Textimmanente Interpretation des Gedichts "Cocain" (Gottfried Benn)


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

14 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Interpretation des Gedichts „Cocain“

1. Allgemeine Bemerkungen zu „Cocain“
2. Interpretationshypothese
3. Interpretation der einzelnen Sinnabschnitte
3.1 Cocain – Glückserfahrung – Ich-Zerfall
3.2 Die erste Wirkung
3.3 Die mythische Vorzeit der Ganzheit
3.4 Der Beginn der Ich-Auflösung
3.5 Kernspaltung: die letzte Stufe vor dem Zerfall
3.6 Ich-Zerfall, Re-Formung und erneuerter Wunsch nach Entformung

Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

In dieser Hausarbeit wird das Gedicht „Cocain“ von Gottfried Benn textimmanent interpretiert. Ziel ist es, das Gedicht in seiner Gesamtheit zu analysieren, wobei die wichtigsten Interpretationslinien und Merkmale aufgezeigt werden sollen. Von Vergleichen zu anderen Gedichten wird abgesehen. Auch wird nicht überprüft werden, in wieweit Gottfried Benn seine poetisch-theoretischen Ansprüche in die Praxis umsetzt.

Das Gedicht „Cocain“ wurde bereits von Oskar Sahlberg[1] und Hiltrud Gnüg[2] unter bestimmten Gesichtspunkten untersucht; eine vollständige Analyse des Gedichts liegt bisher aber nicht vor. Die erwähnte Sekundärliteratur wurde zwar zur Kenntnis genommen, floss aber nicht in den inhaltlichen Teil der Hausarbeit ein.

Zu Beginn der Arbeit finden sich Bemerkungen zur Entstehung des Gedichts und zu editorischen Grundfragen. Dem Hauptteil steht eine Interpretationshypothese voran, die versucht, den Grundgedanken des Gedichts in wenige Worte zu fassen. Die eigentliche Interpretation gliedert sich anhand der Versreihenfolge in inhaltliche Sinneinheiten, wobei eine Sinneinheit eine ganze Strophe oder auch nur zwei Verse ausmachen kann. Vor jedem Interpretationspunkt stehen die zu bearbeitenden Verse des Gedichts

Am Ende werden die gesammelten Ergebnisse zusammengefasst.

Im Anhang ist der komplette Gedichtstext nochmals abgedruckt[3].

Interpretation des Gedichts „Cocain“

1. Allgemeine Bemerkungen zu „Cocain“

Das Gedicht „Cocain“, das sich auch als „Kokain“ in der Literatur finden lässt, erschien zum ersten Mal in der Sammlung „Fleisch. Gesammelte Lyrik“ in Berlin-Wilmersdorf im Jahre 1917. In den „Gesammelten Gedichte“ (Wiesbaden 1956) wurde es in leicht abgeänderter Form veröffentlicht. Die Unterschiede und ihre Auswirkung sollen hier kurz vorangestellt werden.

Hieß es in I,1 des Erstdrucks noch „Ich-zerfall“, konnte man in der Wiesbadener Ausgabe „Ich-Zerfall“ lesen. Die Fassung des Erstdrucks scheint die bessere zu sein, da der „Ich-zerfall“ durch die Kleinschreibung optisch noch verstärkt wird. Das „Du“, das zwei Mal im Gedicht vorkommt (I,2 / IV, 3) wurde zuerst klein, beim zweiten Erscheinen groß geschrieben. Auch in diesem Fall wäre eher für den Erstdruck zu plädieren, da das „Cocain“, das mit dem „Du“ angesprochen wird, eine große Wirkung hat. Jedoch ist die Abänderung hier weniger entscheidend. Des weiteren wurden Satzzeichen hinzugefügt (II,2: tun,) bzw. verändert II,3: schlägt [-] -:), was eher unwesentlich erscheint.

Des weiteren sei zu erwähnen, dass „Cocain“ in einem Gedichtszyklus steht, der mit „Der Psychiater“ betitelt ist; dort ist es als 9. Gedicht aufgeführt.

