Nietzsches Religions- und Moralkritik in "Zur Genealogie der Moral" und "Der Antichrist"


Seminararbeit, 2003

16 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Biographie Nietzsches

3. Genese der Moral

4. Die Überwindung des Nihilismus

5. Kritik des Christentums
Natürlicher und dekadenter Gottesbegriff
Religion des Mitleidens
Das Jesus-Bild bei Nietzsche
Religion des Ressentiments

6. Schlussbemerkung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Friedrich Nietzsche gilt als einer der größten Kritiker der christlichen Religion des 19.Jahrhunderts. Seine Werke hatten und haben einen immensen Einfluss auf das philosophische Denken – sowohl auf inhaltlicher Ebene, als auch in der Art und Weise des Philosophierens. Interpretationen seiner Werke und die Einschätzung seiner Person sind jedoch heute noch genauso von Uneinigkeit und Vielfalt geprägt, wie schon zu seinen Lebzeiten.

Nietzsches Gedanken um die Moral und Religion lassen sich nicht vollständig und differenziert auf der Grundlage weniger seiner Werke erörtern; hierfür stellen sich seine Gedankenkonstrukte als zu komplex dar. Aufgrund dieser Tatsache soll die vorliegende Arbeit auf der Grundlage zweier seiner Werke – „ Zur Genealogie der Moral “ und „ Der Antichrist. Fluch auf das Christentum “ – lediglich einen Einblick in die Grundzüge von Nietzsches Religionskritik geben.

2. Biographie Nietzsches

Friedrich Nietzsche wird 1844 in Röcken nahe Lützen als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren. Die frühe Kindheit verlebt er unter starken christlichen Einfluss, zumal Vater und Mutter aus Pfarrersfamilien stammen. Früh kommt er mit Musik und Kunst in Berührung, denn im Elternhaus legt man trotz ländlicher Wohnsituation viel Wert auf eine bürgerliche Kultur. 1846 wird seine Schwester Elisabeth geboren, zwei Jahre später sein Bruder Joseph.

Der frühe Tod des Vaters und das in geringem zeitlichem Abstand folgende Ableben des Bruders veranlasst die Familie, Röcken zu verlassen. Im Jahre 1850 erfolgt der Umzug nach Naumburg. Von 1858 bis 1864 besucht Nietzsche das Gymnasium Schulpforta in der Nähe von Naumburg. Er findet wenig Kontakt mit Gleichaltrigen und zieht es vor, sich ersten Kompositionen und literarischen Versuchen zu widmen. In diesem Lebensabschnitt wird, gefördert durch den humanistischen Unterricht der Pforta, Nietzsches Interesse an der Philosophie geweckt; er beginnt an der christlichen Religion und Tradition zu zweifeln.

Nach dem Schulabschluss nimmt Nietzsche das Studium der klassischen Philologie und der Theologie auf. Sein Interesse am Theologiestudium nimmt jedoch alsbald ab und er beendet es. Im Jahr 1865 wechselt er an die Universität Leipzig; in diesen Zeitraum prägt Schopenhauers Hauptwerken Nietzsches Denken.

1868 trifft Nietzsche auf Richard Wagner, es entwickelt sich eine langjährige Freundschaft zwischen ihm und dem Ehepaar Wagner. Ein Jahr später erhält Nietzsche nach einer Empfehlung eine außerordentliche Professur in der klassischen Philologie an der Universität Basel.

Während eines freiwilligen Krankenpflegedienstes im deutsch-französischen Krieg erkrankt Nietzsche schwer und wird aufgrund dessen beurlaubt – in dieser Zeit entsteht die „Geburt der Tragödie“, die 1872 erscheint und niederschmetternde Kritiken erhält. Seinen hohen Stand als Philologe hat Nietzsche damit eingebüßt. In den folgenden Jahren beginnt seine Wandlung – mit dem Schreiben mehrerer Werke – vom Philologen zum Zeitkritiker. Diese geistige Wandlung zieht unter anderem auch die Distanzierung Nietzsches von Richard Wagner nach sich. 1878 ist der Bruch der Freundschaft vollkommen.

Aufgrund der immensen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes muss Nietzsche seine Stellung an der Universität Basel aufgeben. Er lebt an ständig wechselnden Orten – in dieser Zeit entstehen unter anderem „Morgenröthe“ und „Der Wanderer und sein Schatten. Menschliches, Allzumenschliches“.

