ausleben ihrer Gefühle. Diese bilden eine lebensnotwendige Basis ihrer Existenz. Dem "Weißen" Jordan gleichen die Plünderer und Conquistadoren der europäischen Expansion und des Imperialismus in Bezug auf Umfang und Wirkung ihrer Vorgehensweise gegen die Eingeborenen anderer Kontinente. Sie begnügten sich nicht mit den Bodenschätzen und dem vorgefundenen materiellen Reichtum, sondern vergriffen sich an der Substanz des Daseins der Eingeborenen und bewirkten vielfach ihr Aussterben oder den Verfall in primitivste Abhängigkeit.

"...aber warum tut das jemand, das versteh ich nicht, aber es ist ja auch nicht zu verstehen, warum die Weißen den Schwarzen die Güter genommen haben, nicht nur die Diamanten und die Nüsse, das Öl und die Datteln, sondern den Frieden, in dem die Güter wachsen, und die Gesundheit, ohne die man nicht leben kann, oder gehören die Bodenschätze mit den anderen Schätzen zusammen, manchmal glaub ich es."[13]

4. Die Methode des Verbrechens: das Denken als Organ der Herrschaft

4.1 Die Grundlage: Kritik der Aufklärung

Es wurde schon eingangs erwähnt, daß es sich bei dem dem Romanfragment zugrundeliegenden Verbrechen nicht um ein Verbrechen im herkömmlichen Sinne handelt. All die Vorwürfe, die Jordan als dem Vertreter des westlichen weißen Kulturkreises und seiner Gesellschaft gemacht werden, gründen sich nicht auf äußerer Gewalt, d.h. tatsächlicher körperlicher Brutalität, wie sie im historischen Faschismus an der Tagesordnung war. Das Verbrechen vollzieht sich vielmehr unterschwellig, ohne bestehendes Recht zu verletzen. Es ist gekennzeichnet durch "Verhaltensweisen, gegen die die bürgerlichen Gesetzbücher keine Handhabe bieten: durch inhumanes Denken, durch Inhumanität, verbale Brutalität und seelische Grausamkeit im zwischenmenschlichen Alltag."[14]

Die Grundlage dazu bildet das Denken auf der Basis der reinen Vernunft, wie es in der europäischen Welt seit der Zeit der Aufklärung vorherrschend ist. In der "Dialektik der Aufklärung" erläutern Max Horkheimer und Theodor Adorno, wie doppelsinnig Kants utopischer Weltentwurf vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist:

"Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung."[15]

Die Vernunft bietet demnach eine Handhabe zur Unterdrückung anderer. Mißbraucht wird sie zum Mittel des privaten faschistischen Terrors der Nachkriegsgesellschaft.

4.2 Franzas "Fall"

Das vernünftige analytische Denken bildet somit auch genau die Methode, durch die Jordan Franza systematisch zerstört. Der Psychoanalytiker beobachtet seine Frau wie eine Patientin; er verunsichert sie immer mehr und degradiert sie zum "Fall", bis Franza schließlich wirklich psychisch krank wird. Franza erkennt, was mit ihr gemacht wird, aber sie kann sich nicht mehr dagegen wehren.

"Wenn es das gibt, und ich habe es bisher nicht bemerkt, wenn die Sadisten nicht nur auf psychiatrischen Abteilungen und in den Gerichtssälen zu finden sind, sondern unter uns sind, mit blütenweißen Hemden und Professorentitel, mit den Folterwerkzeugen der Intelligenz".[16]

Jordan diagnostiziert letztlich Wahnsinn, doch die Krankheit ist das Produkt seines eigenen Kalküls. Das Verfahren ist aus totalitären Staaten bekannt. Gegner des Regimes werden in psychiatrische Anstalten eingewiesen, was sie in der Folge vielfach wirklich in den Wahnsinn treibt. Jordans Verhalten als faschistisch zu bezeichnen, wie es Franzas Bruder Martin tut, ist also nicht so abwegig, wie es vielleicht zunächst erscheinen mag - vergleicht man es mit den Greueltaten des Nationalsozialismus. "Faschistisches Verhalten gesehen als Vernichtenwollen des Anderen."[17] Genauso wie die spätgeschädigten Frauen aus Jordans Untersuchung Opfer nationalsozialistischer Versuchsanordnungen wurden, sieht sich Franza als Opfer ihres Mannes Jordan.

"An mir wurde ein großartiger Versuch gemacht. Ins Vulgärdeutsch übersetzt: wieviel hält ein Mensch aus, ohne zu krepieren?"[18]

4.3 Frauen in der Welt männlichen Denkens

Franza ist nicht die erste Frau Jordans. Seine Ehefrauen sind für den Psychoanalytiker keine echten Partnerinnen, sondern nur die Objekte seiner unmittelbaren Herrschaft.

