Rousseaus Hypothese über den Ursprung der Sprachen


Hausarbeit, 2004

11 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Die Bedeutung der Sprache bei Rousseau

2. Der Mensch im Naturzustand

3. Von der Zeichensprache zur Lautsprache

4. Entwicklung der Schrift

5. Unterschiede der Sprachen
5.1 Die südlichen Länder
5.1 Die nördlichen Länder

6. Pädagogische Konsequenzen

1. Die Bedeutung der Sprache bei Rousseau

Für die Anthropologie Jean Jacques Rousseaus spielt die menschliche Sprache eine bedeutende Rolle. In folgender Ausarbeitung soll deshalb die Frage nach dem Ursprung der Sprache auch als Frage nach dem Wesen des Menschen verstanden werden.

Ausgehend von der natürlichen Gutheit des Menschen diagnostiziert Rousseau beim modernen, zivilisierten Individuum eine stark unnatürliche Form der Selbstentfremdung. Auf der Suche nach den Gründen für diese Degeneration bedient sich Rousseau eines Gedankenexperimentes: Er entwirft das Bild des „Menschen im Naturzustand“. In seinem wohl wichtigsten anthropologischen Werk, dem sogenannten „zweiten Discours“, versucht Rousseau nun ausgehend von dieser natürlichen, vorgesellschaftlichen Form des Menschen jene Einflüsse zu rekonstruieren, die das Böse im Menschen hervorgebracht haben könnten. Die Entwicklung zum Gesellschaftsmenschen beginnt für Rousseau mit der Erfindung des Privateigentums und der daraus resultierenden Ungleichheit unter den Menschen. Als unvermeidbare Folgen davon schildert er die Erfindung der Arbeitsteilung, die Entstehung von Eitelkeit und Lüge, sowie die sich daraus ergebende Notwendigkeit von Staat und Gesetz.

Untrennbar damit verbunden sind auch Entstehung und Entwicklung der menschlichen Sprache, die diesen Selbstentfremdungsprozess symptomatisch begleiten.

In seinem „ Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird “ aus dem Buch „ Musik und Sprache “ beschreibt Rousseau detailliert, wie er sich die Entwicklung der menschlichen Sprache aus unterschiedlichen frühkulturellen Motivationen heraus und in Abhängigkeit von geographischen Gegebenheiten vorstellt. Parallel dazu sieht Rousseau die Entwicklung der Musik, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll.

„Das Wort unterscheidet den Menschen von den Tieren.“[1]

„Die auf Übereinkünfte gegründete Sprache ist nur dem Menschen eigen."[2]

Mit diesen Kernthesen stellt der Text gleich zu Beginn die Sprache als charakteristisches Merkmal des Menschen in den Mittelpunkt der anthropologischen Betrachtung. Nach dieser Auffassung definieren sich „Sprache“ und „Mensch“ gegenseitig, da die Sprache nicht ohne den Menschen existieren kann, aber der Mensch erst durch die Sprache zu dem wird, was er ist. Auf die gleiche untrennbare Weise sieht Rousseau die Entwicklung des Menschen mit der Entwicklung der Sprache verknüpft. Aus diesem Grund ist die folgende kurze Abhandlung über die Entstehung der Sprache gleichzeitig auch ein Text über die Entwicklung des Menschen, so wie Jean Jacques Rousseau sie sich vorgestellt hat.

2. Der Mensch im Naturzustand

„Wir wollen also zuerst alle Tatsachen beiseite lassen, denn sie berühren die Frage überhaupt nicht.“[3]

Der „Mensch im Naturzustand“ ist ein reines Gedankenkonstrukt Rousseaus. Um seine Texte richtig zu verstehen, ist es entscheidend zu wissen, dass seine Methode nicht die der Empirie sondern die der Hypothese ist. Um zu den Ursprüngen der Menschheit gedanklichen Zugang zu finden, geht Rousseau zuerst einmal von dem aus, was er kennt und direkt beobachten kann: Den Menschen seiner Zeit. Ausgehend vom modernen Menschen subtrahiert Rousseau nun einfach in Gedanken all jene Aspekte, die nur durch den Einfluss der Gesellschaft entstanden sind. Das, was hierbei übrig bleibt, nennt Rousseau den „Mensch im Naturzustand“. Das dieser Naturmensch in der Realität so niemals existiert hat, spielt keine Rolle für die Aussagen Rousseaus.