1882 verbringt Nietzsche den ersten Sommer in Sils-Maria. Erstmals erfährt er durch dieses neue Einsiedlerleben bisher nicht gekanntes Glück. In den darauf folgenden Jahren schreibt Nietzsche wie ein Besessener – besonders 1888 entsteht ein großer Teil seiner Werke.

In zwischenmenschlichen Beziehungen hat Nietzsche jedoch kein Glück – die Freundschaft mit Lou Salomé, eine junge Russin, die er in Rom kennen lernt, wird durch die Intrigen seiner Schwester zerstört.

Nietzsches Gesundheitszustand verschlechtert sich bereits ab dem Jahr 1882 zusehends. Im Januar 1889 bricht er in Turin endgültig zusammen. Seine Mutter überführt ihn nach Jena, wo er in der Universitätsklinik untersucht wird. Ab diesem Zeitpunkt ist Nietzsche geistig umnachtet. Nach dem Tod der Mutter zieht Nietzsche zu seiner Schwester Elisabeth, die sich nun um den Kranken kümmert, nach Weimar. Dort verbringt er seine letzten Lebensjahre und verstirbt am 25. August 1900.[1]

3. Genese der Moral

Zentral in Nietzsches Denken, vor allem in „ Zur Genealogie der Moral “ ist die Grundfrage der Moralbildung und ihrer Ursache im menschlichen Verhalten.

Es ist jedoch nicht von einer allgemeingültigen Moral auszugehen, sondern von verschiedenen Formen, welche Nietzsche am hierarchischen Aufbau der Gesellschaft an sich festlegt. Dieser Unterschied im sozialen Muster definiert zwei entgegen gesetzte Moralvorstellungen.

a) Die Moral der Vornehmen

Die Definition des Begriffes „gut“ in der moralischen Bedeutung erklärt Nietzsche nicht als „ unegoistische Handlungen von Seiten Derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie nützlich waren “.[2] Diese Annahme stellt für ihn nur einen Irrtum dar, der sich durch das Vergessen des Ursprung des Lobes und er daraus resultierenden Gewohnheit ergibt. Die Gesellschaft hat vergessen, wer die eigentlich „Guten“ sind; nämlich die „ Vornehmen […], welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, […].[3]

Hier zeigt sich die Bedeutung der Hierarchie in der Gesellschaft. „Der Wille zur Macht“, welcher in Nietzsches gesamtem Werk vorherrschend ist, versteht sich auch in der Bildung der Moral als einen wichtigen Grundstein.

Das Streben zur Herrschaft und Freiheit hat seinen Ursprung im menschlichen Denken; dieses bildet die Grundlage der Differenzierung der gesellschaftlichen Hierarchie in Beherrschte und Herrschende.

Diese Klassifikation überträgt Nietzsche auch auf die Vorstellung von „gut“ und „schlecht“ im moralischen Sinn, er legt hier eine Wertung zugrunde, welche klar eine Abgrenzung der Rangunterschiede bezeichnet.

Das Pathos der Vornehmheit und Distanz […] das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art, zu einem „Unten“ –

das ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und „schlecht“.“[4]

„Gut zu handeln“ setzt hier in keinem Falle eine Form der Uneigennützigkeit voraus. Es ist vielmehr als ein Ja-Sagen zum eigenen Handeln und der eigenen Stärke zu verstehen, also als eine Form des Herrschaftsstrebens ganz im Sinne Nietzsches Willen zur Macht.[5] Durch diesen Bedeutungswandel der Definition des „Guten“ ergibt sich auch eine neue Stellung des Begriffes „schlecht“.

Er fungiert im Wesentlichen als eine Abgrenzung der vornehmen Moral gegen die Moral des „ Pöbel[s]“[6], also die verbreitete Art ethischer Grundsätze, welche Nietzsche aufs Heftigste kritisiert.

b) Ressentiment-Moral

Diese Art der Moral verinnerlichen nach Nietzsche die Schwachen und Unterdrückten, derjenige Teil der Menschheit, welchem „ die That versagt ist “.[7]

Sie ist von einem Ressentiment gegenüber herrschenden ethischen Vorstellungen geprägt, vermag sie jedoch nicht zu verändern. Nietzsche schlussfolgert:

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert […]. Während alle vornehme Moral aus einem triumphalen Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ´Außerhalb´, zu einem ´Anders´, zu einem ´Nicht-Selbst´: und dies Nein ist ihre schöpferische That“[8]

Das Nein gilt an dieser Stelle als die Grundlage einer neuen Moralvorstellung, welche nicht, wie im Falle der vornehmen Moral, spontan wächst und aus ihre Kraft aus sich selbst schöpft; sondern welche lediglich reagiert statt agiert. Ihre Blickrichtung ist stets auf die äußere Welt gerichtet.

