Vom Wahnsinn erzählen - E.T.A. Hoffmanns Erzählung *Der Sandmann*


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Nathanael ist wahnsinnig

3. Daniel Schmolling ist nicht wahnsinnig

4. Vom Wahnsinn erzählen

5. Erzählen im „Sandmann“

6. Schluss

1.Einleitung

Daß einer Beethovensymphonie so wenig jemand gewachsen ist, der nicht die sogenannten rein-musikalischen Vorgänge in ihr versteht, wie einer, der nicht das Echo der Französischen Revolution darin wahrnimmt; und wie beide Momente im Phänomen sich vermitteln, rechnet zu den ebenso spröden wie unabweisbaren Themen philosophischer Ästhetik.[1]

Es sind Französische Revolution und Napoleon, Mesmerismus und Magnetismus, Wandel von Justiz und Psychiatrie, die in der Hoffmannschen Erzählung „Der Sandmann“ wiederhallen. Es ist das Echo eines gesellschaftlichen Diskurses um den Begriff des Wahnsinns, den man beim aufmerksamen Lesen der Dialoge und Briefe des gegensätzlichen Paares Nathanael und Clara vernimmt. Michael Rohrwasser ist diesem Echo nachgegangen, hat sich um eine historische Verortung der Erzählung bemüht[2] und sie von der Reduziertheit des psychoanalytischen Blickes[3] befreit. Im Sinne dieser Verortung soll der Fiktion ein faktualer Text Hoffmanns gegenübergestellt werden, ein juristisches Gutachten, das er circa ein Jahr nach dem erstmaligen Erscheinend der Sandmannerzählung für das Kammergericht Berlin schrieb. Tertium Comparationis ist die Hoffmannsche Beschreibung von und sein Umgang mit Wahnsinn, zum einem im Justizsystem, zum anderen im Kunstwerk. Als Jurist verteidigt er die Annahme der menschlichen Freiheit, seine daraus resultierende Verantwortlichkeit gegen den Zugriff der Psychiatrie und ihr sich ausdehnendes Reich des Pathologischen, der Unzurechnungsfähigkeit und Unfreiheit. Als Literat dehnt er den Begriff des Normalen so weit, das er sich in des Menschen unheimlichen Abgründen und rätselhaften Tiefen auflöst. Das aus der äußeren Welt in das Innere des Kunstwerkes hineingetragene Thema des Wahnsinns, findet sich in der Erzählung eine ästhetische Ordnung und Gestaltung. In dieser Ordnung steht im Zentrum der Erzähler. Er eröffnet einen Raum der Kommunikation, in dem eine Thematisierung von Wahnsinn ohne Grenzziehung und Ausgrenzung möglich ist.

2. Nathanael ist wahnsinnig

Nathanael ist Student der Physik in G., als er beginnt, krank zu werden. Im Krankheitsverlauf lösen sich relativ ruhige Phasen mit Perioden starker Erregung und Verwirrung ab, die sich in immer stärkeren Anfällen steigern. In einem Brief beschreibt er seinem Freunde Lothar die quälende Angst vor einem ihm drohenden Verhängnis, die ihn seit einem zufälligen Besuch eines Händlers bedrückt. Er glaubt in ihm den Advokaten Coppelius wiedererkannt zu haben, der in Nathanaels Kindheit zusammen mit seinem Vater chemische Experimente durchführte. Den Kindern blieben diese nächtlichen Experimente verborgen, denn sie wurden mit dem Hinweis, „der Sandmann kommt“[4] ins Bett geschickt. Der Advokat, den sie von seinen täglichen Besuchen kannten, war den Kindern verhasst. Eines Abends versteckt sich Nathanael, er entdeckt die Identität von Sandmann und Advokat, wird selbst entdeckt und vom Advokaten derart bedroht, dass das Kind für einige Tage an Fieber erkrankt. Etwas später stirbt der Vater während eines Experiments und Nathanael gibt Coppelius die Schuld daran. Den Tod seines Vaters will er nun am Händler Coppola rächen, der seiner Überzeugung nach Coppelius ist. Der erste Brief schwankt zwischen Nathanaels Angst vor einem ihm drohenden, unausweichlichem Unheil, seinem Bedürfnis, diese glaubhaft mitzuteilen, und relativierenden Stellen, in denen er an seiner eigenen Realitätswahrnehmung zweifelt.

Nur noch den schrecklichsten Moment meiner Jugendzeit darf ich dir erzählen; dann wirst du überzeugt sein, daß es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint, sondern, daß ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat, den ich vielleicht nur sterbend zerreiße.[5]

Zum wiederholten Male gibt Nathanael seiner Befürchtung Ausdruck, dass Lothar ihm nicht glauben wird. Noch ist sich Nathanael nicht sicher: Einerseits ist er überzeugt, dass ein „dunkles Verhängnis“ ihn erwartet, andererseits spricht er selbst von einem „Wolkenschleier“, der über sein Leben gelegt ist und ihn daran hindert, seine Umgebung wahrzunehmen.