Da der Naturmensch unter der Prämisse der Weglassung von Gesellschaft erdacht ist, wundert es nicht, das er von Rousseau als Einzelgänger beschrieben wird, er lebte also nicht in Gemeinschaft sondern in Isolation.

„Die Zeiten der Barbarei waren das goldene Zeitalter nicht, weil die Menschen vereint, sondern weil sie voneinander getrennt lebten.“[4]

Die einzige Form des Zusammenlebens stellte die „Familie“ dar, was jedoch nicht im Sinne der heutigen sozialen Institution zu missverstehen ist. Man musste sich lediglich zum Zwecke der Fortpflanzung zusammenfinden: „ Es gab Ehen, aber keine Liebe[5]. Das Privateigentum war noch nicht erfunden, es herrschte also Besitzlosigkeit unter den Menschen: Niemand besaß oder begehrte etwas, das außerhalb seines unmittelbaren Einflussbereiches erreichbar gewesen wäre. Ungleichheit existierte nur in Form von „natürlicher Ungleichheit“, also durch physiologische Gegebenheiten wie etwa Veranlagung oder den Gesundheitszustand. Das einzige Gesetz, dem der Mensch zu gehorchen hatte, war das Gesetz der Natur, diesem jedoch war er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Zur Verständigung untereinander verfügte der Naturmensch lediglich über Gesten und unartikulierte Laute und hob sich dadurch nicht wesentlich von der Kommunikation der Tiere ab. Rousseau nimmt an, dass diese Naturmenschen, wenn sie denn aufeinander stießen, zu Kämpfen und zu Gewalttätigkeit neigten.

„Allgemein herrschte Kriegszustand, aber die ganze Welt lag in Frieden.“[6]

Ohne Gesellschaft und die mit ihr verbundenen Vorstellungen von Moral und Normen ist eine Unterscheidung von gut, böse, richtig oder falsch nicht möglich. Einzig der Selbsterhaltungstrieb und das natürliche Mitleid für andere Lebewesen der eigenen Art sind dem Menschen bereits im Naturzustand gegeben.

Der so von Rousseau erdachte und definierte Naturzustand des Menschen liefert also den Ausgangspunkt für all seine anthropologischen Überlegungen. Auch seine Hypothese über den Ursprung der Sprachen stützt sich auf diese Grundlage.

3. Von der Zeichensprache zur Lautsprache

Rousseau unterscheidet zwei grundsätzliche Arten der zwischenmenschlichen Kommunikation, nämlich durch die Bewegung und durch die Stimme. Die Möglichkeiten der Bewegung umfassen vor allem Berührungen, Gestik und Mimik. Diese einfache Form der lautlosen Kommunikation ergibt sich für Rousseau notwendigerweise aus den Bedürfnissen der Menschen und reicht auch aus, um diese zu befriedigen. Selbst unter widrigen Umständen sind Menschen fähig eine Form der sprachlosen Kommunikation zu finden, die im Normalfall ohne Weiteres das Zusammenleben und Überleben sichern kann. Tatsächlich bescheinigt Rousseau der Zeichensprache sogar große Vorteile gegenüber der Lautsprache. Durch zahlreiche klassischen Beispiele[7] untermauert er die These, dass große Gesten viel ausdrucksstärker und unmissverständlicher sein können als Worte.

„Dies ließ mich darüber nachdenken, dass, wenn wir nur physische Bedürfnisse kennten, wir eigentlich niemals hätten zu sprechen brauchen [...]. Wir hätten Gesellschaften gründen können, die sich wenig von denen unterschieden, die wir heute haben und die ihren Zweck sogar besser erfüllt hätten.“[8]

Die Motivation für die Entwicklung der stimmlichen Kommunikation (Lautsprache) muss demzufolge eine andere sein. Physische Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder Überlebensdrang kommen für Rousseau als solche nicht in Frage. Alle hieraus entstehenden Probleme lassen sich genauso, wenn nicht sogar besser, auch durch Gesten und Zeichensprache ausdrücken und lösen. Rousseau sieht in den physischen Bedürfnissen eher einen Effekt, der Menschen auseinander treibt. Es erscheint ihm widersinnig, dass Ursachen, die Menschen entzweien, ein gemeinschaftliches Phänomen wie die Sprache begründen könnten.

