Metafiktion und Intertextualität in Calvinos se una notte d'inverno un viaggiatore


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

27 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Definitionen
II.1 Definition der Metafiktion
II.2 Definition der Intertextualität

III Der Roman
III.1 Struktur und Inhalt des Romans
III.1.1 Die Rahmenhandlung
III.1.2 Die Romaneinschübe
III.2 Fiktionsebenen des Textes
III.2.1 Verhältnis von realem Leser zu dem im Roman angesprochenen Lettore
III.2.2 Fiktionsebenen von Rahmenhandlung und Romanfragmenten
III.2.3 Verhältnis vom Autor zu den Erzählern, Präsenz von Leser und Lettore
III.3 Die „mise en abyme“
III.4 Das achte Kapitel als Verweis auf den Autor?
III.5 Literarische Vorlagen für “Se una notte d'inverno un viaggiatore “

IV Schluss

V Literaturverzeichnis

I Einleitung

Die Vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich, wie bereits im Titel angedeutet, mit der Metafiktionalität und der Intertextualität in Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore. Dieses 1979 erschienene Spätwerk Calvinos nimmt durch seine spezielle Form eine Sonderstellung in der Literatur Calvinos ein und kann durchaus als Weiterentwicklung des traditionellen Romanschemas angesehen werden. Im ersten Teil der Hausarbeit werde ich dabei zunächst die Begriffe “Metafiktionalität” und “Intertextualität” etwas näher erläutern und im zweiten Teil dann auf den Roman selbst eingehen. Hierbei werden vor allem Struktur und Inhalt des Romans eine große Rolle spielen, da der Aufbau aus 12 Kapiteln mit zehn eingeschobenen Romanfragmenten viel Raum für Analysen und Interpretationen bietet. Die verschiedenen Fiktionsebenen des Textes werden auf ihre inhaltlichen sowie formellen Beziehungen zueinander, und später auch auf ihre Beziehung zur Weltliteratur allgemein untersucht werden. In diesem Zusammenhang spielt das Stilmittel der sogenannten “mise en abyme” eine große Rolle, das ebenfalls zunächst erläutert und dann auf den Roman angewendet wird. Zum Schluss werde ich noch versuchen, etwaige Autoren, Strömungen oder Werke auszumachen, die Calvino ganz bewusst als Vorbilder benutzt, bzw. die ihn für sein Werk inspiriert haben könnten.

Hierbei muss noch angemerkt werden, dass im folgenden diejenige Person , die das Werk Calvinos tatsächlich in Händen hält von mir als “Leser” bezeichnet wird, und es sich beim “Lettore” hingegen um die Hauptperson eben jenes Werkes handelt.

II Definitionen

II.1 Definition der Metafiktion

Der Begriff der Metafiktion stammt aus dem amerikanischen, wo er Ende der 60er Jahre in der sogenannten „Postmodernen Literatur“ eine große Rolle spielte. Erstmals erwähnt wurde er wohl von dem amerikanischen Literaturkritiker William Gass.[1]

Allgemein versteht man unter Metafiktion „Fiktion über Fiktion“, das heißt, einen literarisch fiktiven Text, der sich selbst reflektiert und auf sich selbst bezieht. Um dies zu erreichen gibt es verschiedene Techniken, die häufig darauf zielen, die Literatur und ihren Schaffungsprozess zum Thema zu machen. Oft tritt auch der Autor in Erscheinung und zeigt, dass ihm bewusst ist, dass er gerade ein fiktives Werk verfasst, mit dem er sich dann durchaus auch explizit auseinandersetzt. Er macht sein eigenes Schreiben zum Thema der Fiktion und setzt sich bewusst mit seinem Werk oder auch einem anderen Werk, bis hin zu einer ganzen literarischen Gattung auseinander.

Es gibt also immer mindestens zwei Ebenen in jedem metafiktionalen Roman: die Ebene der Rahmenhandlung, das heißt der erzählten Geschichte, und die Meta-Ebene auf der die Reflexion stattfindet.

„In other words, the lowest common denominatin of metaficiton is to create a fiction ant to make a statement about te creation of the fiction. The two processes are held together in a formal tension which breaks down the distinctions between “creation” and “criticism” and merges them into the concepts of “interpretation” and “deconstruction”.”[2]

Teilweise kann die Metafiktionalität sogar so weit gehen, dass sich die fiktiven Figuren selbst Gedanken über ihre Metafiktionalität machen, bzw. gegen den Autor aufbegehren, und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.

Eine besondere Rolle kommt hier auch dem Leser zu, der nicht nur passiv das Werk konsumieren soll, sondern dazu aufgefordert wird, sich seiner Rolle bewusst zu werden, und eventuell sogar aktiv am Geschehen der Fiktion teilhaben kann.

II.2 Definition der Intertextualität

Der Begriff der Intertextualität ist jüngeren Datums, er wurde erst in den späten 60er Jahren von Julia Kristeva geprägt und befasste sich damals allgemein gesagt, mit dem Bezug von Texten auf andere Texte. Unter diesem Oberbegriff wurden also Zitat, Anspielung, Übersetzung, Parodie, Quelle, Einfluss, Imitation..zusammengefasst. Heutzutage gibt es jedoch viele verschiedene Theorien zur Intertextualität und je nach Ansatzpunkt kann Intertextualität eine Eigenschaft von Texten allgemein oder als spezifische Besonderheit bestimmter Texte oder Textklassen gelten.

Zum einen gibt es die sehr weitgefasste Theorie, dass jeder Text der geschrieben wird in irgendeiner Form eine Reaktion auf etwas bereits verfasstes ist, das sich ebenfalls auf etwas bereits bestehendes bezieht u.s.w.. Pfister bezeichnet dies als „regresus ad infinitum“[3], und auch Roland Barthes spricht von einer „chambre d’échos“[4] da jeder Text mit einem anderen zumindest die Syntax, die Wörter oder die Strukturelemente teilt.

Die andere, etwas enger gefasste Theorie, stammt von Gérard Genette[5], der das Phänomen der Transtextualität in 5 Unterkategorie einteilt von denen eine die Intertextualität ist:

- Intertextualität als Kopräsenz zweier Texte (Zitat, Anspielung, Plagiat...)
- Paratextualität als Bezug zwischen Werk und Titel, Vorwort, Nachwort...
- Metatextualität als kommentierten und kritischen Verweis auf einen Prätext
- Hypertextualität (Imitation, Adaptation, Fortsetzung...)
- Architextualität als Gattungsbezüge eines Textes

Bei ihm bleibt die Intertextualität also streng auf Bezüge zwischen rein literarischen Texten beschränkt.

Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist die Intendiertheit der Intertextualität. Hierbei muss untersucht werden, inwieweit ein Autor einen Prätext gekannt und sich auch intentional auf ihn bezogen hat, bzw. ob er davon ausgehen kann, dass sein Leser in der Lage ist, die von ihm intendierte Intertextualität zu erkennen.