2. Interpretationshypothese

Das Gedicht „Cocain“ von Gottfried Benn zeigt den Verlauf des Ich-Zerfalls eines Menschen, der mit dem Rauschgift Cocain herbeigeführt wird und der den sehnlichsten Wunsch des lyrischen Ich darstellt. „Cocain“ führt aber auch vor Augen, dass die Wirkung der Droge, der Ich-Zerfall, nur kurz anhält und durch erneuten Konsum wieder „hergestellt“ werden muss.[4]

3. Interpretation der einzelnen Sinnabschnitte

3.1 Cocain – Glückserfahrung – Ich-Zerfall

Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,

Den gibst Du mir: [...] ,

Zu Beginn des Gedichts steht der „Ich-zerfall“, der schon von der Graphemantik, dem Bindestrich und der Kleinschreibung nach diesem, optisch als Zer-fall dargestellt wird. Es ist nicht von ungefähr, dass Gottfried Benn den „Ich-zerfall“ an die erste Stelle seines Gedichtes setzt, vielmehr scheint er das eigentliche Thema zu sein. Der Zerfall des Ichs als Ganzes in „Entformtes“, also Formloses, wird vorgeführt. Hierbei spielt der Auslöser der Auflösung bzw. das Hilfsmittel, dass das lyrische Ich verwendet, um Formlosigkeit zu erreichen, eine untergeordnete Rolle. „Cocain“ wird durch das „Du“ (V. 2, 15) nur in zwei Versen stellvertretend erwähnt. Obwohl es Subjekt des ersten Satzes ist, steht es an nachgerückter Stelle hinter dem Akkusativobjekt. Zentrum des Satzes bildet das Akkusativobjekt, der „Ich-zerfall“, der weiter beschrieben wird als „süß und tiefersehnt“. Er, der Ich-Zerfall füllt den ersten Vers komplett aus und wird dann im 2. Vers mit dem bestimmten Artikel „den“ wiederaufgenommen. Erst hier wird die Droge mit „Du“ angesprochen. Im folgenden wird dann stets die Wirkung des Cocains geschildert, das Rauschmittel als solches nicht mehr erwähnt. Es scheint unerheblich, wer der Auslöser des „Ich-zerfalls“ ist. Wichtig bleibt sich vor Augen zu führen, aus welchen Gründen Cocain und/oder andere Drogen generell eingenommen werden: Sie sollen für einen rauschhaften Glückszustand sorgen. Das Ziel des Drogenkonsums heißt also, sich künstliche Glücksmomente zu schaffen. Was in diesem Gedicht als Wirkung des Cocain beschrieben wird, ist der „Ich-zerfall“. Auf diese Weise werden Cocain als Hilfsmittel, Glück und Ich-Auflösung miteinander in Beziehung gesetzt. Der Ich-Zerfall ist also von vornherein positiv zu deuten, nämlich durch die Verbindung Cocain – Glück - „Ich-zerfall“, die der Rezipient schon nach den ersten drei Worten kennt. Die weiteren positiven Beschreibungen durch süß und tiefersehnt (V. 1) unterstreichen dies zusätzlich. Auch „tiefersehnt“ (V. 1) verweist doppeldeutig auf Sehnen und Sucht. Als letztes kann noch auf das verwendete Prädikat verwiesen werden: „Den gibst du mir“, heißt es im 2. Vers. „Geben“ kann hier als Schenken, also durchaus positiv, gelesen werden. Wäre der „Ich-zerfall“ negativ zu verstehen, hätte Benn auch formulieren können „den bringst du mir“. Dann hätten Wendungen wie z.B. „den Tod bringen“ mitgeklungen; dies war sicherlich nicht Benns Intention. Es bleibt festzuhalten, dass „Cocain – Glück – Ich-Auflösung in enger Verknüpfungen miteinander stehen: die Droge sorgt für den Ich-Zerfall, der für das lyrische Ich Glück bedeutet.

3.2 Die erste Wirkung

[...] schon wird die Kehle rauh,

Schon ist der fremde Klang an unerwähnten

Gebilden meines Ichs am Unterbau.