Sie richtet sich folglich unmittelbar gegen das Leben selbst und somit auch gegen das Streben nach Freiheit und Macht.

Wie schon geschildert legt Nietzsche stets eine Diversifizierung der Gesellschaft zugrunde. Dies impliziert, dass die Position des Einzelnen im sozialen System, sowie die des Werteschaffenden, moralische Blickrichtungen determinieren. Die Möglichkeiten, welche der Einzelne erkennt und nutzt, sind folglich auch bestimmend für eine persönliche Vorstellung von Moral.

Seinen Status zu erkennen und aktiv zu sehen, dies ist nach Nietzsche der Beginn, sich von `der` Moral zu distanzieren, welche als eine für alle geltende besteht, letztendlich jedoch stets eine persönliche darstellt.

Altruismus, also Handeln, welches uneigennützig getätigt wird, ist in Nietzsches Philosophie bewusst nicht in den Moralbegriff integriert. Er lehnt dieses Verhalten nicht direkt ab, jedoch beschreibt er es als eine Eigenschaft der „Schwachen“; er sagt: „ Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden […]“[9]. Die christlichen Tugenden sind nach Nietzsche lediglich Rechtfertigungen von Schwäche, welche durch die Umwertung lebens- und diesseitsfeindliche Gestalt annehmen.

Durch die Moral des Ressentiments, die „Sklavenmoral“, wie sie Nietzsche beschreibt, gewinnt der Rangunterschied also eine zusätzliche moralische Dimension, wobei eine Umkehrung der Bewertung maßgeblich ist.[10] Die moralischen Maßstäbe werden von den Schwachen und Niederen geprägt, einzig und allein zu dem Zweck, die eigenen Schwächen, wie schon beschrieben, in Tugenden zu verwandeln. Sie gelten als das einzig „Gute“, woraus folgt, dass die Menschen, welche ihr Gut-Sein einzig und allein aus der aktiven Tat und Willen schöpfen, als „böse“ definiert werden.

Die Bildung dieser moralischen Begriffswelt kritisiert Nietzsche. Der Mensch des Ressentiments ´concipirt´ einen Feind, einen Bösen – als eine doppelte Negation fügt er nun auch noch einen Guten hinzu; sich selbst. Dies ist die eigentliche Tat, der eigentliche Schöpfungsakt.[11]

Für Nietzsche ist dies ein weiterer Beweis der Schwäche und Kraftlosigkeit dieser Form der Moral. Er meint: „ Eher umgekehrt also es mit den Vornehmen, der den Grundbegriff „gut“ voraus und spontan, nämlich von sich selbst aus concipirt und von da aus erst eine Vorstellung von „schlecht“ sich schafft“.[12]

Diese niedere Form der Moral hat eine Allgemeingültigkeit erlangt, sie schafft es, den Starken ein schlecht Gewissen aufzuladen, so wird letztendlich auch die Macht und der Wille der Starken und Vornehmen verkehrt – er degeneriert.[13]

4. Die Überwindung des Nihilismus

Nihilismus bedeutet die Entwertung der obersten Werte. Die Frage nach den Warum und dem Ziel bleiben unbeantwortet. Das eigene Sein und das Sein der ganzen Welt sind nicht mehr selbstverständlich – daraus entspringt ein Bedürfnis nach Bestätigung und Wertschätzung. Solche Wertschätzung erfährt die Welt mittels der Erfindung des Ideenhimmels und des Gottes. Die Vorstellung, dass die Welt ein Abbild Gottes und der Ideen darstellt, bestätigt somit das eigene Sein. Der Mensch liebt sich nicht um seiner selbst willen, sondern als Abbild Gottes, der Idee Gottes.

Nietzsche nennt das Christentum auch Platonismus fürs Volk – eine Überlebenshilfe, eine Bestätigung des Lebenswertes, die nicht dem Menschen selbst entspringt, sondern erst durch Gott legitimiert wird.