Man unterscheidet also zwischen zufälligen, oft unbewussten Reminiszenzen des Autors, die zwar im Text vorhanden sind, dessen Erkennen dem Text jedoch keine zusätzliche Bedeutung verleiht, und der eigentlichen intertextuellen Anspielung, die vom Autor intendiert ist und vom Leser erkannt werden muss.

Diese „Intensität“ der Intertextualität wird von Pfister in sechst Stufen klassifiziert:[6]

1)Referentialität gibt an, inwieweit der Zitatcharakter hervorgehoben wird
2)Kommunikativität bedeutet den Grad der Bewusstheit der Intertextualität bei Autor und Rezipient
3)Autoreflexivität bezieht sich darauf, dass der Autor in seinem Werk bewusst über seine Intertextualität reflektiert, das heißt, sie zum Thema macht
4)Strukturalität bezieht sich auf die syntagmatische Integration des Prätextes in den Text
5)Selektivität bezieht sich auf das Abstraktionsniveau des Verweises auf den Prätext
6)Dialogizität schließlich bezieht sich auf die semantische und ideologische Spannung in der Prätext und Werk zueinander stehen.

Des weiteren spielen noch Häufigkeit der intertextuellen Verweise, sowie die Anzahl der benützten Vorlagen eine große Rolle.

III Der Roman

III.1 Struktur und Inhalt des Romans

III.1.1 Die Rahmenhandlung

Formal besteht der Roman „Se una notte d’inverno un viaggiatore“ aus einer Rahmenhandlung, die sich in 12 Kapiteln abspielt, sowie zehn eingeschobenen Romanfragmenten (besser: Romananfängen), die in regelmäßigem Wechsel aufeinander folgen. Mit Ausnahme des elften und zwölften Kapitels folgt auf jedes Kapitel der Rahmenhandlung ein eingeschobenes Romanfragment.

Diese strukturelle Form entspricht rein äußerlich dem traditionellen Schema eines Romans und könnte so auf klassische Vorgänger wie Tausendundeinenacht oder Bocaccios Decameron verweisen. Da bei Calvino der Zweck der Rahmenhandlung jedoch nicht das Verbinden unterschiedlicher Elemente ist, sondern vielmehr dazu führt, die Uneinheitlichkeit und Komplexität der Handlungsstränge zu verdeutlichen kann hier eindeutig von einer neuen, modernen Form des Romans ausgegangen werden.[7]

Inhalt der Rahmenhandlung ist die Suche des Lettore nach seiner Lektüre, die versuchte Annäherung des Lettore an die Lettrice Ludmilla und schließlich die Hochzeit zwischen Lettore und Lettrice.

III.1.2 Die Romaneinschübe

Bei den zehn Romanfragmenten handelt es sich um in die Rahmenhandlung eingebettete Romananfänge, die der Protagonist der Rahmenhandlung zu lesen beginnt, und die er alle aufgrund verschiedener Umstände nicht zu ende lesen kann.

Jedes dieser Romanfragmente trägt einen Titel, und ist mit dem zuvor begonnenen Roman dadurch verbunden, dass der Lettore sich die Fortsetzung eben desselbigen erwartet und dass die Lettrice sogar explizit einen neuen Typus von Roman fordert.(Darauf werde ich später erneut zurückkommen). Der Titel der Rahmenhandlung ist identisch mit dem Titel des ersten Romanfragments und alle Titel hintereinandergelesen ergeben am Schluss einen einzigen Satz. Bei den zehn Fragmenten handelt es sich laut Calvino[8] um

- einen Roman des Nebels
- einen Roman der körperlichen Erfahrung
- einen symbolisch interpretativen Roman
- einen politisch existentiellen Roman
- einen zynisch brutalen Roman
- einen Roman von Angst und Beklemmung
- einen logisch geometrischen Roman
- einen pervers erotischen Roman
- einen terrestrisch ursprünglichen Roman
- und schließlich einen apokalyptischen Roman

Nicht nur die Romangenres sind sehr verschiedenartig, sondern auch die Handlungsschauplätze weisen eine kaum zu überbietende Varietät auf. So gibt es eine in Nordeuropa angesiedelte Familiengeschichte (Fuori dell’abitato di Malbork), einen in Tagebuchform verfassten Roman aus der Zeit der Jahrhundertwende in Osteuropa (Sporgendosi dalla costa scoscesa), einen Roman aus dem revolutionären Russland (senza temere il vento e la vertigine), einen im Pariser Gangstermilieu angesiedelten Krimi, der auch der erste Roman mit realen Handlungsschauplätzen ist (guarda in basso dove l’ombra s’addensa), einen amerikanischen Collegeroman (in una rete di linee che s’allacciano), einen japanischen Erotikroman ( sul tappeto di foglie illuminato dalla luna), einen zeitlosen in Südamerika angesiedelten Roman ( intorno a una fossa vuota), und schließlich erneut einen in Osteuropa angesiedelten Roman (quale storia laggiù attende la fine).

Calvino selbst sagt, dass er diese Romantypen ausgewählt habe, weil sie diejenigen seien die ihn selbst am meisten ansprächen, und es ihm am meisten Spaß gemacht habe, sie zu schreiben. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollte vielmehr etwas neues schaffen, Romane schreiben, wie er es bisher noch nicht gemacht hatte:

„Ho scelto quei dieci tipi di romanzo perché mi pareva avessero più significato per me, perché mi divertivano più a scriverli.(…)Diciamo che nel mio libro il possibile non è il possibile in assoluto, ma il possibile per me. (…) Dovevano essere dei possibili al margine di quel che sono e faccio.”[9]

Die einzige Gemeinsamkeit der zehn Romanfragmente liegt darin , dass es sich bei dem Protagonisten jedes Mal um „ eine männliche Person, die in der ersten Person Singular erzählt, und die sich in der Situation wiederfindet, dass sie eine Rolle annehmen muss, die nicht der ihrigen entspricht, eine Situation, in der die von einer weiblichen Person ausgeübte Anziehungskraft und das Drohen einer dunklen Bedrohung durch eine Gruppe von Feinden ihn in eine auswegslose Situation bringen“[10] handelt. Außerdem brechen sämtliche Romanfragmente jeweils kurz nach dem Höhepunkt ab.

