Die Entstehung des bestimmten Artikels im Althochdeutschen


Referat (Ausarbeitung), 2002

13 Seiten, Note: unbenotet


Leseprobe


Inhalt

I. Chronologische Übersicht anhand von Textkorpora (nach Oubouzar 1992)
1. Allgemeines zur Entwicklung des bestimmten Artikels
2. Analyse der Textkorpora

II. Verfall das ahd. Aspektsystems als mögliche Ursache für die Entstehung des bestimmten Artikels (nach Leiss 2000)
1. Derzeitige Situation in der Artikel-Forschung. Postulat von Leiss
2. Kombinatorische Kodierung der Definitheit durch Verbalaspekt, Kasus und Wort­stel­lung
2.1. Sichtbare und unsichtbare Grammatik
2.2. These: Entstehung des Artikels als Folge des Aspektverfalls
2.3. Verbalaspekt in slawischen Sprachen
3. Artikeldistribution in der ahd. Evangelienharmonie von Tatian
4. Definitheitssysteme des Althochdeutschen
5. Generalisierung des Artikelgebrauchs

III. Anhang: Das Zusammenspiel von Artikel und Verbalaspekt – ahd. Belegstellen nach Leiss (2000)
1. Ausbleiben eines individualisierenden Artikels
2. Ausbleiben eines anaphorischen Artikels

IV. Literatur

Abkürzungen:

def. = definit

pf. = perfektiv

impf. = imperfektiv

I. Chronologische Übersicht anhand von Textkorpora (nach Oubouzar 1992)

1. Allgemeines zur Entwicklung des bestimmten Artikels

Eindeutig geklärt ist in der Forschung bisher lediglich die Herkunft des bestimmten Artikels aus dem Demonstrativpronomen: idg. *to > germ. *ßo. Die ursächlichen und zeitlichen Zusammenhänge sind umstritten. Zu den gängigsten Erklärungen gehören die folgenden drei: a) Verfall der Flexionsendungen (der Artikel ersetzt ihre grammatischen Funktionen) – fraglich, weil man ebenso gut davon ausgehen kann, dass erst die Ausbildung des Artikels zur Abschwächung der Kasusendungen geführt hat; b) Verbindung des Demonstrativpronomens mit dem schwachen Adjektiv; c) Unterscheidung zwischen „bestimmt“ und „unbestimmt“ (=Definitheit und Indefinitheit) – auf diese Hypothese stützen sich Oubouzars Ausführungen.

Die Entwicklung des bestimmten Artikels lässt sich durch die Analyse ahd. Texte aus verschiedenen Jahrhunderten gut nachvollziehen. Wichtig ist dabei die strikte Unterscheidung zwischen Demonstrativpronomen und Artikel. Erst wenn die deiktische (=hinweisende) Bedeutung des Demonstrativpronomens vollständig abgebaut ist, ist die Grammatikalisierung abgeschlossen, das ursprüngliche Demonstrativpronomen erfüllt nur noch grammatische Funktionen und ist zum Artikel geworden.