Denn mit Gott wird das Leben nur noch mittelbar geheiligt. In seiner Unmittelbarkeit wird es entwertet.“[14] Ethische Wertungen liegen nicht in den Dingen an sich, sie werden hineingedeutet; der Umweg über Gott nimmt dem diesseitigen Leben seine Berechtigung, die Suche nach obersten Werten, welche nicht unmittelbar aus den eigenen Sein bestehen, sind bereits die Handlung des Geschwächten.

Den Platonschen Ideenhimmel einzustürzen, ist Nietzsches Ziel. Er will die beengenden und beschützenden Moralvorstellungen einreißen. Der Mensch soll seine eigene Kraft nicht einsetzen, um Gottheiten und Ideen zu erfinden, sondern seine Energie und seinen Willen zur Macht erkennen. Erst wenn er den Nihilismus und seine Bedrohung sieht und lernt das Diesseits, den Körper und die Endlichkeit wieder zu erkennen, kann der Nihilismus überwunden werden.

„Gott die Formel für jede Verleumdung des „Diesseits“, für jede Lüge vom „Jenseits“! In Gott ist das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!...“ [15]

Für Nietzsche ist der Wille nur in der Form der Steigerung möglich. Es ist mehr Kraft und Bestreben notwendig, als der reine Selbsterhaltungstrieb. „Das Lebendige hat keinen transzendenten Sinn, aber einen immanenten Richtungssinn: Es ist auf Intensitätssteigerung und auf Gelingen aus“ schreibt Safranski.[16] Das Leben besitzt keinen höheren Sinn und Zweck, es entfaltet sich allein durch Ausdehnung und Intensivierung[17]. Nach Nietzsche ist dies Nihilismus der reinsten Form. Die Moral existiert allein zu dem Zweck, die Schwachen und Hilflosen vor dem Sinnverlust zu schützen, sie ihre eigene Schwäche nicht erkennen zu lassen, indem sie zu Tugenden umgewertet werden. Sie fungiert als Legitimation der Schwäche. Der Starke schöpft jedoch seinen Sinn aus sich selbst heraus, er braucht nicht nach einem Zweck zu suchen, dieser liegt ihn ihm selbst. Er braucht also den Nihilismus nicht zu fürchten – er kann ein Jenseits, einen Gott, einen höheren Sinn verneinen, weil er ihn nicht benötigt. Er hat ihn quasi ´abgelegt´, aber nach Nietzsche ist dies der Gewinn an Kraft, welche früher an die Religion verschwendet wurde. Dieser Übermensch ist frei von Religion, er hat sie jedoch nicht verloren, sondern zu sich selbst zurückgenommen.

5. Kritik des Christentums

Natürlicher und dekadenter Gottesbegriff

Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr nothwendig zum Gott der physiologisch Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heissen sich selbst nicht die Schwachen, sie heissen sich die „Guten“ [18]

Nietzsche geht von dem Wandel eines natürlichen Gottesbildes zu einem dekadenten aus. Der natürliche, ursprüngliche Gott verkörpert den Willen zur Macht, er stellt ein Wesen dar, auf den man seinen Willen, seine Kraft und seine Instinkte projizieren kann, „ dem man dafür danken kann[19]

„Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott… Religion, innerhalb solcher Vorraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit.“ [20]

Der Mensch ist im wahren Sinne eigentlich sich selbst dankbar, der Gott ist ihm gleich und verkörpert gerade deswegen auch jegliche negativen Seiten. Nietzsche definiert gerade die ´schlimmen´ Seiten als die wichtigsten im Leben: „Man hat den bösen Gott so nöthig als den Guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit…“ [21]

Dieser Gott ist ein reiner Spiegel des aktiven, vornehmen Menschen, des Übermenschen – wäre er nicht auch frei von jeglicher Ressentiment-Moral, der Mensch würde ihn nicht verstehen, […] wozu sollte man ihn [dann] haben?“.[22]

Nietzsche erscheint diese Form des Gottesbegriffes durchaus legitim.

