Die neuere Forschung zu Widukind von Corvey


Seminar Paper, 2000

13 Pages, Grade: gut (2)


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vom ersten Zusammentreffen bis zu Heinrich I.
2.1. Vorbemerkungen
2.2. Die sächsische Emanzipation
2.3. Die Herrschaft Heinrich I.

3. Die Ottonen als Herrscher über das Ostfrankenreich
3.1. Otto I.
3.2. Herrschaftszusammenhang

4. Zusammenfassung

5. Literaturnachweis

1. Einleitung

Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Vergangenheit. Ihre Erkenntnisse bezieht sie immer aus der Auswertung von Quellen, gleich welcher Art diese sein mögen. Für das Mittelalter sind besonders die schriftlichen Quellen von Bedeutung.

Die herausragendste erzählende Quelle für das 10. Jh. ist die Sachsengeschichte des Widukind von Corvey.[1] Widukind war Mönch, Hagiograph und Geschichtsschreiber und entstammte wahrscheinlich dem sächsischen Hochadel. Er trat um 941/942 in das Kloster Corvey ein und starb um 973. Kaum ein anderes Geschichtswerk des Mittelalters hat in der modernen Forschung mehr Aufmerksamkeit gefunden und ist kontroverser beurteilt worden als eben seine Sachsengeschichte.[2]

Die Ansicht, daß Widukinds Werk lediglich eine liudolfingische Hausüberlieferung sei und hauptsächlich ein uneingeschränktes Lob auf die Sachsen und ihr Fürstenhaus darstelle, ist veraltet.[3] Neue fruchtbare Forschungsansätze verdanken wir den Arbeiten Beumanns.[4] Er untersuchte die Sachsengeschichte vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge und berücksichtigte die maßgeblichen Kriterien der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Er machte eindrucksvoll deutlich, daß die Vorstellungen der Menschen und ihr Bild von der Vergangenheit einen wesentlichen Einfluss darauf hatten, wie sie Geschichte niederschrieben. Seit 1950 erfreuen sich die Auseinandersetzungen mit Einzelproblemen der Sachsengeschichte regem Interesse. Einen Überblick zur Forschungsgeschichte findet man zuletzt bei Keller.[5]

Widukind von Corvey und andere mittelalterliche Geschichtsschreiber werden nicht als Erfinder von Geschichte betrachtet, sondern vielmehr als Sprachrohre verbreiteten Wissens, das sie literarisch gestalteten.[6] Deshalb erhält man aus ihren historiographischen Werken kein exaktes Wissen über die Wirklichkeit, sondern immer ein der subjektiven Wahrheit entsprechendes, perspektivisches Geschichtsbild. Mittelalterliche Geschichtsschreibung wird von der historischen Wissenschaft auch nicht allein als Lieferant von Fakten, sondern auch als Zeugnis für das Bewusstsein vergangener Zeiten herangezogen.[7]

Wichtige historiographische Texte können also bei richtiger Betrachtung als Zeugnisse politischen Wandels dienen. Doch bei weitem nicht alle Historiker denken so. Brühl[8] beispielsweise bezeichnet die vielfach herangezogenen Texte des Widukind von Corvey als Phantasien, die in der Forschung unnötig wichtig genommen wurden. Althoff[9] sagt zugespitzt, daß es an wesentlichen Punkten bis heute nicht gelungen sei, die Erzählungen Widukinds in ihrem Realitätsgehalt einzuschätzen und sie in eine ereignisgeschichtliche orientierte Darstellung zu integrieren.