2. Analyse der Textkorpora

Isidor (um 790): bereits hier ist das Determinativ dher reich entwickelt und nur selten hat es in der lateinischen Quelle eine Entsprechung (16 von 245 Belegen). Es werden allerdings, durch zahlreiche semantische Einschränkungen bedingt, nicht alle definiten Nominalgruppen durch dher determiniert. Typische Verwendungsweisen im Isidor: a) das Determinativ steht bei Nominalgruppen, die kommunikativ besonders wichtig sind – diese These kann Leiss (2000) allerdings widerlegen; b) das Determinativ steht bei Substantivierungen (dher unchilaubigo) – das sei allerdings kein Beweis für die Grammatikalisierung von dher; c) Verbindung Determinativ + Possesiv (fona dheru sineru uurzun); d) das Determinativ erscheint bei Substantiven, die durch das „biblische“ Vorwissen individualisiert sind: diu magad = Maria (Mutter Gottes), dhiu burc = die heilige Stadt (Jerusalem); e) Nominalgruppen mit einem Adjektiv/Partizip werden bei stark individualisierender (nicht aber bei rein deskriptiver Bedeutung) des Adjektivs/Partizips mit dem Determinativ versehen; f) bei Unika, Appelativa, nicht pluralfähigen Abstrakta erscheint aufgrund ihrer Semantik kein Determinativ (außer zur besonderen Herausstellung); g) Nominalgruppen mit Genitivgliedern stehen normalerweise ohne Artikel, weil das Genitivglied bereits eine Individualisierung bewirkt, sie werden aber bei Textreferenz (Anaphorik) und in Verbindung mit einem Adjektiv (in dhemu heilegi daniheles chiscribe = „in der hl. Schrift Daniels“) mit dem Determinativ versehen – je komplexer die Struktur, desto wahrscheinlicher das Auftreten des Artikels; die Genitivglieder selbst werden (als Teil der Nominalgruppe) auch häufig determiniert – möglicherweise deshalb, weil die Vor- oder Nachstellung des Genitivglieds die Kodierung der Definitheit/Indefinitheit nicht mehr übernehmen kann.

Tatian: Veränderungen, die sich hier abzeichnen, weisen auf eine weitere Grammatikalisierung des Determinativs hin: a) bei fater und sun für „Gottvater“ und „Jesus“ treten determinierte und undeterminierte Formen ohne Bedeutungsunterschied nebeneinander auf (wirklich ohne Bedeutungsunterschied? Vgl. Leiss 2000); b) die Nominalgruppen mit einem eingebetteten restriktiven Relativsatz werden meistens determiniert.

Ottfried: weitere Neuerungen feststellbar: a) bei Unika wie sunna, himil usw. stehen determinierte und undeterminierte Strukturen ohne Unterschied nebeneinander (vgl. aber Leiss’ Aspektthese); b) ein Determinativ kann jetzt Possessiva (bes. bei Körperteilen) ersetzen: then fingar = „seinen Finger“; in dieser Form werden sogar die nicht pluralfähigen Abstrakta gebraucht (bisher immer ohne „Artikel“): so ist thir thaz herza filu riuag = „so ist dir dein Herz voller Reue“, thia gilouba in imo buazan = „den Glauben in ihm (=seinen Glauben) verbessern“; c) Nominalgruppen mit einem Adjektiv/Partizip werden stets determiniert (bisher nur bei bes. stark individualisierender Bedeutung des Adjektivs); d) Nominalgruppen mit einem restriktiven Relativsatz werden stets determiniert (bei Otfried dagegen nur „meistens“); e) Nominalgruppen mit einem Genitivglied werden jetzt auch bei einfacher Struktur determiniert (neben weiter bestehenden undeterminierten Formen): thiu gotes kraft vs. gotes willon. f) die kommunikative Bedeutung der Substantive spielt für die Determinierung, anders als im Isidor und im Tatian, keine Rolle mehr.

„Boethius“ von Notker (um 1000): die Grammatikalisierung des Determinativs ist abgeschlossen, es bestehen keine semantischen Einschränkungen für dessen Verwendung mehr, die deiktische Bedeutung ist geschwunden, so dass man nun von einem richtigen Artikel sprechen kann. Alle semantischen Gruppen der Basissubstantive, einschließlich der Unika (die sunna) und Abstrakta (ter himil), werden bei Definitheit durch diesen Artikel determiniert. Er wird durch fehlenden Wortakzent gekennzeichnet und hebt sich somit deutlich von dem weiterhin vorhandenen Demonstrativpronomen ab, aus dem er hervorgegangen ist.

II. Verfall das ahd. Aspektsystems als mögliche Ursache für die Entstehung des bestimmten Artikels (nach Leiss 2000)

1. Derzeitige Situation in der Artikel-Forschung. Postulat von Leiss

Die Entstehung des Artikels ist immer noch eine ungelöste Aufgabe – zwar lässt sich die Entwicklung anhand der überlieferten Texte verfolgen, aber nicht erklären. Sicher ist, dass der Artikel nicht in der germ. Ursprache, sondern erst in den einzelnen germ. Sprachen entstanden ist (Altisländisch, Gotisch, Althochdeutsch), dafür Sprechen eindeutig die Unterschiede zwischen diesen Sprachen in Bezug auf Distribution und Funktion des Artikels.