Auch den gegensätzlichen dekadenten Gottesbegriff leitet er von den Menschen direkt ab. „ Wenn ein Volk zugrunde geht “, der Wille zur Macht schwindet und sich Menschen zu schwachen Ressentiment Anhängern entwickeln, „[…] dann muss sich auch [ihr] Gott verändern.“ Er spiegelt nun nicht mehr allein die Elite des Volkes, sondern wird notwendigerweise gut. Er entwickelt sich zu einem Gott des Volkes „ wird Gott für jedermann “. Er reflektiert die Tugenden der Schwachen, dies stellt für Nietzsche eine „ widernatürliche Castration eines Gottes “ dar und versinnbildlicht die Entwicklung des Menschen hin zu unterdrückten Individuen ohne den entscheidenden Willen zur Macht.[23]

„[…] es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sie sind der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein – oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie nothwendig gut…[24]

Religion des Mitleidens

Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus[25] stellt Nietzsche fest; durch Mitleiden mit dem anderen geht die Lebenskraft verloren. Er identifiziert hier das Mitleiden als krankhaften Instinkt, welcher in völligen Gegensatz zum Leben steht. Durch das Mitleiden wird es verneint. Das Christentum steht an dieser Stelle für Nietzsche im Zusammenhang mit der Mitleidsmoral Schopenhauers, welcher das Mitleid zu allem Ursprung moralischen Handelns erklärt, was durchaus eine Verneinung des Lebens bedeutet.[26] Jedoch nicht im dem Sinne, wie Nietzsche es sieht. Schopenhauers Mitleidsmoral verneint jeglichen Lebenswillen in einem selbst, während Nietzsche dem Christentum und seiner Moral vorwirft, die Schwachen am Leben zu erhalten – er sagt nur NEIN zum christlichen Leben, das unmoralische und freie Leben ist sein Ziel, dies bejaht er. Er will gegen dieses lebensfeindliche Mitleiden kämpfen, hier will er „ das Messer führen[27]

Nietzsches Idee ist es, das Mitleiden zu vernichten, weil nur dann die ´höheren´ Menschen ihr freies, `unmoralisches´ Leben führen können. Er dreht die christliche Moral einfach um.

Vielleicht könnte ein Grund sein, dass Nietzsche das Mitleiden der anderen für ihn selbst eine Verhöhnung darstellt – sein Leben und Denken stellt in der christlichen Religion durchaus ein Leiden dar. Das Mitleiden an sich ist ihm verhasst aufgrund des Mitleidens mit ihm.

Das Jesus-Bild bei Nietzsche

Nietzsches Spätwerk „Der Antichrist“ verurteilt das Christentum, seine Folgen und seinen ´schwachen` Gott in aller Schärfe. Wenn man sich jedoch das Bild anschaut, welches Nietzsche von Jesus zeichnet, stellt dies durchaus eine Milderung der Vorwürfe dar.

Er geht unter dem Deckmantel der Psychologie an Jesus heran und definiert an ihm die „Psychologie des Erlösers“[28].

Der Typus des Erlösers wird durch eine „extreme Reiz- und Leidfähigkeit“[29] gekennzeichnet, er verliert dadurch jeglichen Widerstand gegen den Schmerz; er ist nicht mehr in der Lage, sich zu emotional zu distanzieren. Die Folge ist ein Anstreben nach Einheit – ein Ende der Instinkte, „aller Grenzen und Distanzen im Gefühl“[30]. Als logische Konsequenz bleibt nur noch „die Liebe als einzige, als letzte Lebensmöglichkeit“[31].

„Die Furcht vor dem Schmerz, selbst vor dem Unendlich-Kleinen im Schmerz – sie kann gar nicht anders enden als in einer Religion der Liebe…“ [32]

Die Erlösung durch die Liebe, welche den Erlösertypus definiert, ist unabhängig von der Kirche und ihren Dogmen[33] ; sie ist frei von jeglicher Lehre. Ihre Unmittelbarkeit und Unabhängigkeit sind spezifisch – sie wird lediglich gelebt –

„Dieser Glaube formuliert auch nicht – er lebt, er wehrt sich gegen Formeln“ [34]

Die äußere Welt stellt für den Erlöser ein Chiffre seines Inneren dar – „[…] die Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst hat für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses.“[35]

Dieses Streben nach der Einheit, nach diesem einen Prinzip, wie die Welt wahrzunehmen sei, gleicht einem Zurückschreiten in die Kindheit, durch sein Leben Beweise „ ist [er] gleichsam eine ins geistige zurückgetretene Kindheit.“[36]