Im zweiten Brief hat sich Nathanael merklich beruhigt. Er gibt offen zu, dass er sich geirrt hat, Coppelius und Coppola sind nicht identisch und er kündigt an, bald nach Hause zu kommen. Auch an seiner Beschreibung von Olimpia, einem menschenähnlichen Automaten, bemerkt man, dass der „Wolkenschleier“ vor seinen Augen sich gelüftet hat, er empfindet etwas „Starres“ an ihr, ihm wird „unheimlich“ und er vermutet, dass sie „blödsinnig“[6] ist. Nur an einer Stelle kann Lothar, der Empfänger des Briefes, bemerken, dass die Gefahr noch nicht vorüber ist. Nathanael ist nicht „ganz beruhigt (...). Haltet Ihr, Du und Clara, mich immerhin für einen düstern Träumer, aber nicht los kann mich der Eindruck werden, den Coppelius verfluchtes Gesicht auf mich macht.“[7] Sobald er wieder zu Hause bei seiner Verlobten Clara und ihrem Bruder Lothar ist, bemerken seine Freunde, dass er sich verändert hat. Er versinkt in Träumereien, spricht von unausweichlichem Schicksal, schwankt zwischen sehr ruhigen, besonnen Momenten und Augenblicken höchster Erregung. Er streitet sich oft mit Clara, es kommt zum Bruch zwischen beiden. Claras Bruder Lothar will ihre Kränkung rächen und fordert Nathanael zum Duell, das Clara verhindert. Mit dem Duell ist ein Höhepunkt erreicht, nachdem Nathanael anscheinend wieder zur Besinnung kommt, ein in der Erzählung wiederkehrender Ablauf. Er kehrt nach G. zurück und lernt Olimpia kennen. Nathanael lässt sich täuschen und verliebt sich in den Automaten Olimpia. Während allen Olimpia „auf seltsame Art und Weise starr und seelenlos“ erscheint und sie „nichts mit ihr zu schaffen haben“ wollen, ist Nathanael vollkommen verblendet und auf Kritik an Olimpia antwortet er:

Nur dem poetischen Gemüte entfaltet sich das gleich organisierte! – Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder.[8]

Nathanael vermag es nicht mehr, Außen- und Innenwelt zu verbinden. Er begegnet nicht einem lebendigen Gegenüber und findet sich selbst in Auseinandersetzung mit dem anderen, sondern spricht mit einem leblosen Automaten, einer nur in seiner Imagination existierenden beseelten Olimpia und bleibt völlig in sich selbst eingesperrt und isoliert.

In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung zerbrochen wird, erstarrt das Ich.[9]

Für einen Moment bricht diese Erstarrung noch einmal auf, hebt sich der Wolkenschleier vor Nathanaels Augen und er erkennt zumindest, dass sein Freund Siegmund, der ihn auf die seltsame Leblosigkeit Olimpias versucht aufmerksam zu machen, „es sehr treu mit ihm“[10] meint. Doch ändert dies nichts an seiner Liebe zu Olimpia und erst, als sie zerbrochen in ihrem Räderwerk vor ihm liegt, erkennt er seinen Irrtum und bekommt einen Anfall: „Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend.“ Er versucht, den Schöpfer der Puppe Olimpia zu ermorden, wird von herbeieilenden Kommilitonen abgehalten, die ihn mit Mühe bändigen und ins „Tollhaus“[11] bringen. Nathanael erwacht zu Hause, umsorgt von Clara und seiner Mutter. Wieder wird der Wahnsinn durch eine Phase scheinbarer Ruhe und Heilung abgelöst. Er reist mit seiner Familie aufs Land, doch schon auf dem Weg bekommt er einen erneuten Anfall. In seiner geistigen Verwirrung versucht er, Clara zu töten, was Lothar verhindert, und begeht Selbstmord.

Hoffmann erzählt die Geschichte eines Wahnsinnigen nach damaligem wissenschaftlichem Stand, mit seinem erschiedenen Phasen und Symptomen. Doch bebildert er nur eine Fallgeschichte? Gibt er eine Erklärung für Nathanaels Krankheit? „Die Psychoanalyse benutzte u.a. den Sandmann als Fundgrube zur Bestätigung ihrer wissenschaftlichen Bemühungen.“[12] Siegmund Freud bezieht sich in seinem 1919 geschriebenen Essay „Das Unheimliche“ auf die Erzählung, erklärt das kindliche Trauma Nathanaels zur Ursache für seinen Narzissmus und deutet Nathanaels Angst, seine Augen zu verlieren, als Kastrationsangst.[13] Doch „Neurose um 1900 meint eben nicht dasselbe wie Wahnsinn um 1800. Es ist deshalb sinnvoll, Vorstellung und Definition des Wahnsinns um 1800 zu klären.“[14]

Über welches Wissen Hoffmann verfügte und welche Haltung er geistiger Krankheit gegenüber einnahm, lässt sich aus einem anderen Bereich Hoffmannscher Tätigkeit entnehmen: Der Justiz. Hoffmann war Jurist und schrieb als solcher für das Berliner Kammergericht Gutachten. In einem Gutachten, das er circa ein Jahr nach dem „Sandmann“ geschrieben hat, prüft er die Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten.

3. Daniel Schmolling ist nicht wahnsinnig

Am 25. September 1817 Abends wurde in der Hasenheide, einem Wäldchen vor Berlin, ein junges Mädchen, Henriette Lehne, durch einen Messerstich schwer verwundet, am Wege gefunden. Sie sagte einigen Vorübergehenden, ihr Geliebter, der Tabacksspinner Schmolling, habe sie in’s Herz gestochen, und wirklich bekannte sich auch ein Mensch, der im Augenblick herbeieilte, und sich als der Schmolling zu erkennen gab, zur That.

Daniel Schmolling wurde festgenommen und während des Verhörs gab er als Motiv für seine Tat an, dass „ihm der Gedanke, das Mädchen zu ermorden, gekommen sey, er wisse selbst nicht wie, und daß ihm dieser Gedanke keine Ruhe gelassen, bis er die That ausgeführt.“ Aufgrund dieser Aussage wurde, obwohl der Verdächtige ansonsten „an Leib und Seele gesund erschien“, ein psychiatrisches Gutachten bestellt. Der untersuchende Stadtphysikus Dr. Merzdorff stellt fest, dass „der Schmolling seine That in einem Anfalle von amentia oculta beschlossen habe“[15], zu Tatzeit seines eigenen Willens nicht mächtig war und deswegen für die Tat nicht haftbar zu machen ist. Die Verteidigung beantragt daraufhin, die Todesstrafe nicht zu vollziehen. Der Criminal-Senat des Kammergerichts spricht sich dagegen aus und beantragt die „Todesstrafe des Rades von oben herab“[16]. Dieses Gutachten schreibt Hoffmann.

