Liebe und Schatten: NEUE ETHNOFILME (1997-2000) - Versuch einer Klassifizierung


Ausarbeitung, 2001

8 Seiten


Leseprobe


Inhalt:

Die Filme der Ethnologen

Das verlorene Paradies

Der Film im Film

Der indigene Film

Film als kulturelles Gedächtnis

Die Filme DER ETHNOLOGEN

Das Dilemma des Reisenden ist zugleich sein Privileg: Er entdeckt die Fremde wie ein Kind - naiv, ohne gesicherte Informationen darüber, was ihn erwarten wird. Und er durchläuft, um die Analogie fortzuführen, während seiner Fahrt gleichsam eine ganze Sozialisation, die jenem vorsichtigen Vorantapsen und Weltentdecken des Neugeborenen in nichts nachsteht, außer dass sie sich in einem viel kürzeren Zeitraum vollzieht. Die Filme der Reisenden handeln daher in erster Linie von den Erfahrungen des Reisenden. Sie bringen das Erstaunen über das „andere“ zum Ausdruck, reflektieren die eigenen Konflikte oder die Suche und den Weg der Erkenntnis, die der Reisende durchläuft. Nur wenige Menschen in der Geschichte des Reisens dürften so resistent gegen den offensichtlichen Widerspruch zwischen Mythos und Wirklichkeit gewesen sein, wie die 100.000 Blumenkinder, die es Anfang der 70er Jahre auf einen Trip der Sehnsucht ins vermeintliche Schlaraffenland Afghanistan trieb (EIN TRAUM VON KABUL, Wilma Kiener/Dieter Matzka, Deutschland 1996).

Die Besonderheit ethnologischer Forschung liegt darin, dass sie sich mit einer Klassifikation von Struktur und Funktionen der einzelnen Teile einer Gesellschaft nicht zufrieden gibt. Schon ihr Pionier Bronislaw Malinowski forderte, das Leben der Menschen nicht nur zu beobachten, sondern wirklich daran teilzuhaben. Die „Teilhabe am Menschsein anderer“ impliziert den Versuch, das im Grunde unfassbare Element der Veränderung im menschlichen Leben zu erfassen, das eben dann zum Vorschein kommt, wenn die „normale“ Sozialstruktur und die „normalen“ Verhaltensweisen vorübergehend außer Kraft gesetzt sind.

Das Wesen von Kultur liegt eben nicht in ihrem Status Quo, sondern in ihrer Dynamik – den Konflikten, Krisen und der permanenten Selbsterneuerung von Gesellschaft, dem dialektischen Prozess zwischen Struktur und Übergang, den Victor Turner das „soziale Drama“ nannte. Selbst das kulturelle Gedächtnis eines Volkes bleibt dabei ständigen Veränderungen und unterschiedlichsten Arten der Auslegung unterworfen. Und genau hier setzt das Medium Film an, dessen narrative Struktur dem Modell der griechischen Tragödie folgt: Der Bruch sozialer Normen führt zu einer sich zuspitzenden Krise, die eine Bewältigung erfordert. Der anschließende Aushandlungsprozess führt entweder zu einer Reintegration oder zu einer Anerkennung der Unüberwindlichkeit des Bruchs.

Die analytische Distanz des Forschers ist notwendig, um zwischen dem unterscheiden zu können, was in der beobachteten Gesellschaft gang und gäbe ist und dem, was ihm als Person im besonderen zuteil wird: dem Ausländer, dem Fremden, dem Lehrer, dem Türenöffner, dem Geheimnisvollen, dem lästigen oder willkommenen Fragensteller. Distanz wie Intimität, meint der Experimentalfilmemacher Wolf Kahlen, müssen gleichwohl in jedem Augenblick neu erschaffen werden.

Ethnologen erfüllen dabei eine Grundvoraussetzung des Filmemachens: Sie sehen immer etwas genauer hin. Mit ihrer Kamera lesen sie zwischen den Zeilen von repräsentativer Form und kulturellem Klischee. Sie richten ihren Fokus auf pittoreske Details, erschließen die tragikomische Poesie des Lebens oder werden gar selbst ein Teil jener Kultur, deren Vermittlung sie sich verschrieben haben. Der Lebensweg des schwulen Ethnologen Tobias Schneebaum (Keep The River On Your Right, David and Laurie Gwen Shapiro, Kanada 1999) gibt eine Ahnung davon, was es heißen kann, in einen Dialog mit den Menschen in der Fremde einzutreten. Schneebaum dringt so tief in die Kultur der Asmat in Neuguinea ein, dass er ein Teil von ihr wird: Er lässt sich von seinen Gasteltern adoptieren. Die Ethnologie ist ihm kein lebloses System kulturwissenschaftlicher Kategorien, sondern eine Sammlung sinnlich-anschaulicher, erkenntnisreicher Anekdoten.