Da die bisherigen Erklärungsversuche unbefriedigend sind, müssen neue Indizien gesucht werden, die zur Lösung des Problems beitragen können. Solche Daten seien im Bereich der verbalen Umgebung der Nominalphrasen zu finden, die man bisher als irrelevant betrachtet und deshalb nicht zur Erklärung des Artikelphänomens herangezogen hat.

Weitere wichtige Annahmen: a) Konstanz der grammatischen Funktionen – d.h. in allen Sprachen werden gleiche Funktionen realisiert, aber nicht immer mit gleichen Mitteln; es ist ausgeschlossen, dass eine grammatische Kategorie wie der Artikel plötzlich aus dem Nichts auftaucht (diesen Eindruck hat man bei Oubouzar), vielmehr finden Verschiebungen im Bereich der Ausdrucksmittel für eine gegebene Kategorie statt (sonst müsste man annehmen, dass der Artikel eigentlich ein überflüssiger Luxus der Sprache ist, oder dass den artikellosen Sprachen etwas fehlt); b) grammatische Kategorien können nicht, wie oft angenommen wird, semantisch ausgedrückt werden.

Schlussfolgerung: All das impliziert, dass der Vorgänger des Artikels nur im Bereich der Grammatik gesucht werden kann, wobei die Unterscheidung zwischen sichtbarer, unsichtbarer und schwer sichtbarer Grammatik das Verständnis dieser Zusammenhänge erleichtern kann. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass grammatische Regeln implizites (unbewusstes und nicht reflektiertes), praktisches Wissen sind. Wir können sie richtig anwenden, ohne sie in den meisten Fällen erklären zu können (eine Ausnahme bilden die wenigen Regeln, die uns sekundär aus dem Schul- und Fremdsprachenunterricht bekannt sind).

2. Kombinatorische Kodierung der Definitheit

2.1. Sichtbare und unsichtbare Grammatik

Sichtbare Grammatik: grammatische Kategorien werden mittels expliziter, materiell vorhandener Markierungen kodiert (z.B. Flexionsendungen).

Unsichtbare Grammatik: grammatische Kategorien werden ikonisch kodiert; diese Art der Kodierung basiert auf der Linearität der sprachlichen Äußerungen – so werden im Englischen die syntaktischen Funktionen (Subjekt, Objekt) ausgedrückt: John loves Marry ist nicht gleichbedeutend mit Marry loves John. Ursprünglich wurde die sprachliche Kette aber nicht mit solchen semantischen Rollen, sondern mit Definitheitsmerkmalen besetzt. Das ist im Tschechischen immer noch der Fall – die von der Prager Schule eingeführte Thema-Rhema-Gliederung ist nichts anderes als eine unsichtbare Kodierung der Definitheit/Indefinitheit. Bsp.:

(1) Kniha je na stole. (= „Das Buch ist auf dem Tisch“, DEFINIT)

(2) Na stole je kniha. (= „Es ist ein Buch auf dem Tisch“, INDFINIT)

Die „freie“ Wortstellung in solchen Sprachen ist also nur scheinbar frei, da mit der Veränderung der Abfolge einzelner Wörter eine Bedeutungsveränderung verbunden ist.

Schwer sichtbare Grammatik: kombinatorische Kodierung (Zusammenspiel mehrerer Kategorien). Artikelsprachen markieren die Definitheit in indefiniten Umgebungen durch den Artikel, artikellose Sprachen machen es, indem sie zusätzliche Kategorien hinzuziehen – Verbalaspekt und Kasus.

