Thomas Manns "Der Tod in Venedig" und "Die Betrogene" - Motivgleiche Erzählungen?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

25 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

A: Motivgleichheit beider Erzählungen trotz unterschiedlicher Ausführung der Motive; Finden statt Erfinden, Biographie Thomas Manns als Vorbild für Thematik

B:
1. Unterschiede beider Erzählungen
2. Darstellung der Motivgleichheit anhand der Themenschwerpunkte der Erzählungen
2.1. Liebe und Tod
2.2. Leben und Tod
2.3. Dualismus von Geist und Natur
2.4. Mythologische Motive
3. Finden statt Erfinden im Werk Thomas Manns – Zusammenhang des Werks mit der eigenen Biographie als weiterer Beweis der Motivgleichheit
3.1. Entstehung der Erzählungen
3.2. Vorbilder der Hauptfiguren beider Erzählungen
3.2.1. Gustav Aschenbach
3.2.2. Rosalie von Tümmler
3.2.3. Tadzio
3.2.4. Ken Keaton
3.3. Liebe und Tod in der Biographie Thomas Manns
3.4. Leben und Tod in der Biographie Thomas Manns
3.5. Gegensatz von Geist und Natur in der Biographie Thomas Mann

C: Zusammenfassung und Fazit

Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur

A:

Thomas Mann sagte einmal über seine letzte Erzählung Die Betrogene, „es sind törichte Vergleiche damit angestellt worden: Mit dem „Tod in Venedig“ hat es gar nichts zu tun, weder nach seinem Gewicht noch nach seiner Thematik“.[1] Im folgenden soll entgegen dieser Aussage bewiesen werden ,dass die Erzählungen Der Tod in Venedig und Die Betrogene motivgleich sind.

Die zentralen Motive des Tod in Venedig, die enge Verknüpfung von Liebe und Tod, sowie die von Leben und Tod, der Dualismus zwischen Geist und Natur und die mythologischen Elemente tauchen auch in der Betrogenen auf. Die Ausführung der Motive in beiden Erzählungen ist allerdings unterschiedlich. Da sowohl der Tod in Venedig als auch die Betrogene sehr persönliche Werke sind, Thomas Mann identifiziert sich in beiden Erzählungen mit den Hauptfiguren, er verarbeitet in beiden Werken seine jeweils gültige Lebenseinstellung und setzt die Handlung aus persönlichen Erlebnissen zusammen, ergibt sich dieser Unterschied aus der Weiterentwicklung des Autors. Immerhin liegen die Entstehungsdaten 42 Jahre auseinander. Es ist beispielsweise denkbar, dass Thomas Mann in seiner letzten Erzählung die Versöhnung der Betrogenen mit der Natur und dem Leben schon deshalb anstrebt, weil ihm eine optimistische Sicht des Todes schon im Hinblick auf sein eigenes Alter und den zu erwartenden Tod wichtig ist. Entscheidend ist jedenfalls, dass die Unterschiede in der Ausführung die Motivgleichheit nicht beeinträchtigen. Diese ergibt sich schon daraus, dass Thomas Manns Biographie in beiden Erzählungen verarbeitet ist.

B:

1. Unterschiede beider Erzählungen

Bevor die Motivgleichheit des Tod in Venedig und der Betrogenen im einzelnen beschrieben und bewiesen wird, sollen hier kurz die Unterschiede beider Erzählungen aufgezeigt werden. Diese ergeben sich im wesentlichen aus der unterschiedlichen Auflösung der gemeinsamen Motive, Verknüpfung von Liebe und Tod, Leben und Tod, dem Dualismus von Natur und Geist und den mythologischen Elementen beider Erzählungen. Hinzu kommen zwei Motive, die nur in jeweils einer der beiden Erzählungen auftauchen, und deshalb hier nicht weiter ausgeführt werden sollen. Das Reise- und Fremdheitsthematik im Tod in Venedig und der Betrug in der Betrogenen.

In der Ausführung unterschiedlich ist beispielsweise das Liebesmotiv. So wird aus der unerfüllten Liebe des alternden Schriftstellers Gustav von Aschenbach zum klassisch schönen Jüngling Tadzio im Tod in Venedig eine quasi erfüllte Liebe der alternden Gesellschaftsdame Rosalie von Tümmler in den jungen, amerikanischen Hauslehrer ihres Sohnes, Ken Keaton in der Betrogenen. So gilt Aschenbachs Liebe zu Tadzio, die Liebe eines alten Mannes zu einem Kind, als verwerflich, der Junge wird durch seine Verwandten und seine Gouvernante von ihm ferngehalten, auch wenn er mit der schmeichelnden Bewunderung des alten Mannes kokettiert. Rosalies Liebe zu Ken mag ungewöhnlich erscheinen, sie könnte jedoch durch Heirat legitimiert werden, so schlägt es Tochter Anna es vor. Unterschiedlich fällt auch die Beschreibung der beiden geliebten Jünglinge aus. So wird Tadzio als göttergleich und vollkommen schön beschrieben, während Ken Keaton als geradezu auffällig durchschnittlich dargestellt wird. So ist zwar sowohl die Liebe Aschenbachs, als auch die Rosalies sexuell geprägt, dennoch wird Tadzio wegen seiner Schönheit, Ken aber wegen seiner Jugend geliebt. Der Konflikt zwischen Geist und Natur, der in beiden Erzählungen stattfindet, ist im Tod in Venedig ein innerer Konflikt Aschenbachs und in der Betrogenen ein Konflikt, der im Dialog zwischen Mutter und Tochter ausgetragen wird. Generell überwiegt im Tod in Venedig die Handlungsbeschreibung, während in der Betrogenen die Dialoge vorherrschen. Im Tod in Venedig stirbt Aschenbach von physischem und psychischen Leid gezeichnet in den letzten Stunden, die ihm mit Tadzio verbleiben, da dessen Abreise bevorsteht. Der Tod ist für Aschenbach Erlösung und Zufluchtsort. Die Todesursache steht nicht fest, sowohl der Seuchentod als auch der Liebestod oder ein abgewandelter Selbstmord sind möglich. Rosalie dagegen stirbt nach dem Liebesgeständnis und der Zusage der Erwiderung ihrer Liebe. Sie ist vollkommen glücklich bevor sie von ihrer tödlichen Erkrankung erfährt. In der Diagnose erkennt ihren den grossen Irrtum der Missdeutung ihrer Blutungen, sie stirbt zweifelsohne am Gebärmutterkrebs, geht aber, trotzdem sich ihr Bild von der Natur als so gänzlich falsch erwiesen hat, mit der Natur versöhnt in den Tod. Insofern ist die Betrogene eine trotz der Tragik der Situation optimistischere Variante der Motive des Tod in Venedig. Man sieht also, die oben genannten, übereinstimmenden Themenschwerpunkte beider Erzählungen sind zwar unterschiedlich ausgeführt, dennoch beruhen sie auf gleichen Motiven. Diese Motivgleichheit soll im folgenden ausführlich beschrieben und bewiesen werden.

2. Darstellung der Motivgleichheit anhand der Themenschwerpunkte der Erzählungen

Im einzelnen werden nun die wichtigsten Motive aufgezeigt und ihre Ausarbeitung in den Erzählungen beschrieben.

2.1.Liebe und Tod

Beide Erzählungen weisen eine enge Verknüpfung der Motive Liebe und Tod auf, daher spricht man vom Dualismus beider Motive.

Die Liebe ist in beiden Erzählungen als Liebe eines reifen, älteren Menschen, im Alter etwas über 50, in einen Jugendlichen dargestellt. Wie oben erwähnt, bleibt sie im Tod in Venedig unausgesprochen und unerwidert. Der Schriftsteller Gustav von Aschenbach beobachtet auf einer Venedig Reise, die er infolge einer Schaffenskrise antritt, den etwa 14 jährigen, vollkommen schönen, polnischen Jungen Tadzio aus der Ferne und verliebt sich in ihn. Er bringt es nicht über sich auch nur einige unverbindliche Worte mit ihm zu wechseln. Seine Liebe spielt sich in Tagträumen ab. Um den Gegensatz zwischen der makellos schönen Jugendlichkeit Tadzios und seinem altersbedingten Verfall zu überwinden und dem Jüngling zu gefallen, geht Aschenbach zum Friseur, lässt sich die Haare schneiden und färben und das Gesicht schminken. In der Betrogene n verliebt sich die naive, naturverbundene Witwe Rosalie von Tümmler in Ken Keaton, den 20 jährigen Hauslehrer ihres Sohnes Eduard. Rosalies Liebe wird erwidert. Im Rausch der Gefühle und fest davon überzeigt, dass sich der Körper der Psyche unterordnet, missdeutet sie plötzliche eintretende Blutungen nach ihrem Klimakterium als Fruchtbarkeitswunder. Sie glaubt die Liebe zu Ken habe in ihren Körper eine Verjugendlichung eingeleitet und so ihre Regel zurückgebracht. In ihrer Naturverherrlichung und sehnsuchtsvollen Realitätsverleugnung missachtet sie die Symptome einer schweren letztlich tödlichen Krebserkrankung. Rosalie missdeutet die Symptome als natürliche Fügung

Sowohl im Tod in Venedig als auch in der Betrogenen trägt die Liebe unmittelbar zum Tod der Hauptfigur bei.