Hoffmann lehnt die Zuständigkeit von Merzdorff für die Beurteilung der Psyche des Angeklagten ab. Merzdorff ist als ausgebildet, körperliche Symptome zu erkennen, die auf eine psychische Erkrankung hindeuten oder Wahnsinn bedingen. Da aber solche Symptome beim Angeklagten nicht vorgefunden werden, ist Merzdorff nicht kompetenter als ein jeder andere. Da Merzdorff keine körperlichen Anzeichen findet, leitet er den Wahnsinn des Angeklagten allein aus der Tat, genauer aus der Unbegründetheit der Tat ab.

folgert also der Merzdorff den Wahnsinn, der die That veranlaßt haben soll, aus der That selbst, deren Ursache (...) sonst nicht ausfindig zu machen gewesen, weshalb er der Versicherung des Inquisiten glaubt, daß ein unwiderstehlicher Drang ihn dazu getrieben.[17]

Dieses Vorgehen lehnt Hoffmann als unwissenschaftliche Spekulation ab und besteht darauf, dass das einzig Anormale an dem Fall das scheinbar nicht vorhandene Motiv für die Tat ist.[18]

Wenn das psychiatrische Gutachten keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn liefert, wie Hoffmann kritisiert, welche Funktion hat es dann? Weshalb wehrt sich Hoffmann so vehement gegen eine Schonung des Angeklagten, einer offensichtlichen Humanisierung des Strafsystem? Michel Foucault beschreibt in seiner kürzlich unter dem Titel „Die Anormalen“ erschienenen Vorlesungsreihe am Collège de France aus dem Jahre 1975[19] den Aufstieg der Psychiatrie von einem marginalen Bereich der Medizin zu einer alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden, eigenständigen Wissenschaft. Am Ende des 19. Jahrhundert hat die Psychiatrie tatsächlich die Absicht haben können „sogar an die Stelle der Justiz zu treten; nicht nur an die Stelle der Justiz, sondern gar noch der Hygiene; nicht nur der Hygiene, sondern schließlich an die meisten Manipulations- und Kontrollinstanzen der Gesellschaft, um zur Generalinstanz der Verteidigung der Gesellschaft gegen die ihr von innen drohenden Gefahren zu werden.“[20] Dieser Siegeszug der Psychiatrie beginnt im Gerichtssaal zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Um die Jahrhundertwende fand ein grundlegender Wandel des Strafprinzips statt. Im Ancien Régime stand der Körper des Verbrechers im Zentrum der Strafsanktion. Es existierte durch die Marter die Möglichkeit, die gesellschaftliche Ordnung, die durch das Verbrechen bedroht war, symbolisch wiederherzustellen.[21] Mit dem Wandel des Strafregimes verschwand diese Möglichkeit, nicht mehr der Körper war das Ziel der Strafe, sondern die Seele, die zum Gefängnis des Körpers wurde[22]. Im Zentrum der juristischen Untersuchung stand nicht mehr die Tat, denn die war nicht mehr ungeschehen zu machen, sondern das Interesse, das zur Tat führte. Das Interesse hinter der Tat ist im Gegensatz zur Tat selbst noch verfügbar und veränderbar. Während im vorhergehenden Strafsystem nur bei ‚eindeutigen’ Anzeichen von Wahnsinn des Angeklagten die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit wichtig wurde, ist im neuen Strafregime jedes Verbrechen mit einem rationalen Interesse zu begründen, denn anhand dieses ist die Schwere der Tat messbar und damit strafbar. Sobald dieses nicht vorhanden ist, wendet sich die Justiz, die bei Daniel Schmolling und bei Henriette Cornier[23] vor einem grundlosen Verbrechen steht, ratlos an die Medizin, an die entstehende Psychiatrie:

Einerseits wird die Strafmacht weiterhin zum medizinischen Wissen sagen: Hier stehe ich vor einer grundlosen Tat. Daher bitte ich Sie: Finden Sie entweder die Gründe für diese Tat, dann könnte ich meine Macht zu strafen umgehend ausüben; wenn sie jedoch keine finden, muß die Tat verrückt sein. Liefern Sie mir einen Nachweis für die Demenz, und ich werde mein Recht zustrafen nicht anwenden. (...) Und das medizinische Machtwissen wird antworten: Sehen Sie nur, wie unabkömmlich meine Wissenschaft ist, da ich in der Lage bin, selbst dort noch aufzuspüren, wo kein Vernunftgrund sie bloßlegen kann. Zeigen Sie mir alle Verbrechen, mit denen Sie es zu tun haben, und ich kann Ihnen zeigen, daß es unter zahlreichen Verbrechen solche gibt, die jedes einsichtigen Grundes ermangeln.[24]