III.2 Fiktionsebenen des Textes

III.2.1 Verhältnis von realem Leser zu dem im Roman angesprochenen Lettore

Zunächst beginnt der Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore des Autors Italo Calvino wie ein ganz gewöhnlicher traditioneller Roman. Die einzige Besonderheit scheint, dass der Autor sich ganz gezielt an den Leser wendet. Er spricht ihn mit „tu“ persönlich an, und zunächst entsteht der Eindruck, als sei der im Buch angesprochene Leser identisch mit dem realen Leser der das Buch von Calvino in Händen hält. Beide wollen das neue Buch von Calvino lesen und der Autor Calvino schreibt in seinem Romanbeginn: „Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino”[11]. Dieser Satz trifft auf beide Leser zu: den Leser, der das Buch wirklich in Händen hält und den im Roman angesprochenen Lettore. Obwohl der Lettore im Roman keinen Namen hat und bewusst allgemein gehalten wird, so dass sich jeder Leser mit ihm identifizieren kann, wird er doch im Folgenden immer mehr eingegrenzt. Ihm werden verschiedene Lesepositionen angeboten, die sich teilweise widersprechen und so die Menge der möglichen Leser die sich mit dem Lettore identifizieren können immer mehr einschränkt. Calvino in seiner Rolle als Erzähler ist es auch egal, wer der Leser wirklich ist. Er spricht ihn konstant mit „tu“ an , meint aber auch: „Chi tu sia, Lettore, quale sia la tua età, lo stato civile, la professione...“[12] was also von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der Identität des Lettore zeugt. Erst im zweiten Kapitel wird aus dem bedingt realen Leser ein fiktionaler Leser, der Lettore. Er tut etwas, was der Leser nicht mehr erleben, sondern nur noch lesen kann. Ihm werden Lektüreerlebnisse unterstellt, die der Leser nicht mehr haben kann. So hat dessen Roman zum Beispiel keinen Bindefehler und die Aussage „Hai gia letto una trentina di pagine“[13] stimmt nicht mehr mit der Realität überein. Vom Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore hat er erst 28 Seiten gelesen, bzw. vom gleichnamigen Romanfragment sogar erst 16 Seiten. Von nun an gibt es einen realen Leser und einen fiktionalen Lettore, die sich bis zum Schluss nicht mehr begegnen werden. Hierbei kann von einer „Fiktionalisierung des Lesers“[14] gesprochen werden. Erst im 12. Kapitel wird der Bogen zwischen Leser und Lettore wieder zurückgespannt als der Lettore sagt: „Un momento , sto per finire Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino.“[15] Hierbei muss es sich um das gleiche Buch handeln, das auch der Leser liest, weil der Schluss des gleichnamigen Romanfragments des Lettore ja nie gefunden worden ist und es sich bei dem Buch eigentlich auch um einen polnischen Roman gehandelt hat. Der Lettore beendet also zusammen mit dem Leser seine eigene Geschichte und liest sich selbst. Er erlebt Abenteuer, die in einer vermeintlichen Realität stattfinden, welche sich erst am Ende als eine Bücherwelt herausstellt. Ein Kunstgriff, der den Erzählvorgang im Roman transparent machen und in offenkundiger Symmetrieintention den im Anfangssatz angesprochenen realen Leser wieder ins Blickfeld rücken soll.[16] Hierauf werde ich aber später noch einmal zurückkommen.

III.2.2 Fiktionsebenen von Rahmenhandlung und Romanfragmenten

Laut Eversmann[17] gibt es in der literarischen Kommunikation immer einen Sender ( den Autor) und einen Empfänger (den Leser) die über eine Botschaft, den literarischen Text, in einem gemeinsamen Code (der Sprache) miteinander kommunizieren.

Im vorliegenden Fall unterscheidet sie vier Fiktionsebenen.

Die erste Fiktionsebene ist noch komplett textextern. Sie beschreibt das Verhältnis des realen Autors, in diesem Falle also Calvino, zum realen Leser. Die von ihm vermittelte Botschaft ist der Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore.

Die zweite Ebene ist für sie der implizierte Autor und der intendierte Leser, die auch noch beide außerhalb der Fiktion stehen. Das heißt, der Autor Calvino hat beim Schreiben einen potentiellen Leser vor Augen, der Leser wiederum hat beim Lesen des Romans eine bestimmte Vorstellung vom Autor des literarischen Werks. Der Begriff des sogenannten „implizierten Autors“ stammt von W.C. Booth[18] der davon ausgeht, dass jeder Autor beim schreiben eine „implizierte Version seiner selbst“ schafft, ein „alter ego“, der dann vom Leser als solcher wahrgenommen wird. Im Gegenzug hat auch der Autor eine konkrete Vorstellung seiner Leser, er schafft sich einen mentalen Kommunikationspartner, der jedoch nur in seltenen Fällen der Realität entsprechen wird. Auf den Stellenwert des „alter ego“ und das Vorhandensein eines implizierten Autors werde ich jedoch an anderer Stelle noch näher zu sprechen kommen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es auf der zweiten Ebene eigentlich drei Autoren gibt, den realen, den vom realen Autor geschaffenen „alter ego“ und den vom Leser wahrgenommenen Autor.

Die dritte Ebene schließlich findet bereits in der Fiktion statt. Hier kommuniziert ein Erzähler ( der diese Rolle vom realen Autor zugewiesen bekommen hat) mit einem fiktiven Leser, dem Lettore. Der Lettore ist ( bis auf den ersten und den letzten Satz) nicht mit dem realen Leser identisch und hat auch mit dem vom realen Autor intendierten Leser aus Ebene zwei nichts gemein.

Die vierte Ebene umfasst laut Eversmann die fiktionalen Gestalten selbst. Die fiktiven Autoren der Romanfragmente, die sich mit ihrer Nachricht an den Lettore, bzw. die anderen fiktiven Gestalten der Rahmenhandlung wenden.

III.2.3 Verhältnis vom Autor zu den Erzählern, Präsenz von Leser und Lettore

Jedes der zehn Romanfragmente hat einen fiktiven realen Autor und einen Erzähler. Anders als in der Rahmenhandlung, wo der Protagonist ein vom Autor mit „tu“ angesprochener Lettore ist, ist in den Romanfragmenten der Erzähler auch immer der Protagonist. In den ersten beiden Romanfragenten ist der Leser noch mitten im Geschehen. So wird er z.B. im Fragment Se una notte d'inverno un viaggiatore als konkreter Beobachter angesprochen “Tu lettore credevi che lì sotto la pensilina“[19] und auch im Fragment Fuori dell’abitato di Malbork wird explizit Kontakt mit dem Leser aufgenommen:“Comunque l’impressione che dà a te, Lettore è quella della competenza“[20].