Juan Alejandro Ramirez’ subversives Bilderessay einer Indienreise „Fare away from here“ (Peru 1999) liefert einen anschaulichen Beleg dafür, wie cinematographisch unser Gedächtnis funktioniert: Gemeinsames und Trennendes liest er den Menschen von der Nasenspitze ab - jeder unsichere oder abschätzige Blick seiner zufälligen Reisebekanntschaften sind ihm Anlass für eine tiefgründige philosophische Reflektion über das Verhältnis von Norden und Süden. Mitunter erfahren wir, wie auch "Tumult im Urwald" (Schweiz 1998), Lisa Faesslers ironische Betrachtung einer Feldforschung, zeigt, mehr über die Kultur der Filmemacherin, als über die Subjekte wissenschaftlicher Betrachtung.

Das verlorene Paradies

Das Reisen zur persönlichen oder wissenschaftlichen Erbauung ist freilich nur wenigen vorbehalten. 1999 gab es weltweit 10 Millionen Menschen, die auf der Flucht waren vor Armut, Hunger, Gewalt, und politischer Verfolgung. Die meisten Flüchtlinge finden in Ländern Asyl, deren Bewohner selbst mit unsicheren Lebensverhältnissen zu kämpfen haben. Nur jeder zehnte Flüchtling kommt nach Europa.

Und auch hier herrscht Krieg. In GOOD KURDS, BAD KURDS (USA 2000) macht sich der amerikanische Fotoreporter Kevin McKiernan auf die Suche nach einem Krieg, den niemand zur Kenntnis nehmen will. THE LAST ENEMY (Haoyev Ha'acharon, Israel 2000) erzählt die Geschichte einer israelisch-palästinensischen Theatergruppe, die versucht, fern von den kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrer Heimat, ein Beispiel zu geben für friedliche Völkerverständigung – und scheitert. Im Hotel Belgrad (Andrea Staka, Schweiz 1998) suchen zwei Kriegsflüchtlinge vergeblich nach einem gemeinsamen Weg in der Heimatlosigkeit: Sie lebt in der Schweiz und fühlt nicht mehr in der Sprache ihrer Heimat. Er lebt ohne Pass in Belgrad, seit er vor dem Bosnienkrieg geflohen ist. In Frankreich (WAITING AT GODOT AT DE GAULLE, Alexis Kourus, Finnland 2000) sieht sich ein iranischer Asylbewerber einem kafkaesken bürokratischen Durcheinander gegenüber, das ihn zwingt, elf Jahre lang im Flughafen von Paris zu verweilen.

Das Äquivalent zur Flucht ist die Vertreibung. Auf die Kapverdischen Inseln wurde vor 500 Jahren eine Melange der Völker Afrikas verschleppt - an einem Ort des Durchgangs, der nur dafür bestimmt war, die ihrer Heimat Beraubten über die Welt zu verteilen. In dem Gefühl, weder seinem Land noch seinen Ursprüngen gerecht zu werden, findet der Kapverdianer (In Rhythm of Time, Daniel E. Thorbecke, Deutschland 2000) seine Identität in einem Paradox: gehen zu müssen und bleiben zu wollen oder gehen zu wollen und bleiben zu müssen.

Den Überlebenden derjenigen, die als Sklaven in die Neue Welt verschifft wurden, blieb nichts anderes übrig, als dort Wurzeln zu schlagen und nach einer neuen Selbstverortung Ausschau zu halten. In Südamerika fanden sie diese im Synkretismus, der Verschmelzung von Katholizismus und afrikanischer Religion. Dabei ließen sich die kolonialen Machthaber davon beeindrucken, dass die Sklaven ihren urafrikanisch gebliebenen rituellen Praktiken einfach christliche Namen überstülpten.

Als Symbol für das Selbstverständnis der Entrechteten von Generation zu Generation getragen, haben die Rituale heute in Cuba, Mexiko oder Brasilien eine stärkere Verbreitung, als in den Ländern, wo sie entstanden sind. Im brasilianischen Bahia war der französische Anthropologe und Photograph Pierre Verger nach dem Zweiten Weltkrieg einer der ersten, der die Praktiken der afroamerikanischen Religion dokumentierte - und großen Anteil an dem weltweiten Bekanntheitsgrad hatte, den sie erlangten Pierre Fatumbi Verger - Messenger between two Worlds (Luiz Buarque de Hollanda, Brasilien 1998).