Im ersten Teil der ersten Strophe wurde das Ziel der Cocaineinnahme positiv dargestellt, nun zeigt das Rauschmittel seine erste Wirkung. Positive Assoziationsfelder wie „süß, tiefersehnt und geben“ werden ersetzt durch eher negative Bilder: eine rauhe Kehle (V. 2), ein fremder Klang (V. 3), unerwähnte Gebilde am Unterbau (V. 4). Wie ist es zu verstehen, dass das Bild der positiven Hoffnung auf den Glückszustand des Ich-Zerfalls umschwenkt in ein Negativbild unangenehmer Wirkweise der Droge? Genau dies scheint der Schlüssel zu sein: die erste Wirkung wird beschrieben. Es ist das Unangenehme, dass das lyrische Ich überwinden muss, um die angenehme Wirkung, den Ich-Zerfall zu erreichen.

Schnell tritt die Wirkung ein: „schon“ ist die Kehle rauh (V. 3), „schon“ ertönt der fremde Klang (V. 4). Vorzustellen ist, dass das Cocain geraucht wurde, wofür zum einen die Erwähnung der „Kehle“, zum anderen ihre Beschreibung als „rauh“ spräche. Der Rauch der Drogen wird in die Kehle eingesogen: sie wird rauh. Die phonetische Verwandtschaft zwischen „Rauch“ und „rauh“ verstärken diesen Eindruck. Des weiteren kann man die Kehle als Verbindungsstück zwischen Innerem und Äußerem sehen. Die Gedanken und Gefühle des Ichs sind im seinem Inneren, die Kehle gehört nun zu dem Instrumentarium, das die Gefühle zum Ausdruck bringen kann, sie hörbar macht und so in Äußeres umsetzt. Wie das Cocain das geformtes Ich in Entformtes verwandelt, so führt die Kehle Inneres in Äußeres.

Auch ist die Kehle an der Produktion des fremden Klanges beteiligt. Auch „Kehle“ und „fremde“ bilden phonetisch eine Einheit. Fremd ist der Klang wegen der Bewusstseinsveränderung, die durch den Drogenkonsum eintritt. Das lyrische Ich erkennt seine Stimme nicht mehr, das Innere Ich hört die äußere Stimme, die schon jetzt beginnt, nicht mehr zum Ich zu gehören. Das Ich ist noch Subjekt, doch der Klang wird fremd: er spaltet sich ab. Somit kann auch diese Ich-Verfremdung nicht als negativ, sondern als Teil des Ich-Zerfalls, und somit als positiv bewertet werden.

Dennoch ist der Klang noch hörbar: „an unerwähnten Gebilden“ (V. 3 / 4) des Ichs. An dieser Stelle wird nochmals deutlich, dass das Ich noch Gebilde ist bzw. noch Gebilde hat. Doch es ist auf dem Weg zum Ich-Zerfall, denn es sind „unerwähnte Gebilde“, das heißt auch unbekannte Gebilde, an denen sich der „fremde Klang“ niederschlägt. Der Ort der Gebilde ist der „Unterbau“(V 4). Auch dies scheint doppeldeutig zu verstehen. Einmal bedeutet „Unterbau“ unterhalb des Bewusstseins. Einen Ort, den das lyrische Ich noch nicht kennt und den es in der Ich-Auflösung zu erreichen sucht. Zum anderen klingt bei „Unterbau“ aber auch Unterleib oder Schoß mit, wodurch die Verbindung zur zweiten Strophe hergestellt wird.

3.3 Die mythische Vorzeit der Ganzheit

Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide

Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun

Und stählern schlägt - -: [...]

„Nicht mehr“ (V. 5) zeigt hier die Vergangenheit an: nicht mehr ist das lyrische Ich am Schwerte. Das Beschriebene ist vorüber.