In den folgenden Fragmenten drei bis zehn jedoch ist der Leser nur noch implizit vorhanden und wird nicht mehr konkret angesprochen. Der Erzähler kennt die Gedanken und Wahrnehmungen des Lettore („L’impressione che dà a te, Lettore è quella della competenza“[21] ) und der Protagonist lässt sich in seiner Handlung von den Erwartungen des Lettore beeinflussen: „Ma forse questo è solo adesso che lo penso, o sei solo tu Lettore che lo stai pensando, non io“.[22] Andererseits weiß der Protagonist aber auch, dass er nur eine Marionette seines Erzählers ist. Es handelt sich zwar um eine „ich-Erzählung“, das „ich“ erfüllt hier aber die gleiche Funktion wie das „tu“ in der Rahmenhandlung: scheinbare Autonomie wird durch den Autor ( in der Rahmenhandlung) bzw. den Erzähler ( in den Fragmenten) eingeschränkt, wie man zum Beispiel gut im Fragment Se una notte d'inverno un viaggiatore sehen kann: „Qualcosa mi dev’essere andata per storto: un disguido, un ritardo, una coincidenza perduta…..”.[23] Der Protagonist muss sich also wie der Leser und der Lettore auch mühsam in einer für ihn ungewohnten Situation zurechtfinden: „ Per leggere bene tu devi registrare tanto l’effetto brusio quanto l’effetto intenzione nascosta , che ancora non sei in grado ( e io neppure) di cogliere.“[24] Man sieht also, dass es sich hier zum einen wieder um eine direkte Einbindung des Lettore in ein Fragment handelt ( er wird direkt angesprochen) und zum anderen um eine Leseanweisung durch den Erzähler, der dadurch klarstellt, dass das “ich” des Protagonisten nicht mit dem Erzähler gleichzusetzen ist.

Andererseits kann man aber auch den gegenteiligen Fall beobachten. Zuweilen ist es der Protagonist, der dem Erzähler ein Stück voraus ist: „Non è chiaro se lo dico veramente o se vorrei dirlo o se l’autore interpreta così le mezze frasi che io sto borbottando.“[25] An dieser Stelle scheint es, als sei der Protagonist die Realität, und der Erzähler lediglich dazu da, das ihm vorgelebte zu Papier zu bringen. Segre spricht hier von einer Dreiecksbeziehung Leser-Autor- Protagonist[26] und erwähnt als wohl komplexestes Beispiel folgenden Satz:

„La tua attenzione di lettore ora è tutta rivolta alla donna, è già da qualche pagina che le giri intorno, che io, no, che l’autore gira intorno a questa presenza femminile[…] ed è la tua attesa di lettore che spinge l’autore verso di lei e anch’io […] ecco che mi lascio andare a parlare.”[27]

Man sieht also, dass die Erwartung des Lettore den Erzähler dazu veranlasst, im Protagonisten die gleichen Wünsche wie im Lettore zu wecken und ihn dementsprechend handeln lässt, und somit die Vorstellung des Lettore erfüllt.

III.3 Die „mise en abyme“

Bei der „mise en abyme“ handelt es sich um einen Begriff, der eigentlich aus der Sprache der Heraldik, also der Wappenkunde stammt. Dort bezeichnete er ursprünglich das innerhalb des Wappenschilds abgebildete Wappen. Die Übertragung auf die literarische Ebene erfolgte erstmals durch André Gide der den Begriff in seinen Tagebüchern zunächst als eine rein formale Funktion bezeichnete.[28] Im Laufe der Zeit erfuhr der Begriff dann eine Bedeutungserweiterung und kann inzwischen auch inhaltliche Relevanz für sich in Anspruch nehmen.

Dällenbach versteht die „mise en abyme“ als eine Art inneren Spiegel, der auf verschiedene Arten die Verdoppelung eines Werkes reflektieren kann: inhaltlich, durch die Spiegelung des Entstehungs- und Vermittlungsprozesses des Textes oder durch die Reflexion über die allgemeine Funktion des künstlerischen Werkes. Es kommt also zu einer Konfrontation zwischen der Architektur und der Genesis eines Werkes.[29]

Im hier vorliegenden Roman ist durch die „mise en abyme“ eine Identifikation von Leser und Lettore möglich, da der reale Leser durch stilistische Tricks in die Rahmenhandlung und die Fiktion eingebunden wird.

Am deutlichsten tritt diese Funktion im achten Kapitel, dem Tagebucheintrag Flanneries zutage. Er entwirft hier, inspiriert vom Lettore der ihm von seinem Problem mit den angefangenen Romanen erzählt, und auch durch seine eigene Unfähigkeit bedingt, einen neuen Roman zu schreiben, die Vorlage eines Romans, der genau der Struktur von Se una notte d’inverno un viaggiatore entspricht. Er will dabei nicht nur nacherzählen was bereits geschehen ist, sondern plant auch die später wirklich eintretende Folgehandlung des Romans Se una notte d'inverno un viaggiatore. Der einzige Unterschied zum Roman Calvinos ist das Ende: laut Flannery soll die Lettrice am Ende in den Armen des Autors und nicht in den Armen des Lettore enden.[30]

Der Fälscher Marana entwirft an anderer Stelle ebenfalls einen dem Roman Calvinos nachempfundenen Roman, wobei bei ihm die Ähnlichkeit aber struktureller Natur ist. Er macht dem Sultan, der Angst hat, dass die Sultanin eines Tages von ihrer Lektüre gelangweilt sein könnte, folgenden Vorschlag:

“Interromperà la traduzione nel punto più appassionante e attaccherà a tradurre un altro romanzo, inserendolo nel primo con qualche rudimentale espediente, per esempio un personaggio del primo romanzo che apre un libro e si mette a leggere….Anche il secondo romanzo s’interromperà e lascerà posto a un terzo che non andrà avanti molto senza aprirsi a un quarto e così via….”[31]

Der Lettore, der mit dieser Idee konfrontiert wird, kommentiert dies folgendermaßen: “ecco un romanzo-trappola congegnato dall’infido traduttore con inizi di romanzo che restano in sospeso“[32].

Auch die Tatsache, dass es eine Rahmenhandlung mit eingeschobene Romanfragmenten gibt, ist in gewissem Sinne eine „mise en abyme“. Es gibt Romane im Roman, die gleichzeitig über den Roman als solchen reflektieren, und die Geschichte seiner eigenen Lektüre erzählen.

Die Verknüpfung von Rahmenhandlung und Romanfragmenten erfolgt durch die Lettrice, die in der Rahmenhandlung zehn Mal äußert, was sie gerne für einen Roman lesen würde, woraufhin das folgende Romanfragment jedes Mal ihren Wünschen entsprechend gestaltet ist. So dient zum Beispiel folgende Aussage „preferisco i romanzi[...]che mi fanno entrare subito in un mondo dove ogni cosa è precisa, concreta, ben specificata.”[33]

als Bindeglied zum Romanfragment Fuori dell’abitato di Malbork, welches folgende Situationsbeschreibung enthält:

„Olio di colza è specificato nel testo, dove è tutto molto preciso, le cose con la loro nomenclatura e le sensazioni che le cose trasmettono”[34]

Auch die folgenden Fragmente werden alle jeweils auf die gleiche Art und Weise durch die Lettrice mit der Rahmenhandlung verknüpft.