DER FILM IM FILM

Den Weg in die „Big Brother“-Gesellschaft rechnete Douglas Coupland schon Anfang der 90er vor: Jeder vierte Amerikaner hatte es mindestens einmal im Leben vor die Linse einer Fernsehkamera gebracht. Die vermeintliche Gestenhaftigkeit schriftloser Gesellschaften entpuppt sich spätestens als ethnozentristischer Fake, wenn man hinter die Kulissen des Mythos Amerika blickt: eine Gesellschaft voller Verlockungen und Verbote, deren Bürger zuerst beim Kindercasting landen und dann in der Pornoagentur (ENTER, Veit Bastian, Deutschland 1999).

Doch auch jenseits Europas und Amerikas entfalten die Bildmedien längst ihren Zauber und ihre manipulative Kraft. In Kirgisistan (THE STARS’ CARAVAN, Arto Halonen, Finnland 2000) verkörpern die Träume zweier Filmvorführer Vergangenheit und Gegenwart in einer Zeit des Übergangs. In Raghida Skaffs PICTURES (Libanon 1999) sinniert eine Kriegsreporterin über den Sinn und Unsinn ihres Tuns (wie schon Herbert Knaup in Heiner Stadlers „Warshots“/Deutschland 1996). In Südafrika (Long Night's Journey into Day, Frances Reid/Deborah Hoffman, Kanada 2000) macht sich eine Nation auf die Suche nach sich selbst, indem sie die Mörder der Apartheidsära vor den Augen des Fernsehpublikums Zeugnis über ihre Taten ablegen lässt.

Ein außergewöhnliches Experiment wagte der japanische Straßentänzer Gilyak Amagasaki (DANCE OF REQUIEM, Japan 1998): Er drehte einen Film über sich selbst, seine Kunst und seine spirituelle Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das gänzliche Verzichten auf ein Produktionsteam veranlasste einen befreundeten Filmemacher zu der Vermutung, Amagasaki habe seinen Film „nur mit der Kraft seiner Liebe“ verwirklicht. Hier scheint sich zu realisieren, was Francis Ford Coppola in den 80er Jahren als Wunschvorstellung äußerte: Jeder kann Filme machen und ein „Star“ werden.

Ein anderer japanischer Filmemacher, der radikale Antiimperialist Tsuchiya, treibt das Spiel der filmischen Selbstreflexion auf den Höhepunkt: In THE NEW GOD (Atarashii Kamisama, Japan 1999) gibt er der nationalistischen Punkrockerin Karin eine Videokamera, damit sie ihr Alltagsleben filmt und beginnt eine seltsame Dreiecksbeziehung mit ihr und ihrem Musikerkumpanen. Wie Karin mit der Kamera in der Hand ihr Leben ändert, weist weit über den Kontext eines schlichten Persönlichkeitsporträts hinaus: Es gewährt einen tiefen Einblick in den Wertewandel junger Japaner.

Schon im Japan der 68er-Generation war das Kino ein Politikum: Ein legendäres Kollektiv von Dokumentarfilmern (Devotion, A film about Ogawa Productions, Barbara Hammer, USA 2000) wagte sich an die Front brisanter sozialpolitischer Konflikte, lieferte eine unabhängige Berichterstattung über die Studentenproteste und brachte die Probleme und Bedürfnisse der Landbevölkerung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Seit den 80er Jahren haben entwicklungspolitische Projekte die audiovisuellen Medien als Mittel zur Demokratisierung und Aufklärung entdeckt. In Australien gibt ein Community-Fernsehen der Landbevölkerung eine Stimme. In Brasilien machen landlose Bauern gegen die Regierungspolitik mobil, nachdem ihnen eine Seifenoper im Fernsehen ihr eigenes Schicksal vor Augen geführt hat. Und in der Sahelzone organisieren Entwicklungsorganisationen einen Wettbewerb, bei dem Jugendliche Ideen für Kurzfilme über HIV entwickeln und dabei Szenarien entwickeln, die frappierend an frühe deutsche Aidsaufklärung mit Hella von Sinnen erinnern (Scenarios from the Sahel, Idrissa Ouédraogo/Cheick Oumar Sissokoo/Pierre Sauvalle, Senegal/Mali/Burkina Faso 1997-2000).