Ich werde mich in meiner Arbeit mit dem Verhältnis zwischen den Franken und den Sachsen in Widukinds Sachsengeschichte auseinandersetzen. Berücksichtigen möchte ich dabei auch das Spannungsfeld, in dem sich der Geschichtsschreiber befand. Das Interesse und die Perspektive des Verfassers sowie der Zweck des Werkes beeinflussten meines Erachtens erheblich die Art und Weise der Darstellung des sächsisch- fränkischen Verhältnisses. Widukind wandert bei seinen Erzählungen auf einem schmalen Grad zwischen zwei Extremen. Einerseits war er Sachse und versuchte die Leistungen des Sachsenstammes in besonderer Weise hervorzuheben. Andererseits verfasste er sein Werk für Angehörige des ottonischen Herrschaftshauses, die zur Abfassungszeit auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt waren. Die Ottonen waren zwar sächsischer Abstammung, dennoch zu Widukinds Zeit Herrscher über das Ostfrankenreich. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die fränkischen Elemente in seiner Darstellung einen breiten Raum einnehmen. Er trägt damit der politischen Realität und Korrektheit Rechnung.

Durch Untersuchung bestimmter Textstellen möchte ich meine Behauptungen untermauern. Speziell die Wendungen populus Francorum atque Saxonum und Francia Saxoniaque stehen im Mittelpunkt meines Interesses und werden von mir interpretiert.

2. Vom ersten Zusammentreffen bis zu Heinrich I.

2.1. Vorbemerkungen

Widukind dediziert sein Werk der Äbtissin Mathilde von Quedlinburg (955-999), der Tochter Kaiser Ottos I. Jedes der drei Bücher der Sachsengeschichte beginnt mit einer Vorrede an Mathilde. Widukind teilt ihr in der ersten Vorrede mit, daß er ihr die Taten ihres Großvaters und Vaters erzählen will, damit sie noch tugendhafter und ruhmreicher werde als sie bereits ist. Allerdings habe er einige Worte über die Anfänge der Sachsen vorangestellt, um den Geist der Herrin zu erfreuen.[10]

In der Tat geht Widukinds Erzählung von den sächsischen Ursprüngen dem eigentlichen Werk voraus, ohne daß ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen beiden Teilen sichtbar würde. Der Verfasser nennt keine Ahnen von Heinrich I. oder Otto I. Springer[11] vermutet aufgrund der zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Missgriffe am Anfang des Werkes, daß Widukind ihn in großer Eile aufs Pergament gebracht hat. Die Diskussion über die vermeintliche Stammessage soll mich aber an dieser Stelle nur bedingt interessieren. Mit Blick auf die Zielstellung der Arbeit setze ich beim ersten Zusammentreffen zwischen Franken und Sachsen an.

2.2. Die sächsische Emanzipation

Widukind versucht, den Sachsenstamm als gleichberechtigte Einheit neben das traditionelle Reichsvolk der Franken zu stellen. Franken und Sachsen kommen beim Krieg gegen die Thüringer das erste Mal zusammen. Durch die Darstellung des sächsischen Sieges über die

Thüringer bei Burgscheiden gewinnt das Verhältnis zwischen Franken und Sachsen einen fast paritätischen Charakter.[12] Widukind betont also das gute Einvernehmen der „Völker“ von Beginn an. Diese Eintracht wird auch nicht durch die Unterwerfung des Sachsenstammes durch Karl den Großen gestört, da dadurch bewirkt wurde, daß die Franken und Sachsen quasi uns genas ex Christiana fide geworden sind. Es ist allerdings die Einschränkung nötig, daß der bis dahin erreichte Status der Sachsen für Widukind noch nicht unbedingt die volle Gleichberechtigung bedeutet. Denn erst mit dem Königtum Heinrich I. ist die Saxonia tatsächlich frei.[13] Schneidmüller weist darauf hin, daß Widukind die Bedeutung seines Volkes in einer weit ausholenden Einleitung entwickelt, um sich seiner eigenen Identität zu versichern.[14] Widukind ignoriert dabei die blutige Unterwerfung seines Volkes durch Karl den Großen fast vollständig und versucht, diesen Aspekt durch ein überschwängliches Lob auf den Kaiser und seine Weisheit zu überdecken.[15] Es scheint fast so, daß er allein die Bekehrung seines Volkes in den Mittelpunkt rückt, während er dessen politische Unterwerfung fast hinter den gemeinsamen Glauben zurücktreten lässt, um sein gentiles Selbstwertgefühl zu schonen.[16] Der einheitliche politische Verband der Franken und Sachsen gibt für Widukind letztlich nur den Rahmen für das Emporkommen der Liudolfinger ab.