Im zwölften Kapitel schließlich, als Lettore und Leser mit dem Satz „Sto per finire Se una notte d’inverno di Calvino“[35] wieder zusammengeführt werden schließt sich der Kreis, und es kommt zu einem erneuten Verweis des Romans auf sich selbst.

Eine etwas andere Form der „mise en abyme“ kann man zudem noch im elften Kapitel von Se una notte d'inverno un viaggiatore finden. Hier unterhält sich der Lettore mit anderen Lesern über einen möglichen Romanschluss. Er überlegt sich, dass es in älteren Romanen für gewöhnlich immer nur zwei Schlussmöglichkeiten gab, nämlich dass die Helden entweder starben oder heirateten, und so beschließt er, dass er Ludmilla heiraten wird:

„Anticamente un racconto aveva solo due modi per finire:passate tutte le prove, l’eroe e l’eroina si sposavano oppure morivano.“[36]

Der Lettore ist sich also durchaus bewusst, dass er „nur“ eine fiktive Gestalt ist und orientiert sich an Figuren, die sowohl für ihn als auch für den realen Leser fiktive Gestalten sind.

III.4 Das achte Kapitel als Verweis auf den Autor?

Das achte Kapitel des Romans Se una notte d'inverno un viaggiatore nimmt innerhalb der Rahmenhandlung eine Sonderstellung ein. Es handelt sich hierbei um einen Tagebucheintrag des Schriftstellers Flannery, der sich nicht nur durch seine Länge von den anderen Kapiteln abhebt, sondern auch durch die Tatsache, dass es das einzige Kapitel der Rahmenhandlung ist, das nie vom Erzähler durch Kommentare unterbrochen wird. Flannery macht sich hier Gedanken über den bereits vorher erwähnten implizierten Autor, wie dieser von Marano für seine Fälschungen benützt wird und meint dazu, dass laut Marano „l’autore di ciascun libro [...] un personaggio fittizo che l’autore esistente inventa per farne l’autore delle sue finzioni [...]“ ist und dass er, Flannery infolgedessen „ incarnare quello che per lui è l’autore ideale, cioè l’autore che si dissolve nella nuvola di finzioni che ricopre il mondo del suo spesso involucro”[37] kann.

Das interessante an dieser Aussage ist, dass sie nicht vom Autor selbst stammt, sondern von einem fiktiven, vom Erzähler erschaffenen Autor.

Es gibt viele Theorien die in Flannery das „alter ego“ Calvinos sehen, da sich beide Gedanken über das Wie und Warum des Schreibens machen, und Flannery verschiedene Arten von schriftstellerischem Schreiben in Erwägung zieht, die Calvino in seinem Roman ebenfalls verwendet hat. Er sieht sich als „autore tormentato“, der wegen seiner Vorgeschichte nicht mehr in der Lage ist, wertfrei zu schreiben, und versucht aufgrund dessen, sich selbst als reale Person auszuschalten und für jedes seiner Bücher einen anderen Autor zu schaffen. Calvino tut eben dies in dem hier behandelten Werk: er erfindet für jedes Romanfragment einen neuen Autor, der mit ihm selbst möglich wenig gemeinsam haben soll. An einer Stelle geht er sogar so weit, sich auf einer Fiktionsebene selbst zu ironisieren, und negativ über sich zu schreiben: „No, vede, ormai a me di quell’Italo Calvino lì non me ne importa proprio più niente.“[38]

Flannery ist laut Rahmenhandlung der Autor von ein, höchstwahrscheinlich zwei eingeschobenen Romanfragmenten. Diese zusammen mit der Tatsache, dass er in seinem Tagebuch den Entwurf eines Romans nach dem Modell Calvinos’ plant, könnten jedenfalls stark für die Theorie sprechen, dass er das „alter ego“ von Calvino darstellen soll.

III.5 Literarische Vorlagen für “Se una notte d'inverno un viaggiatore”

Wie bereits zuvor erwähnt ist die Struktur des kompletten Romans stark an bekannte Vorgänger wie Tausendundeinenacht oder den Decamerone angelehnt, allerdings mit der Besonderheit, dass hier die vorliegenden Fragmente nicht etwa zu einem homogenen Gesamtbild verarbeitet werden, sondern vielmehr die Verschiedenartigkeit hervorgehoben werden soll.

Im gesamten Werk ist Jorge Luis Borges sicher der Schriftsteller, dessen Spuren am häufigsten erkennbar sind. So ist schon der Romanaufbau ( 12 Kapitel und 10 Romananfänge) stark an Borges Examen de la obra da Herbert Quain angelehnt, in dem Borges in dreizehn Kapiteln und neun Romanen über einige Romane des fiktiven Schriftstellers Herbert Quain berichtet. Borges sagt, dass von diesen Romanen „una de carácter simbólico, otra sobrenatural, otra politica, otra psicologica, otra comunista, otra anticomunista...”[39] sei, was den Vergleich mit Se una notte d’inverno un vaiggiatore nahelegt, da auch hier die einzelnen Fragmente aus unterschiedlichen politischen, geselschaftlichen und geographischen Gebieten stammen.

Ein anderes Werk Borges das Calvino ebenfalls zum Vorbild genommen haben könnte, ist laut Lessle[40] La biblioteca de Babel, ein Roman, der von der Lesbarkeit der Welt, bzw. dem Universum des Lesers handelt. Der Wunsch Flanneries „o scrivere un libro che possa essere il libro unico[…] o scrivere tutti i libri […]”[41] entspricht der Idee von Borges Bibliothek, wo es heißt:“ que la biblioteca abarcaba todos los libros“.[42]

Borges ist jedoch nicht der einzige Autor, von dem Calvino sich inspirieren lassen hat. Segre weist in diesem Zusammenhang vor allem noch auf Flann O’Brien und Vladimir Nabokov hin.[43]

Flann O’Brien kann zunächst in eine enge Verbindung zu Calvino als Autor gebracht werden. Er hat das Spiel der Mystifizierung des Autors sehr stark betrieben und abwechselnd unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht. Seinen Roman At Swim-two-birds könnte man, laut Lessle mit folgender Kurzbeschreibung wiedergeben:

Ein junger Mann verfasst einen Roman über eine Figur, die einen anderen Roman schreibt, dessen Figuren sich auflehnen und ihre eigenen Romane schreiben, deren Protagonist ihr Autor ist.“[44]

Segre äußert hier noch die Vermutung, dass der Name „Flannery“ eventuell sogar auf den Vornamen des Schriftstellers („Flann“) anspielen könnte.[45]

Die Figur des Autors Flannery weist hingegen eine starke Ähnlichkeit zu dem Schriftsteller Mr. R. aus Nabokovs Transparent Things auf. Beide leben in der Schweiz, haben eine Schaffenskrise, werden von ihrem Verleger aufgesucht und fühlen sich von der Freundin des Protagonisten angezogen, die gerade dabei ist, ein Werk von ihnen zu lesen. Lessle erkennt hier sogar noch mehr Gemeinsamkeiten, nämlich, dass sowohl in Se una notte d’inverno un viaggiatore als auch in Transparent Things die Protagonistin als junge Frau beschrieben wird, die in einem Liegstuhl liegt und Romane liest. Ebenfalls auffällig ist, dass beide Schriftsteller, Mr.R. und Flannery ihre Gefühle und Wünsche in einem Tagebuch festhalten.