Der INDIGENE FILM

Die betrachtete Kultur aus der Perspektive derjenigen zu zeigen, die sie am besten kennen - diesem Anspruch werden mehr und mehr Festivals und Programmkinos gerecht, seit sich Menschen jenseits traditionsreicher Filmindustrien wie Indien, Mexiko, Brasilien oder Taiwan, das Medium in vielen Ländern Welt zu eigen machten, um die Welt aus ihrem eigenen Blickwinkel zu zeigen. Beispielhaft kann hier der Aborigine-Film in Australien genannt werden, ausgehend von Don Featherstones Satire-Klassiker Babakiueria (Australien 1987), der eine farbige Ethnologin bei der Erforschung eines von possierlich rückständigen Weißen bewohnten Kontinents begleitet, heute u.a. repräsentiert durch die Werke von Rachel Perkins (Radiance/One Night the Moon, Australien 1998/2001).

LIFE IN FOG (Iran 1999), eines jener berührenden Dokudramen des kurdischen Regisseurs Bahman Ghobadi, zeigt eine Welt, die dem Zuschauer aus der westlichen Welt wie ein anderer Stern vorkommt: Im Land der Schmuggler im iranisch-irakischen Grenzgebiet, vor der Kulisse unwirtlicher Steinschluchten und umnebelter Geröllberge, kämpft der 14jährige Waise Nejad um das Überleben seiner Geschwister. Als exemplarisch für diese Kategorie darf WAYN YO (Libanon 1998) des jungen libanesischen Filmemachers André Chammas angesehen werden, Preisträger auf dem Oberhausener Kurzfilmfestival. Liebevoll-selbstironisch, in kurzen, pointierten Szenen karikiert er Klatsch, Männlichkeit und die kleinen Schwächen und Eigenheiten der Bewohner seines Heimatdorfes, des Seha-Viertels in Beirut.

In Ghana und Nigeria hat sich in der jüngsten Vergangenheit eine Videofilmindustrie etabliert, die pro Jahr rund 50 Spielfilme produziert. In den Low-Budget-Produktionen kämpfen Hexen um die spirituelle Macht eines Dorfes (Above Death, Simisola B. Opeodu, Ghana/Nigeria 1999), macht ein armer Banker seine Ehefrau zum geldspuckenden Zombie (Time, Ifeanyi Onyeabor, Ghana 2000) oder werden authentische Geschichten okkulter Serienmorde zum gefälligen Gruselplot verarbeitet (ACCRA KILLINGS, G. Arccton-Tettteh, Ghana 2000). Was nach westlichen Maßstäben unter die Kategorie der B-Movies fällt, zieht im Westen Afrikas die Massen in die Filmbühnen.

In den Armenvierteln von Bogotá produzieren die Mitglieder einer Jugendbande in Zusammenarbeit mit Streetworkern und Filmjournalisten eine Serie von Spielfilmen, mit denen es ihnen gelingt, dem sozialen Ghetto zu entfliehen, dessen Leben sie abbilden. Wer diese Filme einfach als spannende Krimis rezipiert, verkennt, dass den Geschichten der Jugendlichen wahre Begebenheiten zugrunde liegen. That’s the way it goes etwa (Juan Pablo Felix, Kolumbien 1997), das kolumbianische Äquivalent zu Thomas Arslans „Dealer“, erzählt von den inneren Konflikten eines Diebes, der sein Leben ändern möchte. Die Komödie Money is what we got (Felipe Solarte, Kolumbien 1997) über den Jungen Pedro, der mit dem Geld seines Chefs eine Party feiert, zeigt wie sich Menschen, die in Armut leben, in Traumwelten hineinleben, um ihr Schicksal ertragen zu können.

Der Thriller Anleitung, ein Motorrad zu Stehlen (Felipe Solarte, Kolumbien 1998) zieht den Zuschauer mit zwei tollpatschigen Gelegenheitsdieben in seinen Bann, um dann eine tragische Wendung zu nehmen. Anleitung, deN Mond zu Töten und Eine Liebesgeschichte mit traurigem Ende (Juan Pablo Felix, Kolumbien 1997/99) verlegen den alten Romeo-und-Julia-Plot von der unmöglichen Liebe in die Armenviertel von Bogotá. Das Dokudrama MAURO (Felipe Solarte, Kolumbien 1997) hebt die Grenze zwischen Realität und Fiktion entgültig auf: Parallel zu der eigentlichen Spielfilmhandlung, erzählen die Jugendlichen den Verlust von in Bandenkriegen getöteten Freunden in authentischen Interviewszenen nach.