Aschenbachs Tod ergibt sich auch aus seiner Leidenschaft zu Tadzio. Als Aschenbach sich die Liebe eingesteht, setzt eine kurze Phase der Produktivität ein, er scheint seine Schaffenskrise überwunden zu haben, es entstehen „anderthalb Seiten erlesener Prosa“(86), Aschenbach erkennt den Sieg der Unvernunft, der Leidenschaften, des Körpers als falsch, versucht sein diszipliniertes Verhalten der Jahre zuvor fortzusetzen und scheitert. Letztlich heisst es, „Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos“. Aus Liebe zu Tadzio ist er unfähig Venedig zu verlassen, er schafft es nicht der Cholera zu entfliehen, nicht einmal Tadzios Familie über die Seuche aufzuklären. Im Rausch seiner Liebe und im Besitz der Wahrheit über das Ausbrechen der Cholera in Venedig, riskiert er lieber den Tod des Jungen als dass er seine Abreise zulässt. Seine Liebe ist egoistisch und bezieht sich nicht wirklich auf die Person Tadzios. Aschenbach liebt den Rausch der Sinne, den das Beobachten des Jungen ihm verschafft. Sein Tod ist letztlich eine Erlösung, er erspart ihm die bürgerliche Sanktion. Durch sein Sterben muss Aschenbach die Abreise Tadzios nicht erleben, die an jenem Vormittag kurz bevor steht. Die Todesursache, Liebestod, Tod infolge der Seuche oder Selbstmord, bleibt ungeklärt.

In der Betrogenen bildeten, Liebe, Leidenschaft und Trieb Rosalies den Reiz, der den Krebs auslöste. Ausgerechnet vom Eierstock, dem Organ, in dem sonst Leben entsteht, „von unbenützten granulösen Zellen“ nämlich, „die seit der Geburt da manchmal ruhen und nach dem Einsetzen der Wechseljahre durch Gott weiß welchen Reizvorgang zu maligner Entwicklung kommen“, geht der Krebs aus. „Da wird denn der Organismus post festum, wenn sie so wollen, mit estrogenen Hormonen überschüttet, überströmt, überschwemmt, was zur hormonalen Hyperplasie der Gebärmutter-Schleimhaut mit obligaten Blutungen führt“, doziert Dr. Muthesius. (240ff.) Der Dualismus von Liebe und Tod wird hier insofern deutlich, als Thomas Mann sogar die gleichen Worte verwendet um Liebe und zum Tod führenden Krankheitszustand zu beschreiben. So wurde Rosalies „inneres“ in Liebe zu Ken „von schamloser Süßigkeit überströmt, überschwemmt“(201) und durch den Krebs wird „ihr Organismus [...] post festum mit östrogenen Hormonen überschüttet, überströmt, überschwemmt“.(240)

In beiden Erzählungen besteht desweiteren zur Verdeutlichung des Dualismus von Liebe und Tod eine enge Verknüpfung der geliebten Jünglinge mit dem Tod.

Aschenbach bemerkte bei seiner Begegnung mit Tadzio im Aufzug: „Er ist sehr zart, er ist kränklich, er wird wahrscheinlich nicht alt werden“(66). Tadzio hat trotz seiner Jugend auffallend schlechte Zähne. Seine Körperhaltung „in unvermeidlicher und anerschaffener Grazie [...] die die Füsse gekreuzt“ - wie der Todesgott Thanatos - wie der rothaarige Todesvorbote im Lodenmantel, so fällt es Aschenbach während der Gesangsdarbietung der Strassensänger auf. In der Schlussszene, der Sterbeszene Aschenbachs, wird Tadzio zum Führer in den Tod, er „wandelte , eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen im Meere, im Winde, von Nebelhaft grenzenlosem“.(138 ff.) Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass Aschenbach am Lido mit Blick auf den am Meer spielenden Tadzio stirbt. Zwischen Tadzio und dem Meer besteht hier ein Zusammenhang als Symbol der physischen Auflösung im Tode.

Kens Verknüpfung mit dem Tod ist nicht ganz so deutlich und in so zahlreichen Details beschrieben, wie Tadzios, aber dennoch erkennbar. So hat Ken eine Niere im ersten Weltkrieg verloren. Die Passion des traditionslosen Amerikaners für ganz frühe Geschichtszahlen, für die ehrwürdigen Tiefen der europäischen Vergangenheit ist eine unter dem Anschein der Harmlosigkeit versteckte Affinität zum Tode[2] Zudem ist die Ausführung der Liebe zu Ken von Todesvorboten begleitet.

Auf der Fahrt nach Schloss Holterhof begegnen Rosalie und Ken schwarzen Schwänen, die Rosalie durch Futterraub gegen sich aufbringt, ein Schwan reagiert mit Ausbreiten seiner dunklen Schwingen und zornigem Zischen[3], Rosalie isst das für die Schwäne bestimmte Brot, dass von Kens Körper gewärmt ist, selbst. Das„erste einzig bleibende Liebesgeständnis findet in einer dunklen, geheimen Nische des Schlosses Holterhof statt, in der es Rosalie vor Totenluft schaudert und über die Amor die Fackel des Todes hält[4]. Rosalie spricht die enge Verknüpfung von Liebe und Tod aus, „Wie traurig Ken, mein Liebling, dass wir uns finden müssen hier bei den Abgestorbenen“. (237)

2.2. Leben und Tod

Lebenslust und Todessehnsucht sind zwei zentrale Punkte, die das Verhältnis von Leben und Tod in beiden Erzählungen ausmachen. Aschenbach befindet sich schon zu Beginn des Tod in Venedig, ohne es zu wissen, in einem Zustand der Todessehnsucht. Ihm ist eine „natürliche Richtung zum Abgrund eingeboren“. Er sehnt sich nach Entgrenzung und Entfremdung. Sein Tagtraum der üppigen Sumpflandschaft stellt den Gegensatz Leben und Tod explizit dar, Fruchtbarkeit und Sterben, üppige Natur und Todesgefahr. Denn die beschriebene Landschaft ist Heimat des Tigers, sie stellt Verheißung und Bedrohung gleichzeitig dar. Der Clerk im englischen Reisebureau in Venedig, der ihn über den Ausbruch der Cholera in der Lagunenstadt aufklärt, beschreibt Indien, den Ursprungsort der Seuche wie die Landschaft in Aschenbachs Tagtraum zu Beginn der Erzählung als „erzeugt aus den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen Urwelt und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert“. (119) Infolge der Liebe zu Tadzio erlebt Aschenbach eine Art Lebensrausch. Plötzliche Kreativität überkommt ihn, er kann nach langer Zeit endlich wieder etwas niederschreiben, er lebt in Tagträumen, erstmals setzt sich in seinem Leben das Körperliche gegenüber dem Geistigen durch. Aschenbach sieht sich dem Rausch nicht gewachsen, er versucht die Flucht, aber diese misslingt. Aschenbach ist in Venedig gefangen, sein Leben wird zur Qual. Der rein geistige von Disziplin und Selbstkasteiung geprägte Schaffensprozess führt zu Stagnation und Erschlaffung, der Lebensrausch aber führt in die geistige moralische Vernichtung. Die Cholera breitet sich langsam aus, er kennt die tödliche Gefahr, todbringend scheint ihm aber nur die Abreise Tadzios, vor der er sich schrecklich fürchtet. Der Tod Aschenbachs, dessen Ursache, wie schon erwähnt, ungeklärt bleibt, stellt eine Erlösung dar. Der Tod befreit ihn von seiner Liebe zu Tadzio.

Im Falle der Betrogenen ist es genau umgekehrt: Rosalie ist ursprünglich eine lebensbejahende Frau. Ihre Lebenslust verstärkt sich mit der Liebe zu Ken anfangs noch. Den Gedanken an den Tod hat sie völlig aus ihrem Leben verbannt, obwohl sie eine grosse Naturliebhaberin ist, verkennt sie auch diese. Sie betrachtet die Natur nicht als Kreislauf von Leben und Tod, Natur bedeutet für sie nur Leben, kein Sterben. Rosalie ist die „gefühlvolle Freundin des Lebens, die kein Verhältnis zum Sterben hat“, begegnet der Macht des Todes in der Natur wie in dem Geliebten und wird damit bereits vor dem Ausbruch der Krankheit insgeheim zur Auseinandersetzung aufgefordert“[5]

Bis zum Finale in Schloss Holterhof ist Rosalie umgeben von unerkannten Todesvorboten und ohne, dass Rosalie bemerkt wie es geschieht, entwickelt sie eine gewisse Todessehnsucht, die sich in ihrem Ausruf „ich habe plötzlich geradezu Sehnsucht nach den schwarzen Schwänen“ zeigt. Nach dem Finale der Liebesgeschichte zwischen Rosalie und Ken auf Schloss Holterhof, verschlechtert sich Rosalies Gesundheitszustand rapide und sie erfährt von ihrem bevorstehenden Tod. Obwohl Rosalie erkennen muss wie gänzlich falsch sie die Natur eingeschätzt hatte, stirbt sie versöhnt mit der Natur.

Wie oben schon beschrieben enthalten beide Erzählungen sowohl zur Darstellung des Dualismus von Liebe und Tod als auch zur Beschreibung des Gegensatzes von Lebenslust und Todessehnsucht zahlreiche Vorzeichen des Todes.

Den ersten Hinweis auf den Tod gibt Aschenbach der Rothaarige im Lodenmantel mit starrem Blick, stumpfer Nase und verfaulten Zähnen, den dieser auf seinem Spaziergang durch München zu Beginn der Erzählung trifft. Auf der Reise nach Venedig stellt ein ziegenbärtiger, „buckliger und unreinlicher Matrose“, „mit gelben knochigen Fingern“ (32 ff.) Aschenbach seinen Fahrschein aus. Dazu sprach er „Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der Reisende möchte in seinem Entschluss nach Venedig zu fahren, noch wankend werden.“ (33) Auf der Überfahrt mit dem Schiff beobachtet er einen alten Mann, der sich mit einer Gruppe Jugendlicher umgibt und mit Hilfe von Schminke und auffallender Kleidung vortäuscht einer von ihnen zu sein. In Venedig besteigt Aschenbach eine Gondel, „die so eigentümlich schwarz ist, wie sonst unter allen Dingen nur Särge sind“(41). Aschenbach empfindet den „Sitz in einer solchen Barke als den weichsten, üppigsten, den erschlaffendsten Sitz von der Welt.(41) Er wünscht sich dass die Fahrt „immer währen möchte“.(42) „du fährst mich gut, selbst wenn Du es auf meine Barschaft abgesehen hast und mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides schickst, wirst Du mich gut gefahren haben.“ (45) Der Gondoliere ist wie schon der Mann in München und auch der Mitreisende auf dem Schiff gelb gekleidet, wie der Spaziergänger und der Matrose rothaarig und mit „kurz aufgeworfener Nase“ (43) ausgestattet. In der Betrogenen wird die Gondel aufgegriffen als Rosalie einen Bootsausflug vorschlägt, „fragt sich nur, ob wir vormittags oder nachmittags losgondeln wollen“. (229)

Ein weiterer Todesvorbote im Tod in Venedig ist der greise Geck und Strassenmusikant, der eines abends in Aschenbachs Hotel vorspielt. Er ist ebenfalls rothaarig und stumpfnasig, hat einen hageren Hals und einen „auffallend gross und nackt wirkenden Adamsapfel“.(112) Ebenso ist Tadzio Führer in eine andere Welt, „groteske Verzerrung des lebendig vitalen“[6]

Der Tod wird in beiden Erzählungen auch durch Düfte angedeutet. Im Tod in Venedig sind es Düfte die, die Atmosphäre in Venedig beschreiben, „fauliger Geruch der Lagune“ (55), „Eine widerliche Schwüle lag in den Gassen; die Luft war so dick, dass die Gerüche, die aus Wohnungen, Läden, Garküchen quollen, Öldunst, Wolken von Parfum und viele andere in Schwaden standen, ohne sich zu zerstreuen“, „die üblen Ausdünstungen der Kanäle verleideten das Atmen“ (67), „Fieberdunst“ lag über der Stadt (68), den leicht fauligen Geruch von Meer und Sumpf“ atmete Aschenbach, nach Ausbruch der Cholera verbreitet sich „Hospitalgeruch“ (116), der Desinfektionsmittel, Aschenbach umwehen „Schwaden starken Karbolgeruchs“(113). In der Betrogenen deutet nur der vermeintliche Moschusduft, der sich als „Unrathäufchen“ aus tierischen und menschlichen Exkrementen erweist, auf den Tod hin. Ansonsten sind Düfte in der Erzählung „Ausdruck des Lebens in der pflanzlichen Natur. Sie wirken sinnlich und sind zugleich abstrakt, da sie nicht sichtbar oder greifbar sind. In Rosalies Fühlen und Denken erhalten sie durch diese Mittelstellung eine übersinnliche Komponente, die in den Bereich des Religiösen führt. Das Einatmen der Düfte ist zugleich mystische Vereinigung mit der Natur, die durch ihr immer wiederkehrendes Leben, im Kreislauf der Jahreszeiten, dem einzelnen Lebewesen „ganz persönlich geheime Ströme von Gesundheit und Lebenslust“ zukommen lässt und eine Ahnung von Unsterblichkeit vermittelt. Dadurch gewinnt die Natur eine göttliche Kraft, Geruch, Atem, Leben, Göttlichkeit der Natur, sinnliche Aufnahme dieses Göttlichen und dessen religiöse Verehrung sind eins mit dem Naturgefühl Rosalies und begründen ihren mystischen Glauben an die Natur“[7]

Der Tod Aschenbachs ist ein vereinsamter, grausamer, dahinsiechender Tod. Rosalie stirbt dagegen einen milden Tod, sie erkennt ihren Irrtum und ist dankbar für ihr mildes Sterben. „Die Betrogene stirbt, indem sie noch diesen Betrug als letzten Gnadenerweis ihrer lieben Mutter Natur preist“[8]

2.3.Dualismus von Geist und Natur

Der Dualismus von Geist und Natur ist ein weiteres gemeinsames, wenn nicht das zentrale Motiv beider Erzählungen. In den vorangegangen Punkten wurde schon mehrfach angedeutet, dass sich die Hauptfiguren beider Erzählungen im Konflikt über Geist und Natur befinden.

Im Tod in Venedig muss sich Aschenbach für Geist oder Natur entscheiden, das heißt wählen zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Disziplin und Trieb oder beide Seiten in Harmonie zueinander bringen. Dies wird als innerer Konflikt beschrieben.

In der Betrogenen findet der Konflikt in Gesprächen zwischen Mutter und Tochter statt, wobei Rosalie auf Seiten der Natur steht und Anna den Geist repräsentiert.

Aschenbach vereint also zwei Figuren der Betrogenen in sich, in ihm sind sowohl der Geist als auch die Affinität zur Natur, zum Körperlichen enthalten. Im Laufe der Erzählung wird deutlich, dass es Aschenbach nicht gelingen kann, im Kampf zwischen sinnlicher Leidenschaft und Vernunft, Harmonie zwischen den Kräften des Geistes und der Natur herzustellen. Mit Antritt seiner Reise verlässt Aschenbach sein bürgerlich geordnetes, sittliches Leben. Spätestens bei der Begegnung mit Tadzio nimmt der leidenschaftliche, körperliche Teil in ihm Überhand, Aschenbach gesteht sich diese Entwicklung allerdings zunächst nicht ein sondern bastelt sich eine philosophische Erklärung für seine Bewunderung für den Jüngling. Als er die Wahrheit erkennt, ist der Zeitpunkt für den Rückzug bereits verpasst, er geniesst eine kurze Phase der wiederkehrenden Produktivität, die durch die Liebe zu Tadzio ausgelöst wurde, dann wird aus dem anfangs angenehmen Liebesrausch ein Wahn. Der durch die Liebe zu Tadzio ausgelösten Produktivität Aschenbachs entsprechen die plötzlichen Blutungen Rosalies, die sie auf ihre Liebe zu Ken zurückführt. Aschenbachs Versuch aus Venedig zu entfliehen und zu seiner bürgerlichen Ordnung zurückzukehren misslingt. Hiermit ist Aschenbachs moralischer und physischer Verfall besiegelt. Sein Leben wird zur Qual. Der Tod ist für Aschenbach Erlösung, er erspart Aschenbach die bürgerliche Sanktion für sein Verhalten, die für den wirkungssüchtigen Künstler schwer zu ertragen wäre und erspart ihm den Abschied von Tadzio.

In der Betrogenen steht dem „Natur- und Maienkind Rosalie“ deren Tochter Anna als „geistiges Mädchen“ und „Adventskind“ (226) als „ in einer Jahreszeit geboren, die nur vom Gedanken, vom Geist, erwärmt wird“ gegenüber[9]. Alles natürliche, was ihrer Mutter soviel Freude bereitet, bringt Anna Schmerzen und Abscheu: So ist die monatliche Regel für Rosalie „Ehrentag“ der Frau, Anna wird in der Regel durch heftige Leibesschmerzen geplagt. Rosalie liebt die Düfte der Natur, den berauschenden Duft der Blüten, Anna bereiten sie Kopfschmerzen.

Rosalie argwöhnt, die Natur bestrafe Anna für ihre Haltung und nur deshalb empfinde sie so. „so möchte ich doch wohl wissen, ob das nicht zusammenhängt, dein stolzes geistreiches Verhalten zu der Natur – und dass sie gerade Dir diese Leibschmerzen macht bei der Regel.“(183)

Annas Kunst ist eine „höchst geistige, die bloße Naturnachahmung verschmähende, den Sinneseindruck ins streng gedankliche, abstrakt symbolische, oft ins kubisch mathematische, transfigurierende Richtung“ (171) gehende. Rosalies Kunstauffassung ist von einer romantischen Gefühlswelt geprägt und so fordert sie Anna auf „Wolltest Du doch ein einziges Mal dem Gemüt etwas bieten mit Deiner Kunst etwas fürs Herz zu malen, ein schönes Blumenstilleben, einen frischen Fliederstrauß, so anschaulich, dass man seinen entzückenden Duft zu spüren meinte, bei der Vase aber stünden ein paar zierliche Meißner Porzellanfiguren, ein Herr, der einer Dame eine Kusshand zuwirft, und alles müsste sich in der glänzend polierten Tischplatte spiegeln.“ (172) Rosalie hat die Idee Düfte in Farben auszudrücken. Rosalie wirft Anna weiter vor, dass sie die Natur zum „bloßen Gedankenthema“ macht und „ihre Sinneseindrücke Gott weiß wohin überträgt, ins Kalte.“ Annas Kunst mangelt es wie bei Aschenbach an Natürlichkeit, Unmittelbarkeit. Da Anna aber gänzlich frei von Wirkungssucht ist, braucht sie die Bestätigung nicht, die Aschenbach zum Lebenselixier geworden ist. Die unterschiedlichen Kunstauffassungen beider Frauen stehen für ihre Wesensunterschiede und ihre entgegengesetzte Zuordnung zu Geist und Natur. Mutter und Tochter bilden die Gegensätze, die sich im Tod in Venedig im Inneren Aschenbachs abspielen. Rosalie ist von „schlichter und heiterer Gemütsart“(170), lebensbejahend, naturverbunden und durch und durch sinnlich, Rosalie ist über 50 und befindet sich in den Wechseljahren, das „Erlöschen ihrer physischen Weiblichkeit erfolgt unter seelischen Widerständen“, ist von „naiver Lebendigkeit“(170), voller Lebensüberschwenglichkeit, Liebes- und Jugendsehnsucht. Rosalie liebt den Frühling, die Jahreszeit in der neues Leben entsteht, sie bewundert die Natur als göttliche Kraft, in beinahe religiöser Bewunderung: „Kind, Kind, wie wundervoll. Das ist der Atem der Natur, das ist er, ihr süßer Lebenshauch, sonneerhitzt und getränkt mit Feuchte, so weht er uns wonnig aus ihrem Schoße zu. Genießen wir ihn in Verehrung, die wir auch ihre lieben Kinder sind“(177). „Der schönen Parkanlagen wegen“(169) ist Rosalie, nachdem sie Witwe geworden ist, aus dem industriellen Duisburg nach Düsseldorf gezogen“[10]. Sie liebt Blumen, trägt selbst einen Blumennamen. Frühling ist ihre Jahreszeit, die Rosenzeit.

In ihrer Sehnsucht nach Sinnlichkeit und Leben ähnelt Rosalie Aschenbach.

Anna, mit einem Klumpfuß geboren, ist alles sinnliche, körperliche, natürliche fremd. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat sie nach einer unglücklichen und unerwiderten Liebe resigniert, sie fürchtet sich vor Investition ihrer Gefühle, ist stolz, lebensskeptisch, von „sinnender Kühle“, ist ungewöhnlich intelligent, ist vernünftig, mäßig, Hüterin der Moral und sittlichen Ordnung. In ihrer Disziplin ähnelt sie der anderen Seite Aschenbachs.

„Auffällig ist, dass schon im zweiten Kapitel die Tochter manchmal liebevoll nachsichtig, auch wehmütig spöttisch, sogar etwas gepeinigt lächelt über Rosalies schlichte und heitere Gemütsart: vorausdeutend auf die kommenden Ereignisse“[11] Anna ermahnt ihre Mutter sich einer reifen Frau gemäß zu verhalten, ihren Alterungsprozess und das damit zusammenhängende Ausbleiben der Regel als etwas naturgegebenes, heiliges anzuerkennen, „und jedenfalls haben alle gesitteten Völker immer der Matrone die ausgesuchteste Ehrerbietung entgegengebracht, haben sie geradezu heilig gehalten, und heilig halten wollen wir Dich in Deiner lieben, reizenden Alterswürde“.(184) Hier wird deutlich, dass würdig und heilig nur sein kann, wer sich aus der sinnlichen und triebhaften Welt zurückzieht und die Welt des Willens verneint. Anna ist skeptisch angesichts der fortlaufenden und unaufhaltsamen Leidenschaft der Mutter. Sie rät ihr zu einer Reise in den Taunus, um der Versuchung der neuen Liebe und Leidenschaft zu entgehen, als dieser Rat nicht angenommen wird, schlägt sie Rosalie sogar die Ehelichung Kens vor um die äußere Form zu wahren und die bürgerlich sittliche Ordnung einzuhalten. Anna erinnert Rosalie an die Wichtigkeit der „Harmonie zwischen Leben und angeborener sittlicher Überzeugung“ (221) und warnt davor, dass sie „gegen“ sich „selbst leben“ (221) würde, würde sie ihrer Leidenschaft freien Lauf lassen. „Im Grunde bist Du an gewisse Begriffe gebunden und die Zerstörung dieser Bindung käme einer Zerstörung Deiner selbst gleich“.(221) Anna empfiehlt ihrer Mutter, Ken Keaton doch einmal bei „Tageslicht, in seiner Wirklichkeit“(205) zu betrachten. Anna durchschaut ihre Mutter, sie glaubt nicht an die große Liebe der Mutter zu dem so durchschnittlichen Mann. „Herz ist sentimentaler Schwindel. Man soll nicht Herz nennen, was etwas ganz anderes ist“ (202)

Doch Rosalie bezeichnet das Tageslicht als ein „so falsches, so gänzlich irreführendes Licht“. Anna ist selbstkritisch und zweifelt selbst an ihrem Vorgehen: Fragt sich, „ob sie die Sinnenglück einmal gramvoll ersehnt aber nie gekannt hatte, es nicht der Mutter heimlich missgönnt und sie darum mit allerlei erklügelten Argumenten zur Sittsamkeit angehalten hatte.“ (226)

Anna steht hier zwar für Sittlichkeit und Moral für Geist und Vernunft, aber die Gründe, die sie zu einem so denkenden Menschen gemacht haben sind bitter, insofern ist ihre Haltung von Thomas Mann nicht als uneingeschränkt positiv betrachtet worden.

Rosalie nimmt die Warnungen ihrer Tochter durchaus ernst, denkt darüber nach, entscheidet aber schließlich, dass sie den geschenkten ,Seelenfrühling’ als naturgegeben annehmen müsse und daneben Vernunft und Geist zweitrangig sind. „In den Gesprächen mit Anna steht [...] das Problem der wechselseitigen Beeinflussung von Psyche und Körper im Mittelpunkt“. Als Rosalies Periode scheinbar wieder einsetzt „triumphiert sie, doch bald stellt sich diese Korrektur der Natur als fürchterlicher Irrtum heraus.[12] “ Rosalie bewundert die Natur, zudem glaubt sie, die Psyche lenke die Physis, d.h. der Körper verhalte sich so, wie der Geist es wünsche oder fühle. Anna dagegen vertritt die Position, das Physische lenke die Psyche. Rosalie konkret, glaubt, ihre Regel kehre zurück, ihr körperliches Altern sei unterbrochen, weil sie sich dies so gewünscht habe, weil sie sich verliebt habe und weil sie sich aufgrund der Verliebtheit wieder so jugendlich fühlt. Anna glaubt das nicht.

Rosalie sieht nur das Schöne, dass ihr durch die Natur zuteil wird. „Was die Natur an mir getan ist so schön – nur schönes kann ich davon erwarten“ (218), sie traut der Natur nicht einmal etwas sie beeinträchtigendes zu, was schon insofern erstaunlich ist, als ihre eigene Tochter von der Natur durch einen Klumpfuss beeinträchtigt ist. Rosalie ist in der Leidenschaft zu Ken so gefangen wie Aschenbach in der Leidenschaft zu Tadzio. Liebe führt zu physischem Verfall, einmal durch Blindheit einer verliebten Frau, die nicht in der Lage ist die Zeichen der Natur, Blutungen, Verlust an Gewicht, magere Unterarme, gelbliche Hautfarbe, als Krankheitssymptome zu erkennen. Rosalie erkennt nicht, dass Natur Kreislauf bedeutet und auf Leben der Tod folgt. Anna besitzt diese Erkenntnis, sie glaubt nicht an das Fruchtbarkeitswunder, sondern zieht die Möglichkeit der Erkrankung in Betracht.

Anna durchschaut die Tatsache, dass der Mensch von Trieben und Leidenschaften geführt unmoralisch und unsittlich handelt, wenn er dem nicht durch Vernunft und Disziplin Einhalt gebietet. Aber es ist Anna, die Eduard beim Besuch auf Schloss Holterhof zurückhält, damit Rosalie mit Ken gehen kann, was ihre Zuneigung, aber auch ihr zwischenzeitliches Einverständnis zum Nicht-gegen-die-Natur-Leben bedeutet[13] „anschließend sah keiner den anderen an“. (238)

Letztlich durchschaut Rosalie die Zweideutigkeit ihrer geliebten Natur als sie den wahren Grund ihrer plötzlichen Blutungen erfährt. Die erste Erkenntnis in dieser Richtung erlangt sie bei Betrachtung des Krokus und der Erkenntnis dessen grosser Ähnlichkeit mit der Herbstzeitlose, „es ist ja so gut wie die selbe Blume! Ende und Anfang – man könnte sie verwechseln, so ähneln sie einander“. (225).

2.4 . Mythologische Motive

Beide Erzählungen weisen einige mythologischen Motive auf, wie schon oben beschrieben ist, ist dabei der Gegensatz von Eros und Thanatos vorherrschend. Da dieses Motiv oben unter 2.1. ausführlich besprochen wurde, soll es im folgenden allerdings nicht mehr weiter ausgeführt werden.

Im Tod in Venedig finden sich noch einige andere mythologische Elemente. Bevor Aschenbach sich die Liebe zu Tadzio und den damit verbundenen Rauschzustand eingesteht, „rationalisiert er sein Verhältnis zu Tadzio, indem er es durch das Bild der Beziehung Sokrates und Phaidros überblendet[14]: „Unter Artigkeiten und geistreich werbenden Scherzen belehrte Sokrates den Phaidros über Sehnsucht und Tugend. Er sprach ihm von dem heissen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein Gleichnis der ewigen Schönheit erblickt“ (85) Aschenbach versucht sich selbst mit diesem Gleichnis vorzuspiegeln, Schönheit sei etwas rein geistiges, und die Schönheit Tadzios fasziniere ihn nur deshalb, weil er ein geistiger Mensch sei.

An anderer Stelle sitzt Aschenbach schlaflos in seinem Hotelzimmer am Fenster, betrachtet den Sonnenaufgang und träumt von Eos, der Göttin der Morgenröte. Sie gilt auf dem Olymp als „Jünglingsentführerin“ (91)

„Mehrmals, wenn hinter Venedig die Sonne sank, sass“ Aschenbach „auf einer Bank im Park, um Tadzio zuzuschauen, der sich, weiss gekleidet und farbig gegürtet, auf dem gewalzten Kiesplatz mit Ballspiel vergnügte, und Hyakinthos“, ein schöner Jüngling der griechischen Mythologie um dessen willen der Poet Thamyris die Knabenliebe erfunden hatte, „war es, den er zu sehen glaubte, und der sterben musste, weil zwei Götter ihn liebten.“ Um mit Hyakinthos zu jagen oder zu kämpfen, vergisst der Gott der Weissagung sein Orakel in Delphie, sogar Bogen und Leier. Beim gemeinsamen Diskuswerfen tötet ihn ein vom Wind abgetriebener Diskus Apolls. Apoll vergöttlicht den Jüngling und lässt aus seinem Blut die Hyazinthe entstehen.[15] Aschenbach glaubte „Zephyrs schmerzenden Neid auf den Nebenbuhler“ zu empfinden, „der des Orakels, des Bogens und der Kithara vergass, um immer mit dem Schönen zu spielen;“ (93)

Auch im glücklichsten Moment der Erzählung, als Tadzio Aschenbach anlächelt, stellt dieser einen mythologischen Vergleich an. „es war das Lächeln des Naziss“, (96) und vergleicht Tadzio mit dem selbstverliebten Narziss.

Die „mythische Motivstruktur ist in der Betrogenen sparsamer und diskreter ausgearbeitet. Wie im Tod in Venedig wird auch hier die Erzählung von der Eros Thanathos Ambivalenz beherrscht und die Hauptgestalt wird auf eine Unterweltfahrt geschickt, doch ist hier der mythologische Apparat gleichsam umgepolt. Während er dort den Untergang gleichsam mitinszeniert, scheint die mythische Motivkette hier gnade, Versöhnung und Unsterblichkeit zu verheißen, nämlich durch die Projektion des Mythos von Amor und Psyche sowie den Durchgang durch die Hadeswelt von Holterhof zu den seligen Gefilden am jenseitigen Ende der Unterwelt[16] “.

3. Finden statt Erfinden im Werk T.M.´s – Zusammenhang des Werks mit der eigenen Biographie als weiterer Beweis der Motivgleichheit

Die Motivgleichheit beider Erzählungen ist hiermit dargestellt und bewiesen. Wie oben beschrieben fällt die Auflösung der gleichen Motive in beiden Erzählungen unterschiedlich aus und diese Tatsache lässt sich mit der persönlichen Weiterentwicklung des Autors Thomas Mann erklären. Aber auch die Motivgleichheit ergibt sich aus der Biographie Thomas Manns. Thomas Mann handelte in seinem Werk meist nach dem Prinzip „Finden statt Erfinden“. Die Darsteller seiner Erzählungen und Romane sind meist Figuren seines eigenen Lebens. So hat Thomas Mann beispielsweise seine großen Lieben, Armin Martens, Williram Timpe, Paul Ehrenberg, Klaus Heuser, Franz Westermaier und nicht zu vergessen seine Frau Katia in seinem Werk verewigt.

Auch in den vorliegenden zwei Erzählungen ist Thomas Mann nach diesem Prinzip vorgegangen und nicht nur die Personen in seinen Erzählungen haben reale Vorbilder auch die beschriebenen Motive. Diese bilden auch im Leben Thomas Manns zentrale Elemente. Insofern ergibt sich aus der Motivgleichheit der Erzählungen die Bestätigung der Motive des Tod in Venedig als zentrale Motive des Lebens Thomas Manns, da er sie in der Betrogenen, 42 Jahre später, wiederverwendet. Gleichzeitig kann die biographische Komponente als weiterer Beweis der Motivgleichheit gelten. Denn sowohl im Tod in Venedig als auch in der Betrogenen identifiziert sich Thomas Mann mit der(n) Hauptfigur(en). Und somit sind beide Erzählungen sehr persönliche Verarbeitungen seiner eigenen Lebenserfahrungen.