Eine andere Charaktereigenschaft Flanneries stammt laut Segre,[46] jedoch von einem anderen von Borges erfundenen Charakter ab. Die Idee, dass Flannery (ungewollt) begonnen hat, den Roman Delitto e castigo zu kopiern, stammt von „Piere Menard“ der in seinem Roman Chisciotte (innerhalb des Romans von Borges) die genau gleilche Erfahrung machen muss.

Das Verfahren, dass die Titel der zehn Romanfragmente einen Satz ergeben, könnte Calvino ebenfalls von Nabokov übernommen haben, der in seinem Roman Bend Sister eben dieses Stilmittel zum ersten Mal verwendet hat. Hier wurden allerdings nur drei Titel zu einem gemeinsamen Satz verknüpft, was einen etwas „leichtgängigeren“ Eindruck vermittelt als Calvinos langer Schachtelsatz.

Einen genauso interessanten und auch ergiebigen Stoff bieten die zehn Romanfragmente:

Laut Segre[47] lehnt sich das erste Romanfragment deutlich an den Nouveau Roman, und hier an D.H. Lawrences Plumed Serpent an. Irina aus dem Romanfragment erinnert an dessen Protagonistin, da beide Mädchen, laut Segre „ profetesse di una nuova sensualiltà ricca di tratti pseudoreligiosi e pseudomistici“[48] sind. Andere Autoren, wie Lessle zum Beispiel, widersprechen jedoch dieser Annahme.

Der Entstehungsort des zweiten Fragments die Region Cimmeria, wurde von Calvino aus der Odysee vom Homer übernommen. Bei Homer handelt es sich hierbei um eine sagenhafte Region, in der Ulysseus im Laufe seiner langen Reise vorbei gekommen sein soll.

Während der Nachforschungen über diesen Ursprung stellt sich dann allerdings heraus, dass das Werk nicht cimmerischen Ursprungs ist, sondern vielmehr aus Cimbro stammt, einem aus dem Altertum bekannten Volk.

Der vorletzte Roman Intorno a una fossa vuota kann eine Anspielung auf Cien años de soledad von García Márquez sein. Bei Calvino gibt es, ebenso wie bei García Márquez, ein Mädchen Namens Amaranta, mit dem der Protagonist der eventuell ihr Bruder ist, sexuellen Kontakt sucht

Andererseits äußert Segre ebenfalls die Vermutung, dass dieses Fragment auf ein anderes Werk zurück gehen könnte.[49] Er erkennt hier als Vorbild Pedro Páramo von Juan Rulfo, in dessen Roman sich der Protagonist ebenfalls auf die Suche nach einem Elternteil (hier dem Vater) in eine verlassene Stadt begibt. Beide Male spielen die Abwesenheit des dominanten Vaters und die Mischung zwischen Weißen und Indianern eine große Rolle.

Der zehnte Roman kann jedoch wieder deutlich auf Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad zurückgeführt werden, da auch hier die Beziehung zwischen Ding und Wort eine wichtige Rolle spielt. Bei García Márquez vergessen die Einwohner von Maconda die Namen und den Zweck sämtlicher Dinge, und müssen sich mit Hilfe von Zetteln in ihrer Umwelt zurechtfinden, bei Calvino wird die Welt auf ein einziges Stück Papier reduziert, auf das man die Namen der Gegenstände schreiben kann, um sie Realität werden zu lassen:

„il mondo é ridotto a un foglio di carte dove non si riescono a scrivere altro che parole astratte, come se tutti nomi concreti fossero finiti; basterebbe riuscire a scrivere ‘barattolo’ perché sia possibile scrivere anche ‘casseruola’…”.[50]

Zudem wird im Romanfragment Calvinos ein Blatt Papier vom Wind herangeweht, das folgendermaßen beschrieben wird: ” una pagina che si direbbe strappata a un romanzo in lingua spagnola con un nome di donna: Amaranta.“[51]

In García Márquez Cien años de soledad, bei dem es sich nachweislich um ein in spanischer Sprache verfasstes Werk handelt, trägt die Hauptperson ebenfalls diesen Namen.

Dass dies alles jedoch letztendlich nur Interpretationen und Vermutungen sind ( wobei die von mir erwähnten Annahmen sicherlich zu den wahrscheinlichsten und anerkanntesten gehören) möchte ich durch ein abschließendes Zitat Calvinos deutlich machen.

Calvino selbst meint zu den verschiedenen Interpretationen seiner Quellen:

„Mentre la maggior parte dei critici per definire questi dieci incipit ne ha cercato dei possibili modelli o fonti ( e spesso da questi elenchi di autori saltano fuori nomi a cui non avevo mai pensato, cosa che richiama l’attenzione su un campo finora poco esplorato:come funzionano le associazioni mentali tra testi diversi, per quali vie un testo nella nostra mente viene assimilato o affiancato a un altro)…”[52]

IV Schluss

Zusammenfassend kann man also sagen, dass der Roman Se una notte d’inverno un vaiggiatore eine neue strukturelle Form verkörpert, die auf den Vorgängern “1001 Nacht” oder dem “Decamerone” beruht, jedoch eindeutig eine Weiterentwicklung bzw. Ironisierung derselben ist. Die vier Fiktionsebenen des Textes können nicht streng voneinander getrennt betrachtet werden, das sie teilweise ineinander übergehen und sich sogar gegenseitig beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist die langsam vonstatten gehende Fiktionalisierung des Lesers hin zum Lettore. Die Beeinflussung erfolgt hier jedoch nicht in eine bestimmte Richtung, sondern kann verschiedene Züge und Formen annehmen.

Bereits innerhalb des Romans kann man einige metafiktionale Konstruktionen erkennen, die vor allem durch das Stilmittel der “mise en abyme” herausgearbeitet werden. Der Autor Flannery und der Fälscher Marana entwerfen beide einen Roman nach dem Schema SNIV s und Flannery ist fast sicher eine Art “alter ego” Italo Calvinos.