Film als kulturelles Gedächtnis

Dass Santana 1999 einen Song veröffentlicht, in dem er einer „Epoche der Befreiung“ huldigt, kommt nicht von ungefähr. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend sind repressive Systeme in der ganzen Welt gefallen. In den Erinnerungen der Menschen aber sind die Diktaturen lebendig geblieben. Viele Familien haben Angehörige verloren, fordern eine Bestrafung der Täter des Systems.

Die reinigenden Prozesse der Selbstfindung sind schmerzhaft und schleichend. „Das Problem“, hat es Eugene Rochberg-Halton formuliert, „ist nicht so sehr, was man während, sondern was man am Tag nach der Revolution tut.“ Als der Theaterregisseur Augusto Boal in den 70er Jahren argentinische Theaterschüler bat, die dem Wesen ihrer Nation am nächsten liegende Vorstellung von Familie darzustellen, entwarfen sie das Standbild einer Familie am Mittagstisch, die für eine Person mehr gedeckt hat, als tatsächlich zugegen ist. So ging man damals mit den Verschwundenen der Diktatur um. In den folgenden Jahren verarbeiteten argentinische Künstler und Filmemacher das Motiv des Verschwindens in unzähligen Varianten.

So ist es auch folgerichtig, wenn Héctor Faver eben dieses Motiv als Leitfaden für sein vielschichtiges Dokudrama Invocation (Spanien 2000) wählt, eine Geschichte um Tango, Todesschwadronen, die Liebe zweier Liliputaner und einen herrschsüchtigen Zirkusdirektor. Silvio Caiozzis Fernando is back (Chile 1998) erzählt von zwei Gerichtsmedizinerinnen in Santiago de Chile, die Körper von Häftlingen identifizieren, die während der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet verschwanden. Die Angehörigen von Fernando Olivares Mori sind so berührt von dessen Identifizierung 25 Jahre nach dessen Entführung, dass sie sogar sein Skelett noch umarmen.

Ein beeindruckender Film über den Umgang junger Israelis mit dem Holocaust ist Micky Zilbershteins BABCHA (Israel 1998). Der hippe Copywriter Dror versucht es mit Scharfzüngigkeit und schwarzem Humor. Die tiefgreifende emotionale Beziehung zu seiner Großmutter macht es ihm jedoch unmöglich, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Jean K. Chamouns IN THE SHADOW OF THE CITY (Libanon 2000) schließlich vollzieht den Lebensweg des Jungen Rami nach, der in den Wirren des libanesischen Bürgerkrieges aufwächst. Wie ein Schatten verfolgt Rami die Erinnerung an den Krieg. Doch selbst in diesen Schatten sind Spuren edler Träume und schöner Erinnerungen. Sie sind es, die Rami die Stärke zum Überleben geben, sich selbst und sein Land wieder aufzubauen, in den Süden zurückzukehren und seine Hoffnungen, Erfahrungen und Gaben mit einer neuen Generation zu teilen.

Ein unerschöpfliches Spektrum von Bildern, Erfahrungen und Perspektiven bieten die Werke von Filmschaffenden aus aller Welt. Was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, das finden sie eben dort, wo die analytische Wissenschaft an ihre Grenzen stößt: im Widerspruch, im Chaos, in der Verzweiflung und Leidenschaft, eben in der Auflösung von Struktur, im Übergang und in der ewigen Suche des Menschen nach einem Halt in der Welt.

Mit anderen Worten: Filme dringen ein in die Schattenwelt des menschlichen Bewusstseins. Und „Schatten“, sagt Jean K. Chamoun, „drücken sowohl die fließenden Übergänge, als auch den Widerspruch zwischen unseren Fantasien und der Wirklichkeit aus. Schatten repräsentieren all unsere heimlichen Wünsche, Ängste und Bedürfnisse. Auch wenn wir versuchen, unseren Schatten zu entkommen – es wird uns nicht gelingen.”

Clemens Grün

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Liebe und Schatten: NEUE ETHNOFILME (1997-2000) - Versuch einer Klassifizierung
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Workshop zum EthnoFilmfest 2001
Autor
Jahr
2001
Seiten
8
Katalognummer
V108055
ISBN (eBook)
9783640062591
Dateigröße
486 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ohne Sekundärliteratur.
Schlagworte
Liebe, Schatten, NEUE, ETHNOFILME, Versuch, Klassifizierung, Workshop, EthnoFilmfest
Arbeit zitieren
Clemens Grün (Autor:in), 2001, Liebe und Schatten: NEUE ETHNOFILME (1997-2000) - Versuch einer Klassifizierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108055

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Liebe und Schatten: NEUE ETHNOFILME (1997-2000) - Versuch einer Klassifizierung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden