Giorgiones Tempesta


Hausarbeit, 2003

18 Seiten, Note: 2+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Giorgione – Leben und Werk

3. La Tempesta
Bildbeschreibung
Die ersten Deutungsversuche / Über das Bild
Interpretation nach Settis
Interpretation nach Storck
Interpretation nach Motzkin
Interpretation nach Rapp

4. Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung:

Kaum ein Bild ist so oft interpretiert worden wie das Bild „La Tempesta“ („Das Gewitter“) von Giorgione. Doch von diesen Interpretationen trifft keine wirklich gut. Woran liegt das? Hat der Maler absichtlich kein klares Thema für sein Bild gewählt? Dann wäre es ein „non-subject“ Bild. Ein Bild, das kein explizites Thema beinhaltet, ein Bild, in dem die Personen nur Staffage sind. Der Bildgegenstand wäre die Natur. Somit wäre das Gemälde eines der ersten Landschaftsgemälde überhaupt.[1] Oder gibt es doch ein Bildthema?

In der folgenden Arbeit stelle ich den Künstler Giorgione vor, sowie vier der jüngeren Deutungen von Salvatore Settis (1982), Edzard Storck (1983), Elhanan Motzkin (1993) und Jürgen Rapp (1998).

Die vier Interpretationsversuche sind sehr unterscheiden. Settis bezieht seine Deutung auf den Sündenfall im Paradies, Storck interpretiert aus Mangel eines Bildthemas alles Dargestellte auf seinen mystischen und mythischen Inhalt, hauptsächlich orientiert er sich dabei an Märchen und an der Bibel. Motzkin sieht das Bildthema in der römischen Mythologie bei Romolus und Remus. Rapp hingegen stellt Bezüge zur griechischen Mythologie her, zur Verabschiedung des Paris von Oinone.

2. Giorgione – Leben und Werke:

Man weiß bis heute nicht ganz genau Giorgiones richtigen Namen. So wie man manche seiner Bilder ihm nicht eindeutig zuschreiben kann, so kann man ihn nicht hundertprozentig einer Familie zuordnen. Aus dem Jahre 1648 ist von Ridolfi überliefert, dass Giorgione ein Mitglied der Familie Barbarelli di Castelfranco gewesen sei. Mit Sicherheit weiß man, dass er „Zorzo“ oder „Zorzi“ hieß, was auf venezianisch „Giorgio“ heißt und aus Castelfranco stammt. Der Name Giorgione bedeutet übersetzt „ Großer Giorgio“ und wurde von Paolo Pino 1548 in seinem „Dialogo della Pittura“ geprägt. Das Meiste bzw. das Wenige über Giorgiones Leben wissen wir von Vasari, der sein Geburtsjahr mit 1477 angibt, später jedoch auf 1478 umdatiert. Bis heute existieren diese beiden Daten. Gestorben ist er vermutlich an der Pest kurz vor dem 25.Oktober.1510 in Venedig.

Zu seinen Werken zählen unter anderem: „Laura“, „Die drei Philosophen“, „Ruhende Venus“, „Geburt Christi“, „Urteil Salomos“, „Der Mosesknabe vor dem Pharao“, „Judith und das Gewitter“.

Nachgewiesen sind ihm nur vier Werke, da er seine Werke bis auf eines („Laura“) nicht signiert hat. Das „Die drei Philosophen“, „Ruhende Venus“ und „Das Gewitter“ von ihm sind, weiß man deshalb, da ein Zeitgenosse Giorgiones, Marcantonio Michiel, ein Tagebuch geführt hat, in das er die Namen der Bilder eingetragen hat, die er an Patrizierfamilien weiterverkauft hat. Darüber hinaus existieren unzählige Kopien seiner Werke, die ein Identifizieren der Bilder Giorgiones zusätzlich erschweren.[2] Bei ihm kann man nicht vom Leben auf sein Schaffen, sondern nur von seinen Bildern auf seine Existenz schließen.

3. La Tempesta

Das Bild „La Tempesta“ hat die Maße 82 x 73 cm und hängt heute in der Galleria dell’ Accademia in Venedig. Das verwendete Material ist Öl auf Leinwand. Ein Auftraggeber ist nicht bekannt.[3]

3.1. Bildbeschreibung:

Das Bild kann man klassisch in Vorder-, Mittel- und Hintergrund einteilen. Im Vordergrund sieht man auf der linken Seite eine Person stehen, die einen Stab in der Hand hält. Welche Art von Stab lässt sich auf den ersten Blick nicht definieren. Rechts von dieser Person befindet sich eine Art Tümpel oder Bach.