Die literarischen Vorlagen (struktureller und inhaltlicher Art) stammen nicht nur aus alten Klassikern wie “1001 Nacht” und dem “Decamerone”, sondern auch aus moderneren Zeiten. Eine große Rolle hierbei spielen Jorge Luis Borges und Gabriel García Márquez auf deren Werke er mehrmals direkt anspielt, bzw. Von denen er einige stilistischen Ideen ( wie zum Beispiel die Tatsache, dass die verschiedenen Romantitel zusammen einen Satz ergeben) übernommen hat. Er begnügt sich jedoch nicht damit, nur spanischsprachige Vorlagen zu berücksichtigen, sondern orientiert sich ebenfalls an den englischsprachigen Werken Flann O’Briens, Lawrences oder Nabokovs. Von Flann O’Brian stammt eventuell auch die Idee, den Autor zu mystifizieren.

Natürlich sind dies alles nur Vermutungen (auch wenn manchmal eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu übersehen ist) und höchstwahrscheinlich hat sich Calvino in anderen Details auch noch von anderen Werken und Autoren beeinflussen lassen, aber eine letztendliche Sicherheit hierüber könnte nur Calvino selbst geben ( der wie bereits zuvor zitiert manchmal mit Interpretationen konfrontiert worden ist, an die er selbst gar nicht gedacht hatte). Sicher ist nur, dass Calvino sich an vielen Werken der Weltliteratur orientiert hat und sich auch von ihnen hat beeinflussen lassen, nur welche genau und in welchem Masse, das wird nur er selbst genau wissen.

V Literaturverzeichnis

V.1 Primärliteratur:

Calvino, Italo; Se una notte d'inverno un viaggiatore, Mailand, Mondadori, 1994.

V.2 Sekundärliteratur:

Broich, Ulrich und Pfister, Manfred (Hrsg.); Intertextualität; Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1985.

Knaller, Susanne; Teorie und Dichtung im Werk Italo Calvinos, München, Fink, 1988.

Lessle, Christine; Weltreflexion und Weltlektüre in Italo Calvinos erzählerischem Spätwerk, Bonn, Romanistischer Verlag, 1992.

Schulz Buschhaus, Ulrich und Meter, Helmut (Hrsg.); Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 1983.

Segre, Cesare; Se una notte d’inverno uno scrittore sognasse un’ aleph di dieci colori, in:Strumente critici, 1979,S.177-214.

Waugh, Patricia; Metafiction, London, Methuen, 1984.

V.3 Internetadressen

www.uni-koeln.de/phil-fak/aspla/pdf/hachmeister.pdf; am 23.4.2003

Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.2

Hauptseminar Italienisch:Italo Calvino und sein Gesamtwerk

Dozent:Prof.Dr.Susanne Kleinert

Referentin: Ines Harsch

Thema: Metafiktion und Intertextualität in “Se una notte d’ inverno un viaggiatore”

Datum: 30.6.2003

Die Metafiktion

Ursprung: Amerika, “Postmoderne Literatur “

Allgemein: “Fiktion über Fiktion”, Selbstreflektion und Selbstbezug von Texten

Verschiedene Techniken:

- Autor greift ein, ist sich seines Schreibens bewusst

- explizites Auseinandersetzen mit dem Werk, der Gattung.

→ immer mindestens 2 Ebenen: die der Rahmenhandlung und die der Reflexion

„ In other words, the lowest common denomination of metaficiton is to create a fiction ant to make a statement about the creation of the fiction. The two processes are held together in a formal tension which breaks down the distinctions between “ creation ” and “ criticism ” and merges them into the concepts of “ interpretation ” and “ deconstruction ” . ” [53]

Die Intertextualität

- Von Julia Kristeva,(60er Jahre) “Bezug von Texten auf andere Texte” (Zitat, Anspielung, Parodie, Einfluss, Imitation...)
- heute: 2 Richtungen

A) jeder Text bezieht sich in irgendeiner Form auf etwas bereits existierendes, in den Bereichen Syntax, Struktur... (“regresus ad infinitum“ bzw. “chambre d‘échos“)
B)Transtextualität als Oberbegriff, Intertextualität nur ein kleiner Teil davon

Auch wichtig: Intendiertheit und Intensität der Intertextualität, Häufigkeit und Anzahl der Vorlagen

Se una notte d’inverno und viaggiatore

Struktur und Inhalt

Die Rahmenhandlung

12 Kapitel Rahmenhandlung mit 10 eingeschobenen Romanfragmenten: regelmäßiger Wechsel, Ausnahme 11.und 12. Kapitel.

Äußerliche strukturelle Form entspricht dem klassischen Romanschema, aber: Rahmenhandlung soll hier nicht verbinden, sondern Uneinheitlichkeiten verdeutlichen à neue, moderne Romanform

Die Romaneinschübe

Laut Calvino handelt es sich hierbei um:

einen Roman des Nebels, einen Roman der körperlichen Erfahrung , einen symbolisch interpretativen Roman, einen politisch existentiellen Roman, einen zynisch brutalen Roman, einen Roman von Angst und Beklemmung, einen logisch geometrischen Roman, einen pervers erotischen Roman, einen terrestrisch ursprünglichen Roman, und schließlich einen apokalyptischen Roman.

→ verschiedene Genres, verschiedene Handlungsschauplätze

Einzige Gemeinsamkeit: es handelt sich immer um „eine männliche Person, die in der ersten Person Singular erzählt, und die sich in der Situation wiederfindet, dass sie eine Rolle annehmen muss, die nicht der ihrigen entspricht, eine Situation, in der die von einer weiblichen Person ausgeübte Anziehungskraft und das Drohen einer dunklen Bedrohung durch eine Gruppe von Feinden ihn in eine auswegslose Situation bringen“[54]

Fiktionsebenen des Textes

a) Verhältnis von realem Leser zum Lettore

Zu Beginn noch gleich: “Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo SNIV di Italo Calvino”[55]

Dann immer mehr Einschränkungen bis hin zu Ungleichheit:” hai già letto una trentina di pagine”(S. XX)

→ Fiktionalisierung des Lesers, Rückführung erst am Ende des letzten Kapitels: “ Un momento, sto per finire SNIV di Italo Calvino”(S.305)

b)Rahmenhandlung und Romanfragmente

Prinzip von Sender, Empfänger, Code und Botschaft

Ebene 1: textextern: realer Autor Calvino, zum realen Leser (ich) über die Botschaft SNIV

Ebene 2: implizierter Autor und intendierter Leser, außerhalb der Fiktion

Ebene 3: Erzähler und Lettore in der Fiktion

Ebene 4: Fiktive Gestalten wenden sich an andere fiktive Gestalten

c) Autorßà Erzähler, Leserßà Lettore

Romanfragmente: fiktiver realer Autor und Erzähler, Erzähler ist auch gleichzeitig Protagonist Leser wird nur in den ersten beiden Fragmenten angesprochen, danach nur noch implizit