Im folgenden soll nun kurz auf die Entstehung des Werkes eingegangen werden um zu klären, welche Komponenten direkt aus Thomas Manns Biographie stammen, also eigene Erfahrungen wiederspiegeln, und welche von außen an ihn herangetragen wurden, also keine unmittelbare Rolle im Leben des Autors spielten. Dabei werden die Motive der Erzählungen mit den Motiven im Leben Thomas Manns verglichen um aufzuzeigen inwiefern genau der Autor seine eigene Geschichte erzählt.

3.1. Entstehung der Erzählungen

Anlass zum Schreiben beider Erzählungen war Goethes Erlebnis in Marienbad, was Thomas Mann schon immer fasziniert hatte. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, die Geschichte des greisen Dichters, der sich bei einem Kuraufenthalt in Marienbad in die 16 jährige Ulrike von Levetzow verliebte, vor dieser Liebe floh und abreiste, einmal genau wiederzugeben[17]. Im Tod in Venedig deutet er das Erlebnis des 70 jährigen Goethes nur an, indem er ebenfalls einen Schriftsteller in höherem Alter darstellt, der sich auf einer Reise in einen viel jüngeren Menschen verliebt, aber Aschenbach gelingt die vernünftige Abreise nicht, er kehrt um. Statt Goethe portraitiert Thomas Mann in der Figur Aschenbach sich selbst. Da er sich Goethe immer sehr nahe gefühlt hatte, sowohl in der Abstammung, der „Zweiseelenhaftigkeit“, also dem Konflikt zwischen Geist und Körper, im Schriftstellerischen Können und Werk, liegt diese Variation fast nahe. Das Motiv der zwei Seelen in einer Brust ergibt sich indirekt auch aus Goethes Erlebnis in Marienbad. Die Entscheidung der Abreise sowohl bei Goethe als auch bei Aschenbach war getragen vom Konflikt zwischen Geist und Natur, zwischen Disziplin und Lust, zwischen Vernunft und Leidenschaft. Bei Goethe, wie übrigens auch bei Thomas Mann, siegte gewöhnlich und so auch hier der Geist, die Disziplin und Vernunft, er reiste ab und entzog sich dem Abenteuer. Aschenbach stirbt in Venedig. Der Sieg der Leidenschaft stürzt ihn ins Unglück. Thomas Mann befindet sich während der Entstehung des Tod in Venedig in einer Schaffenskrise. Aus Briefen an seinen Bruder Heinrich geht hervor, dass er sich wie Aschenbach „fehlender Arbeitslust, Zögern“ und „geistiger Stagnation“ ausgesetzt sah.[18]

42 Jahre später greift Thomas Mann den Stoff Goethe in Marienbad erneut auf. „ Ich möchte einmal wieder mit etwas fertig werden“ gibt er als Grund an, die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull ein letztes Mal zu unterbrechen. Die Betrogene wird seine letzte Erzählung. Thomas Mann ahnte vielleicht schon, dass er nicht mehr allzu viel fertig stellen können würde. Während er die Betrogene schreibt klagt er „oft habe ich es satt, bin aber zu gesund, als dass Todeswünsche nicht komisch wären“. Thomas Mann befindet sich also beim Schreiben beider Erzählungen in Lebenskrisen und überträgt diese jedes Mal auf seine Hauptfiguren[19].

Auch in der Betrogenen stellt er einen Menschen dar, der nicht in der Lage ist nach dem Geist zu handeln. Rosalie ist sogar derartig von der Natur verblendet, dass sie den Geist nicht anerkennen will. Wieder verliebt sich ein alternder Mensch in einen Jugendlichen, diesmal eine reife Frau in einen jungen Mann. Wieder besteht die Überlegung zur Flucht und Abreise. Anna rät ihrer Mutter zu einem Aufenthalt im Taunus, auch diesmal entscheidet sie zu bleiben. Hätte sie sich dem Reiz des jungen Mannes früh genug entzogen, vielleicht hätte der Reiz nicht die tödliche Krankheit ausgelöst. Es bleibt aber in der Betrogenen ebenso ungewiss wie im Tod in Venedig ob eine Flucht Aschenbach oder Rosalie gerettet hätte.

Ein weiterer Punkt, der die Entstehung des Tod in Venedig beeinflusst hat, ist ein Reiseerlebnis, das Thomas Mann in seiner Korrespondenz mit Carl Maria Weber erwähnt: „Was damals dazukam, war ein persönlich-lyrisches Reiseerlebnis, das mich bestimmte, die Dinge durch Einführung des Motivs der ‚verbotenen Liebe‘ auf die Spitze zu stellen.“[20] Im Mai 1911 reiste Thomas Mann zusammen mit seiner Frau und seinem Bruder Heinrich über Brioni nach Venedig. Noch in Brioni hatte Thomas Mann vom Tod Gustav Mahlers erfahren, dem der Protagonist im Tod in Venedig in seiner Gestalt stark ähnelt. Das lieferte ihm ein anschauliches Beispiel, wie eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht vom Ende einer tragischen Künstlerexistenz empfing.[21]. Die Reise per Schiff nach Venedig sowie zahlreiche Details vom Wanderer am Münchner Nordfriedhof bis zum bösartigen Bänkelsänger und dem Ausbruch der Cholera wurden von Thomas Mann mehr oder weniger genauso erfahren, wie er sie in der Novelle gestaltete: Nichts ist erfunden, versicherte er selbst. Thomas Mann war selbst erstaunt über die „eingeborene Symbolik und Kompositionsgerechtigkeit“ seiner venezianischen Erlebnisse. Das Thema Cholera begegnete Thomas Mann bereits im Jahr 1905. Seine Frau Katia und er waren damals gezwungen eine Ostsee-Reise wegen eines Ausbruchs der Seuche in Danzig abzubrechen.[22] Die Handlung der Betrogenen beruht auf wahren Begebenheiten. Den Anstoß zu der Erzählung lieferte Thomas Manns Frau Katia, die ihm am 6. April 1952 von einer älteren Münchner Aristokratin erzählte, die sich in den Hauslehrer ihres Sohnes verliebt hatte.[23] Ihre leidenschaftliche Liebe ließ – so glaubt sie wenigstens – noch einmal ihre Menstruation zurückkehren. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Blutungen anderer Natur waren, sie starb nach kurzer Krankheit an Gebärmutterkrebs. Thomas Mann notierte ihr Schicksal sogleich in seinem Tagebuch und beschloss die Geschichte der Betrogenen zu erzählen. Um sich Einblick in den Krankheitsverlauf des Gebärmutterkrebses zu verschaffen, kontaktierte er den Berliner Internisten, Dr. Frederik Rosenthal, der ihm eine Abhandlung über die Krankheit übermittelte. Ein Merian Heft über Düsseldorf zugesandt von einer Bekannten aus dem Rheinland, Grete Nikisch, verschaffte Thomas Mann. genaue Informationen über die Schauplätze seiner Erzählung. Zudem sorgte ein Ortskundiger, Dr. Rudolf Oberloskamp, der Neffe Frau Nikischs, dafür, dass die Einzelheiten des Rheinausfluges stimmten.

3.2.Vorbilder der Hauptfiguren der Erzählungen

Im folgenden sollen nun die realen Vorbilder für die Hauptfiguren beider Erzählungen untersucht werden.

Gustav Aschenbach: Das Aussehen Gustav Aschenbachs gleicht dem Gustav Mahlers, der ihm auch den Vornamen gab, Vorbild für die innere Person ist jedoch Thomas Mann selbst.

Ein Künstler in einer schweren Schaffenskrise, im Konflikt zwischen Geist und Natur, Disziplin und Leidenschaft, von homoerotischer Liebe zu einem 14-jährigen Jüngling aufgewühlt, sehnt sich nach dem Tod als Erlösung.

1911 als Thomas Mann den Tod in Venedig schrieb, befand er sich, wie schon erwähnt, damals 35 jährig, also deutlich jünger als Aschenbach, in einer persönlichen Krise. Seine eigene Krise ging nicht so weit an Selbstmord zu denken, aber vielleicht stellte er sich vor, wenn ihn diese Krise in höherem Alter, mit über 50 Jahren, im Alter Aschenbachs also, ereilt hätte, so hätte sie ihm allen Lebensmut geraubt. Thomas Manns Schaffenskrise überwandt er mit ihrer Verarbeitung im Tod in Venedig, es folgten sehr ergiebige künstlerische Jahre. Mit dem Verfassen des Tod in Venedig trat Thomas Mann künstlerisch die Nachfolge Aschenbachs an, der ja immerhin für sein Werk geadelt worden war. Aschenbach geht an der Krise zu Grunde, unklar ist seine Todesursache, Cholera, Liebestod oder Flucht vor dem Leben in den Tod. Das Scheitern Aschenbachs geschieht stellvertretend für Thomas Manns Ängste.

Rosalie von Tümmler: Aschenbachs innerer Konflikt wird wie oben ausführlich beschrieben in der Betrogenen in Dialogen zwischen Mutter und Tochter wiederaufgegriffen. Im Tod in Venedig identifiziert sich Thomas Mann mit Aschenbach, in der Betrogenen schlüpft Thomas Mann in die Rolle Rosalies. Gegenpart ist ihre Tochter Anna, die das geistige vertritt, während Rosalie für die Natur steht. Äußerlich ähnelt Rosalie Gertrud von le Fort, innerlich Thomas Mann.

Die Idee für ihre Geschichte stammte im einzelnen von Katia Mann, die ihrem Mann einmal die wahre Geschichte einer Münchner Aristokratin erzählte, der die Geschichte der Betrogenen genauso wiederfahren war. In Thomas Mann. sind sowohl Anna als auch Rosalie enthalten und er hat sich zeitlebens bemüht beide Seiten massvoll zu halten. Beachtung verdient die Vermutung, das analog zum Doktor Faustus, Rosalie und Anna als ein und dieselbe Person aufzufassen seien:

Tadzio: Im November 1910 schrieb Thomas Mann eine kleine Auftragsarbeit, die Erzählung Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten. Die Geschichte spielt am Strand von Travemünde, handelt von drei Jungen und beschreibt unter anderem einen Jüngling, der Tadzio äußerlich sehr ähnelt. Vorbild für diesen Jungen war Thomas Manns ehemaliger Mitschüler Jonny Eckhoff. Jonny´s Äusseres glich dem Tadzios offenbar genau. „Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine Existenz, Man hatte sich gehütet die Schere an sein schönes Jahr zu legen [...] Das englische Matrosenkostüm, dessen bauschige Ärmel sich nach unten verengten und die feinen Gelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten, verlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes“. Weitere Vorbilder für Tadzio waren Paul Ehrenberg und Baron Wladyslaw Moes, ein polnischer Junge, der sich 1911 in Venedig im gleichen Hotel wie Thomas Mann aufhielt und den Thomas Mann offenbar während seines Aufenthaltes dort beobachtete. Die Wissenschaft ist sich allerdings bis heute uneinig, ob Moes tatsächlich der beobachtete polnische Jüngling war. Thomas Mann schreibt im Lebensabriss von 1930 über Paul Ehrenberg: „Herzlich befreundet war ich zu jener Zeit mit zwei Jungen Leuten, [...] Söhnen eines Dresdener Malers und Akademieprofessors E. Meine Neigung galt dem Jüngeren, Paul, der ebenfalls Maler war, Akademiker damals und Schüler des berühmten Tiermalers Zügel, ausserdem vorzüglich Violine spielte, war etwas wie die Auferstehung meiner Empfindungen für jenen zugrunde gegangenen blonden Schulkameraden [Armin Martens] aber dank grösserer geistiger Nähe sehr viel glücklicher“[24]

Ken Keaton: Da Thomas Mann sich mit Rosalie identifiziert, gehe ich davon aus, dass die Liebe Rosalies zu Ken Keaton ein homoerotisches Erlebnis oder auch mehrere zum Vorbild hat. Ohne Zweifel spricht schon die Alliteration des Namen Ken Keaton für eine erneute Beschreibung des Hans Hansen aus dem Tonio Kröger[25]. Vorbild für Hans Hansen war Thomas Manns erste Liebe, sein Mitschüler Armin Martens. Ihm hatte der damals 15 jährige Thomas Mann seine Liebe gestanden, der Junge konnte mit diesem Geständnis jedoch nichts anfangen, lachte Thomas Mann aus. Brüskiert durch diese harsche Zurückweisung, hielt Thomas Mann seine künftigen Schwärmereien und Verliebtheiten geheim. Die Tatsache, dass Rosalie Ken ihre Liebe gesteht, stellt insofern eine Weiterentwicklung dar. Einige Indizien weisen darauf hin, dass Thomas Mann seine eigene späte Liebe, im Alter von 75 Jahren zu Franz Westermeier, einem jungen Kellner im Grand Hotel Dolder in Zürich und schon früher zu Klaus Heuser, den T.M. im Sommer 1927 auf Sylt kennen gelernt hatte[26], in der Betrogenen verarbeitet. Zumal Die Betrogene in Düsseldorf spielt, der Stadt also, aus der Klaus Heuser stammte und wo Thomas Mann. ihn besuchte, obwohl sie sich ursprünglich in München zugetragen hatte, und die Liebe Rosalie von Tümmlers eine glückliche und erwiderte Liebe ist, so wie die Thomas Manns zu Heuser. Für Westermeier spricht, dass Thomas Mann ihn ab 3.7.1950 mehrmals zärtlich in seinem Tagebuch erwähnt[27] und ihn in die Galerie derer aufnimmt die in seinen Erzählungen verewigt wurden. Gegen ihn spricht Thomas Manns Tagebucheintrag vom 8.7.1950 „Meine Gefühle...gehen im Begehren nicht weit.“, da Rosalie sich leidenschaftlich in Ken verliebt. Das Vorbild für Ken Keaton bilden aber weder Heuser noch Westermeier. Stattdessen geht man davon aus, dass Ed Klotz, ein amerikanischer Student Golo Manns dessen Modell war. Er war wie Ken geschichtsinteressiert, sportlich und hatte Glück bei Frauen.[28]

3.3. Dualismus von Liebe und Tod in Thomas Manns Biographie

Thomas Manns Venedig Reise diente als Vorlage für das Motiv des Dualismus von Liebe und Tod im Tod in Venedig. Thomas Mann hat hier zweifelsohne die typische Atmosphäre Venedig erlebt und verarbeitet. Fäulnisdüfte, morbide Stimmung. Die Anspannung des Umgangs einer Stadt mit einer ausbrechenden Seuche hat Thomas Mann vielleicht in Danzig erlebt. Den Jüngling Tadzio hat Thomas Mann auf seiner Reise ebenfalls tatsächlich getroffen. Ausserdem bilden, wie oben schon erwähnt, Jonny Eckhoff und Paul Ehrenberg die Vorbilder für Tadzio.

Im Tod in Venedig verwendet Thomas Mann seit langen erstmals wieder das homoerotische Element. Da Thomas Mann sich selbst mit Rosalie identifiziert, kann ihre Liebe zu Ken als auf homoerotische gewertet werden.

Die zahlreichen Vorbilder für Ken Keaton, die oben ausführlich erläutert sind, lassen darauf schliessen dass für die Betrogene nicht ein Liebeserlebnis entscheidendes Vorbild war, sondern Thomas Mann nach Fertigstellung des Gerüstes der Erzählung eine fiktive Mischgestalt als Ziel der Liebe Rosalies eingesetzt hat. Durch dieses Einsetzen bringt er die Gestalt der Rosalie sich selbst näher. Der Dualismus von Liebe und Tod in der Betrogenen ist möglicherweise aus der schweren Krankheit Thomas Manns 1947 entstanden, die Thomas Mann unvermittelt seine Endlichkeit klarmachten. In Verbindung mit dem Westermaier Erlebnis, dass ihm zeigte, dass er trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht den Schwärmerein entwachsen war, entsteht dass Thema, der Liebe, die durch Tod entzweit wird. Doch Rosalie, „Die betörte treibt es weiter als Thomas Mann es je trieb, zu entschiedenen Küssen und dem Versprechen, am nächsten Tag auf sein Zimmer zu kommen.“[29] “ Insofern ist der Tod in Venedig näher an Thomas Manns Erfahrungen , denn seine homoerotischen Lieben blieben körperlich stets unerfüllt.

3.4. Leben und Tod

Die Todesvorboten des Tod in Venedig hat Thomas Mann nach eigenen Angaben alle selbst gesehen. Beispielsweise dem rothaarigen, stumpfnasigen, Lodenmantelträger begegnete Thomas Mann offenbar tatsächlich am Münchner Nordfriedhof. Für Thomas Manns Leben waren diese Todesvorboten nicht von Bedeutung. Eine gewisse Todessehnsucht Thomas Manns zum Zeitpunkt der Entstehung des Tod in Venedig mag infolge seiner künstlerischen Schaffenskrise bestanden haben, ihre Bedeutung ist aber marginal.

