Das Thema Schuld in der dt. Nachkriegsliteratur


Facharbeit (Schule), 2003

22 Seiten


Leseprobe


A.Einleitung

„Wenn wir über das Vergangene berichten,

ist die Zukunft sicher;

wenn wir die Vergangenheit verleugnen,

ist die Zukunft in Gefahr:“1

Die intensive Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit ist für den Menschen von großer Bedeutung, da er durch diese sehr stark geprägt wird. Erinnerungen an besondere Ereignisse beschäftigen jeden Menschen sein ganzes Leben. Erinnerungen an Kriege bleiben noch stärker in den Köpfen aller Menschen verankert und erfordern auch eine besondere Umgangsweise. Während die direkt von den Kriegserlebnissen betroffene Generation noch stark berührt wird, verdrängen die nachfolgenden Generationen diese schrecklichen Geschehnisse. Die Warnungen, die diese für den Menschen bereithalten, werden ignoriert und über die Folgen der Kriege denkt niemand mehr nach. Doch um dem Menschen solche grausamen Erfahrungen zu ersparen, bedarf es einer kritischen Reflexion in allen Bereichen, um aus den Fehlern der älteren Generationen zu lernen. In Deutschland ist dies besonders nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs von großer Bedeutung, um sich von der Ideologie des Nationalsozialismus zu distanzieren und einem Neuanfang den Weg zu ebnen.

B. Hauptteil

I. Das Thema Schuld in der deutschen Nachkriegsliteratur

Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 kam für viele Autoren die „Stunde Null“. Durch den Zusammenbruch des Nationalsozialismus stand einem Neuanfang nichts mehr im Wege. Zeitweise forderte man sogar einen „Kahlschlag“2, durch welchen erst der wirkliche Neubeginn ermöglicht werden würde. Während also alle anderen versuchten, sich vom Krieg so gut es ging abzuwenden, beschäftigte sich die deutsche Nachkriegsliteratur eingehend mit dem Zweiten Weltkrieg.

Als eines der Leitthemen in der deutschen Nachkriegsliteratur kristallisiert sich die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands heraus. Zahlreiche Werke arbeiten die Erinnerungen und die damit verbundene Trauer während des Naziregimes auf. Oft wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Schuld an den Verbrechen dieser Zeit gestellt und wie man mit dieser historischen Last umgehen kann. Die Vielzahl der Bücher, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, zeugt von der Aktualität des Themas und vom Einfluss, den die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands immer noch auf die Bevölkerung ausübt. Auch heutige Generationen werden mit der Schuldfrage konfrontiert und die Deutschen stecken noch immer im Aufarbeitungsprozess, da sie von vielen anderen Völkern über ihre Geschichte definiert werden.

Die Literatur hat sich im Laufe der Zeit mit den verschiedensten Aspekten der Schuldfrage und der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt.

Direkt nach dem Krieg, Ende der 40er Jahre, gibt es zwei Grundeinstellungen, mit dieser Thematik umzugehen. Es erscheinen auf der einen Seite viele Romane, die Soldatentum und Krieg huldigen. Im scharfen Kontrast dazu stehen jedoch Werke von Überlebenden des Holocaust, die ihre Erlebnisse während des Nationalsozialismus schildern. Eine neue Gattung, die Kurzgeschichte, gibt den Autoren dieser Zeit die Möglichkeit, Probleme und Krisensituationen zu beschreiben, den Leser aber gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Viele dieser Werke beschäftigen sich mit dem Krieg und seinen Folgen und wollen somit den Menschen die Eindrücke und Gefühle dieser Zeit näherbringen. In den 50er und 60er Jahren verschwindet diese Thematik nahezu aus der Literatur, da der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder die Nation in eine neue Euphorie versetzen und somit kein Platz für die Schrecken vergangener Zeiten ist. „Auf zu neuen Ufern!“ heißt das Motto, für das die Vergangenheit völlig verdrängt wird. Um diesem Trend entgegenzuwirken erscheinen zahlreiche zeitkritische Romane, wie zum Beispiel Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“, die die neue Wohlstandsgesellschaft immer wieder an die kollektive und individuelle Schuld während der nationalsozialistischen Zeit erinnern. Zwischen 1960 und 1980 erscheint viel wissenschaftliche Literatur über die Ereignisse des Holocaust und somit kommen die Erinnerungen wieder zurück ins Bewusstsein, aber auch die „nachgeborenen Generationen“3 setzen sich jetzt mit der Schuld der Älteren auseinander. In sogenannten „Väterbiographien“ wird schonungslos mit dem Verhalten der Elterngeneration abgerechnet, egal ob diese als Täter oder Mitläufer an den Geschehnissen in der Vergangenheit beteiligt gewesen sind.