Fasst man die bisherigen Gedanken zusammen, so lässt sich sagen, daß der Corveyer Historiograph das früh entstandene, gute Verhältnis zwischen Sachsen und Franken hervorhebt, das durch die Christianisierung de facto in der Verschmelzung der beiden „Völker“ in einer gens kulminiert. Dennoch geht es ihm auch darum, die Überlegenheit seines Stammes hervorzuheben. Er verdeutlicht, daß die Sachsen imstande gewesen waren, auf der Ebene der fides mit den Franken gleichzuziehen und unterlässt es nicht zu bemerken, daß diese die Sachsen auf der Ebene der Moral nie erreichen würden.[17] Außerdem ist recht bemerkenswert, auf welche Art Widukind das Liudolfingergeschlecht, unter dem sich der sächsische Aufstieg zur Königsmacht vollzogen hat, in seine Erzählung einführt. Der Autor stellt eine falsche genealogische Verbindung zwischen den Karolingern und dem sächsischen Herrschergeschlecht her und verknüpft sie mit dem angeblichen Angebot zur Übernahme der Herrschaft an Herzog Otto den Erlauchten, den Vater Heinrich I.[18] Widukind schreibt, daß der populus Francorum atque Saxonum Otto den Thron angeboten hätte. Dieser soll aber abgelehnt haben, da er zu alt gewesen sei.[19] Dabei geht der Autor aber nicht von den tatsächlichen Verhältnissen zwischen beiden Häusern aus. Widukind sagt weiter, daß auf Ottos Rat hin damals der Franke Konrad zum König des ostfränkisch- deutschen Reiches erhoben worden sei. Ob dieser Bericht der „Designation“ den Tatsachen entspricht, ist von der Wissenschaft gegensätzlich beurteilt wurden. Eggert und Pätzold geben einen Überblick zur Debatte.[20] Jedenfalls liegt unserem Geschichtsschreiber daran, die Legitimierung der zu seiner Zeit in Blüte stehenden ottonischen Herrschaft und die Motivation des Übergangs dieser Herrschaft von den Franken auf die Sachsen herauszustellen. Deshalb erscheint es auch ganz verständlich, daß Konrad 911 kurz vor seinem Tode daran gedacht hat, den Sachsenherzog Heinrich I. als Nachfolger zu designieren. Damit ist Widukinds Geschichte des populus Francorum atque Saxonum an einem Wendepunkt angelangt. Mit Heinrich besteigt erstmals ein Sachse den Thron, dessen Rolle für seine eigene gens er[21] bereits bei der Erwähnung seiner Geburt hervorhebt.[22]