Auf der rechten Seite sitzt eine halbnackte Frau, die einen Säugling stillt. Sie hat eine weiße Tunika über ihren Schultern, auf der sie auch gleichzeitig sitzt. Sie ist umgeben von grüner Vegetation.

Im Mittelgrund befinden sich auf der linken Seite zwei verfallene Mauern, die umgeben sind von Büschen und Bäumen. Auf der kleineren Mauer stehen zwei Säulenstümpfe mit unterschiedlicher Höhe. In der Mitte fließt ein Fluss, über den eine Holzbrücke führt. Rechts stehen, hinter einer Busch- und Baumgruppe versteckt, ein paar Häuser. Auf dem Dach einer dieser Häuser sitzt ein Vogel.

Im Hintergrund sieht der Betrachter eine Stadtsilhouette mit einzelnen Büschen und Bäumen. Der Himmel ist mit dunkelblauen Gewitterwolken überzogen, aus denen ein Blitz zum Vorschein kommt.

3.2. Die ersten Deutungsversuche / Über das Bild

Die erste Deutung stammt bereits aus dem Jahre 1530, als Marcantonio Michiel in seinen Aufzeichnungen über das Gemälde „La Tempesta“ den Mann als Soldaten und die Frau als Zigeunerin beschreibt. Ein Bildthema kann er jedoch nicht erkennen.

Die nächste Deutung folgt 1569, als die Kunstsammlung des venezianischen Dogen Gabriele Vendramin, in der sich das Bild „La Tempesta“ befand, inventarisiert wurde. Bei dieser Bestandsaufnahme wird der Mann als Hirte, die Frau als Zigeunerin bezeichnet.

Diese Deutungen haben bis heute weitreichende Folgen gehabt. Denn noch heute versuchen die Forscher, diese These zu beweisen bzw. zu widerlegen. Welche Hinweise im Bild haben den Inventarschreiber bzw. Michiel veranlasst, in den dargestellten Personen einen Hirten bzw. Soldaten und eine Zigeunerin zu sehen?

Bis heute kann man diese Sichtweise nicht hundertprozentig nachvollziehen.[4]

Noch größere Verwirrung stiftete eine Röntgenaufnahme, die man 1939 von dem Bild anfertigte. Auf dieser wurde ein gesamter nackter Frauenkörper sichtbar, der sich hüftabwärts unter dem Bild des Mannes befindet. Diese Frau sitzt am Uferrand und lässt ihre Beine ins Wasser baumeln, wobei diese nur bis zum Knie zu sehen sind. Ihre linke Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, während ihr rechter Arm angewinkelt auf einer Bodenwelle aufliegt. In dieser Fassung fehlt der Mann.

Somit bestand Giorgiones erste Fassung aus zwei Frauenakten und einem Säugling.[5] Nun stellt sich die Frage, ob diese Entdeckung wirklich wichtig ist für eine Interpretation des Bildes. Sollte man eine Deutung immer abhängig von der versteckten Frau machen? Oder ist sie eigentlich unwichtig, da sie ja ohnehin übermalt worden ist? Plante Giorgione zweimal das selbe Bildthema? Oder plante er in seiner ersten Fassung ein völlig anderes Thema? Diese Fragen sind bis heute nicht geklärt.

Ich beginne mit der ältesten Deutung von Salvatore Settis.

3.3. Interpretation nach Settis

Settis sieht das Vorbild zu Giorgiones Bild in dem Relief von Giovanni Antonio Amadeo (1447-1522), das an der Fassade der Colleoni-Kapelle von Bergamo zu finden ist. Das Bild ist dem Relief im Schema und der Anordnung der Figuren absolut ähnlich. Wie auf dem Bild sieht man rechts eine entblößte Frau, die ein Baby stillt, und links einen Mann in einer ruhigen Haltung. Im Hintergrund befindet sich ebenfalls eine Landschaft mit Bäumen und Häusern. Jedoch finden wir anstelle eines Blitzes die Figur eines alten Mannes, der vom Himmel herabkommt.

Settis schließt aus der Ähnlichkeit, dass, ähnlich wie in dem Bergamo-Relief, auch „Das Gewitter“ das Thema des Sündenfalls von Adam und Eva beinhaltet.

Dieses Thema war in Venetien Ende des 15. Jahrhunderts sowie Anfang des 16.Jahrhunderts sehr beliebt. Darüber hinaus ist dieses Thema eines der bekanntesten, sowie eines der am meisten dargestellten überhaupt. Der Sündenfall wird des öfteren auch in mehreren Szenen dargestellt, wie auch im dritten Kapitel des Buches Genesis aufgelistet: „Die Scham“, „Der Vorwurf Gottes“, „Die Verfluchung der Schlange, der Frau und des Mannes“, „ Die Übergabe der Kleider“ und „Die Vertreibung“. Doch werden in dem Giorgione Bild diese Szenen zu einer einzigen zusammengezogen.

Das Bild zeigt Adam, Eva und Kain bereits aus dem Paradies verbannt, da Kain erst außerhalb des Paradieses geboren wird. Doch sprechen viele Indizien im Bild auf den vorhergegangenen Sündenfall.[6]

Demnach stellt der Mann auf der linken Seite Adam dar, der nach dem Alten Testament „ sich im Schweiße seines Angesichtes sein Brot verdienen“ soll. Allerdings kann man nicht davon sprechen, dass Adam auf dem Bild angestrengt arbeitet. Eher hat es den Anschein, dass er sich von der Arbeit ausruht oder dass er in Gedanken versunken ist und über das Schicksal nachdenkt. Somit könnte man den Stab in seiner Hand als Symbol für ein Werkzeug sehen. Die halbnackte Frau auf der linken Seite wäre somit Eva, die ihren Sohn Kain stillt. Ihre Mutterschaft steht im Gegensatz zur Arbeit Adams.

Es herrscht zwischen den Personen eine dramatische Spannung, da nicht nur die glückliche Zeit im Paradies vorbei ist, sondern auch, weil Kain, der noch unschuldig in Evas Armen liegt, der erste Mensch sein wird, der sich mit Schuld befleckt, indem er seinen Bruder Abel tötet.

Der Blitz ist das Bild Gottes, der im Bergamo-Relief selbst dargestellt ist.

Er ermahnt nicht nur Adam und Eva, sondern droht auch eine Strafe ohne jede Vergebung an. Letzteres bezieht sich auf die Tötung Abels durch Kain.[7]

Etwas problematisch ist die Deutung der beiden Säulenstümpfe auf der Mauerruine. Die Grundbedeutung der Säule ist die von Gott garantierte Festigkeit und Stärke, die aber bei dem „Gewitter“ nicht zieht, da die Säulen ja zerbrochen sind. Doch erkannte man schon sehr früh, dass die Säule durch ihre „Gebrochenheit“ auf das vom Tod unterbrochene Leben hinweist. Auch gilt sie als Ziersymbol für den Friedhof. Somit ist sie ein Symbol für den Tod, so wie der Blitz als Symbol für Gott gesehen werden kann.

Die Brücke und die Stadt haben eine enge Verbindung, so dass man sie zusammen deuten kann. Die Stadt wirkt im Hintergrund verlassen, lediglich ein weißer Vogel sitzt auf einem Dach. Settis sieht sie als das für Adam und Eva nun unerreichbare Paradies. Dafür spricht die durch den Blitz unpassierbare Brücke. Adam und Eva sollen immer in unmittelbarer Nähe des Paradieses leben, als Ermahnung, damit ihnen ihre Sünde immer in Erinnerung bleibe.[8]

Der Strauch, der vor Eva aus der Erde wächst, ist ein immer wiederkehrendes Attribut für sie. Auf vielen Gemälden verbirgt Eva ihre Nacktheit hinter einem Bäumchen oder Strauch. Auf dem Bild befindet sich ebenfalls die von Gott verdammte Schlange, die am unteren Bildrand im Fels verschwindet.

Die versteckte Frau unter der Darstellung des Mannes sieht Settis als erste Version Giorgiones von Eva. Giorgione plante seiner Ansicht nach, zuerst eine andere Konstellation der Figuren, die er aber nicht ausführte. Trotzdem sollte es das selbe Thema darstellen. Das Eva in der Quelle badet, ist eine Bestätigung des Themas. Denn das Bad steht für die Reinigung nach dem Sündenfall, das Eva 37 Tage lang im Tigris genommen hat.[9]

Somit steht Settis Interpretation in ikonographischer Tradition zu dem Bergamo-Relief von Giovanni Antonio Amadeo.

3.4. Interpretation nach Storck

Storck orientiert sich zunächst bei Giorgione selbst und behauptet, dass die Darstellung als Urbild angesehen werden soll. Er vermutet, dass das Bild kein für die damalige Zeit typisches Thema behandelt, sondern dass der Maler als Auserwählter fungiert, der mit göttlicher Erfahrung etwas Neues schafft. Das Grundkonzept des Bildes verdeutlicht, dass das Objekt „die ewige Welt“ stärker ist als das Subjekt Mensch.

Der Mensch ist hier nicht irgendein Mensch, sondern hat göttlich-menschliche Maße. Das ewige Bild des Menschen verkörpert die Sehnsucht und dessen ständiges Streben nach Erfüllung und Vollendung.[10]

Alle Vorgänge wie Geburt und Tod, aber auch Erscheinungen wie Licht und Finsternis sind im Bild miteinander verbunden. Diese Verbundenheit wird durch die Brücke sowie die Stellung der Personen besonders zum Ausdruck gebracht.[11]

Als signifikantes Zeichen erwähnt Storck die „Verzierung“ auf der linken großen Mauer. Man sieht zwei nach unten geöffnete Rundbögen, unter denen sich jeweils ein Punkt/Kreis befindet. Die beiden Punkte stehen für den Buchstaben „o“, die Rundbögen verkörpern das „m“. Somit steht das Zeichen für das Wort „omo“, das an das lateinische Wort „homo“ (Mensch) erinnert und auf das Thema des Bildes verweist: Den Mensch.[12]

Die Häuser im Hintergrund stehen für eine Stadt, die allerdings, wie auch Settis schreibt, verlassen wirkt. Die Stadt ist seit dem Altertum eine Art Mitte der Welt, in der sich Himmel und Erde treffen, vergleichbar mit der Seele, die Mitte zwischen Körper und Geist ist.

Das „OMO“- Symbol steht für den Verstandesmenschen, die Stadt hingegen für das seelische Leben des Menschen. Der Komplex aus der Mauerruine mit den beiden Säulenstümpfen wirkt sehr schwer und hinabziehend, doch wird diese Wirkung dadurch aufgehoben, dass die abgebrochenen Säulen nach oben streben.[13] Auch erinnert das Postament an Grabstätten, die im Tale Josaphat bei Jerusalem stehen. Jedoch fehlt auf Giorgiones Bild die Inschrift des darin begrabenen Menschen. Dies wird als weiteres Indiz für das Bildthema „der Mensch an sich“ gesehen.

Die große „OMO“ - Mauer steht dabei für die intellektive Seele, die Stadt für die sensitive Seele, die Natur für die vegetative Seelenkraft und die Grabstätte für den physischen Körper und dessen Vergänglichkeit.

Dieser Dreiklang von Tempel, Stadt und Grab geht auf die Antike zurück. Die Säule steht für den Tempel als Wohnhaus eines Gottes und als Schwelle zur überirdischen Welt, das Grab als Tor zur Unterwelt und die Stadt als Sinnbild für die irdische Stadt und den Staat.[14]

Giorgiones Gemälde ist in einer Verbindung von Realistik und Symbolik ausgeführt. Der Mensch wird durch die Natur bestimmt, doch zugleich steht der Mensch für die Natur. So verbinden sich Natur und Geist zu einem Ganzen.[15]

Darüber hinaus spielt die Farbsymbolik des Bildes eine nicht unwesentliche Rolle. Die weiße Farbe der Tunika, welche die Frau teilweise bedeckt, symbolisiert nicht nur die Unschuld, sondern auch das Überirdische. Die Frau steht somit unter dem Schutz des Himmels, was die Vermutung nahe legt, dass sie Maria oder Martha ist.

Auch der Vogel auf dem Dach ist weiß und stellt wahrscheinlich einen Storch dar. Im Volksmund bringt seit jeher der Storch die kleinen Kinder auf die Welt und in diesem Bild kommt ein Säugling vor. Was liegt näher, als beide Elemente zu verbinden? Der Storch betont das Einmalige der Geburt, indem er die Seele des Kindes von Gott zu den Menschen bringt. In seiner weißen Farbe sieht man die Unschuld und Reinheit seines Herzens und seiner Aufgabe.[16]

Des weiteren findet man die Farbe grün sehr oft in dem Bild. Die klassische Bedeutung der Farbe grün ist die Hoffnung. Doch hier bekommt sie die Bedeutung der Ruhe, Milde und Heilung noch hinzu. Die grüne Vegetation steht für die Lebenskraft des göttlichen, die dem Irdischen überhaupt erst Leben gibt.[17]

Die rot-violette Jacke des Mannes gilt als die Farbe der Liebe, der Andacht und des priesterlichen Wirkens. Der Mann wird sozusagen zum Träger der göttlichen Liebe.[18]

Es lassen sich zwei Themenkreise im Bild festhalten. Zum einen die Aufzählung der vier Elemente (Feuer, Luft, Wasser und Erde), zum anderen die Dreiheit der Personen (Mann, Weib und Kind).[19]

Zu ersterem lässt sich folgendes festlegen: Feuer wird durch den Blitz symbolisiert, er ist ein Zeichen der Offenbarung und kann zugleich ein Ausdruck göttlicher Strafe sein. Luft wird durch den Wind, durch den Vogel sowie durch die aufgewühlten Wolkenmassen symbolisiert. Zum einen ist der Himmel durch den Wind in Bewegung, zum anderen gibt es auch „ruhige Luft“, die man in der Gelassenheit des Vogels sieht, der dem Unwetter trotzt. Wasser findet sich im Fluss und hat sowohl belebende Kraft als auch undurchschaubare Tiefen. Die Erde wiederum bildet die Bühne für das Geschehen. Sie ist Zeuge der Vergänglichkeit und des Verfalls, spendet aber auch neues Leben.[20]

3.5. Interpretation nach Motzkin

Motzkin greift bei seiner Deutung auf die römische Mythologie zurück, genauer gesagt auf die Legende um Romulus und Remus.

Romulus war der Gründer Roms und wurde der Legende nach mit seinem Bruder von einer Wölfin gesäugt und später von der Göttin Acca Larentia aufgezogen. Er wurde der erste König Roms, nachdem er seinen Bruder Remus erschlagen hat.

Nach seinem Tod stieg er in den Himmel auf und wurde unter dem Namen Quirinus als Gott verehrt.

Demnach wäre die Stadt im Hintergrund Rom und der Fluss der Tiber.

Die Stadt weist die typische Architektur einer italienischen Stadt auf, so steht zum Beispiel der Kuppelbau für das Pantheon.[21]

Doch wenn man versucht, die dargestellten Personen in die Geschichte einzubringen, wird es schon schwieriger. In der Frau, die den Säugling stillt, sieht Motzkin Acca Larentia, die Frau des Hirten Faustulus, die die Amme der beiden Brüder war. Ihre freizügige Erscheinung erklärt er damit, dass sie der Legende nach auch eine reiche Prostituierte gewesen sei. Doch stillt sie auf dem Bild nur ein Kind. Lactantius schreibt in seiner Fassung der Legende allerdings nur über Romulus. Geht man von seiner Fassung aus, deckt sich das Bild mit der Geschichte.

Den jungen Mann auf der linken Seite könnte man als Faustulus sehen, doch wird der junge Hirte bzw. Soldat wiederum als Romulus gedeutet. Seine Kleidung identifiziert seine Berufung nicht eindeutig. Der Stab steht für den Hirten, die Kleidung weist auf einen Soldaten hin.[22]

Das Bild ist laut Motzkin polyszenisch angelegt und zeigt vier Stationen aus Romulus Leben.[23]

Die gebrochenen Säulen auf der kleinen Mauer symbolisieren Romulus und Remus. Die kleinere steht für Remus, da er früher starb. Die größere steht für Romulus. Sie steht außerdem vor der kleineren Säule, was die wichtigere Rolle Romulus verdeutlicht.