Das psychiatrische Gutachten stellt die Verbindung zwischen medizinischer Psychiatrie und Justiz her, ist aber zu keinem der beiden Bereiche zuzuordnen, sondern ist nach Foucault Ausdruck der Normalisierungsmacht. Die Gründe für die Tat findet der Gutachter meist im Vorleben des Angeklagten. Funktion des Gutachten ist es, das Vorleben auf Ähnlichkeiten zum Verbrechen hin zu prüfen, ein Doppel des Angeklagten herzustellen: Einen Verdächtigen, Anormalen, Delinquenten. So wird nicht mehr die Tat selbst, sondern die abweichende Lebensweise des Angeklagten bestraft. Problematisch wird dies nur, wenn der Angeklagte zwar eindeutig vernünftig ist (also nicht wahnsinnig), seine Tat aber auch nach ausgiebiger Suche im Vorleben unerklärbar bleibt, wie in den Fällen Schmolling und Cornier. Nach Foucault ist dies die Geburtstunde des Triebes. Die psychiatrische Wissenschaft erfindet das Konzept des Triebes, weil es beide Reiche verbinden kann: Das Reich der Justiz, der Freiheit, Verantwortung und Vernunft und das Reich der Psychiatrie, des Wahnsinns, der Unzurechenbarkeit. Eine partielle Störung des Gleichgewichtes von ‚Triebkräften’ muss noch nicht Wahnsinn bedeuten und erklärt die Vernunft eines Angeklagten und doch auch das monströses Verbrechen, das er beging. Merzdorff verwendet noch nicht den Begriff des Triebes, sondern greift zu dem der „ometia occulta“, ein seiner Meinung nach plötzlicher Moment des Wahnsinns, der spurlos verschwindet.[25] Anormales, scheinbar nicht erklärliches wird pathologisiert und Objekt der Psychiatrie.

Hoffmann lebt als Jurist zu der Zeit, in der sich dieser Bruch im Strafsystem vollzieht. Als Jurist, der von der Annahme der Freiheit eines jeden Individuums ausgehen muss, wehrt er sich gegen die Pathologisierung des Anormalen, greift die angeblichen Kompetenz des Physikus an, verteidigt die Machtfülle der Justiz gegenüber der Psychiatrie.

Dem im irdischen Leben befangenen Menschen ist es nicht vergönnt, die Tiefe seiner eigenen Natur zu ergründen, und wenn der Philosoph sich über diese dunkle Materie in Spekulationen verliert, so darf der Richter sich nur daran halten, was die unzweideutige Erfahrung festgestellt hat. Die Freiheit des Menschen, metaphysisch betrachtet, kann auf Gesetzgebung und Rechtspflege nie von Einfluß seyn, die moralische Freiheit des Menschen, d. h. das Vermögen, seinen Willen und dessen thätige Aeußerung dem sittlichen Princip gemäß zu bestimmen (...) wird als die Anwendung jeder Strafsanction bedingend vorausgesetzt, und jeder Zweifel dagegen muß dem Richter, soll er darauf achten, mit überzeugender Kraft dagethan werden.[26]

Als Jurist tut Hoffmann so, als ob der Mensch frei und vernünftig wäre, sonst wären Justiz und Strafe nicht zu rechtfertigen. Doch gleichzeitig beschreibt er im Sandmann mit Nathanael einen Menschen, den dunkle Mächte in den Wahnsinn treiben. Dem ohnmächtigen Nathanael bleibt keine Wahl, wäre der Mordversuch an Clara gelungen, kein Gericht würde ihn für zurechnungsfähig erklären. Widerspricht sich Hoffmann, führt er ein Doppelleben wie der Advokat Coppelius, der sich tagsüber der Juristerei und nachts zweifelhaften Experimenten widmet? Hoffmann weiß um den möglicherweise fiktiven Charakter menschlicher Freiheit, doch ist diese Annahme notwendige Bedingung für eine durch Regel und Sanktion geordnete Gesellschaft. Rüdiger Safranski löst den Widerspruch, in dem Hoffmanns augenscheinlich steht, auf: Einerseits wehrt sich Hoffmann als Jurist gegen einen expandierenden Begriff des Wahnsinns, der immer mehr menschliche Unerklärlichkeiten umfasst, andererseits öffnet er in seinen Erzählungen den Blick für die Breite und Vielfalt menschlicher ‚Normalität’, die viele Abgründe durchziehen. Die Literatur bietet Hoffmann einen Raum, der nicht wie die der juristische unter den „Zwängen der Handlungskonsequenz“ steht, einen Raum, in dem Aussagen nicht „gesellschaftsfähig, politikfähig, konsensfähig“[27] sein müssen. Doch welche Eigenschaften der Literatur sind es genau, die Hoffmann dies ermöglichen? Benutzt er sie in besonderer Form? Ist der Jurist Hoffmann aus dem Reich der Literatur völlig verbannt oder taucht er gelegentlich auf?

4. Vom Wahnsinn erzählen

Faktuale Texte zielen auf bestimmte Zwecke, haben reale Wirkungen und sind Ausdruck von Machtverhältnissen. Hoffmanns Behauptung, dass Schmolling nicht wahnsinnig ist, bedeutet für ihn, sobald man Hoffmann Glauben schenkt, den Tod. Als Kunstwerk steht die Erzählung außerhalb dieser Funktionszusammenhänge, es lässt sich nicht auf einen Zweck und eine Aussage festlegen, es sei denn, der Autor missbraucht es als „Vehikel“[28] seiner Ansichten.

[D]urch ihre Unauflösbarkeit in endgültiges Verstehen bringt die Kunst die Unverständlichkeit unser faktischen Verständigungsverhältnisse zum Ausdruck.

Letztendlich bleibt der Leser mit Zweifeln zurück: Existiert der Dämon nur im Inneren Nathanaels oder sind Coppola und Coppelius nicht doch identisch? Ist es nicht doch Coppelius, der Nathanael mit rätselhafter Macht in den Wahnsinn treibt, seine Blicke durch das Perspektiv lenkt, ihn auf dem Marktplatz erwartet, auf dem Nathanael den Tod findet? Es ist der „Rätselcharakter der Kunst“, ihre Fähigkeit, nicht ganz aufzugehen, einen Rest der Unklarheit zu hinterlassen, die es Hoffmann ermöglicht, Wahnsinn darzustellen, ohne die Grenzen des Normalen zu verengen.