„Man muss annehmen, dass Bedürfnisse die ersten Gesten diktierten und dass Leidenschaften die ersten Laute hervorriefen“[9]

Viel naheliegender scheint Rousseau, dass der Ursprung der Lautsprache in den Leidenschaften und moralischen Bedürfnissen liegt. Liebe und Mitleid führen Menschen zusammen. Selbst Hass und Zorn können Menschen zu Gruppen vereinen. Die durch Leidenschaften zusammengeführten Menschen haben Kommunikationsbedürfnisse, die über das rein Lebensnotwendige und Pragmatische hinausgehen. In diesem Kontext sieht Rousseau den Ursprung der menschlichen Lautsprache und parallel dazu auch die Entstehung der Musik. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich bereits eine wichtige Eigenschaft der ersten Lautsprache: Sie muss in ihrer Charakteristik viel mehr durch Emotionalität als durch Rationalität und Logik geprägt sein:

„Diese Sprachen haben nichts von Methode und Überlegung; sie sind lebendig und bildhaft. Man möchte uns die Sprache der ersten Menschen als eine Sprache von Mathematikern hinstellen, wir aber sehen, dass es eine Sprache von Dichtern war.“[10]

Selbstverständlich entwickelte sich ein so komplexes Gebilde wie die menschliche Sprache nur über einen langen Zeitraum hinweg. Die ersten Wörter dürften wohl unartikulierte Laute wie Schreie, Klagen und Seufzer gewesen sein. Im Laufe der Zeit wurden die Ausdrucksmöglichkeiten jedoch differenzierter. Die begrenzte Anzahl von Lauten wurde ergänzt durch Töne und Akzente, die eine große Zahl neuer Kombinationsmöglichkeiten boten. Aus Konsonanten und Vokalen bildeten sich Silben, die wie Bausteine zu den ersten artikulierten Wörtern zusammengesetzt wurden. Die Sprache war zu diesem Zeitpunkt lautmalerisch und melodiös, ihre Semantik von einem stark metaphorischen Charakter geprägt. Letzteres folgert Rousseau aus ihrem Ursprung in den Gesten oder Lauten, die ebenfalls abstrakte Bedeutung gehabt haben müssen. In der weiteren Entwicklung der Sprache muss sich ein Vokabular mit auffallend vielen Synonymen ausgebildet haben. Es ist anzunehmen, dass für die gleichen Dinge unterschiedliche Substantive existiert haben, die je nach ihrem Kontext verschieden verwendet wurden. Als Beleg für dieses Phänomen bedient sich Rousseau eines Beispiels aus einer noch existierenden Sprache:

„Es heißt, dass die Araber mehr als tausend verschiedene Wörter für ‚Kamel’ und über hundert für ‚Schwert’ haben etc.“[11]

Allgemein musste dieser Sprache ihr Ursprung in den Leidenschaften auch durch mangelnde Logik und Sachlichkeit deutlich anzumerken gewesen sein:

„Es gäbe da viele Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten, und grammatische Analogien wären dem Wohllaut, der Aufeinanderfolge, der Harmonie und der Schönheit der Klänge zuliebe vernachlässigt.“[12]

Erst später bildete sich ein einheitlicheres Vokabular heraus, mit dem sich durch verschiedene Satzbausteine Sachverhalte einfach und genau ausdrücken ließen. Einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Sprache hat hierbei zweifellos die Erfindung der Schrift geleistet.

