Theorien schulischer Gewalt


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2003

32 Seiten


Leseprobe


Inhalt

I. Voraussetzungen
I.I. Begriffsklärung
I.II. Verantwortung der Erziehungswissenschaft
I.III. Stand der Forschung

II. Methode

III. Ergebnis - Theorie der Gewalt in Schulen (in 20 Thesen ausformuliert)

I. Voraussetzungen

I.I. Begriffsklärung

Der Begriff "Gewalt" kommt von "walten, verwalten" und meint eine gestaltende Machtausübung und insbesondere die positiv ge- wertete Hausmacht des Herrn (Otto/Merten 1993, 126f. u. Rauschenberger 1992, 135 in: Petersen 1999, 69). Der verwandte Begriff "Ag-gredi" (Aggression) bedeutet dagegen ursprünglich In- Angriff-nehmen, Selbstbehauptung, letztlich Aktivität (vgl. Frech 1993, 60 in: Petersen 1999, 70). Der Begriff "Schule" ist allgemein be- kannt. "Es handelt sich um die staatliche Einrichtung, die zwischen dem 6. und 16. Lebensjahr von allen Heranwachsenden pflichtge- mäß und von den Älteren mehr oder weniger freiwillig besucht wird und in der sich Lehrerinnen und Lehrer um die Bildung und Eziehung des gesellschaftlichen Nachwuchses bemühen. (Tillmann

u. a. 2000, 18)" "Gewalt in Schulen" meint die in dieser Institution vorkommende Gewalt.

Begrifflich werden heute "Gewalt" und "Aggression" in der Erzie- hungswissenschaft nicht mehr unterschieden (Hurrelmann u. a.

1995). Als "Aggression" wird gelegentlich auch eine Verhaltensdis- position bezeichnet (z. B. Tillmann u. a. 2000, 23), die nicht unbe- dingt zu Gewalt oder Aggression im ersteren Sinne, wohl aber zu einer feindlichen Grundhaltung führt. Unterschieden wird in der Literatur der Erziehungswissenschaft auch zwischen Gewalt bzw. Aggression und "Devianz" (ebd.). Devianz meint "abweichendes Verhalten", was gemäß der soziologischen und kriminologischen Li- teratur sowohl unsoziales Verhalten als auch kriminelles Verhalten einschließen kann.

Der Gewaltbegriff ist in der wissenschaftlichen Literatur äußerst umstritten. Aber bei allen Interpretationen wird Gewalt als Verlet- zung, als Einschränkung oder Manipulation gedeutet und damit als Schädigung, als Verhinderung eines ansonsten möglichen Sein-Kön- nens. Der Gewaltbegriff wird demzufolge immer negativ bewertet, außer bei den Sonderformen legitimierter staatlicher Gewalt (struktureller Gewalt), die sich nur durch die Verhinderung ande- rer Gewalt rechtfertigen läßt (vgl. Rawls 1993; Galtung 2000).

Die Vorstellungen, was Gewalt sei, reichen von der Reduzierung des Begriffs auf körperliche Schädigung einer anderen Person, wo- durch Gewalt vor allem bei männlichen Jugendlichen existent wäre, bis hin zur Annahme, daß zwischenmenschliche Beziehungen gene- rell als "Macht" zu verstehen seien (Foucault) und Emanzipation nur durch eine Überwindung dieser subtilen Formen der Gewalt gelin- gen könne. Diese beiden Interpretationsextreme sind so nicht halt- bar. Denn weder werden Menschen allein durch physische Gewalt geschädigt und zu bestimmten Handlungen und Einstellungsverän- derungen veranlaßt, noch ist der Umstand, daß in jeder Interaktion Beziehungen entstehen, die gegebenenfalls auch zur Übernahme von Informationen und Haltungen führen, als Gewalthandlung ein- zuschätzen.