Plutarch schreibt, dass Romulus während eines Gewitters verschwand und seine Seele als Blitz in den Himmel aufstieg. Richtet man sich nach Plutarch, repräsentiert der Blitz die Seele Romulus.

Die Leserichtung des polyszenischen Bildes beginnt rechts bei Acca Larentia, die den Säugling Romulus stillt, geht weiter nach links zu Romulus als jungen Mann, symbolisiert durch die Säule sieht man ihn im Mittelgrund und im Hintergrund als Blitz.

Der Fluss stützt ebenfalls die Leserichtung, da er, beginnend vorne im Bild, sich in den Hintergrund schlängelt.

Für die übermalte Frau aus der ersten Fassung hat Motzkin verschiedene Deutungen. Sie könnte eine Personifikation der Stadt Rom darstellen, Romulus Mutter Rhea Silvia, oder eine frühe Version der Acca Larentia oder Romulus Gattin Hersilia. Für letztere spricht ein Armband, dass die versteckte Frau an ihrem linken Handgelenkt trägt und welches Hersilia als eine Sabinerin getragen hat.[24]

Beim Betrachten des Gemäldes stellt sich die Frage, warum Giorgione die Amme Acca Larentia anstatt der Wölfin gemalt hat. Dazu muss man den geschichtlichen Hintergrund um 1500 in Italien betrachten.

Zwischen Venedig und dem Papst herrschte Streit. Venedig musste 1506 die Städte Imola, Forli, Cesena und Ravenna an den Papst abtreten. Der Konflikt war absehbar. Dies könnte der Grund sein, warum Giorgione keine Wölfin gemalt hat, da sie das Symbol der Stadt Rom verkörpert.

3.6. Interpretation nach Rapp

Rapps sehr ausführliche Interpretation dreht sich um die griechische Mythologie.

Er sieht in dem Gemälde das Bildthema „Die Verabschiedung des Paris von Oinone“. Paris, der Sohn des Trojakönigs Priamos, wird aufgrund der Prophezeiung, dass er Troja zerstören werde, als Säugling im Ida-Gebirge ausgesetzt, wo er von Hirten aufgezogen wird. Dort heiratet er als junger Mann die Nymphe Oinone, Tochter des Flussgottes Kebren, und zeugt mit ihr einen Sohn, Korythos. Er verlässt Oinone schließlich wegen der schönen Spartanerkönigin Helena. Später erfüllt sich die Prophezeiung, und Paris wird beim Kampf um Troja tödlich verwundet. Daraufhin begeht Oinone Selbstmord.

Ohne weiteres sieht Rapp in dem jungen Mann Paris, in der stillenden Frau Oinone und in dem Säugling den kleinen Korythos.

Paris, im modischen zeitgenössischen Stil gekleidet, trägt die Kluft eines Soldaten und zugleich eines Hirten. Er verkörpert den Hirten, der er in seinem derzeitigen Leben ist, und zugleich den Soldaten, der er noch sein wird.[25]

Die nackte Nymphe sitzt in der Natur, am Ufer eines Flusses, der als ihr Vater Kebren gesehen wird, und stillt ihr Kind Korythos.

Bei Ovid, Quintus Smyrnäus und Apollodor, die alle über diesen Mythos schreiben, findet sich jedoch kein Wort über einen gemeinsamen Sohn von Paris und Oinone. Doch erfährt man bei dem Griechen Lykophron aus Chalkis (4.-3.Jh. v.Chr.) etwas von dem Schicksal des Korythos. Die Erstausgabe seines Werkes „Alexandra“ erschien erst 1513 in Venedig, drei Jahre nach dem Tod von Giorgione. Man darf annehmen, dass bereits vor 1513 Manuskripte von Lykophrons Werk vorlagen bzw. die philologischen Vorbereitungen für die Ausgabe liefen. Auch bei dem Dichter Parthenios von Nicaea (1.Jh. v.Chr.) findet man in seinem Werk „Liebesleiden“ die Existenz von Korythos, ebenso in den 50 Geschichten des Griechen Konon.[26]

In der dargestellten Szene verlässt Paris Oinone. Dafür spricht seine ihr abgewendete Körperhaltung, ebenso ist sein rechter Fuß schon wie zum Schritt angewinkelt.