2.2. These: Entstehung des Artikels als Folge des Aspektverfalls

Was bedeutet das für den Artikel? Eine explizite Kodierung der Definitheit/Indefinitheit ist meistens überflüssig, da sie in der Regel durch die Wortstellung kodiert wird. Notwendig wird sie erst, wenn ein definites Substantiv eine indefinite Position der syntagmatischen Kette besetzt (Rhema = neue Information), oder wenn die Wortstellung im Sprachwandelprozess sekundär andere Funktionen übernehmen muss (Verfall der Kasusendungen im Englischen > Kodierung der Subjekt-Objekt-Relationen durch die Wortfolge). Der Artikel wird nur dann gesetzt, wenn aufgrund der Umgebung ein gegenteiliger Definitheitswert erwartet wird. Einen solchen sparsamen Artikelgebrauch bezeichnet man als Hypodetermination. Er ist immer noch in manchen germ. Sprachen vorhanden. Die Entwicklung des Deutschen führte jedoch zur Hyperdetermination – der bestimmte Artikel wird auch in Positionen gesetzt, die bereits durch die Thema-Rhema­-Gliederung eindeutig als definit gekennzeichnet sind.

These zur Entstehung des bestimmten Artikels: Definitheitswerte wurden ursprünglich unsichtbar durch zwei fremde Kategorien kombinatorisch kodiert: Verbalaspekt und Kasus. Der Zusammenbruch des Aspektsystems, der im Ahd. bereits im Gange war, entzieht dieser Strategie den Boden und führt zur Herausbildung des bestimmten Artikels als Ersatzstrategie. Weitere Angleichungsprozesse führen zum hyperdeterminierenden Artikelgebrauch. Einen ersten Zugang zu dieser Problematik können moderne artikellose slawische Sprachen bieten, in denen Definitheit immer noch kombinatorisch ausgedrückt wird.

2.3. Verbalaspekt in slawischen Sprachen

Allgemeines: in den slawischen Sprachen bilden die meisten Verben Aspektpaare: eine imperfektive Form und eine präfigierte perfektive Form (beide haben gleiche Bedeutung, das Merkmal DEF./INDF. ausgenommen), z.B.: poln. jeść vs. z jeść. Bei manchen Aspektpaaren ist das imperfektive Partnerverb verloren gegangen und durch eine neue Form ersetzt worden: poln. da wa ć vs. dać (Reimperfektivierung mit einem Infix). b) Definitheitseffekt des Verbalaspekts – Beispiele aus dem Polnischen:

(3) Rąbałem drewno. (= „Ich habe Holz gespalten“)

VERB (impf.) + NOMEN (Akk.) = INDETERMINIERT

(4) Po rąbałem drewno. (= „Ich habe das Holz gespalten“)

VERB (pf.) + NOMEN (Akk.) = DETERMINIERT

Definitheitseffekt der Kasus-Alternation: bei perfektiven Verben ermöglicht ein Kasuswechsel zw. Genitiv und Akkusativ eine weitere Unterscheidung – Beispiele aus dem Polnischen:

(5) Przynieś papieros y ! (= „Bring die Zigaretten mit!“)

VERB (pf.) + NOMEN (Akk.) = DETERMINIERT

(6) Przynieś papieros ów ! (= „Bring [ein paar] Zigaretten mit!“)

VERB (pf.) + NOMEN (Gen.) = PARTITIV

3. Artikeldistribution in der ahd. Evangelienharmonie von Tatian

Im Ahd. kommt der bestimmte Artikel paradoxerweise bevorzugt in Kontexten vor, die bereits durch die Wortstellung als eindeutig definit gekennzeichnet sind (der Artikel ist also eigentlich überflüssig). Es handelt sich dabei um einen phorischen (=verweisenden) Artikelgebrauch:

a) anaphorisch – Anknüpfung an eine bereits eingeführte Information (meistens Wiederholung desselben Substantivs), diese Verwendung ist die deutlich häufigere. Der Vergleich mit den lat. Originaltexten zeigt deutlich, dass es sich hier nicht um Artikel und nicht deiktisch gebrauchte Demonstrativpronomina handelt (die letzteren sind in der lat. Textfassung nicht vorhanden):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ausnahmen: Abstrakta, v.a. solche, die nicht pluralisierbar sind, stehen ohne Artikel, z.B.:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Allerdings werden solche Abstrakta dann mit einem Artikel versehen, wenn ihre Bedeutung eingeschränkt wird, z.B.: lat. in tenebras exteriores = ahd. in thiu uzarun fznstarnessi. Auch Unika (z.B. got) und Eigennamen werden ohne Artikel gebraucht.

b) kataphorisch – Vorausweisen, z.B. auf die nähere Beschreibung im Nebensatz (ich bin thaz brot, thaz... ).