Daß die Reduzierung des Gewaltbegriffs auf physische Handlun- gen ungeeignet ist, weil Gewalt in Schulen ganz unterschiedliche Formen hat, kann heute als Konsens vorausgesetzt werden; die Gleichsetzung von Beziehung, Zwischenmenschlichkeit, Institution und Gesellschaft mit Gewalt ist dagegen zu umfassend, um den Ge- waltbegriff inhaltlich sinnvoll noch gegen die Begriffe Beziehung, Zwischenmenschlichkeit oder Gesellschaft abgrenzen zu können. Denn Beziehungen müssen sich in jedem Fall ständig ereignen, weil ohne sie menschliches Leben nicht vorstellbar ist, nicht aber die da- rin mögliche und relevante Schädigung bzw. Gewalt. Es erscheint daher sinnvoll, inhaltlich differente Begriffe nicht synonym zu ver- wenden, sondern z. B. von Beziehungs-Gewalt, institutioneller Ge-

walt, sachschädigender Gewalt und körperlicher Gewalt zu spre- chen, um das Notwendige und Gewünschte - z. B. die Beziehung - von der darin stattfindenden Manipulation oder Schädigung, der Gewalt, unterscheiden zu können. Auch für die erziehungswissen- schaftliche Diskussion ist eine präzise Definition notwendig, damit beispielsweise Gewalt, die durch die Institution der Schule gegeben sein kann, begrifflich von der schulischen Aufsichtspflicht (strukturellen Gewalt) oder der individuellen Gewalt einzelner Schüler getrennt werden kann.

Sinnvoll erscheint ein Gewaltbegriff, der alle Gewaltphänomene thematisiert, die die Schüler selbst als Gewalt erleben - auch im ü- bertragenen Sinne als Angriff, Integritätsverletzung oder Mißach- tung. Akzeptierte bzw. verinnerlichte Strukturen, die der Schule in- härent sind, z. B. Konformitätszwänge, und nicht als Einschrän- kung oder Verhinderung wahrgenommen werden, sollten dagegen nicht als negative Gewalt aufgefaßt werden. Annahmen, die eine Differenz zwischen dem unmittelbaren, eigenen Erleben der Schüler und ihrem tatsächlichen Wollen und psychischen Zustand unterstel- len, würden die ohnehin schwierige Strukturierung des Gewaltdis- kurses weiter erschweren, wenn nicht völlig unmöglich machen, weil das Verhalten und das Erleben der Schüler nicht mehr direkt als Grundlage für die Beurteilung des Gewaltgeschehens gelten könnten. Ideologische Gewaltdefinitionen, die Beteiligten spekulativ ein "falsches Bewußtsein" unterstellen, können erziehungswissen- schaftlich nicht einbezogen werden. Auch Vorstellungen einer E- manzipation mittels Subversion oder Dekonstruktion sind für Schu- len ungeeignet, weil sie dem Aufbau eines positiven Selbstverständ- nisses entgegenstehen, die freien Identitätsmärkte innerhalb der Schule irritieren und ohnehin nichts mit dem Erleben der Schüler zu tun haben.

I.II. Verantwortung der Erziehungswissenschaft

Gewalt in Schulen bleibt ein großes Problem, obwohl sie unter- schiedlich und teilweise kontrovers definiert und gedeutet wird. Für die einen verhindert sie den zivilisatorischen Fortschritt, für an- dere ist sie ein natürliches, selbstverständliches Verhalten oder Ausdruck gewalttätiger Verhältnisse, die die Schüler ihrerseits zur Gewalt veranlassen. In jedem Fall ist Gewalt in Schulen Thema der Erziehungswissenschaft, weil die Erziehungswissenschaft einen ge- gebenenfalls möglichen zivilisatorischen Fortschritt fördern oder entwickeln soll, eine etwaige "natürliche Gewalttätigkeit" der Kin- der einschränken muß und gewalterzeugende Verhältnisse aufklä- rerisch aufzeigen und aufheben sollte.

Diese Verantwortung der Erziehungswissenschaft ergibt sich aus ihrer Thematik. Denn jede Wissenschaft müht sich um eine fachge- rechte Weiterentwicklung ihres Arbeitsfeldes. Die Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Al- ter, die sowohl den Schülerbedürfnissen als auch den politisch entstandenen staatlichen Vorgaben gerecht wird, ist die Aufgabe der Erziehungswissenschaft.