"Er mochte die Frauen nicht, und er mußte immer eine Frau haben, um sich den Gegenstand seines Hasses zu verschaffen."[19]

Hier weitet Franza die Dimension des Verbrechens weiter aus. Das Opfer ist nicht sie allein; es sind allgemein Frauen, deren eigener Lebensentwurf in der von Jordan repräsentierten Männerwelt nicht zugelassen wird.

"Ingeborg Bachmann besteht auf der Differenz der Geschlechter; für sie ist die Frau das andere Geschlecht, für das es in einer patriarchalischen Gesellschaft nicht möglich ist, Mensch zu sein, weil hier Mensch-Sein Mann-Sein bedeutet."[20]

Jordan, der Mann, verkörpert den modernen Patriarchen par excellence. Er unterzieht alles seinem rationelen Denken. Franzas Gefühle und erotischen Wünsche notiert und klassifiziert er und reduziert sie dadurch zu Symptomen einer Krankheit, die eigentlich gar keine ist. Diese andere, emotionale Seite im Wesen seiner Frau, ist für ihn Wahnsinn, denn akzeptierte er sie, würde das die Ordnung und Normalität seiner eigenen Welt aus den Angeln heben. Folglich versucht er Franza psychisch zu zerstören. Franzas tatsächlicher Wahnsinn bestätigt sein Vorgehen und garantiert die gesellschaftliche Ordnung. Für Franza ist diese Zerstörung Mord. Sie denkt an den Pariser Frauenmörder Pierre Landru, den sogenannten Blaubart, der in den 20er Jahren zehn Frauen grausam umgebracht hat. Doch verglichen mit Jordan sei dieser nur "ein kleiner liebenswürdiger Krimineller".[21]

Der Auslöser für Franzas Tod ist ebenso wieder ein Mann. Sie stirbt an einer Kopfverletzung, die sie sich selbst zugefügt hat, nachdem sie an einer Pyramide vergewaltigt worden war. Die Reise durch ihre Krankheit findet so konsequent ihren Abschluß. Die Frau Franza wurde das Opfer männlicher Gewalt, sowohl psychischer als auch physischer. Die Gesellschaft bot ihr keine Handhabe, sich gegen diese Gewalt zu wehren, da sie sie strukturell selbst verkörpert.

4.4 Die "Papuas" in der Welt "weißen" Denkens

Franzas Vergewaltiger war ein Weißer. Die Weißen stehen bei Bachmann für Imperialismus und Kolonialismus. Sie trugen das europäische Denken, die Rationalität der Aufklärung, in die ganze Welt und zerstörten dadurch nahezu alle Kulturen, die ihrem Wesen entgegenstanden. Ihnen gegenüber stellt die Autorin stellvertretend die australischen Papuas, eines der letzten Naturvölker der Erde. Dieses Volk beginnt langsam auszusterben, da es dem Wesen der Weiáen in der heutigen Welt nichts mehr entgegenzusetzen vermag.

"In Australien wurden die Ureinwohner nicht vertilgt, und doch sterben sie aus, und die klinischen Untersuchungen sind nicht imstande, die organischen Ursachen zu finden, es ist eine tödliche Verzweiflung bei den Papuas, eine Art des Selbstmordes, weil sie glauben, die Weißen hätten sich aller ihrer Güter auf magische Weise bemächtigt".[22]

Der schleichende Tod dieses Naturvolks ist mit der todbringenden Zerstörung Franzas gleichzusetzen. Sie vermag es nicht, sich gegen die geistige Aggression ihres Mannes Jordan zu wehren, die "alle Menschen zerlegte, bis nichts mehr da war, nichts geblieben außer einem Befund." [23] Der Arzt, in traditionell "weißer" Berufskleidung, ist der moderne Repräsentant jener historischen Kolonisatoren, deren Auftreten in den überseeischen Kontinenten das Aussterben der Naturvölker einleitete. Franza konstatiert: "ich bin eine Papua".[24]

4.5 Die "magisch Lebenden" als allgemeine Opfer rationaler Denkstrukturen

Der Gegenentwurf zur männlich dominierten, rationalen Welt der Weiáen bildet im "Fall Franza" die "magische Lebensweise". Darunter faßt Bachmann all das "Andere" zusammen, das ihre Opfer (Franza, die Frauen, die Naturvölker) zum Ziel männlich-weißer Aggression macht.

"Franzas magische Art (für Ingeborg Bachmann die weibliche) entzieht sich der rationalen (männlichen) Analyse und ist für den Mann bedrohlich."[25]

Der Mann versucht das "Magische" im Wesen der Frau zu zerstören und vernichtet sie damit ganz. Darin besteht in erster Linie das an Franza und an der Welt begangene Verbrechen.