Bleibt das Gutachten nur Teil der empirischen Welt, gründet sich das Kunstwerk zwar in ihr, entleiht ihr Worte und Bedeutungen, doch bleibt „in keiner [Dichtung] ( ) diese Bedeutung unverwandelt die gleiche, welche das Wort draußen hatte.“[29] Das Besondere der Dichtung besteht in ihrer Form, in die sich die beiden Momente: Der Ordnung des Kunstwerkes und die Elemente der empirischen Welt, vermitteln. Dieses Formgesetzt des Kunstwerkes ist es, dass ihre Autonomie ausmacht und es zu einem „Sein zweiter Potenz“[30] erhebt.

Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf zu widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.[31]

Das Verhältnis zwischen empirischer Welt und Kunstwerk bestimmt dieses Formgesetz der Kunst, das ihm Autonomie verleiht. Innerhalb des Kunstwerkes sind die Elemente des Draußen in der Ordnung des Kunstwerkes, diese Ordnung, ihre ästhetische Form bedingt den Bedeutungswandel, ist „sedimentierter Inhalt“.

5. Erzählen im „Sandmann“

Im Zentrum der erzählenden Ordnung steht die Figur des Erzählers. Durch ihn schafft sich Hoffmann einen vielschichtigeren Kommunikationsraum. Im Gutachten besteht eine reale Kommunikationssituation (Hoffmann an das Gericht) und eine eindeutige Aussage, mit der Hoffmann Schmolling die Pistole an die Brust setzt. Auch in der Erzählung existiert eine reale Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser, doch ist diese vermittelt durch die Figur des Erzählers. Hoffmann produziert reale Sätze, doch sind diese nicht seine Behauptungen, insofern inauthentisch, sondern es sind Aussagen eines imaginären Erzählers, der sie als seine authentischen Behauptungen in einer imaginären Kommunikationssituation äußert.[32]

Die Erzählsituation in der Sandmannerzählung ist nicht ganz einfach, gibt es doch drei verschiedene Erzählstimmen. Zunächst treten Nathanael und Clara völlig unvermittelt als Ich-Erzähler in einem kleinen Briefwechsel auf. Der Leser ist verwirrt: Nathanael schreibt an Lothar, doch Clara antwortet. Ein selbst für den aufgebrachten Nathanael ungewöhnliches Missgeschick: Er adressiert den Brief falsch und anstatt Lothar empfängt ihn Clara. Selbst in der imaginären Kommunikationssituation scheinen die Teilnehmer an dieser nicht ganz klar. Nach dem dritten Brief, den Nathanael nun wieder an Lothar schreibt und schickt, schaltet sich unvermutet der Erzähler ein, aus dessen Perspektive der Leser den Rest der Geschichte erzählt bekommt. Während des Briefwechsels hält er sich völlig zurück, nur durch ein kleines Zeichen macht er sich bemerkbar: Die Briefe enden statt der ausführlichen Grußformel mit der Abkürzung „etc. etc. etc.“ Wohl kaum, dass Clara ihren Brief an den Verlobten so beendet, hier kürzt der Erzähler, der, wie er uns später ausführlich erklärt, die Briefe ausgewählt hat. So sehr er sich bei den Briefen zurückhält, nun stellt er sich ins Rampenlicht und zieht über anderthalb Seiten alle Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. In einem hektischen, euphorischen Redefluss wirbt er um die Gunst des Lesers, als befürchte er, dieser könne desinteressiert das Buch zur Seite legen. Mehrfach spricht er ihn direkt an, umschmeichelt ihn als „Geneigtester“, versucht den Leser persönlich zu involvieren: Kurzerhand spricht er den Leser selbst als potentiell Wahnsinnigen an, zieht ihn in die Geschichte hinein nach dem Motto: Das kann jedem passieren. Fragt er ihn zunächst noch, ob ihm etwas ähnliches wie Nathanael schon passiert ist, so beschreibt er anschließend den Leser in einer solchen Situation: „Es gärte und kochte in dir, zur siedenden Glut entzündet sprang das Blut durch die Adern und färbte höher deine Wangen.“ Doch nicht nur ist der Leser plötzlich ein des Wahnsinns kenntlicher, nein, er erfuhr auch schon das den Erzähler eigentlich quälende Problem am eigenen Leibe: Wie beschreibt man Wahnsinn? „Doch jedes Wort, alles was Rede vermag, schien dir farblos und frostig und tot. Du suchst und suchst, und stotterst und stammelst, und die nüchternen Fragen der Freunde schlagen, wie eisige Windeshauche, hinein in dein innere Glut.“[33] Es wird der Leser selbst Wahnsinniger und unverstandener Erzähler, der die Probleme, wie man eine Geschichte richtig erzählt, nur allzu gut nachvollziehen kann. Und seine Probleme beim Schreiben schildert der Erzähler ausführlich, beschreibt, wie verschieden er die Erzählung beginnen wollte, bis er auf die Briefe ihrer Authentizität wegen zurückgriff. Eine Authentizität, die keine Objektivität biete, wie dem Leser klar wird, verändern sich doch nur die Perspektiven, die Perspektivität bleibt unvermeidlich bestehen. Der Erzähler teilt das Problem mit Nathanael, der in seinem ersten Brief immer wieder die Befürchtung äußert, von Lothar nicht verstanden zu werden, sich nicht richtig ausdrücken zu können. Lauter kann sich ein Erzähler kaum bemerkbar machen, aufdringlicher nicht an die Subjektivität eines jeden Erzählers, der „Farbe“ in die Erzählung hineinträgt, erinnern, ausdrücklicher nicht auf die Fiktivität der Erzählung hinweisen: „Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt (...) so aufzufassen, daß du es ähnlich findet, ohne das Original zu kennen.“ Dem Leser aber, dem potentiell Wahnsinnigen, so wird suggeriert, ist das Problem des Erzählens nicht bloß bekannt, es ist das Erzählen trotz dieser Schwierigkeiten schon einmal gelungen: „Hattest du aber (... ) erst mit einigen verwegenen Strichen, den Umriß deines innern Bildes hingeworfen, so trugst du mit leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben auf und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß die Freunde fort und sie sahen, wie du, sich selbst mitten im Bilde, das aus deinem Gemüt hervorgegangen.“[34] Die gelungene Erzählung vermag es, eine Verbindung zwischen Außen und Innen zu schaffen, Dialog herzustellen, genau die Fähigkeit, die Nathanael im Laufe der Erzählung verliert.