Diese Kernaufgabe ist nicht denkbar ohne die Vorstellung der Möglichkeit der Erziehung, der Möglichkeit einer "positiven Ein- flußnahme" hin zu einem "Guten" bzw. zu einem "Besseren". Zwar kann diese "Arbeitsvoraussetzung" der Erziehungswissenschaft ganz unterschiedlich verstanden werden, z. B. als "Hilfe zur Selbst- entwicklung" des jeweiligen Kindes, als "Einführung in eine beste- hende Gesellschaft", als "Hilfe zur Selbstbefreiung", als "Beitrag zum zivilisatorischen Fortschritt" oder als "notwendige Anpassung, um gesellschaftlichen Integrationsidealen entsprechen zu können". Aber in jedem Fall würde die Erziehungswissenschaft dieses Ar- beitsfeld für sich reklamieren. Erziehungswissenschaft, die die Möglichkeit der Erziehung oder die Notwendigkeit einer verant- wortlichen Einflußnahme auf die Entwicklung der Schüler pauschal negiert, widerspräche sich, weil sie ihren institutionellen, themati- schen und performativen Voraussetzungen nicht entsprechen wür- de. Die grundsätzliche Verantwortung der Erziehungswissenschaft bezüglich der Gewalt in Schulen ist demzufolge unabweisbar.

I.III. Stand der Forschung

In Deutschland sensibilisierten die Vorfälle rechtsradikaler Gewalt in den frühen 90er Jahren die Öffentlichkeit. Die Medien brachten die rechtsradikale Jugendgewalt mit den Schulen in Verbindung und vermuteten ein erzieherisches Versagen der Schulen. Viele Wo- chenmagazine unterstellten, daß die Schulen die eigentliche Brut- stätte der Gewalt seien. Auf diese Anschuldigungen reagierten Vertreter der Erziehungswissenschaft. Zunächst mußte ein For- schungsdefizit eingestanden werden - aktuelle Untersuchungen la- gen kaum vor. Vor 1990 waren allenfalls quantitative Forschungen unsystematisch durchgeführt worden, die einzelnen Disziplinen hatten nicht zusammengearbeitet. Die Psychologen hatten nach Ag- gressionsphänomenen, die Soziologen nach abweichendem Verhal- ten und die Erziehungswissenschaft nach auffälligem Verhalten ge- sucht. Nach Meinung von Schubarth (2000, 70 u. 73) war ein Ver- gleich der verschiedenen Erhebungen auch aufgrund unterschiedli- cher methodologischer Zugänge unmöglich. Man reagierte, und die "Gewalt in den Schulen" wurde zu einem wichtigen Forschungsge- genstand.

Mittlerweile liegen umfangreiche empirische Forschungen zur Ge- walt in Schulen vor, und einige Überblickswerke konnten bereits herausgegeben werden. Bibliographien zum Thema "Gewalt in Schulen" gibt es wenige. Dafür liegen gut ausgearbeitete Material- sammlungen für Lehrer vor und viele Bücher, die sich speziell auf bestimmte Schultypen oder Unterrichtsfächer beziehen. In den um- fangreichen Auswertungen der maßgebenden Wissenschaftler, die zum Themenbereich "Gewalt in Schulen" arbeiteten, sind die jeweils aktuellen Forschungen, Ergebnisse und Forschungsfragen darge- stellt.

Trotz dieses Aufwandes waren die Ergebnisse nicht eindeutig. Zu- nächst konnte keine Einigung darüber erzielt werden, ob die Ge- walt an Schulen überhaupt zugenommen habe. Weder bezüglich der körperlichen Auseinandersetzungen noch der verbalen Verlet- zungen, der Sachbeschädigungen oder anderer Formen des "abweichenden Verhaltens" konnte man Übereinstimmung errei- chen. Es fehlten Vergleichsdaten aus der Vergangenheit. Es konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, ob die konstatierte "Zunahme der Gewalt an Schulen" wirklich stattgefunden hatte oder lediglich durch eine Veränderung der Erwartungshaltung, durch eine erhöhte Sensibilität gegenüber der Gewalt, begründet war. Die Vermutungen und Urteile der Erziehungswissenschaftler blieben diesbezüglich sehr konträr.