4. Entwicklung der Schrift

„Die Schrift, die eigentlich die Sprache festhalten müsste ist genau diejenige, die sie verändert [...].“[13]

Im Gegensatz zum leidenschaftlichen Ursprung der Lautsprache hatte die Entstehung der Schrift wohl sehr praktische Gründe: Es ging darum Sprache festzuhalten und Inhalte zu konservieren. Dieser gänzlich unterschiedliche Ansatz bedingt auch den speziellen Charakter der Schriftsprache. Sie ist im Vergleich zur gesprochenen Sprache grundsätzlich sachlicher und exakter. Die Entstehung von Schrift setzt einen Plan voraus und beruht auf Normierung und Logik. Dieser neue Umgang mit Sprache hatte jedoch auch enorme Rückwirkungen auf die gesprochene Sprache:

„Sie ersetzt Gefühle durch Gedanken und spricht nicht mehr zum Herzen, sondern zum Verstand. Dadurch verwischen sich die Akzente, während die Artikulationen wichtiger und allgemein die Sprache genauer und klarer wird, aber auch schleppender, stumpfer, kälter.“[14]

Rousseau unterscheidet drei Stufen der Schriftentwicklung. Bei der ältesten davon werden nicht die Sprachlaute aufgeschrieben sondern die Gegenstände selbst symbolhaft dargestellt. Eine solche Bildschrift wären beispielsweise die altägyptischen Hieroglyphen. Das zweite Stadium der Entwicklung wäre eine Zeichenschrift, bei der ein vereinbartes Symbol für ein bestimmtes Wort oder einen Satz steht, wie es z.B. bei chinesischen Schriftzeichen der Fall ist. Die modernste Form der Niederschrift wäre unsere Alphabetschrift, bei der sich die Texte aus einer begrenzte Anzahl von Elementen, welche für einzelne Laute stehen, zusammensetzen.

Mit diesen drei Abstraktionsstufen assoziiert Rousseau auch drei Entwicklungsstadien des Menschen: „Wilde Völker“ (Jäger) benutzen die Bildschrift, „Barbaren“ (Hirten) die Zeichenschrift und die „zivilisierten Völker“ (Bauern) verwenden ein Alphabet.

Diese Einstufung Rousseaus, die schließlich unter anderem alle Chinesen auf Grund ihrer Schrift als Barbaren bezeichnet, würde heute wohl nur noch wenige Anhänger finden können.

5. Unterschiede der Sprachen

„Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal [...] hängt mit der Klimazone zusammen[...].“[15]

Um die Unterschiede in Charakter und Ursprung der verschiedenen Sprachen zu erklären, differenziert Rousseau die bisherige Darstellung, indem er zwei unterschiedliche Ansätze der Sprachentwicklung unterscheidet. In Abhängigkeit der unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse vermutet er in den nördlichen und den südlichen Ländern unterschiedliche Zeitpunkte und Gründe für die Entwicklung der Lautsprache.

5.1 Die südlichen Länder

„Im milden Klima [...] haben die Menschen zuerst gewohnt aber eben dort haben sie erst zuletzt sich zu Völkern zusammengefunden“[16]

In den südlichen Ländern mit ihrem warmen Klima bestand lange Zeit keine Notwendigkeit größere Gruppen als die der Familie zu bilden. Die üppige Vegetation bot eine ausreichende Überlebensgrundlage für alle Menschen und es bestand keine Veranlassung das isolierte Hirtenleben aufzugeben. Irgendwann haben sich jedoch auch hier die Menschen zu Gemeinschaften zusammengeschlossen. Vermutlich geschah dies zuerst an Begegnungsstätten wie Lagerfeuern oder - vor allem in trockeneren Gebieten - an den Brunnen und Wasserstellen. Diese Orte muss man wohl als die ersten sozialen und kulturellen Institutionen betrachten. An solchen Stellen in den südlichen Ländern vermutet Rousseau nicht nur die Wiege der Zivilisation sondern auch die der Lautsprache. Seine Vorstellung von der Entstehung der Sprache wie sie sich beispielsweise an einem Brunnen abgespielt haben könnte, beschreibt Rousseau in folgender Anekdote:

„Die jungen Mädchen kamen, um Wasser für den Haushalt zu holen, die jungen Männer, um ihre Herden zu tränken. Dort begannen die Augen, die von Kindheit an immer die gleichen Gegenstände zu sehen gewohnt waren, reizendere Dinge zu erblicken. Das Herz neigte sich ihnen zu, ein bislang unbekannter Zauber sänftigte seine Wildheit, und es empfand Freude daran, nicht allein zu sein. Das Wasser wurde allmählich immer wichtiger, das Vieh hatte öfter Durst; man kam eilig zum Brunnen und verließ ihn mit Bedauern. In dieser glücklichen Zeit, da die Stunden nicht eingeteilt waren, gab es keinen Zwang, sie zu zählen. Die Zeit hatte kein anderes Maß als das der Belustigung und der Langeweile. Unter alten Eichen, die die Jahre hatten kommen und gehen sehen, vergaß eine feurige Jugend allmählich ihre frühere Wildheit. Nach und nach zähmte man sich gegenseitig. Kraft des Bemühens, sich verständlich zu machen, lernte man sich auszudrücken. Nun fanden auch die ersten Feste statt, die Füße sprangen vor Freude, die ausdrucksvolle Geste reichte nicht mehr aus, die Stimme begleitete sie mit leidenschaftlichen Ausbrüchen. Freude und Begehren, miteinander vermischt, wurden nun zugleich empfunden. Dort also stand die wirkliche Wiege der Völker, aus dem reinen Kristall der Brunnen stiegen die ersten Feuer der Liebe“[17]

5.2 Die nördlichen Länder

„In den kalten Ländern, wo die Natur geizt, entstehen die Leidenschaften aus den Bedürfnissen, und die Sprachen, traurige Töchter der Notwendigkeit, lassen die Folgen ihres harten Ursprungs verspüren.“[18]

Die Entwicklung der Lautsprache in den nördlichen Ländern vermutet Rousseau zu einem späteren Zeitpunkt und aus Gründen, die sich von der bisherigen Darstellung deutlich unterscheiden. Durch die unwirtlichen klimatischen Verhältnisse hatten die dort lebenden Menschen ein viel härteres Leben. Nur wer robust war, kam dort zurecht. Um sich zu ernähren war harte Arbeit nötig und die Menschen waren die meiste Zeit damit beschäftigt das eigene Überleben zu sichern. Es blieb kaum Platz für Leidenschaft oder Kultur, die dadurch als möglicher Ursprung der Sprache entfallen. Daraus ergibt sich für Rousseau auch die Folgerung, dass die Sprachentwicklung hier verzögert stattgefunden haben muss. Der Zusammenschluss zu Gruppen geschah in den nördlichen Ländern zwar schon früher als im Süden, jedoch nicht freiwillig sondern vielmehr aus der Not heraus. Die Menschen waren aufeinander angewiesen und nur in der Gemeinschaft überlebensfähig. Dass sich auch dort irgendwann die Lautsprache entwickeln konnte, sieht Rousseau als Folge der Produktionsformen. Die zum Überleben notwendige Gruppe musste sich organisieren und die Arbeitsteilung einführen. Die immer komplexer werdende gesellschaftliche Struktur machte schließlich eine Kommunikation nötig, die über die Möglichkeiten der Zeichensprache hinausging.

Rousseau meint, dass sich durch den unterschiedlichen Ursprung der nördlichen und der südlichen Sprachen auch ein grundsätzlich anderer Charakter der Sprachen ergeben haben muss.

„Die Sprachen den Südens mussten lebhaft, klangvoll, stark akzentuiert, weitschweifig und oft unverständlich sein wegen zu großer Ausdruckskraft; die des Nordens mussten stumpf, rau, stärker artikuliert, schreiend, monoton sein[...]“[19]

Selbst heute könne man noch diesen Unterschied am Klang der verschiedenen Sprachen nur durch das Zuhören feststellen. Südliche Sprachen klängen grundsätzlich leidenschaftlicher, während die nördlichen Sprachen stets sachlich und nüchtern wirkten.

6. Pädagogische Konsequenzen

Wie bereits zu Anfang erwähnt, schildert Rousseau die Entwicklung der Sprache als symptomatische Begleiterscheinung der Entwicklung des Menschen. Auf den ersten Blick kann man bei der Lektüre von Rousseaus Schriften oft den Eindruck gewinnen, dass er diese Entwicklungen negativ bewertet und dem sogenannten Fortschritt grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. In der Tat sind Rousseaus Schilderung vom „goldenen Zeitalter der Hirten und Schäfer“ stets ausgesprochen romantisch und schwärmerisch ausgeschmückt, während alle fortschrittlichen Veränderungen als für den Menschen verderblich dargestellt werden. In der vorgesellschaftlichen Form war der Mensch demnach noch mit sich selbst identisch, während der moderne Mensch stets innerlich gespalten ist. Der wesentliche Wiederspruch besteht für Rousseau hierbei in dem Konflikt aus persönlichem und politischem Willen.