Wie schon gesagt hatte Thomas Mann zum Zeitpunkt der Arbeit an der Betrogenen gerade eine schwere Krebserkrankung an der Lunge überwunden, insofern war ihm auch hier das Thema Tod gegenwärtig. Infolge der anstrengenden Übersiedlung von Kalifornien zurück in die Schweiz und aufgrund seiner 77 Lebensjahre fühlte sich Thomas Mann zudem geschwächt, wie schon oben beschrieben, dachte er über den eigenen Tod nach, hielt ihn in naher Zukunft aufgrund seiner guten Gesundheit aber für unwahrscheinlich.

3.5. Dualismus zwischen Geist und Natur in der Biographie Thomas Manns

Den Konflikt zwischen Geist und Natur im weiteren Sinn trägt Thomas Mann ebenso wie Aschenbach, sein ganzes Leben hindurch immer wieder aus. Wie bei Aschenbach siegt auch bei Thomas Mann meist Geist und Vernunft oder wirkt sich zumindest mäßigend auf die Leidenschaften und Triebe aus. Dies mag einer der möglichen Gründe sein, warum die Liebe Aschenbachs zu Tadzio unerfüllt bleiben muss. Auch ohne Erfüllung wirft sie Aschenbach in ihrer leidenschaftlichen Verzückung völlig aus der Bahn. Ein anderer Grund mag Thomas Manns Schüchternheit sein. Seiner ersten homoerotischen Liebe, seinem Mitschüler Armin Martens, hatte der damals etwa 15 jährige seine Gefühle gestanden und war von diesem abgewiesen und ausgelacht worden. Diese frühe Demütigung ließ Thomas Mann künftig zurückhaltend an derartige Erlebnisse herangehen.[30]

Thomas Mann gibt selbst und auch im Tod in Venedig Auskunft über den Grund dieser zwei Seelen in seiner Brust. Um sein Verhältnis zu seinen Eltern zu erklären, Thomas Johann Heinrich Mann, Lübecker Kaufmann und Julia Mann, Geborene da Silva-Bruhns, einer Deutsch-Brasilianerin, verwendete Thomas Mann gern den bekannten Vers aus Goethes Zahmen Xenien:

Vom Vater hab ich die Statur,

Des Lebens ernstes Führen,

Vom Mütterchen die Frohnatur,

Und Lust, zu fabulieren.

Auch Aschenbach, Sohn eines höheren Justizbeamten und der Tochter eines böhmischen Kapellmeisters, hat einen streng sittlichen , bürgerlichen Vater , die künstlerische Neigung entstammt der mütterlichen Seite, „die Vermählung dienstlich nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen, ließ einen Künstler und diesen besonderen Künstler entstehen.“(19) Und Thomas Mann, wie auch Aschenbach bemühen sich zeitlebens beide Seite zu vereinen, den nachträglichen Stolz des Vaters zu erringen, indem sie die Kunst perfektionieren, diszipliniert leben und arbeiten und ein bürgerlich sittliches Leben führen.

C:Zusammenfassung

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Motivgleichheit der Erzählungen der Tod in Venedig und Die Betrogene bewiesen werden konnte. Thomas Mann schrieb diese beiden sehr persönlichen, eng an seine eigene Biographie angelehnten Erzählungen an das Erlebnis Goethes in Marienbad gelehnt und machte zentrale Motive seines eigenen Lebens zu den Motiven der Erzählungen. Unterschiede ergeben sich nur in der verschiedenartigen Ausführung der gleichen Motive, die freilich nicht verwunderlich ist, bedenkt man, dass Thomas Mann beide Werke mit 42 Jahren Abstand schrieb.

Die anfangs formulierte These findet sich letztlich also bestätigt.

Literatur:

Anmerkung zur Zitierweise: Die Primärliteraturzitate sind durch Anführungsstriche gekennzeichnet und im Text als Seitenzahlen in Klammern angegeben.

Die Sekundärliteraturzitate stehen in den Fussnoten.

Primärliteratur:

- Thomas Mann, Der Tod in Venedig, Novelle, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1992

- Thomas Mann, Die Betrogene und andere Erzählungen, Erzählungen 1940 – 1953, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2001

- Thomas Mann, Tagebücher 1950-1952, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989

Sekundärliteratur:

- James N. Bade, Die Betrogene aus neuer Sicht, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995

- Reinhard Baumgart, Betrogene Betrüger, zu Thomas Manns letzter Erzählung und ihrer Vorgeschichte, in: H.L. Arnold, Thomas mann, München 1982, S.123 ff.

- Werner Frizen, Thomas Mann – Der Tod in Venedig, Oldenbourg Interpretationen Band 61, Oldenbourg Verlag, München 1993

- Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001

- Herrmann Kurzke, Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk, Eine Biographie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001

- Mann, Erika (Hrsg.), Thomas Mann. Briefe 1889-1936, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1962

- Terence James Reed, Thomas Mann Der Tod in Venedig. München 1983.

- William H. Rey, Rechtfertigung der Liebe in Thomas Manns Die Betrogene, in: Dt. Vierteljahresschrift Für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 34. Jhg., Stuttgart 1960, S. 428 ff.

- Ludwig Paul Sauer , Ironie und Versöhnung zu Thomas Manns letzter Novelle, Die Betrogene, in: Wirkendes Wort, Düsseldorf 1974, S. 99 ff.

- Mario Szenessy, Die Betrogene, in: Vierteljahresschrift für literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 40. Jhg., Stuttgart 1966, S. 217 ff.

- Margot Ulrich, Die Betrogene, in: Rudolf Wolff (Hrsg.), Thomas Mann, Erzählungen und Novellen, 1984, S.121 ff.

- Hans Rudolf Vaget (Hrsg.), Thomas Mann, Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, Winkler Verlag, München 1984, (Der Tod in Venedig ab S. 130 / Die Betrogene ab S. 289)

[...]


[1] Thomas Mann, Die Rückkehr, in: Dichter über ihre Dichtungen T.M.III, S.Fischer, Passau 1981, S.523

[2] W.H.Rey, a.a.O. , S.441

[3] W.H.Rey, a.a.O., S.442

[4] Paul Ludwig Sauer, a.a.O., S.

[5] W.H.Rey, a.a.O., S.441

[6] Herrmann Wiegmann, a.a.O., S191

[7] Margot Ulrich, a.a.O., S124

[8] Reinhard Baumgart, a.a.O., S123

[9] Rudolf Wolff, a.a.O., S

[10] Margot Ulrich, a.a.O., S.124

[11] Herrmann Wiegmann, a.a.O., S.264

[12] Margot Ulrich, a.a.O., S.122

[13] Herrmann Wiegmann, a.a.O., S.268

[14] Rolf Günter Renner, a.a.O., S. 43

[15] Werner Frizen, a.a.O., S.139

[16] Hans Rudolf Vaget, a.a.O., S.304ff.

[17] James N. Bade, a.a.O., S. 34

[18] Terence James Reed, a.a.O., S.148

[19] Reinhard Baumgart, a.a.O., S.

[20] Mann, Erika (Hrsg.): „Thomas Mann. Briefe 1889-1936“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1962. S. 177

[21] Thomas Mann Handbuch, a.a.O., S. 582ff.

[22] Thomas Mann Handbuch, a.a.O., S.585

[23] Thomas Mann Handbuch, a.a.O., S. 611.

[24] Herrmann Kurzke, a.a.O., S. 136ff.

[25] W.H.Rey, a.a.O., S. 440

[26] Thomas-Mann-Handbuch, a.a.O., S.614

[27] Thomas Mann Tagebücher 1950-1952, a.a.O.

[28] James N. Bade, a.a.O, S:37

[29] Thomas Kurzke, a.a.O., S. 579

[30] Thomas Kurzke, a.a.O., S.46ff.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Thomas Manns "Der Tod in Venedig" und "Die Betrogene" - Motivgleiche Erzählungen?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Hauptseminar Das Spätwerk Thomas Manns WiSe 02/03
Note
2,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
25
Katalognummer
V108150
ISBN (eBook)
9783640063536
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas, Manns, Venedig, Betrogene, Motivgleiche, Erzählungen, Hauptseminar, Spätwerk, Thomas, Manns, WiSe
Arbeit zitieren
Kathrin Mertens (Autor:in), 2003, Thomas Manns "Der Tod in Venedig" und "Die Betrogene" - Motivgleiche Erzählungen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108150

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