2.3. Die Herrschaft Heinrich I.

Hatten die Sachsen bis 919 kein eigenen König besessen, so änderte sich daß mit der Thronbesteigung Heinrich I. aus dem Hause der Liudolfinger. Bei der Königserhebung selbst lässt Widukind die Sachsen hinter die Franken zurücktreten, was Becher als Indiz dafür wertet, daß der Historiograph zumindest in diesem Punkt die Geschehnisse einigermaßen korrekt referiert.[23] Dem Corveyer Mönch ist also bewußt, daß sein sächsischer König und dessen Nachfahren über ein imperium Francorum herrschen. Er glaubt demnach nicht, daß Heinrich sich ein neues Reich geschaffen hat, vielmehr war er sich des fränkischen Charakters bewußt, den das liudolfingische Königtum an sich trug. Für ihn beherrscht Heinrich I. somit in der Nachfolge der Karolinger und Konrad I. das Frankenreich.[24] Karpf meint auch, daß Widukind das fränkische Moment im rechtlichen Sinne über die sächsische Emanzipation dominieren lässt.[25] Aber die mit der Ankunft der Reliquien des heiligen Vitus verbundene sächsische Befreiung der Sachsen[26] realisiert sich konkret mit Heinrich I. Herrschaft als König.[27] Fried weist darauf hin, daß die Konradiner zweifellos Heinrich als König des Frankenreichs anerkannten; ihr Konsens zu seiner Herrschaft hatte ihm die fränkische Krone gebracht und gesichert.[28] Dennoch war sein Königtum nicht unangefochten, wie die Reaktionen der Alemannen, Bayern, Lothringer und Westfranken zeigen; und das die Ostfranken sogleich geschlossen hinter ihm standen, darf bezweifelt werden. Schritt für Schritt setzte der Sachse sich durch.[29] Er begann offenbar als König der Sachsen mit fränkischen Anhang und schob allmählich sein Königtum in einen durch Konrad I. Tod königsfreien Raum vor.[30] Widukind schreibt, daß Heinrich das Reich sammelte, befriedete und damit einte.[31] Das alte Reichsvolk der Sachsen ist laut Schneidmüller[32] nicht untergegangen, wohl aber bei den entscheidenden herrschaftbegründenden Akten um ein fränkisch- sächsisches „Wahlvolk“ erweitert, und entsprechend muß die neueste Diskussion um den fränkischen Charakter des Reiches bei Widukind beurteilt werden, der dieses nur als fränkisches Reich deklariert. Gegen die traditionelle Deutung der Franken und Sachsen als Reichsvolk wendet sich Brühl[33], der auf den fränkischen Charakter des Reiches hinweist. Die Betonung der Sachsen bei der Formel populus Francorum atque Saxonum zu 911, 919, 936 dient wohl weniger der Stilisierung eines neuen Reichsvolkes, sondern der Betonung sächsischer Prägung des multigentilen, von Widukind noch fränkisch bezeichneten Reichs.[34] Schneidmüller meint auch, daß die Belege für ein regnum Saxonum[35] nicht für die Interpretation Widukinds herangezogen werden dürfen, was Brühl[36] ebenfalls unterstreicht. Widukind schreibt als Sachse und nicht als Franke und misst seinem Volk einem besonderen Rang bei, auch wenn ihm der „Reichsname“ vorgegeben war. Daraus lässt sich keine ungebrochene Fortdauer des Frankenreiches, sondern eher die Modifikation politischen Bewusstseins, das noch des Namens entbehrte, ableiten.[37] Unstrittig ist jedenfalls das Bemühen Widukinds, die gängige fränkische Denomination seines Reiches bei entscheidenden politischen Akten um eine sächsische Komponente zu erweitern, eine Abwandlung, die Indiz für einen Bewusstseinswandel ist.[38] Fried dagegen hebt hervor, daß Heinrich, wo er konnte, an das karolingische Erbe anknüpfte. Er setzte in legitimatorischer Absicht die Tradition fort. Widerstrebend nahm auch der westfränkische König Karl Heinrichs neue Würde hin (921). Die Völker, die Heinrich „gesammelt“ hatte, wurden keine „Ostfranzosen“. Ihre Zukunft war deutsch.[39]