Die vergleichsweise milde Darstellung des Erlösertypus begründet sich auf das Fehlen jeglichen Ressentiments, welches Nietzsche so verhasst ist. Der Erlöser ist kein Verneiner, kein Verteidiger christlichen Glaubens. Die Haltung Jesus ist eine Betonung des Diesseits,

der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich „im Himmel“ zu fühlen, um sich „ewig“ zu fühlen, während man sich bei jedem andren Verhalten durchaus nicht „im Himmel fühlt“: dies allein ist die psychologische Realität der „Erlösung“, -- ein neuer Wandel, nicht ein neuer Glaube…“[37]

Es wird deutlich, dass Nietzsche zwei Vorstellungen von Christentum ausdrückt, für ihn sind diese zwei Christentümer real – auf der einen Seite der Erlöser Jesus, mit seiner „ evangelischen Praktik[38], welche für Nietzsche „[…] Folgen eines Instinkts.[39] darstellt; und auf der anderen Seite die Religion des Ressentiment, das Christentum nach Jesus.

Der Erlöser ist für Nietzsche einen Menschen ohne Moral, diesseits geprägt und den Himmel im eigenen Herzen suchend[40], nicht auf einen Himmel wartend oder auf ein Jenseits wartend. Diese Vorstellungen, dieses ´Aufdrücken` von Moral, diese Instrumentalisierung der Person Jesu ist nach Nietzsche allein das Werk der christlichen Kirche; der Religion des Ressentiments.

Religion des Ressentiments

Die Entwicklung einer Religion, welche sich auf den Erlöser bezog, ihn jedoch, wie schon beschrieben, lediglich instrumentalisierte und diese neue Moral zum allgemeingültigen Kanon erhob, kritisiert Nietzsche sehr heftig.

Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an „Evangelium“ heisst, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: „eine schlimme Botschaft“, ein Dysangelium[41]

Die Umwandlung der Person Jesus beginnt schon in der Urgemeinde, vor allem durch Paulus, welcher sich für Nietzsche als ein Gegenspieler Jesu darstellt – er ist für Nietzsche der Urtypus des Priesters, welcher nach Macht giert, die Menschen klein und in falscher Moral gefangen hält.

„Sein Bedürfnis war die Macht; mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht, -- er konnte nur […] Symbole brauchen, mit denen man die Massen tyrannisirt, […] [42]

Die paulinische Religion ist auf das Jenseits fixiert – „Paulus verlegte einfach das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dieses Dasein, -- in die Lüge von „wiederauferstandenen“ Jesus.“[43] ; sie verinnerlicht einen „Instinkthass gegen jede Wirklichkeit […]“[44]

Das eigentliche Wirken Jesu, seine Konzentration auf das ´tun´ an sich tritt in den Hintergrund, an diese Stelle tritt der Fokus auf seine Geburt, seinen Tod und seine Auferstehung; quasi auf sein Leben, nicht auf sein ´tun´; er wird auf eine ausschweifende Weise emporgehoben.[45]

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich mit der neuen Religion nach Jesus eine Moral des Ressentiments etabliert, welche gegen die Realität gerichtet ist und in vollem Ausmaß auf das Jenseits fokussiert. Die diesseitige Welt wird durch die Imagination einer besseren Welt herabgewürdigt.

6. Schlussbemerkung

[…] welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass uns jener Wille zur Wahrheit selbst als Problem zu Bewusstsein gekommen wäre?... An diesem Sich- bewusst- werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde […] [46]

Eine allgemeingültige und absolute Moral zu entwerfen, welche dem Anspruch Allwissenheit den letzten Fragen gegenüber erfüllt, gelingt auch Nietzsche nicht.

Der Wille zur Wahrheit kann nur ein Hilfsmittel darstellen, das zur freien Entfaltung des Geistes beiträgt.

Als frei gilt für Nietzsche ein Geist, welcher sich nicht von Moralvorstellungen einengen lässt, der sich den Zweifel bewahrt hat. Diese Freiheit muss als ein Prozess verstanden werden, welcher nie abgeschlossen sein wird.

Dies spiegelt sich in Nietzsches gesamten Werk; auch er liefert keine Gewissheit und keine fertigen Antworten. Viel eher schafft Nietzsches Denken durch all seine Widersprüchlichkeiten einen Freiraum, der vielfältige Lesarten bietet und Zweifel niemals ganz ausräumt.