Nachdem sich der Erzähler ausführlich vorgestellt hat, tritt er nun hinter die Geschehnisse zurück und bezieht doch im nächsten Abschnitt zu Nathanaels Entwicklung eine klare Position: Die Claras. Den Wahnsinn Nathanaels sieht der Leser aus ihrer Außenperspektive, ihre Rede zitiert der Erzähler, während er Nathanaels Äußerungen zur Unfreiheit des Menschen nur im Konditional indirekt wiedergibt. Nathanael „sprach [immer] davon, wie jeder Mensch sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene“. Clara verteidigt gegen ihn den Glauben an die Freiheit des Menschen: „Ja Nathanael! du hast recht, Coppelius ist ein böses feindliches Prinzip, er kann Entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbar in das Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. Solange du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht.“[35] Aus dieser Sicht schildert der Erzähler Nathanael, weist daraufhin, dass Nathanael Mühe hat, „den Coppelius in seinen Dichtungen (...) recht lebendig zu kolorieren“, da dieser in seiner Erinnerung schon verblasst, stimmt dem Urteil Claras über Nathanaels so langweilige Dichtungen zu. Der Leser bekommt den Eindruck eines sich trotzig und lustvoll an seine Phantasien hingebenden Kindes, das erst zur Vernunft kommt, als sich die Situation im Duell dramatisch zuspitzt. Clara ist dabei auf keinen Fall, wie Lienhard Wawrzyn fälschlich interpretiert der dunkle See, in den die Männer ihre Wörter und Sätze versenken. Das passt auch zu ihrem Namen: Clara, hell, klar, glänzend. So ist die Oberfläche des Wassers beschaffen, in dem man sich spiegelt.[36]

Sie gibt keineswegs nur ihre Umgebung wieder, sondern stellt sich Nathanael mit einer festen Position gegenüber, ist keineswegs, wie das Bild suggeriert, weich wie Wasser, sondern greift überlegt und erfolgreich in ihre Umwelt ein, als es darum geht, das Duell der beiden Herren zu verhindern. Clara ist das helle Licht der Aufklärung und „tritt [insofern] als Agentin der bürgerlichen Gesellschaft auf“, aber nicht, wie es Wawrzyn darstellt, weil sie aus einem spießigen, kleinbürgerlichen Moralbegriff heraus von anderen „verlangt, daß sie Askese üben und dazu vorbezeichnete Teile der Realität leugnen.“[37] In ihrer Rede hallt Hoffmanns Plädoyer für die Annahme der menschlichen Freiheit wieder und seine Überzeugung, dass nur auf dieser Basis sich gesellschaftliche Ordnung gründen lässt. Zwar lässt sich keine Entscheidung in der Erzählung gegen Nathanaels Determinismus herauslesen, doch ist es aufschlussreich genug, dass Nathanael am Ende stirbt, während Clara ein friedliches Leben führt:

Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte...

Wie friedlich und sicher dies Leben wirklich ist, bleibt fraglich. Der distanzierte Erzähler, der von Clara nur vom Hörensagen weiß, lässt ihr Leben im Konjunktiv stehen, ein bedrohliches und verletzliches Leben.

Nachdem Nathanael Clara verlassen und an seinen Studienort zurückgekehrt ist, verlässt den Erzähler auch Claras Sicht der Dinge und im Laufe der weiteren Entwicklung wird der Leser unsicher, ob Clara Rationalität der Sache angemessen ist. Der Erzähler lässt den Leser mit Nathanael durch das Taschenperspektiv sehen, mit ihm fürchtet er den Coppola, blickt „wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben“ durch das Perspektiv und begleitet ihn ahnungslos zur schönen Olimpia. Der Erzähler stört den Gang der Erzählung nicht mit seinen Kommentaren, doch wenn Nathanael sich allzu schwärmerisch Olimpias angeblicher seelischer Tiefe hingibt, macht er sich mit feiner Ironie bemerkbar, wenn er zum Beispiel kommentiert: „Hätte Nathanael außer der schönen Olimpia noch etwas anderes zu sehen vermocht“[38], oder wenn er Nathanaels wiederholte Aufforderung von Olimpia zum Tanz als ‚aufziehen’ beschreibt, wie bei einer Puppe der Mechanismus wieder aufgezogen werden muss. In diesen Momenten der Distanz gibt sich der Erzähler als auktorialer, wissender und die Erzählung beherrschender zu erkennen. Doch diese Momente der Distanz überwiegt die Wiedergabe der inneren Vorgänge des Nathanael, deren unausweichlich scheinende Entwicklung der Leser mitfühlend teilt. Der einsame Nathanael, der den Kontakt zur Außenwelt zunehmend verliert, kommt dem Leser immer näher. Erst im Anfall entfernt sich Nathanael vom Leser und anschließend ruft sich der Erzähler wieder in Erinnerung, wendet sich direkt an den Leser und bietet ihm ein kleines Resumé, mit dem er sich von der eigentlichen Erzählung um Nathanael und Clara entfernt.