3. Die Ottonen als Herrscher über das Ostfrankenreich

3.1. Otto I.

Der Terminus populus Francorum atque Saxonicae wird von Widukind insgesamt dreimal verwendet, und zwar stets in Verbindung mit einer Königswahl. Er taucht bei der Schilderung der Erhebung des Franken Konrad I. (911) sowie auch in denjenigen der liudolfingischen Herrscher Heinrich I. (919) und Otto I. (936) auf.[40] Widukind versucht also auch für die Zeit Otto I. die Bedeutung der sächsischen gens für die Herrschaft des Königs hervorzuheben. Bereits im Zusammenhang mit dem Aachener Krönungsmahl des Jahres 936 erwähnt er Siegfried, Saxonum optimus et rege secundus, um neben den übrigen führenden Adligen aus den verschiedenen gentes auch einen Sachsen nennen zu können.[41] Karpf[42] schreibt, daß sich Widukind der formalen Konstitution des ottonischen Königtums wie schon bei der Erhebung Heinrich I. in besonderer Weise der fränkischen Elemente bewußt ist, während seine ein antifränkisches Ressentiment verratenden Bemerkungen an anderen Stellen auf einer sehr allgemeinen und recht unverbindlichen Ebene argumentieren. Seine Begriffe für die politische Verfassung des ottonischen Reiches vermeiden jeden Anschein einer Ursupation, und die Konflikte, die er im Zuge der Herrschaftsdurchsetzung Otto I. beschreibt, zeigen immer wieder Risse quer durch die einzelnen Stämme und Familien hindurch. Legitimatorischer Rahmen bleibt unangefochten die fränkische Ausformung der Herrscherposition, und das Neue, das das Königtum der Ottonen ins Spiel brachte, artikuliert sich bei Widukind als eine modifizierende Zuführung des sächsischen Elements in Gestalt des populus Francorum atque Saxonum bzw. Francia Saxoniaque.[43] Letzterer Terminus begegnet uns übrigens nur ein einziges Mal. Widukind berichtet davon, daß die Angelegenheiten der omnis Francia et Saxonum in rechter Weise geordnet wurden, bevor König Otto 961 seinen Zug über die Alpen antrat, der ihm die Kaiserkrone brachte.[44]

Es stellt sich natürlich die Frage, ob hierunter allein das „Volk“ des ostfränkischen und sächsischen Stammesgebietes zu verstehen ist oder aber jenes des „werdenden deutschen Reiches“ insgesamt.[45] Eggert[46] und Pätzold[47] sind der Meinung, daß ohne Zweifel der fränkisch- sächsische populus in Widukinds Verständnis die gesamte Bevölkerung des werdenden deutschen Reiches umfasst, und daß gleiches auch von der omnis Francia et Saxoniaque anzunehmen ist. Im Gegensatz dazu stellt Brühl heraus, daß nur die ostfränkisch- sächsische Bevölkerung gemeint ist. Der Begriff der Francia et Saxonia entspricht seines Erachtens der „Verfassungswirklichkeit“ der frühen ottonischen Herrschaft und zwar ganz konkret im Sinne der tatsächlichen Herrschaftsgewalt der neuen Dynastie.[48]

Zunächst: Was geschah 936 in Aachen beim Herrschaftsantritt Ottos I.? An dieser Stelle sei der ausführliche Bericht Widukinds zur Thronfolge kurz resümiert.[49] Heinrich habe vor seinem Tod seinen Sohn Otto zum König bestimmt und ihn über seine Brüder und das ganze Imperium der Franken gestellt. Nachdem der König Heinrich gestorben war, wählte dann der omnis populus Francorum atqe Saxonum den Sohn Otto sich zum Oberhaupt. Es folgte in Aachen dann die universalis electio. Hierbei sind Thronsetzung, Handgang und Treueschwur der principes die rechtlich konstitutiven Elemente der Erhebung, während die Handlungen in der Kirche: Heilruf der Menge, Investitur, Salbung und die zweite Thronbesteigung als zusätzliche Akte erscheinen, die aber in der Darstellung einen wesentlich breiteren Raum einnehmen. Den Schluss bildet dann wieder außerhalb der Kirche das Krönungsmahl, bei dem die Herzöge die Ehrenämter versehen.[50] Widukinds Bericht lässt vor allem zwei programmatische Schwerpunkte erkennen: die unübersehbare Dominanz des fränkischen Elements und die dezidierte Erweiterung der Herrschererhebung um das kirchliche Ritual mit seinen inhaltlichen Verpflichtungen. Fränkisch ist nicht nur die Kleidung bei seiner weltlichen Thronsetzung, Franken sind auch die drei erstgenannten Herzöge bei gleichzeitiger Abwesenheit des nach dem König wichtigsten Sachsen.[51] Der Vorrang des Frankennamens in Widukinds zentralen politischen Begriffen findet hier sein konkretes Gegenstück.[52]