Schwierig scheint es, den Sinn der 2 1/2 Verse zu verstehen. Zunächst einmal wirkt die Atmosphäre bedrohlich, vielleicht sogar aggressiv. Erzeugt wird diese Stimmung durch die semantische Ebene: Schwert, Scheide, Werk, stählern und schlägt und durch die phonetischen Dopplungen: Schwert und Scheide, stählern und schlägt. Außerdem drücken alle wichtigen semantischen Elemente Aktivität aus: es passiert etwas. Auch „Entsprang“ (v. 6) gehört in diesen Kontext und kann als erster Schritt der Ich-Auflösung gesehen werden, der sich direkt nach der Geburt vollzieht. Denn das ist es, was beschrieben wird, wenn das „Schwerte, das der Mutter Scheide Entsprang“ (V. 5 / 6) genannt wird: es ist die Geburt, auf die in der letzten Strophe (V. 15 / 16) wieder Bezug genommen wird. Das lyrische Ich wünscht sich selbst aus dieser Situation heraus: es will nicht mehr am Schwerte sein, nicht mehr aktiv sein müssen. Es entsprang, „um da und dort ein Werk zu tun“ (V. 6), doch das ist Vorzeit. Wichtig scheint, dass das Ich sein muss, um aktiv zu sein. Das heißt, das Ich muss Ganz-Sein, muss

Sich-Selbst -Sein. Doch was sich das lyrische Ich als Glück ersehnt, ist der „Ich-zerfall“ (V. 1). Ein Zustand, der eigentlich keiner ist, in dem nicht gehandelt werden, sondern in dem man nur behandelt werden kann: ein Moment der Passivität. Die Kernpunkte Schwert, Scheide, Werk und stählern schlägt lassen sich jedoch nicht nur mit „Gebären“ in Einklang bringen, sondern erinnern auch an Sexualität an sich. Aber bedeutet Sexualität nicht auch Aktivität, Vereinigung und Eins-Sein als Gegensatz zu Zerfall? Gerade dies alles projiziert das lyrische Ich in die fast mythische Vergangenheit des ersten Augenblicks der Geburt zurück, der äußerst bedrohlich geschildert wird. Er soll überwunden werden, damit der Ich-Zerfall beginnen kann. Der Gedanke an diese Vergangenheit wird auch nicht zu Ende geführt, denn das eigentliche Prädikat des Hauptsatzes fehlt, der Satz ist elliptisch. Ein doppelter Gedankenstrich beendet diesen Gedankengang.

3.4 Der Beginn der Ich-Auflösung

[...] gesunken in die Heide,

Wo Hügel kaum entfüllter Formen ruhn!

Nun befindet sich das lyrische Ich im Hier und Jetzt. Optisch hervorgehoben durch den doppelten Bindestrich und den Doppelpunkt: „Und stählern schlägt - -: gesunken in die Heide“ (V. 7) wird der Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Gegensatzpaare wie „Schwert, Scheide, Werk“ auf der einen und „Heide, Hügel, enthüllte Formen“ auf der anderen verstärken den Kontrast. Der erzwungenen Aktivität des ersten Teils der zweiten Strophe steht die idyllische Passivität des zweiten Teils gegenüber. Die Ich-Auflösung schreitet weiter fort, schon ist die gewünschte Passivität erreicht. „Gesunken“ (V. 7) kontrastiert mit „Entsprang“ (V. 6); das Ich muss nichts mehr tun, es sinkt in die ländlich anmutende Idylle von Heide und Hügel, wo es „ruhn“ (V. 8) darf; ein weiteres Verb, das Passivität ausdrückt. Der phonetische Wohlklang unterstreicht diesen Eindruck. Er wird hervorgerufen durch die dreifache Verwendung des Konsonanten „h“ in „Heide - Hügel- enthüllter“ und in einem zweiten Schritt durch den Umlaut „ü“ in Hügel – enthüllt. Insofern findet im phonetischen eine Steigerung der Harmonie statt, die die innere Harmonie des Ichs wiederspiegelt. Es kommt seinem Wunsch nach Ich-Zerfall immer näher. Dennoch ist es immer noch Subjekt; die Ich-Auflösung hat noch nicht stattgefunden. Deutlich wird dies durch die „Formen“ (V. 8), die zwar die Hügel meinen, stellvertretend aber für das innere Bild des Ichs von sich selbst verstanden werden können. „Enthüllt“ zeigt aber auf, dass das lyrische Ich etwas entdeckt, dass es zuvor nicht kannte. Eine Wandlung findet also statt: der Hügel verliert seine Hülle wie das Ich seine Hülle verliert, die ihm durch die Geburt gegeben wurde. Damit ist nicht unbedingt die Haut als die Hülle des Menschen gemeint, sondern eher die Hülle, die den Menschen in seiner Ganzheit zusammenhält, also dafür sorgt, dass es nicht zum Ich-Zerfall kommt. Die Hülle ist noch da, doch sie lüftet sich an bestimmten Stellen, so dass „Formen“ (V. 8) zum Vorschein kommen, die zur Ganzheit gehören und eigentlich verdeckt sein müssten. Durch die Enthüllung bestehen zwar die Formen weiter, die Ganzheit wird aber teilweise zerstört: der Ich-Zerfall verstärkt sich.