„Man lasse sich nicht irreführen: grosse Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch die Skepsis […] Überzeugungen sind Gefängnisse.“[47]

7. Literaturverzeichnis

Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie. Band 2: Neuzeit und Gegenwart. 11. Auflage, Freiburg im Breisgau 1980, S.501- 527.

Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (= Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Band 6). 2. Auflage, München/Berlin/New York 1988, S.165- 253.

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral (= Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Band 5). 3. Auflage, München/Berlin/New York 1993, S. 245- 412.

Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung. 4. Auflage, Hamburg 1990.

Safranski, Rüdiger: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. 4. Auflage, Frankfurt am Main 2001, S. 250- 266.

Safranski, Rüdiger (Hg.): Philosophie jetzt! Nietzsche ausgewählt und vorgestellt von Rüdiger Safranski. München 1997, S. 15-52; 400-420.

Volpi, Franco (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. Band 2. Stuttgart 1999, S.1077- 1089.

Primärtextzitate werden in der Fußnote wie folgt gekennzeichnet:

GM = Zur Genealogie der Moral

AC = Der Antichrist. Fluch auf das Christentum

Die erste Nummer kennzeichnet den jeweiligen Aphorismus, die zweite die Seitenzahl in der Kritischen Gesamtausgabe.

http:// www.friedrichnietzsche.de.Stand: 28.02.2003.

Das Philosophisches Seminar der Universität zu Köln: http://www.uni-koeln.de/phil-fak/phil/index2.htm. Stand. 01.03.2003.

[...]


[1] Quelle aller biographischen Angaben: Safranski, Rüdiger(Hg.):Philosophie jetzt! Nietzsche ausgewählt und vorgestellt von Rüdiger Safranski. München 1997, S.52-56.

[2] GM I 2, 259

[3] GM I 2, 259

[4] GM I,2, 259.

[5] vgl. GM I, 10, 270ff.

[6] GM I, 9, 269.

[7] GM I, 10, 270.

[8] GM, I, 10, 270.

[9] GM I, 14, 281.

[10] Vgl.Safranski, Rüdiger: Das Böse oder das Drama der Freiheit. 4.Auflage, Frankfurt am Main 2001, S. 264.

[11] vgl. GM I, 10, 273ff.

[12] GM I, 11, 274.

[13] vgl. Safranski, Rüdiger: Das Böse oder das Drama der Freiheit.4.Auflage, Frankfurt am Main 2001, S.264.

[14] Safranski, Rüdiger: Das Böse oder das Drama der Freiheit. 4.Auflage, Frankfurt am Main 2001, S.258.

[15] AC, 18, 185.

[16] Safranski, Rüdiger: Das Böse oder das Drama der Freiheit. 4.Auflage, Frankfurt am Main 2001, S. 262.

[17] Ebenda.

[18] AC, 17, 183.

[19] AC, 16, 182.

[20] AC, 16, 182.

[21] Ebenda.

[22] AC,16, 182.

[23] Vgl. AC, 16ff.,182.ff.

[24] Ebenda.

[25] AC, 7, 173.

[26] Das Philosophische Seminar der Universität zu Köln: http://www.uni-koeln.de/phil-fak/phil/index2.htm. Stand: 01.03.2003.

[27] AC; 7, 174.

[28] AC, 28, 198.

[29] AC, 30, 200f.

[30] Ebenda.

[31] Ebenda.

[32] Ebenda.

[33] vgl. AC, 32, 204.

[34] AC, 32, 203.

[35] AC, 32, 204.

[36] AC, 32, 203.

[37] AC, 33, 206.

[38] AC,33, 205.

[39] Ebenda.

[40] vgl. AC, 34, 206f.

[41] AC, 39, 211.

[42] AC; 42, 216.

[43] AC, 42, 216.

[44] AC, 39,212.

[45] vgl. AC, 40, 214.

[46] GM III, 27, 410.

[47] AC, 54, 236.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Nietzsches Religions- und Moralkritik in "Zur Genealogie der Moral" und "Der Antichrist"
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Seminar: Philosophie und Religion
Note
2,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
16
Katalognummer
V108115
ISBN (eBook)
9783640063192
Dateigröße
650 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nietzsches, Religions-, Moralkritik, Genealogie, Moral, Antichrist, Seminar, Philosophie, Religion
Arbeit zitieren
Karoline Zanke (Autor:in), 2003, Nietzsches Religions- und Moralkritik in "Zur Genealogie der Moral" und "Der Antichrist", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108115

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