Die Frage ist nun: Verlässt Paris Oinone für immer oder verlässt er sie, weil er seiner Hirtentätigkeit nachkommen muss? Seine Kleidung lässt ersteres vermuten, da er bereits die damals typische Beinkleidung der Soldaten trägt.

Oinone, die von der Urmutter Rhea die seherische Gabe erlernt hat, hat ihrerseits in der Szene eine Vision. Sie sieht die bevorstehende Zerstörung Trojas sowie das kommende Unheil, das über die kleine Familie kommen wird.

In diesem Fall wäre die Stadt im Hintergrund das alte Troja. Sie zeigt eine zeitgenössische Architektur, Wehr- und Wohntürme aus dem Mittelalter, Häuser mit hohen Fenstern nach venezianischem Vorbild und einen Kuppelbau, der charakteristisch für Padua und Venedig ist.[27] Am rechten Brückentor erkennt man das Wappen der Familie Carrara aus Padua, die zu Giorgiones Zeiten über Padua und dessen Umland herrschte. Des weiteren lässt sich ein Tierfresko an einem weiteren Turm im Hintergrund erkennen.

Doch warum stellt Giorgione ein Wappen aus Padua in einer antiken Stadt dar?

Diese Familie hatte im 14. Jahrhundert einen Großteil der Umgebung von Venedig ihrer Herrschaft unterworfen. Dadurch waren sie in Venedig verhasst und es kam zum Konflikt. 1405 wurde Padua belagert und erobert. Damals verbreitete dieses Wappen Angst und Furcht und wurde deswegen nahezu überall ausgetilgt. Diese Geschichte dürfte Giorgione geläufig gewesen sein, da es in seiner Heimat dieses Wappen gleich zweimal gab. Somit liegt ein Vergleich mit dem Untergang Trojas nahe.[28]

Die Architektur der Stadt und die Kleidung des Paris zeigen beide zeitgenössischen Stil, was im Cinquecento durchaus üblich war. Die dargestellten Szenen spielen in der Antike, weisen aber zeitgenössische Stilelemente auf.

Darüber hinaus ist der markante Kuppelbau im Bild charakteristisch für Troja, er gilt als spezielles Merkmal für die Stadt. Jedoch fehlt die typische Stadtmauer, die im Krieg die Stadt zehn Jahre lang uneinnehmbar machte. Doch malten auch andere Künstler Troja ohne eine Stadtmauer, so dass dies nicht unbedingt als Indiz gegen Troja gesehen werden muss. Dadurch, dass die Stadtmauer fehlt, liegt die Stadt ungeschützt vor ihren Feinden. Sie wirkt verletzlich und alles deutet damit wiederum auf die bevorstehende Eroberung hin.[29]

Ein weiteres Merkmal für Troja sehen wir in dem Vogel auf dem Turmdach. Laut Rapp stellt er einen Reiher dar. Bereits Vergil berichtet in seinem zweiten Gesang der Aeneis, dass nach dem Untergang Trojas durch einen verheerenden Brand sich ein Vogel aus den Trümmern erhebt. Seitdem steht der Reiher als ein Symbol für eine vom Feuer vernichtete Stadt.

Des weiteren befasst sich Rapp mit der Holzbrücke im Mittelgrund des Bildes. Sie ist schlicht, geländerlos und nimmt eine zentrale Stellung ein. Sie verbindet die Stadt und die Natur und stellt damit eine Verbindung zu Paris her. Dieser ist ein bei den Hirten lebender Königssohn.

Der Gegensatz Natur und Stadt findet sich analog bei ihm. Auch könnte man Paris stellvertretend für die Stadt, Oinone für die Natur sehen. Die Brücke wirkt nicht sehr stabil, was als ein weiterer Hinweis für die Schutzlosigkeit Trojas gesehen werden kann.[30]

Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Gewitter im Bild, da es zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei naturgetreu dargestellt wurde, und es das bevorstehende Unglück am deutlichsten verkündet. Zur Zeit Giorgiones galten Gewitter als unheimlich und rätselhaft, sie wurden als Zeichen göttlicher Macht gesehen. Nicht umsonst ist der Blitz das Attribut von Zeus, dem höchsten Gott der Griechen. Doch war das Gewitter im Mittelalter ein Vorbote für Katastrophen, so wie der Regenbogen ein Friedenszeichen war.