3.5 Kernspaltung: die letzte Stufe vor dem Zerfall

Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben-

Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns

Das Ur, geballt, Nicht-seine beben

Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.

Die dritte Strophe zeigt die weitere Entwicklung des Ich-Zerfalls. Während in der 2. Strophe „Formen“ (V. 8) noch als solche benannt werden konnten, sind sie in Strophe 3 nicht mehr fassbar. Es gibt sie noch, doch sie werden nicht mehr als Form begriffen, sondern als „laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben“ (V. 9). Das ist es, was vom Ich übrig bleibt. Die Beschreibungen mit etwas „laues“ , „Etwas kleines“ und „Eben“, etwas Zufälligem zeigen, dass das Ich bedeutungslos wird; es zerfällt in Nichtigkeiten. Auch bei „Glatt“ öffnen sich Assoziationen wie nicht greifbar oder schwammig. Das Ich löst sich auf in kleine, unbedeutende Einheiten, die nicht konkret genug sind, um sie bei einem Namen zu nennen.

„Und nun“ (V. 10) signalisiert einen Einschnitt: Das Ur entsteigt. „Entsteigt“ (V. 10) steht hier in gleicher Linie wie der Zerfall (V. 1), entsprang (V. 6) und gesunken (V. 7) . Anhand dieser Wortkette wird die Auflösung sichtbar. Nur für den „Hauche eines Wehns“(V. 10) erscheint das Ur, also nur für einen sehr kurzen Augenblick. Denn die Zeitspanne eines Hauchs, vorzustellen als ein Atemhauch, ist für sich genommen schon äußerst knapp. Im Übrigen könnte Atemhauch auch einen Rückbezug auf das Rauchen des Cocain darstellen; der phonetische Gleichklang verweist ebenfalls in diese Richtung. Bedenkt man nun den „Hauch eines Wehns“, so muss der Zeitabschnitt ein noch kürzerer sein. Denn ein Wehen, vielleicht ein Windstoß, ist ebenfalls nicht von langer Dauer. Hier handelt es sich aber nur um die Andeutung eines Wehens. Lediglich in diesem kurzen Moment kommt das Ur zum Vorschein: dieser Moment ist sehr kostbar. Weiter könnte man diese Argumentation begründen, wenn man bedenkt, dass Cocain eine sehr kurze Wirkdauer hat. Der Rausch durch die Droge ist nicht von langer Dauer, daher erscheint das „Ur“ (V. 11) nur für einen Augenblick.

Ein anderer Aspekt ist, dass mit dem „Wehn“ (V. 10) ebenfalls auf Geburt angespielt wird. Zu Denken sei hier an die Geburtswehen. Somit wäre die Verknüpfung zwischen der Geburt des Ichs in Strophe 2 und der Geburt des Entformten (V. 16), die in Strophe 4 beschrieben wird, hergestellt.

Problematisch scheint, was Gottfried Benn mit dem „Ur“ (V. 11) gemeint hat. Richtig ist wohl, dass es den ursprünglichsten Kern des Ichs ausmacht. Es ist sein kleinster Kern. Bildlich kann man sich ein Atom vorstellen, der kleinste Teil eines Elements. Der kleinste, nicht teilbare Teil des Elementes Ich ist sein Atomkern, das Ur. Die letzte Etappe des Ich-Zerfalls ist so die Spaltung des „Urs“; eine Kernspaltung sozusagen. Seine Kleinheit wird durch die Größe des Wortes selbst augenfällig: es besteht aus zwei Buchstaben. Des weiteren muss es klein sein, da die Entwicklung von den „unerwähnten Gebilden“ (V. 3 / 4), dem „Schwerte“ (V. 5), der „enthüllten Formen“ (V. 8) über ein „Laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben“ (V. 9) bis zum „Ur“ (V. 12) verläuft. Die dargestellten Zustände werden von Schritt zu Schritt, von Strophe zu Strophe kleiner.

Trotz seiner Kleinheit hat das „Ur“ Kraft: es ist geballt. Die Wortreihe „Nicht-seine beben Hirnschauer mürbesten Vorübergehns“ (V. 11 / 12) scheint zunächst nicht logisch. Der Diphthong „au“ und die verwendeten Umlaute “ü“ bewirken eine gewaltige Phonetik, die die Kraft und Gewalt des Urs unterstreicht. Diese Ur-Gewalt sorgt für ein Beben, einen Hirnschauer. Es soll nicht mehr gedacht werden; logische Zusammenhänge darzustellen ist fehl am Platz. Auch das „mürbeste Vorübergehen“ (V. 12) des Urs schließt an die Wortkette Ich-zerfall – entsprang – gesunken – entsteigt an; erst zu diesem Zeitpunkt ist das Ich vollkommen aufgelöst. Es vergisst sich selbst, hat kein Ur mehr, sondern „bebende Hinschauer“, die „Nicht-seine“ (V. 11) sind. Das Ich ist zerfallen, es kann sich selbst nicht mehr als Ganzes wahrnehmen. Das logische, gesteuerte Denken ist unmöglich gemacht worden.

3.6 Ich-Zerfall, Re-Formung und erneuerter Wunsch nach Entformung

Zersprengtes Ich- o aufgetrunkene Schwäre –

Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr -:

Verströme, o verströme Du – gebäre

Blutbäuchig das Entformte her.

Diese letzte Strophe führt dem Rezipienten endlich das zerfallene Ich vor Augen. Zuvor wurden Verben mit den Vorsilben ent- und ge- verwendet: „Entsprang (V. 6), „gesunken“ (V. 7), „enthüllt“ (V. 8) und „entsteigt“. In Vers 13 und 14 werden die Verbformen, die das Ich beschreiben, mit den Präfixen zer-, ver- und auf- benutzt, die die absolute Auflösung demonstrieren: Zersprengt, aufgetrunken, verweht und zerborsten. Außerdem ist auffällig, dass Worte aus anderen Strophen wieder aufgenommen werden. „Verwehte“ (V. 14) enthält das Wehn (V. 10) aus Strophe 3, süß (V. 14) findet man bereits in Strophe 1 (V. 1). Der Zirkel wird geschlossen, was erreicht werden wollte, nämlich der Ich-Zerfall, ist geschafft.

Doch gleichzeitig mit dem Ich-Zerfall kommt auch das Bewusstsein wieder. Das Ich kann sich metasprachlich benennen, seinen Zustand selbst beschreiben; es ist zersprengt, hat seine Schwere aufgetrunken und erscheint wie im Fieber. Alle Gegenwehr, möglicherweise die erste eher unangenehmen Wirkweisen des Cocain wie die rauhe Kehle (V. 2), ist zerborsten auf süße Weise (V. 13 / 14). Dieses „süß“, mit dem auch der Ich-Zerfall beschrieben wurde, macht deutlich, dass die Auflösung schließlich eingetroffen ist. Aber „süß“ (V. 14) und die metasprachlichen Fähigkeiten des Ichs zeigen auch, dass direkt nach dem Ich-Zerfall das Ich zu seiner Ganzheit zurückfindet. Wie bereits erläutert, hält die Wirkung der Droge sehr kurz an. Es gibt nur einen kurzen „Kick“, den Ich-Zerfall. Dann ist eine neuer Konsum von Nöten.

Interessant ist, wer aufgefordert wird, das Entformte zu gebären (V. 15 / 16). Möglich ist, dass das „Du“ der letzten Strophe dem der 1. entspricht. Das bedeutete, das Cocain würde erneut angesprochen, folglich auch nochmals Drogen konsumiert. Anzunehmen wäre dann, dass der Rausch nachgelassen hat, das Bewusstsein wiedererwachte und das lyrische Ich eine zweite Dosis Cocain eingenommen hat, wie bereits dargelegt wurde. Dann würde der Ich-Zerfall wieder beginnen und man könnte das Gedicht nochmals lesen. Somit hätte G. Benn eine Kreiskomposition konstruiert.

Eine andere Idee ist, dass das Ich selbst angesprochen wird. Das Ich soll das Entformte gebären, was es aber nur mit zur Hilfenahme des Droge kann. Strittig bleibt so, wer nun das „Du“ ist: das Cocain oder das Ich. Unabhängig davon scheint der Ich-Zerfall ein weiteres Mal angestrebt zu werden. Schlüssiger wäre es allerdings, wenn mit dem „Du“ das Rauschgift gemeint wäre, weil dann an beiden Stellen, an denen „Du“ verwendet wird, die Droge gemeint wäre. Auszuschließen bleibt die zweite Variante jedoch nicht.

Auffällig ist zudem, dass „Entformtes“ (V. 16) als solches bezeichnet wird, was nur als Wunschäußerung verstanden werden kann. Das Ich ist wieder bei Bewusstsein und begehrt wie in Strophe 1 nach dem Ich-Zerfall. Insofern passt „Entformtes“ in die Reihe Cocain – Glückserfahrung – Ich-Zerfall – Entformtes, kann aber nicht als Kontrast zu „Formen“ (V. 8) gelesen werden, da die „Formen“ bewusst wahrgenommen werden, das „Entformte“ während seiner Entformung allerdings nicht als solches gefasst werden kann, sondern nur Wunsch bleibt. Anders ausgedrückt, das Ich, das Form ist, kann nicht metasprachlich über sich selbst reden, wenn es formlos ist.

Der letzte wichtige Aspekt ist das Gebären. War es sonst eher negativ zu verstehen, nämlich als Gebären des Ichs, der Ganzheit, ist es hier positiv zu deuten, als Gebären des Entformten. Ein Beweis dafür, dass es positiv gewertet wird, ist die förmliche Anrufung zu gebären Verströme, o verströme Du – gebäre

Blutbäuchig das Entformte her.

Die Frage bleibt aber, warum es einmal das negative Gebären der Ganzheit, das andere Mal die positive Geburt des Entformten ist. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in dem Wort „blutbäuchig“( V. 16). Damit ließe sich eine Geburt durch einen Kaiserschnitt vorstellen. Hierbei kommt das Ich nicht natürlich als Ganzes zur Welt, sondern als Formloses. Natürlich ist das Ich dann noch Form, der Mutterleib wird aber zerschnittet und so die Ganzheit zerstört. Der erste Schritt, oder auch der erste Schnitt, zur Entformung ist eingeleitet, die Geburt kann in diesem Kontext positiv aufgefasst werden.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Das Gedicht „Cocain“ führt den Ich-Zerfall mit Hilfe der Droge Cocain vor. Hierbei werden die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Auflösung beschrieben:

Zuerst bemerkt das Ich die ersten unangenehmen Wirkungen der Droge, die es zu überwinden gilt. Die zweite Strophe bildet den Kontrast zwischen Rückblick auf die Ganzheit und fortgeführter Formlosigkeit. Noch ist das Ich aber ganz Form. In der dritte Strophe kann es als solche Form nicht mehr gefasst werden, andere Beschreibungen tauchen auf. Die letzte Entwicklungsstufe zum Formlosen ist das Ur, der Atomkern des Elementes Ich. Erst in der letzten Strophe erreicht das Ich sein Ziel der Auflösung, kann diesen Nicht-Zustand allerdings nur kurz halten und wünscht sich erneut die Auflösung. Eine weitere Dosis Cocain wird eingenommen.

Dieser wenig sprunghaften, geradezu kreisförmigen Bewegung des Ichs entspricht die äußere Form des Gedichts. Das Metrum des fünfhebigen Jambus wird durchgeführt, das Reimschema des Kreuzreim beibehalten und es gibt keine auffälligen Einschübe. Die weniger merklichen Bindestriche spiegeln die einzelnen Entwicklungsschübe wieder. Außerdem lassen sich semantische Wortketten durch die verschiedenen Strophen aufzeigen, was ebenfalls die relative Gleichmäßigkeit des Ganzen verdeutlicht.