Trotzdem wäre es falsch, zu vermuten, Rousseaus Ziel sei einfach die Rückkehr zu dieser Naturform. Schon alleine die Tatsache, dass er selbst im Zeitalter der Aufklärung gelebt und sich auch durch Beiträge zur Enzyklopädie aktiv für die Bildung seiner Mitmenschen engagiert hat, zeigt dass ein solches rückwärts gerichtetes Denken nicht sein Anliegen gewesen sein kann. Schließlich benutzt Rousseau selbst Sprache und Schrift für seine Zwecke. Wie lässt sich dieser Wiederspruch erklären und worauf will Rousseau mit seinen Ausführungen letztendlich hinaus?

Diese und ähnliche Paradoxien durchziehen Rousseaus Werke wie auch seine Biographie in charakteristischer Weise und führen dazu, dass er häufig falsch oder gar nicht verstanden wird. Letztendlich beschreibt Rousseau jedoch nur ein Phänomen, was wir heute als die „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnen. Jede neue Errungenschaft der Menschheit birgt sowohl einen Fortschritt als auch eine Degeneration in sich, jedes Wissen auch ein Problem. Auf diese Weise muss auch Rousseaus Begriff der „perfectibilité“ verstanden werden: Die Übersetzung mit „Vervollkommnungsfähigkeit“ gibt den dahinter stehenden dialektischen Gedanken nur unzureichend wieder, denn jede Vervollkommnung beinhaltet gezwungenermaßen auch gleichzeitig einen Verlust. Gerade für die Pädagogik ist dieser Gedanke von zentraler Bedeutung. Der Erzieher muss sich im Klaren sein, dass alles, was er dem Zögling vermittelt eine positive als auch eine negative Möglichkeit zur Folge haben kann. So gesehen kann Erziehung auch niemals „gelingen“, trotzdem muss sie natürlich immer wieder in bestmöglicher Absicht und Form versucht werden.

Am hier besprochenen Beispiel der Sprache lässt sich dieser Gedanke Rousseaus hervorragend darstellen: Wer einem Kind das Sprechen beibringt ermöglicht ihm dadurch mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren. Der sprechende Mensch kann seine Fähigkeit nutzen um Gedichte und Bücher zu verfassen, um Trost zu spenden oder Andere zu Unterrichten. Gleichzeitig bietet die Sprache aber auch die Möglichkeit zu lügen, zu verletzen und zu verderben. Nur wer sich über diese möglichen Konsequenzen bewusst ist, kann als Pädagoge mit Weitblick gelten und auch als solcher handeln.

Quellenverzeichnis

- Rousseau, Jean Jacques: Zweite Preisschrift, in: Röhrs, Herrmann (Hrsg.): Preisschriften und Erziehungsplan. 4. Auflage, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 1993
- Rousseau, Jean Jacques: Musik und Sprache. 2. Auflage, Wilhelmshaven: Noetzel, 2002

[...]


[1] Musik und Sprache, S.99

[2] ebd., S.104

[3] Zweite Preisschrift, S.63

[4] Musik und Sprache, S.122

[5] ebd., S.133

[6] ebd., S.122

[7] vgl. Musik und Sprache, S.101

[8] Musik und Sprache, S.102

[9] ebd., S. 104

[10] ebd., S.104

[11] ebd., S.107

[12] ebd., S.108

[13] ebd., S.113

[14] ebd., S.108

[15] ebd., S.119

[16] ebd., S.127

[17] ebd., S.133

[18] ebd., S.135

[19] ebd., S.136

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Rousseaus Hypothese über den Ursprung der Sprachen
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Autor
Jahr
2004
Seiten
11
Katalognummer
V108892
ISBN (eBook)
9783640070831
Dateigröße
511 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rousseaus, Hypothese, Ursprung, Sprachen
Arbeit zitieren
Andi Huber (Autor:in), 2004, Rousseaus Hypothese über den Ursprung der Sprachen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108892

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