Unklare Verhältnisse bei der gegenseitigen Beeinflussung

„ La tua attenzione di lettore ora è tutta rivolta alla donna, è già da qualche pagina che le giri intorno, che io, no, che l ’ autore gira intorno a questa presenza femminile[ … ] ed è la tua attesa di lettore che spinge l ’ autore verso di lei e anch ’ io [ … ] ecco che mi lascio andare a parlare. ” [56]

Die “mise en abyme”

Ursprung: Heraldik (Wappen im Wappen), heute: innerer Spiegel der die Verdoppelung eines Werks reflektiert:

- inhaltlich, der Entstehungsprozess, allgemeine Reflexionen über den Text à Konfrontation von Architektur und Genesis eines Werks[57]

Hier:

-Identifikation von Leser und Lettore
- das achte Kapitel (Tagebucheintrag Flanneries) als inhaltliche Parallele zu SNIV ( nur anderes Ende)
- Maranos Roman als strukturelle Parallele zu SNIV
- Rahmenhandlung und Romanfragmente
- Kapitel elf: Unterhaltung von Lettore über mögliche Romanschlüsse
- Flannery als Alter Ego Calvinos?

Literarische Vorlagen für SNIV

Struktur: 1001 Nacht, Dekameron; aber: kein homogenes Gesamtbild

Romanaufbau angelehnt an Jorge Luis Borges Examen de la obra de Herbert Quain oder dessen La biblioteca de Babel

Autor: Flann O’Brian: Mystifizierung des Autors, At Swim two birds, Flannery = Flann???

Vladimir Nabokov: Transparent Things, Frau im Liegestuhl, Verleger, Autor in Schaffenskrise, Tagebuch...,

Bend Sister: Romantitel ergeben einen Satz

Jorge Luis Borges: Chisciotte, Piere Menard kopiert ebenfalls Roman statt zu schreiben.

Die Romanfragmente:

Fragment Nummer eins: Nouveau Roman, Plumet Serpent (D.H. Lawrence), ähnliche Hauptfigur

Fragment Nummer zwei: Entstehungsort Cimmeria kommt von Homer

Fragment Nummer neun: - cien años de soledad (G.Garcia Márquez) Amaranta, sexuelle Anziehung von eventuellem Bruder

- Pedro Páramo ( Juan Rulfo) Protagonist sucht Elternteil in verlassener Stadt,Mischung von Weissen und Indianern

Fragment Nummer zehn: cien años de soledad ( G. García Márquez) Beziehung Dingà Name (Maconda),Welt reduziert auf Papierstücke, der Name Amaranta

Calvino, Italo; Se una notte d'inverno un viaggiatore, Mailand, Mondadori, 1994.

Broich, Ulrich und Pfister, Manfred (Hrsg.); Intertextualität; Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1985.

Knaller, Susanne; Teorie und Dichtung im Werk Italo Calvinos, München, Fink, 1988.

Lessle, Christine; Weltreflexion und Weltlektüre in Italo Calvinos erzählerischem Spätwerk, Bonn, Romanistischer Verlag, 1992.

Schulz Buschhaus, Ulrich und Meter, Helmut (Hrsg.); Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 1983.

Segre, Cesare; Se una notte d ’ inverno uno scrittore sognasse un ’ aleph di dieci colori, in:Strumente critici, 1979,S.177-214.

Waugh, Patricia; Metafiction, London, Methuen, 1984.

www.uni-koeln.de/phil-fak/aspla/pdf/hachmeister.pdf; am 23.4.2003

[...]


[1] Waugh (1985:2)

[2] Waugh (1985:6)

[3] Broich, Pfister (1985:12)

[4] Barthes, Roland ; Roland Barthes: über mich selbst, München, 1978. zitiert nach: Broich, Pfister(1985:12)

[5] Broich, Pfister(1985:16)

[6] Broich, Pfister(1985:26ff)

[7] Vgl. Lessle (1992:45)

[8] Calvino, Italo; „se una notte d’inverno un narratore“, 1979 in “alfabeta” zitiert nach Calvino, Italo; “Se una notte d’inverno un viaggiatore”S.XV.

[9] Calvino (1979:XIII)

[10] Calvino (1979:XI)

[11] Calvino(1979:3)

[12] Calvino(1979:36)

[13] Calvino(1979:28)

[14] Lessle(1992:56)

[15] Calvino(1979:305)

[16] Hellmich, Werner; Leseabenteuer in: Schulz-Buschhaus,Ulrich und Meter, Helmut (1983:229)

[17] Eversmann, Susanne; Poetik und Erzählstruktur in den Romanen Italo Calvinos, München, Fink Verlag, 1979. nach Lessle(1992:49)

[18] Booth,Wayne; The retoric of fiction, London, University of Chicago Press, 1966. nach Lessle (1992:50)

[19] Calvino(1979:14)

[20] Calvino(1979:38)

[21] ebenda

[22] Calvino (1979:43)

[23] Calvino(1979:14)

[24] Calvino (1979:21)

[25] Calvino(1979:24)

[26] vgl.Segre (1979:190)

[27] Calvino (1979:23)

[28] Gide, André; Journal 1889-1939; Paris, 1955, S.41. zitiert nach www.uni-koeln.de/philfak/ aspla/pdf/hachmeister.pdf

[29] Dällenbach, Lucien; Le récit spéculaire; Paris, 1977. zitiert nach Knaller (1988 :58)

[30] vgl. Calvino(1979:231)

[31] Calvino (1979:145)

[32] Calvino (1979:145)

[33] Calvino(1979:34)

[34] Calvino (1979:39)

[35] Calvino(1979:305)

[36] Calvino (1979:304)

[37] Calvino(1979:210)

[38] Calvino(1979:34)

[39] zitiert nach Lessle( 1992:68)

[40] Lessle(1992:68)

[41] Calvino(1979:181)

[42] zitiert nach Lessle (1992:69)

[43] Segre (1979:199)

[44] Lessle(1979 :70)

[45] Segre(1979:199)

[46] Segre(1979:196)

[47] Segre(1979:198)

[48] Segre ( 1979:214)

[49] Segre(1979:214)

[50] Calvino(1979:296)

[51] Calvino(1979:292)

[52] Knaller(1988:81)

[53] Waugh (1985:6)

[54] Calvino(1979:XI)

[55] Calvino(1979:3)

[56] Calvino (1979:23)

[57] Knaller (1988:58)

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Metafiktion und Intertextualität in Calvinos se una notte d'inverno un viaggiatore
Hochschule
Universität des Saarlandes
Veranstaltung
Calvinso Gesamtwerk
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
27
Katalognummer
V108863
ISBN (eBook)
9783640070541
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Metafiktion, Intertextualität, Calvinos, Calvinso, Gesamtwerk
Arbeit zitieren
Ines Harsch (Autor:in), 2003, Metafiktion und Intertextualität in Calvinos se una notte d'inverno un viaggiatore, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108863

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