A ußerdem gibt es auch den individualisierenden Artikel – Abstrakta, die eine eingeschränkte, konkrete Bedeutung erhalten sollen.

4. Definitheitssysteme des Althochdeutschen

Überprüfung der Aspekt-These: Leiss überprüft die Aspekt-These, indem sie die von Jäger (1917) aufgelisteten „Irregularitäten“ im Artikelgebrauch, die er mit den traditionellen semantischen Ausnahmeregeln nicht erklären konnte, erneut unter Einbeziehung ihrer verbalen Umgebung analysiert. Berücksichtigt man den Verbalaspekt, dann zeigt sich die scheinbare Natur dieser „Irregularitäten“. Das Aspektsystem des Ahd. befindet sich zwar bereits in der Auflösung, ist aber noch intakt genug, um Definitheitseffekte bei der Nominalphrase zu erzielen. Perfektiver Aspekt wurde im Ahd. mit dem Präfix gi- von den einfachen imperfektiven Formen abgeleitet. gi- und Artikel sind funktionsgleich und schließen sich gegenseitig aus. Ein perfektives Verb blockiert deshalb den Artikel – sowohl den individualisierenden, als auch den anaphorischen. Beispiele dazu sind im Anhang aufgelistet.

Wo sind dem Deffinitheitseffekt perfektiver Verben Grenzen gesetzt? a) Objekt-Subjekt: perfektive Verben können den Artikel nur bei Substantiven blockieren, die zur Verbalphrase gehören (=Objekte). Substantive der Nominalphrase (=Subjekte) liegen außerhalb ihres Einflussbereiches. Dem entspricht auch die Tatsache, auf die die Forschung mehrmals hingewiesen hat – nämlich dass der Artikel im Ahd. häufiger in der Subjekt-Position vorkommt. b) nicht mehr intakte Aspektpaare: ein verbaler Deffinitheitseffekt ist nur dann möglich, wenn ein intaktes Verb-Aspektpaar noch vorhanden ist (z.B. stigan – gi stigan, ladongi ladon usw.). Das Aspektsystem des Ahd. befindet sich aber bereits in der Auflösung – es gibt immer mehr „alleinstehende“ Verben, die kein imperfektives Partnerverb mehr besitzen, oder deren Partnerverb seine Bedeutung verändert hat. Vgl. die Beispiele:

(9) bilán ther uuind („der Wind legte sich“)

Bilan (zu bilinnan) ist perfektiv; perfektive Verben blockieren normalerweise den Artikel – es ist aber kein imperfektives Partnerverb mehr vorhanden (*linnan), sodass der Artikel das einzige Mittel zum Ausdruck der Definitheit ist.

(10) thó gisah thiu menigi („da erblickte die Menge“)

Formal gesehen ist hier das Aspektpaar zwar vorhanden, aber das imperfektive Partnerverb hat seine Bedeutung verändert; sehan („sehen“) ist nicht gleichbedeutend mit gisehan („erblicken“), so dass die beiden Verben keine vollständigen Synonyme mehr sind.

Definitheitssysteme des Althochdeutschen – Zusammenfassung: a) verbales Definitheits­system – betrifft Objekte von Verben, die Definitheit des Substantivs wird durch den Verbalaspekt kodiert: ein perfektives Verb kennzeichnet sein Objekt als definit; b) nominales Definitheitssystem mit dem anaphorisch oder individualisierend gebrauchten Artikel; das nominale System ist dem verbalen in der Weise untergeordnet, dass perfektive Verben den Artikelgebrauch blockieren. Anders ausgedrückt: die Definitheit wird primär durch den Verbalaspekt kodiert, und nur dort, wo es nicht geht, wird ein Artikel gesetzt. Darüber hinaus gibt es im nominalen System verschiedene semantische Einschränkungen für den Artikelgebrauch: nicht individualisierte Abstrakta, Unika wie got und Eigennamen stehen ohne Artikel.