3.2. Herrschaftszusammenhang

Die grundsätzliche Repräsentation des Reichs durch den Herrscher wird bei dem Corveyer Mönch zwar nicht in Frage gestellt, dennoch ist auch der populus- Begriff für die Darstellung des Reichszusammenhanges von großer Bedeutung. Besonders der Terminus populus Francorum atque Saxonum überschreitet nach Meinung Karpfs[53] den Bedeutungsgehalt des Stammes, indem er eine Einheit zweier heterogener Elemente erstellt, die an anderer Stelle quasi una gens ex christiana fide umschrieben worden war. Dem korrespondiert der Begriff omnis Francia Saxoniaque, wobei, wie auch bei dem ersten Begriff umstritten ist, ob das Reichsganze (unter Ausschluss Italiens) oder nur das Kerngebiet der Herrschaft selbst gemeint ist. Für die Wendung populus Francorum atque Saxonum liegt die Deutung als herrschendes Reichsvolk nahe,[54] die aber offenlassen muß, ob Widukind konkret auch Angehörige andere Stämme darunter fassen will oder nicht. Für die Interpretation der doppelten gentilen Charakterisierung des herrschaftlichen Substrates (des populus und des Gebietes) als eines neuen Kerngebildes spricht die Kennzeichnung des allgemeinen Herrschaftszusammenhanges, des Verantwortungsbereiches des Königtums, als imperium Francorum. Nicht das Königtum selbst hätte sich demnach gewandelt, sondern nur der es tragende Kern des Untertanenverbandes und ihm zugehörigen Gebiete wäre erweitert worden. Dass dieses Konzept innerhalb des Textzusammenhanges nicht ganz spannungsfrei ist, zeigt für die Frühzeit erweisbare Einordnung des Francorum imperium in die gentile Konkurrenzsituation, die allerdings politisch durch die Angliederung des sächsischen Moments an den weiterhin dominierenden Frankennamen entschärft wird. Jedenfalls ist der durch die Wendungen populus Francorum atque Saxonum und Francia Saxoniaque aktualisierte Sinngehalt des imperium Francorum eine der wichtigsten Klammern in Widukinds Denken.[55]

4. Zusammenfassung

Ich denke ich konnte aufweisen, daß Widukind ein sehr widersprüchliches Verhältnis zwischen Franken und Sachsen darstellt. Besonders auffällig ist, daß der Verfasser bei wichtigen politischen Ereignissen versucht, den fränkischen Charakter der Herrschaft immer um eine sächsische Komponente zu erweitern. Hierdurch bringt er meines Erachtens sein gentiles Selbstwertgefühl zum Ausdruck. Ansonsten lässt der Corveyer Mönch das sächsische Moment hinter die fränkischen Elemente treten, da er die politische Realität genau zu verstehen weiß und aus einer verantwortungsvollen Position heraus schreibt. Es war ihm gewissermaßen ein bestimmter Rahmen vorgegeben, den er durch geschickte und verständliche Polarisierung in seinem Sinne ausschmückte.

5. Literaturnachweis

Rotter, E.; Schneidmüller, B.(Hrsg.) : Widukind von Corvey- Res gestae Saxonicae, Stuttgart, 1997

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Becher, M. : Rex, Dux, Gens-Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jh.(= Historische Studien 444), Husum, 1996

Beumann, H. : Widukind von Korvei- Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideen- geschichte des 10. Jh.,Weimar, 1950

Brühl, C. : Deutschland- Frankreich. Die Geburt zweier Völker, 2. Aufl., Köln und Wien, 1995

Eggert, W. : Franken und Sachsen bei Notker, Widukind und anderen. Zu einem Aufsatz von Josef Semmler, in: Scharer, A.; Scheibelreiter, G.(Hrsg.): Historiographie im frühen Mittelalter, Wien und München, 1994, S. 514- 530

Ders. : Ostfränkisch- fränkisch- sächsisch- römisch- deutsch. Zur Benennung des rechtsrheinisch- nordalpinen Reichs bis zum Investiturstreit, in: FMSt 26, 1992, S. 257- 274

Eggert, M.; Pätzold, B.: Wir- Gefühl im Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen

Geschichtsschreibern(= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte Bd. 31), Weimar, 1984

Fried, J. : Die Königserhebung Heinrich I.- Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jh., in: Borgolte, M.(Hrsg.): Mittelalterforschung nach der Wende 1989(= Neue Folgen der Beihefte der HZ, Bd. 20, hg. Gall, L.), 1995, S. 267- 318

Karpf, E. : Herrscherlegitimation und Reichsbegriff in der ottonischen Geschichts- schreibung des 10. Jahrhunderts(= Historische Forschungen 10), Stuttgart, 1985

Keller, H. : Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und die Krönung Otto I, in: FMSt 29, 1995, S. 390- 453

Manitius, M. : Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, Nachdruck der ersten Auflage von 1911, München, 1974

Pätzold, B. : Francia et Saxonia- Vorstufe einer sächsischen Reichsauffassung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3, 1979, S. 19- 49

Schneidmüller, B.: Widukind von Corvey, Richer von Reims und der Wandel des politischen Bewußtseins im 10. Jahrhundert, in: Schneidmüller, B.(Hrsg.): Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbilddung in Deutschland und Frankreich, München, 1997, S.83- 102

Springer, M. : Sage und Geschichte um das alte Sachsen, in: Westfälische Zeitschrift (Sonderdruck), Bd. 146, 1996, S. 193- 214

[...]


[1] Hirsch,P.; Lohmann, H.-E.: Die Sachsengeschichte des Widukind von Corvey, in: M G H, Sriptores rerum germanicarum in usum scholarum,separatim editi, unveränderter Nachdruck der 5. Auflage von 1935, Hannover, 1989; in Anlehnung: Widukind von Corvey- Res gestae Saxonicae, übers. und hg. von Rotter,E. und Schneidmüller,B.,Stuttgart,1997 (ich beziehe mich im weiteren Verlauf auf die neueste Ausgabe)

[2] vgl. Althoff,G.: Widukind von Corvey, in: LMA,Bd. 9,München,1998,Sp.76-78

[3] vgl. bsp. Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, Nachdruck der ersten Auflage von 1911, München, 1974, S. 715

[4] Beumann,H.:Widukind von Corvey- Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts, Weimar, 1950

[5] Keller,H.: Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und die Krönung Otto I., in: FMSt 29, 1995 , S. 390-453

[6] vgl. Fried, J.: Die Königserhebung Heinrich I.- Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10.Jh, in: Borgolte, M.(Hrsg.): Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (= Neue Folge der Beihefte der HZ Bd. 20, hg. von Gall, L.), München, 1995, S. 271

[7] vgl. Schneidmüller, B.: Widukind von Corvey, Richer von Reims und der Wandel des politischen Bewußtseins im 10. Jahrhundert, in: Brühl, C.; Schneidmüller, B.(Hrsg.): Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nations- bildung in Deutschland und Frankreich, München, 1997, S. 83

[8] vgl. Brühl, C.: Deutschland- Frankreich. Die Geburt zweier Völker, 2. Aufl., Köln/Wien, 1995, S. 551

[9] vgl. Althoff, G.: Widukind von Corvey- Kronzeuge und Herausforderung, in: FMSt 27, 1993, S. 255

[10] vgl. Widukind von Corvey, 1,2 (wie Anm. 1), S. 17

[11] vgl. Springer, M.: Sage und Geschichte um das alte Sachsen, in; Westfälische Zeitschrift (Sonderdruck), Bd. 146, 1996, S.203f.

[12] vgl. Karpf, E.: Herrscherlegitimation und Reichsbegriff in der ottonischen Geschichtsschreibung des 10. Jahr- hunderts(= Historische Forschungen Bd. 10), Stuttgart, 1985, S.146

[13] ebd., S. 147

[14] vgl. Schneidmüller, B.: wie Anm. 7, S. 91

[15] Widukind, 1,15, S.50

[16] vgl. Becher, M.: Rex, Dux, Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert (=Historische Studien 444), Husum, 1996, S.43

[17] vgl. Eggert, W.; Pätzold, B.: Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte Bd. 31), Weimar, 1984, S. 211

[18] ebd., S. 211

[19] Widukind, 1,16, S. 53

[20] Eggert, W.; Pätzold, B.: wie Anm.17, S. 213 unten

[21] Widukind, 1,17, S. 53

[22] vgl. Becher, M.: wie Anm. 16, S.47

[23] ebd., S. 61

[24] ebd., S. 64

[25] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S. 147

[26] Widukind, 1,34, S. 81

[27] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S. 148

[28] vgl. Fried, J.: wie Anm. 6, S. 296

[29] vgl. Fried, J.: wie Anm. 6, S. 311

[30] ebd., S. 312

[31] Widukind, 1,27, S. 71

[32] vgl. Schneidmüller, B.: wie Anm. 7, S. 92

[33] vgl. Brühl, C.: wie Anm. 8, S. 293f.

[34] vgl. Schneidmüller, B.: wie Anm. 7, S. 92 unten

[35] vgl. Eggert,, W.; Pätzold, B.: wie Anm. 17, S. 190ff.

[36] vgl. Brühl, C. wie Anm. 8, S. 294

[37] vgl. Schneidmüller, B.: wie Anm. 7, S. 92 unten

[38] ebd., S. 93

[39] vgl. Fried, J.: wie Anm. 6, S. 316

[40] Widukind, 1,16, S. 53; 1,26, S. 69; 2,1, S. 105

[41] vgl. Becher, R.: wie Anm. 16, S.62

[42] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S. 164

[43] ebd., S.164

[44] Widukind, 3,63, S. 215

[45] vgl. Eggert, W.: Franken und Sachsen bei Notker, Widukind und andern. Zu einem Aufsatz von J. Semmler, in: Scharer, A.; Scheibelreiter, G.(Hrsg.): Historiographie im frühen Mittelalter, Wien/ München, 1994, S.525

[46] Ders.: Ostfränkisch- fränkisch- sächsisch- römisch- deutsch. Zur Benennung des rechtsrheinisch- nordalpinen Reichs bis zum Investiturstreit, in: FMSt 26, 1992, S.263

[47] vgl. Pätzold, B.: Francia et Saxonia- Vorstufe einer sächsischen Reichsauffassung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3, 1979, S. 19- 49

[48] vgl. Brühl, C.: wie Anm. 8, S. 291

[49] vgl. Widukind, 2,1 und 2,2, S.105- 113

[50] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S.167

[51] ebd., S. 167

[52] ebd., S. 168

[53] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S. 173

[54] so Beumann, H.: wie Anm. 4, S.226

[55] vgl. Karpf, E.: wie Anm. 12, S. 174

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Details

Title
Die neuere Forschung zu Widukind von Corvey
College
Otto-von-Guericke-University Magdeburg
Course
Hauptseminar Sachsen im Früh- und Hochmittelalter
Grade
gut (2)
Author
Year
2000
Pages
13
Catalog Number
V107993
ISBN (eBook)
9783640061976
File size
462 KB
Language
German
Keywords
Forschung, Widukind, Corvey, Hauptseminar, Sachsen, Früh-, Hochmittelalter
Quote paper
Steffen Graul (Author), 2000, Die neuere Forschung zu Widukind von Corvey, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107993

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