Die Wortreihe „Ich-zerfall (V. 1) – Entsprang (V. 6) – gesunken (V. 8) – entsteigt (V. 10) – Zersprengtes (V. 13) – aufgetrunken (V. 13) – Verwehte (V. 14) – zerborstene (V. 14)“ macht die Stadien der Ich-Auflösung deutlicht und korrespondiert mit der Wortkette, die die abnehmende Formung darstellt: „Gebilden“ (V. 4) – Unterbau (V. 4) – Schwerte (V. 5) – Scheide (V. 5) – enthüllter Formen (V. 8) – ein laues Glatt (V. 9) – ein kleines Etwas (V. 9) – Eben (V. 9) – Das Ur (V. 8) – Entformtes (V. 16)[5].

Kritik könnte man an diesem Gedicht an einem Punkte üben: das Ich scheint in seiner Formlosigkeit nach der Konzeption Gottfried Benns in der Lage gewesen zu sein, über sich selbst metasprachlich zu reden. Ansonsten lässt sich die letztgenannte Wortreihe nicht schlüssig verstehen. Interessant wäre nun also zu untersuchen, ob es sich bei anderen Gedichten Benns ähnlich verhält. Das heißt, ob das Ich, das bei anderen Gedichten ebenfalls thematisiert wird[6], während seines Zerfalls seinen Zustand überdenken und benennen kann.

Literaturverzeichnis

1. Primärliteratur:

Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung von Bruno Hillebrand, Frankfurt a./M. 2001.

2. Sekundärliteratur:

Hiltrud Gnüg, Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität: Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit, Stuttgart 1983, S. 82-84.

Oskar Sahlberg, Gottfried Benns Phantasiewelt. „Wo Lust und Leiche winkt“, München 1977, S. 47-55.

Cocain

Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten,

Den gibst Du mir: schon ist die Kehle rauh,

Schon ist der fremde Klang an unerwähnten

Gebilden meines Ichs am Unterbau.

Nicht mehr am Schwerte, das der Mutter Scheide

Entsprang, um da und dort ein Werk zu tun

Und stählern schlägt - - : gesunken in die Heide,

Wo Hügel kaum enthüllter Formen ruhn!

Ein laues Glatt, ein kleines Etwas, Eben –

Und nun entsteigt für Hauche eines Wehns

Das Ur, geballt, Nicht-seine beben

Hirnschauer mürbesten Vorübergehns.

Zersprengtes Ich – o aufgetrunkene Schwäre –

Verwehte Fieber – süß zerborstene Wehr -:

Verströme, o verströme Du – gebäre

Blutbäuchig das Entformte her.

[...]


[1] Oskar Sahlberg, Gottfried Benns Phantasiewelt. „Wo Lust und Leiche winkt“, München 1977, S. 47-55.

[2] Hiltrud Gnüg, Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität: Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahungswirklichkeit, Stuttgart 1983, S. 82-84.

[3] Hierbei richte ich mich nach Fassung der Erstdrucke, nachzulesen in: Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung von Bruno Hillebrand, Frankfurt a./M. 2001, S. 108.

[4] Das Gedicht ist dennoch nicht als Warnhinweis vor Drogenmissbrauch zu lesen.

[5] Wie bereits in 3.6 erläutert, muss es sich bei „Entformtes“ um einen Wunsch handeln und nicht, wie bei den anderen Bezeichnungen, um bewusst Erlebtes. Insofern passt Entformtes nicht in diese Reihe.

[6] Zum Beispiel wird in dem späten Gedicht „März. Brief nach Meran“ ebenfalls die Ich-Auflösung thematisiert.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Textimmanente Interpretation des Gedichts "Cocain" (Gottfried Benn)
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Veranstaltung
Hauptseminar: Gottfried Benn: Lyrik
Note
2,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V108636
ISBN (eBook)
9783640068319
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Textimmanente, Interpretation, Gedichts, Cocain, Benn), Hauptseminar, Gottfried, Benn, Lyrik
Arbeit zitieren
Sonja Walther (Autor:in), 2001, Textimmanente Interpretation des Gedichts "Cocain" (Gottfried Benn), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108636

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