5. Generalisierung des Artikelgebrauchs

Wie kam der jetzige hyperdeterminierende Artikelgebrauch zustande? Der zunehmende Rückgang der funktionierenden Aspektpaare macht eine Ersatzstrategie notwendig – der Artikel übernimmt – zunächst nur bei nicht mehr intakten Aspektpaaren – die Kodierung der Definitheitswerte.

Die Kodierung der Definitheitswerte bei noch intakten Aspektpaaren erfolgt weiterhin durch den Verbalaspekt:

Verb (pf.) + NP (Akk. ) = DEFINIT

Verb (impf.) + NP (Akk.) = INDEFINIT

Verb (pf.) + NP (Gen.) = PARTITIV

Bei nicht mehr intakten Aspektpaaren übernimmt der Artikel diese Funktion in folgender Weise:

a) wenn das imperfektive Partnerverb verloren gegangen ist:

Verb (pf.) + def. Artikel + NP (Akk. ) = DEFINIT

Verb (pf.) + Ø + NP (Akk. ) = INDEFINIT

Verb (pf.) + def. Artikel + NP (Gen.) = PARTITIV

b) wenn das perfektive Partnerverb verloren gegangen ist:

Verb (impf.) + def. Artikel + NP (Akk.) = DEFINIT

Verb (impf.) + Ø + NP (Akk.) = INDEFINTT

Verb (impf.) + def. Artikel + NP (Gen.) = PARTITIV

Ein solches Nebeneinander ist aber keine Dauerlösung, Angleichungsprozesse setzen ein. Sie können nur in eine Richtung gehen, d.h. die Angleichung vollzieht sich zugunsten des nominalen Systems mit dem Artikel, da dieses voll funktionsfähig ist, während das verbale System durch den fortschreitenden Verfall des Aspektsystems immer mehr an Funktionsfähigkeit verliert. Der Artikelgebrauch wird folglich generalisiert und ab einem bestimmten Zeitpunkt wird der bestimmte Artikel auch dort gesetzt, wo noch ein funktionierendes Aspektpaar vorhanden ist. Das wiederum beschleunigt den Verfall des Verbalaspekts, weil dieser nunmehr überflüssig ist.

III. Anhang: Das Zusammenspiel von Artikel und Verbalaspekt – ahd. Belegstellen nach Leiss (2000)

1. Ausbleiben eines individualisierenden Artikels

(1) S. 170f.

gisah trumbara inti menigi sturmenta

„sah er die Flötenspieler und die klagende Menge“

trumbara – weder anaphorischer noch induvidualisierender Artikel ist hier zu erwarten. Das Wort ist nicht vorerwähnt und erscheint im Prädikat, also in einer undefiniten Umgebung (Rhema) – die Information hier ist neu, es handelt sich um irgendwelche, nicht näher bekannte Flötenspieler. Anders ist es bei menigi.

menigi – es ist zwar ein Abstraktum, es wird aber vom Kontext individualisiert: nicht die Bedeutung „Menge“ allgemein ist gemeint, sondern eine konkrete Gruppe von Menschen das Wort müsste also mit dem (individualisierenden) bestimmten Artikel vorkommen, was jedoch nicht der Fall ist. Das perfektive gi- Verb gewährleistet nämlich die definite Lesart und eine zusätzliche Markierung der Definitheit durch den Artikel ist überflüssig und nicht korrekt.

gisah – (zu gisehan) perfektives Verb, 3. Pers. Sg. Präteritum (= „erblickte“, „sah er“).

(2) S. 171f.

thó furlazenen menigin quam in hús

„dann verließ er die Menge und ging ins Haus“

quam – (zu queman) perfektives Verb, allerdings ein Simplex (=ohne Partnerverb); es ist wahrscheinlicher, dass der Definitheitseffekt von furlâzan ausgeht.

furlazenen – (zu furlâzan) perfektives Partnerverb von lâzan (das Präfix fur- ist funktionsgleich mit gi-).