Als letztes wichtiges Detail erwähnt Rapp die beiden Säulenstümpfe auf der verfallenen Mauer inmitten von grüner Vegetation. Schon früh erkannte man in dem Gegensatz ein Zeichen von Vergänglichkeit. Seltsam ist jedoch, dass gleich zwei gebrochene Säulen dargestellt werden. Louis Horticq sieht darin den vorzeitigen Tod von zwei Liebenden, ohne die Geschichte von Oinone und Paris zu kennen. Da Oinone nach dem tragischen Tod von Paris Selbstmord begeht, ist Horticqs Deutung sehr treffend.

Auch liegt es nahe, den ganzen Komplex aus Mauer und Säulen als Grabstätte des unglücklichen Paares zu betrachten.[31]

4. Schlussbemerkung

Abschließend möchte ich bemerken, dass ich die jüngste Deutung von Jürgen Rapp am treffendsten finde. Die Geschichte ist optimal für das Bild geeignet. Selbst kleine Details, die bei anderen Deutungen unlogisch erscheinen, passen perfekt in die griechische Erzählung.

Doch auch wenn sich auf keine gemeinsame Deutung für das Bild verständigen kann, so ist Giorgione mit „La Tempesta“ trotzdem ein Meisterwerk gelungen, das ihn in den Kreis der Frühvollendeten (Raffaelo Santi, Wolfgang Amadeus Mozart, Novalis, Franz Schubert)[32] katapultiert. Nicht umsonst gehört er zu den angesehensten und bekanntesten Künstlern der Hochrenaissance.

Literaturverzeichnis:

1. Kindlers Malerei Lexikon, Bd. 4. Köln, 1971
2. Motzkin, Elhanan, Giorgione’s Tempesta, in: Gazette des Beaux-Arts, Nr.1498, 1993, S. 165 - 173
3. Rapp, Jürgen, Die Favola in Giorgiones Gewitter, in: Bruckmanns Pantheon – Internationale Jahreszeitschrift für Kunst, 1998, S. 44 - 69
4. Settis, Salvatore, Giorgiones Gewitter. Berlin 1982
5. Storck, Edzard, Symbolsprache in Giorgiones Gemälde La Tempesta. Bietigheim, 1983

[...]


[1] Rapp, Jürgen, Die Favola in Giorgiones Gewitter, in: Bruckmann Pantheon, 1998, S. 44/46

[2] Kindlers Malerei Lexikon, Bd. 4. Köln, 1971, S. 1483

[3] Rapp, 1998, S. 69

[4] Rapp, 1998, S. 45f

[5] Rapp, 1998, S. 63

[6] Settis, Salvatore, Giorgiones Gewitter. Berlin 1982, S. 132ff

[7] Settis, 1982, S. 136ff

[8] Settis, 1982, S. 142ff

[9] Settis, 1982, S. 146ff

[10] Storck, Edzard, Symbolsprache in Giorgiones Gemälde La Tempesta. Bietigheim 1983, S. 24ff

[11] Storck, 1983, S. 27f

[12] Storck, 1983, S. 31f

[13] Storck, 1983, S. 34ff

[14] Storck, 1983, S. 41ff

[15] Storck, 1983, S. 44

[16] Storck, 1983, S. 55f

[17] Storck, 1993, S. 73

[18] Storck, 1983, S. 87

[19] Storck, 1983, S. 64f

[20] Storck, 1983, S. 66-70

[21] Motzkin, Elhanan, Giorgione’s Tempesta in: Gazette des Beaux-Arts, 1993, S. 165f

[22] Motzkin, 1993, S. 168f

[23] Motzkin, 1993, S. 171

[24] Motzkin, 1993, S. 169ff

[25] Rapp, 1998, S. 51ff

[26] Rapp, 1998, S. 50f

[27] Rapp, 1998, S. 53f

[28] Rapp, 1998, S. 55

[29] Rapp, 1998, S. 54f

[30] Rapp, 1998, S. 56f

[31] Rapp, 1998, S. 58ff

[32] Storck, 1983, S. 24

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Giorgiones Tempesta
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Propädeutikum
Note
2+
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V107983
ISBN (eBook)
9783640061877
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Giorgiones, Tempesta, Propädeutikum
Arbeit zitieren
Nadja Henle (Autor:in), 2003, Giorgiones Tempesta, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107983

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