5. Schlußgedanke

Betrachtet man nun die Ereignisse, die Bachmann mit dem Verbrechen an Franza gleichsetzt, so erkennt man Vergleiche, die vom Nationalsozialismus bis in die archaische Welt des alten Ägypten zurückreichen. Subsummiert klagt die Autorin nahezu die gesamte Gewalt der Geschichte an - und das ihr zugrundeliegende Denken, in dessen Gefolge Intoleranz, Rücksichtslosigkeit, grenzenloses Machtstreben und Vereinnahmung anderer einhergehen.

Nun mag es einseitig bis trivial klingen, die Verantwortung für das "Verbrechen in der Welt" pauschal den Männern, bzw. dem "männlichen" europäischen Denken zuzuschreiben. Dennoch bleibt festzuhalten: Politik wurde seit jeher fast ausschließlich von Männern gestaltet, und das neue Denken der Aufklärung hat keineswegs die Utopie des kathegorischen Imperativs im Sinne Kants zuwege gebracht. Im Gegenteil: Die Neuzeit brachte die brutalsten Kriege und Verbrechen unserer Geschichte hervor. Der auf die Vernunft des Menschen vertrauende Humanismus konnte den Holocaust nicht verhindern. Es scheinen andere Wege nötig, das Verbrechen aus dieser Welt zu schaffen. Ein bißchen "Magie" könnte nicht schaden.

LITERATURVERZEICHNIS

I. Text

Bachmann, Ingeborg: Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann. München 1992.

II.Sekundärliteratur

Albrecht, Monika: "Todesarten": Malina und frühere Entwürfe. Anmerkungen zu Ingeborg Bachmanns Romanzyklus und seiner Präsentation in der Werkausgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S.585-602.

Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1988.

Bartsch, Kurt: "Schichtwechsel"? Zur Opposition von feminin-emotionalen Ansprüchen und maskulin-rationalem Realitätsdenken bei Ingeborg Bachmann. In: Frauenliteratur. Autorinnen-Perspektiven-Konzepte. Hrsg.v. Manfred Jurgensen. Bern 1983.

Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. München 1988.

Brecht, Bertolt: Me Ti/Buch der Wendungen. In: Gesammelte Werke. Band V. Frankfurt 1967.

Brinkemper, Peter: Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza als Paradigma weiblicher Ästhetik. In: Modern Austrian Literature 18 (1985), Nr.3/4, S.147-182.

Grimkowski, Sabine: Das zerstörte Ich. Erzählstruktur und Identität in Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza und Malina. Würzburg 1992.

Gürtler, Christa: "Der Fall Franza": Eine Reise durch eine Krankheit und ein Buch über ein Verbrechen. In: Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folgte. Hrsg.v. Hans Höller. Wien 1982, S.71-84.

Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1978.

Lennox, Sara: Geschlecht, Rasse und Geschichte in "Der Fall Franza". In: Text und Kritik (1984) Sonderband: Ingeborg Bachmann, S.156-179.

Opel, Adolf: "Der Fall Franza" - Wiederaufnahme eines Verfahrens. In: Literatur und Kritik 207/208 (1986), S.291-297.

Punte, Maria Luisa: Die Bedeutung des Weiblichen im Werk von Ingeborg Bachmann. In: Begegnung mit dem "Fremden" 10 (1991), S.275-281.

Rauch, Angelika: Die Über(be)setzung der Vergangenheit: Ingeborg Bachmanns Roman Der

[...]


[1] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.9.

[2] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.10.

[3] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.71.

[4] B.Brecht: Me Ti/Buch der Wendungen, S. 466.

[5] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.9.

[6] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.10.

[7] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.75.

[8] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.80.

[9] Vgl.Chr.Grtler: "Der Fall Franza" (1982), S.74.

[10] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.127f.

[11] P.Beicken: Ingeborg Bachmann (1988), S.191.

[12] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.81.

[13] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.81.

[14] K.Bartsch: Ingeborg Bachmann (1988), S.137.

[15] M.Horkheimer u. Th.Adorno: Dialektik der Aufklärung (1978), S.76.

[16] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.72.

[17] Chr.Gürtler: "Der Fall Franza" (1982), S.73.

[18] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.78.

[19] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.78.

[20] Chr.Gürtler: "Der Fall Franza" (1982), S.72.

[21] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.77.

[22] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.81.

[23] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.70.

[24] I.Bachmann: Der Fall Franza (1992), S.82.

[25] Chr.Gürtler: "Der Fall Franza" (1982), S.72.

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Die Ebenen des Verbrechens in Ingeborg Bachmanns "Der Fall Franza"
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
1993
Seiten
11
Katalognummer
V108893
ISBN (eBook)
9783640070848
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ebenen, Verbrechens, Ingeborg, Bachmanns, Fall, Franza
Arbeit zitieren
Christian Plätzer (Autor:in), 1993, Die Ebenen des Verbrechens in Ingeborg Bachmanns "Der Fall Franza", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108893

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