(3) S. 172f.

inti giladoten zi imo menigin quad in

„und er rief die Leute zu sich und sagte“

quad – (zu quedan) perfektives Simplexverb, gleiche Situation wie unter (2).

giladoten – (zu giladôn) perfektives Verb (impf. Partner: ladôn).

Ausnahme: ein Artikel erscheint trotz eines perfektiven Verbs bei Substantivierungen (Wörter einer anderen Wortklasse, die wie Substantive gebraucht werden), z.B.:

ther thia forlazzanun gihalot huorot

„wer eine Verlassene heiratet, begeht Ehebruch“

Der Artikel hat hier eine grammatische Funktion und kennzeichnet das Partizip als Substantiv.

2. Ausbleiben eines anaphorischen Artikels

(4) S. 176ff.

inti sár gibót her thie iungiron stigan in skef (...)

thaz skef in mittemo seuue uuas giuuvorphozit mit then undon (...)

inti nidarstiganter petrus fon themo skefe gieng oba themo uuazare (...)

inti so sie thó gistigun in skef bilán ther uuint

„gleich darauf forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen (...)

das Boot wurde inmitten des Sees von den Wellen hin- und hergeworfen (...)

da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser (...)

und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind.“

In der ersten Zeile kommt weder ein anaphorischer Artikel (die letzte Erwähnung von skef im Text liegt weit zurück) noch ein individualisierender Artikel in Frage. Es ist ebenfalls ausgeschlossen, dass ein Definitheitseffekt vom Verb ausgeht (stigan = impf.). In den folgenden zwei Zeilen wird, wie erwartet, ein anaphorischer Artikel gebraucht, da kein perfektives Verb vorkommt (2. Zeile: Auxiliar + Partizip I = PASSIV; 3. Zeile: Partizip I). In der vierten Zeile müsste eigentlich ebenfalls ein anaphorischer Artikel stehen – weil das Verb „steigen“ diesmal aber in seiner perfektiven Form erscheint (anders als in der ersten Zeile), ist das nicht der Fall.

Weitere Besonderheiten: a) in Zeile 2 kommt das Substantiv See (in mittemo seuue) ohne Artikel vor: es handelt sich hier um ein abstrakt gebrauchtes Konkretum. Nicht ein bestimmter See, sondern „Wasser“ ist gemeint. b) in Zeile 3: fon themo skefe – diese Stelle widerlegt Oubozars These, dass nur kommunikativ wichtige Substantive mit einem Artikel versehen werden; das Boot wurde hier bereits mehrfach erwähnt, die Situation ist hinreichend bekannt, es ist also eine irrelevante Hintergrundinformation. c) Zeile 4: im Unterschied zur ersten Zeile steht „steigen“ hier in seiner perfektiven Form – das ist notwendig, um die zeitlichen Relationen korrekt auszudrücken: mit gistigan bedeutet der Satz: „der Wind legte sich, nachdem sie ins Boot gestiegen waren“ (zeitliche Abfolge), mit stigan dagegen: „ während sie ins Boot stiegen, legte sich der Wind“ (Gleichzeitigkeit).

IV. Literatur

Elisabeth Leiss (2000), Artikel und Aspekt. Die grammatischen Muster von Definitheit. Berlin-New York: de Gruyter 2000 (Studia linguistica Germanica, 55).

Erika Oubouzar (1992), Zur Ausbildung des bestimmten Artikels im Althochdeutschen. In: Yvonne Desportes, Althochdeutsch. Syntax und Semantik. Lyon: Université Lyon 1992 (Série germanique ancien, 1).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Die Entstehung des bestimmten Artikels im Althochdeutschen
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Sprachwandel: Grammatikalisierung
Note
unbenotet
Autor
Jahr
2002
Seiten
13
Katalognummer
V108057
ISBN (eBook)
9783640062614
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entstehung, Artikels, Althochdeutschen, Sprachwandel, Grammatikalisierung
Arbeit zitieren
Cezary Bazydlo (Autor:in), 2002, Die Entstehung des bestimmten Artikels im Althochdeutschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108057

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