Diese klare Aufteilung der Perspektiven verwischt am Ende der Erzählung und der Erzähler verliert seine Souveränität. Auf einer Rast besteigen Nathanael und Clara einen Ratsturm, um die Aussicht zu genießen. Oben wird Nathanael von einem Anfall gepackt, nachdem er durch das Perspektiv des Coppelius geblickt hat. Er versucht Clara hinunterzuwerfen, doch Lothar hört ihre Hilferufe und rettet sie. Als Nathanael auf dem Marktplatz Coppelius erblickt, verstärkt sich der Anfall und er springt in den Tod. Mit Nathanaels Kopf, der zerschmettert auf dem Marktpflaster liegt, verschwindet auch Coppelius, eine logische Folge, ist doch Coppelius in seiner Rolle als Verfolger die paranoide Schöpfung Nathanaels Phantasie. Doch Nathanaels Perspektive fächert sich in dieser Schlussszene auf alle beteiligten Figuren auf: Es ist der Erzähler, der noch vor Nathanael den Advokaten Coppelius auf dem Marktplatz entdeckt, der unter den anderen Bürgern „riesengroß“ hervorragt. Es ist in der nüchternen Erzählerrede, in der der hohe Ratsturm zur Mittagstunde erstaunlicherweise „einen Riesenschatten“ wirft, und ein Gebirge in der Ferne seltsamerweise aussieht wie eine „Riesenstadt“. Es ist Lothar, der auf die Hilferufe Claras herbeieilend, sich plötzlich zwei vollkommen unerklärlicherweise verschlossenen Türen gegenübersieht, die den Zugang zum Turm versperren, der aber eben noch frei gewesen sein muss, um Clara und Nathanael Zutritt zu gewähren. Es ist Lothar, der „Riesenkraft“ entwickelt, um die Türen zu sprengen. Die Innenperspektive Nathanaels löst sich auf und es lässt sich nicht klären, ob Coppelius ein Produkt Nathanaels Wahn ist oder der Wahn ein Produkt Coppelius’. Hoffmanns Erzähler wird nicht nur durch seine inhaltliche Position zwischen dem „Determinismus Nathanael und der Vernunft Claras (..) [zur] Figur im poetische Spektrum, die jeder sicheren Beurteilung des Wahnsinns, aber auch jeder Verurteilung der Bürger die Argumente entzieht“[39], sondern vor allem durch die konsequente Destruktion der Erzählerperspektive, in der sich Innen- und Außenwahrnehmung von Wahnsinn vermischen. Nicht rätselhafter als der Mensch, dessen Vielschichtigkeit durch eine Kategorie wie „normal“ nie erfasst werden kann, die in der Hoffmanschen Erzählung verschwindet, sich in der Perspektivführung auflöst. In der Justiz wehrt sich Hoffmann gegen den Machtverlust an die Psychiatrie. Bliebe zu fragen, ob er auch das Psychische als Domäne der Literatur, der Kunst zu verteidigen sucht, dessen Darstellung und Deutung nicht der Wissenschaft überlassen will, befürchtend: „Auch dem psychologischen Roman werden seine Gegenstände vor der Nase weggeschnappt“[40].

6. Schluss

Wirft man nur einen flüchtigen Blick auf die Sandmannerzählung, so wird man, verwirrt durch den isoliert wirkenden Briefwechsel, Lothar Pikulik zustimmen:

Was Hoffmanns Erzählen (...) in vielen Fällen kennzeichnet, ist das häufige Abweichen vom geraden Wege, das Hin- und Herspringen zwischen weit auseinanderliegenden Punkten, kurz: die völlige Systemlosigkeit.[41]

Nun ist die scheinbare Systemlosigkeit aufgelöst und hinter der „rhapsodisch, fragmentarisch“ anmutenden Oberfläche eröffnet sich der rationale Zusammenhang. Es ist dieses Rhapsodische und Fragmentarische, das gezielt eingesetzt wird, um auf die Perspektivität des Erzählens aufmerksam zu machen, es ist die Vermischung der verschiedenen Perspektiven, um das Fragmentarische der Wirklichkeit nicht aufzulösen, sondern einen nicht aufzuklärenden Rest bestehen zu lassen:

Das organisierende, Einheit stiftende Prinzip eines jeden Kunstwerkes ist eben der Rationalität entlehnt, deren Totalitätsanspruch es Einhalt tun möchte.[42]

Die Erzählstrategie verfährt nach dem Prinzip der Rationalität und doch wir der Leser innerhalb der Erzählung direkt aufgefordert, die Grenzen von Rationalität zu erkennen:

Vielleicht wirst du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben.[43]

Doch wird er nicht nur auf inhaltlicher Ebene daraufhin gewiesen, sondern diese Erkenntnis wird beim Lesen durch die Erzählstruktur hergestellt.

Tritt man einen Schritt von der Erzählung zurück, lässt sich eine lückenlose Krankengeschichte erzählen. Man blickt auf den Erzähler und das Prinzip hinter seiner anscheinenden Zufälligkeit wurde erklärbar, funktional. Doch sobald man wieder in die Erzählung sieht, blickt man unausweichlich durch das Coppolas Perspektiv in ein Reich, in dem man Objekt von Manipulation wird und die Eindeutigkeit verschwindet.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 2000.

Adorno, Theodor W.: Engagment, in Ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1965.

Foucault, Michel: Die Anormalen, Frankfurt a. M. 2003.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen : Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994.

Freud, Siegmund: Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 227 – 268.

Hoffmann, E. T. A.: Der Sandmann, in: Albert Meier u.a. (Hg.): Meistererzählungen der deutschen Romantik, München 1985, S. 183 – 213.

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947.

Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999.

Meier, Albert u.a. (Hg.): Meistererzählungen der deutschen Romantik, München 1985.

Pikulik, Lothar: E. T. A Hoffmann als Erzähler, Göttingen 1987.

Rohrwasser, Michael: Coppelius, Cagliostro und Napoleon, Frankfurt a. M. 1991.