Nimmt man dagegen - fächerübergreifend - Ergebnisse der Sozio- logie, der Psychologie, der Unfallstatistik und Kriminalstatistik hin- zu, dann entsteht ein genaueres Bild: Die Gewalt und die Gewalt- bereitschaft nahmen danach seit 1990 unter jungen Menschen er- heblich zu und zwar - überraschenderweise - auch bei bestimmten Einzelgruppen wie etwa den "Westdeutschen", den Mädchen und insbesondere bei Ausländern und Migranten. Soziologen und Kri- minologen vermuten, daß diese Entwicklung auch durch die gesell- schaftlichen Veränderungen begünstigt wird, sogenannte "Moder- nisierungen" den Schulalltag belasten. Die zunehmende Individuali- sierung der Gesellschaft bewirke auch eine Pluralisierung der Schü- ler-Lebenswelten. Dies habe verheerende Folgen für den Schulall- tag, weil das Fehlen gemeinsamer Symbole (Normen, Werte) Streß zwischen den Schülern erzeuge und auch für die Lehrer eine Dau-

erüberforderung darstelle. Denn die traditionelle Lehreraufgabe, unterschiedliche Kinder für eine Zusammenarbeit und ein gemeinsa- mes Unterrichtserleben zu gewinnen, sei kaum erfüllbar, wenn auf- grund völlig unterschiedlicher Lebenswelten, ganz unterschiedli- cher Erziehungsstile, Werte und Formulierungsweisen in den ein- zelnen Herkunftsfamilien die Schüler vom Lehrer nicht mehr ein- heitlich angesprochen werden können. Die Folgen seien das Aus- bleiben des Beziehungsaufbaus zwischen Schülern, eine Verrohung der Sprache, die Behinderung oder gar Verhinderung einer von Schülern positiv erlebten, erfolgreichen Schule. Folgt man den Da- ten bzw. Interpretationen beispielsweise von Beck (1986), Pfeiffer (1998) und Jürgens (2000), dann sind die kontinuierlich steigende Gewaltbereitschaft und das Fehlen einer gemeinsamen, allgemein verstandenen und anerkannten (Symbol-)Sprache die derzeitigen Rahmenbedingungen der Schulen.

Nach Auffassung namhafter Gewaltforscher (Tillmann, Holtappels, Heitmeyer, Melzer, Schubarth), stagniert die Theorieentwicklung bezüglich der Gewalt in Schulen. Es fehlen nach ihrer Meinung Vor- schläge, die ein theoretisches Gesamtverständnis erlauben. Ihre bis- herigen Ansätze und Resultate sind kontrovers.

Beispielsweise empfiehlt Schubarth (2000, 13-63), allen 22 von ihm vorgestellten Gewaltentstehungstheorien (trotz ihrer Widersprü- che) eine Bedeutung zuzugestehen. Tillmann schlägt eine Reduzie- rung des Gewaltbegriffs auf körperliche und verbale Gewalt vor und kann damit nur noch vordergründige Gewaltformen erfassen. Der Politologe und Rechtsextremismusforscher Heitmeyer betont die Schwierigkeiten mit jenen Ausländern und Migranten, die durch ihre vollkommen andere Sozialisation mit der auf die Kulturdiffe- renz zurückzuführenden Gewalt (kulturdifferente bzw. identitäts- differente Gewalt) die sonst vorstellbare Entwicklung der Kinder verhindern und die Integrität der Mitschüler und Lehrer verletzen. Auch Politiker beklagen explizit, daß durch unklare erziehungswis- senschaftliche Vorgaben keine der Problematik angemessene politi- sche Meinungsbildung möglich sei. Die Schwierigkeiten des Gewalt- diskurses werden von Schubarth (2000, 125) auch mit der Unver- mittelbarkeit von Theorie und Praxis erklärt.

In der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion sind Diskrepanzen feststellbar. Während das schulbezogene Gewalt- verständnis immer noch meist auf die körperliche Gewalt und die verbale Gewalt reduziert wird (z. B. bei Tillmann), werden parallel dazu aus den verschiedensten Bereichen immer komplexere Theori- en angeführt (z. B. bei Schubarth), die die Entstehung dieser Ge- walt erklären sollen.

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Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Theorien schulischer Gewalt
Hochschule
Freie Universität Berlin
Autor
Jahr
2003
Seiten
32
Katalognummer
V108131
ISBN (eBook)
9783640063352
ISBN (Buch)
9783640611874
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Text soll Studierenden helfen, kostenlos Materialien zum Thema Schulgewalt zu finden. Die vollständige Dissertation ist unter www.diss.fu-berlin.de/2003/135 verfügbar.
Schlagworte
Theorien, Gewalt
Arbeit zitieren
Martin Hilpert, Dr. (Autor:in), 2003, Theorien schulischer Gewalt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108131

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