Safranski, Rüdiger: E. T. A. Hoffmann : das Leben eines skeptischen Phantasten, Frankfurt am Main 1987.

Schnapp, Friedrich (Hg.): E. T. A. : Juristische Arbeiten, München 1973.

Wawrzyn, Lienhard: Der Automaten-Mensch: E. T. A. Hoffmanns Erzählungen vom ‚Sandmann’, Berlin 1976.

[...]


[1] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 2000, S. 519, im Folgenden: ÄT.

[2] Vgl. Michael Rohrwasser: Coppelius, Cagliostro und Napoleon, Frankfurt a. M. 1991.

[3] Vgl. Siegmund Freud: Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 227 – 268; vgl. Rohrwasser 1991, S. 16.

[4] E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Albert Meier u.a. (Hg.): Meistererzählungen der deutschen Romantik, München 1985, S. 184.

[5] Hoffmann 1985, S. 188.

[6] Hoffmann 1985, S. 194.

[7] Hoffmann 1985, S. 193.

[8] Hoffmann 1985, S. 207.

[9] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 222.

[10] Hoffmann 1985, S. 206.

[11] Hoffmann 1985, S. 210.

[12] Albert Meier u.a. (Hg.): Meistererzählungen der deutschen Romantik, München 1985, S. 397.

[13] Dazu Adorno: „Ihr [der Psychoanalyse] gelten die Kunstwerke wesentlich als Projektionen des Unbewußten derer, die sie hervorgebracht haben, und sie vergißt die Formkategorien über der Hermeneutik der Stoffe, überträgt gleichsam die Banausie feinsinniger Ärzte auf das untauglichste Objekt (...).“ In: Adorno: ÄT, S. 19.

[14] Meier 1985, S. 397.

[15] Friedrich Schnapp (Hg.): E. T. A. : Juristische Arbeiten, München 1973, S. 83 ff.

[16] Schnapp 1973, S. 84.

[17] Schnapp 1973, S. 97.

[18] Tatsächlich verweist Hoffmann selbst auf ein mögliches Motiv: Schmolling hatte Schulden, die Ermordete war schwanger und es war absehbar, dass sie seine finanzielle Unterstützung benötigen würde. Erstaunlicherweise geht Merzdorff nicht darauf ein. Vgl.: Schnapp 1973, S. 114ff.

[19] Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen, Frankfurt a. M. 2003.

[20] Foucault 2003, S. 417.

[21] Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen : Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994, S. 9ff.

[22] Vgl. z. B. Foucault 1994, S. 129.

[23] Foucault beschreibt den Fall einer Pariser Hausangestellten, die der 19 Monate alte Tochter der Nachbarin den Kopf abschneidet. Nach ihrem Motiv gefragt antwortet sie: „Das war so eine Idee.“ Der Fall ähnelt dem Fall Schmolling auch insofern, als die Richter von dieser grundlosen Tat fasziniert und überfordert sind, sie an eine psychiatrische Instanz weiterverweisen. Foucault interessiert dieser Fall besonders, da sich an ihm verdeutlicht: „Die Vernunft des kriminellen Subjekts ist die Bedingung, um das Gesetz in Anwendung bringen zu können. Man kann das Gesetz nicht anwenden, wenn das Subjekt nicht vernünftig ist.“ Beide Zitate aus Foucault 2003, 147ff.

[24] Foucault 2003, S. 161.

[25] Eine Ansicht, die Hoffmann in seinem Gutachten ausführlich durch den Verweis auf die zeitgenössische Forschungsliteratur und deren Gebrauch des Begriffes widerlegt.

[26] Schnapp 1973, S. 24.

[27] Rüdiger Safranski ,S. 433.

[28] Theodor W. Adorno: Engagment, in Ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1965, 3. Bd., S. 116, im Folgenden: NzL.

[29] Adorno: NzL, S. 111.

[30] Adorno: ÄT, S. 14.

[31] Adorno NzL, S. 114.

[32] Vgl.: Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 17ff.

[33] Hoffmann 1985, S. 194ff.

[34] Hoffmann 1985, S. 195.

[35] Hoffmann 1985, S. 197.

[36] Lienhard Wawrzyn: Der Automaten-Mensch: E. T. A. Hoffmanns Erzählungen vom ‚Sandmann’, Berlin 1976, S. 128.

[37] Wawrzyn 1976, S. 140.

[38] Hoffmann 1985, S. 205.

[39] Meier 1985, S. 401.

[40] Adorno: NzL, Bd. 1, S. 63.

[41] Lothar Pikulik: E. T. A Hoffmann als Erzähler, Göttingen 1987, S. 33

[42] Adorno: NzL, 131.

[43] Hoffmann 1985, S. 195.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Vom Wahnsinn erzählen - E.T.A. Hoffmanns Erzählung *Der Sandmann*
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
HS: Erzählungen der Romantik
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V108445
ISBN (eBook)
9783640066421
Dateigröße
385 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Interpretation Freuds der Erzählung *Der Sandmann* hat die Analyse dieser Erzählung lange dominiert. Rohrwasser versuchte, sie aus dem psychoanalytischen Blick zu befreien, worin diese Hausarbeit ihm folgt. Die Erzählung wird in den Kontext der juristischen Arbeit Hoffmanns gestellt. Damit sollen die Möglichkeiten über Wahnsinn zu sprechen in einer Zeit, in der nach Foucault der Siegeszug der Psychiatrie beginnt, verglichen werden.
Schlagworte
Wahnsinn, Hoffmanns, Erzählung, Sandmann*, Erzählungen, Romantik, Thema Der Sandmann
Arbeit zitieren
Jenni Winterhagen (Autor:in), 2003, Vom Wahnsinn erzählen - E.T.A. Hoffmanns Erzählung *Der Sandmann*, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108445

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