In der ehemaligen DDR wird das Thema Schuld wenig beachtet, da durch die sozialistischen Strukturen für die Autoren wenig Freiheit bleibt, sich kritisch mit den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie sind viel mehr zum Werkzeug der Machthaber geworden und angewiesen den „Aufbau des Sozialismus“ zu unterstützen.4

Doch im Osten Deutschlands hat es auch Ausnahmen gegeben, wie zum Beispiel Jurek Becker mit seinem Roman „Bronsteins Kinder“, der sich mit der Schuldfrage ebenso auseinandersetzt, wie Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, der im Westen Deutschlands entstanden ist.

II. Schuldfrage in „Der Vorleser“

„Ein Roman von bestechender Aufrichtigkeit. Was für ein Glück, dass dieses Buch geschrieben wurde!“ (Rainer Moritz / Die Weltwoche, Zürich)5

Mit diesen Worten wird der auf internationaler Ebene zum Bestseller avancierte Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink beschrieben.

1. Allgemeine Informationen zum Werk

a. Lebenslauf Bernhard Schlinks

Bernhard Schlink wird 1944 als Sohn eines Theologieprofessors in der Nähe von Heidelberg geboren. Nach dem Jurastudium promoviert er 1975 zum Dr. jur., anschließend unterrichtet er als Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Bonn. 1987 erscheint dann sein erster Roman „ Selbs Justiz“, den er zusammen mit Walter Popp herausgibt. Ein Jahr später veröffentlicht er den Roman „Die gordische Schleife“. Im gleichen Jahr wird er Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Seinen momentanen Arbeitsplatz hat er seit 1990 an der Humboldt-Universität Berlin als Professor für Staatsrecht und Öffentliches Recht. 1992 veröffentlicht er den Roman „Selbs Betrug“, drei Jahre später, 1995, erscheint sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk „Der Vorleser“. Schlinks Lebenslauf spiegelt sich in vielen Bereichen seiner Werke wieder, die sich vor allem mit Schuld und den daraus resultierenden Konsequenzen befassen.6

b. Inhalt

Schlinks Roman „Der Vorleser“ hat sehr schnell große Beliebtheit erlangt, vor allem bei Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe. Neben der Kürze und Leichtigkeit, mit der diese Lektüre zu lesen ist, trägt sicherlich auch die darin behandelte Thematik zu diesem Erfolg bei. Eine Liebe vor dem Hintergrund einer nationalsozialistischen Vergangenheit der Protagonistin und eine doch recht ungewöhnliche Beziehung wecken das Interesse der meist jüngeren Leser.

Der erste Teil des Romans (V. S. 5-81) handelt von dem fünfzehnjährigen Michael Berg, der durch Zufall die 21 Jahre ältere Hanna Schmitz kennenlernt. Er verliebt sich sofort in die reifere Frau und nach einiger Zeit wird er ihr Geliebter. Beide führen trotz des Altersunterschieds eine normale Beziehung. Die Liebe erfährt einen Bruch, als Hanna nach einem Jahr die Stadt und damit auch Michael verlässt. Sie hinterlässt keine Nachricht und niemand weiß, warum sie verschwunden ist. Der zweite Teil des Romans (V. S. 83-158) spielt dann im Jahr 1966 und Michael trifft als Jurastudent wieder auf Hanna, während er mit Kollegen einen NS-Prozess verfolgt. Hanna wird vom Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, weil sie sich als KZ-Aufseherin schuldig gemacht hat. Während der Verhandlung kommt es zu keiner persönlichen Begegnung der Beiden. Im dritten Teil (V. S. 159-207) wird beschrieben, wie Michael Kontakt zu Hanna aufnimmt. Er schickt ihr Kassetten, die mit Texten aus der „Odyssee“7 besprochen sind. Damit greift er auf einen Teil ihres alten Liebesrituals zurück, welches darin bestanden hat, Hanna vor dem Geschlechtsverkehr immer aus Büchern vorzulesen. Als Hanna zehn Jahre später vor ihrer Begnadigung und der anschließenden Entlassung steht, wird Michael gebeten, sie bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu unterstützen, da er der Einzige gewesen ist, der während der Inhaftierung Kontakt zu ihr hatte. Als er sie dann in die Freiheit begleiten will und kommt, um sie abzuholen, findet er sie erhängt in ihrer Zelle. Hanna hat Selbstmord begangen.

Eine besondere Tiefendimension gewinnt der Roman im Hinblick auf die Erörterung der Schuldfrage, vor allem aufgrund der Tatsache, dass Hanna Schmitz Analphabetin ist. Dies wird Michael aber erst während der Verhandlung bewusst, da Hanna eine Handschrift als die Ihrige ausgibt. Durch dieses Geständnis trägt sie zu ihrer Verurteilung bei, anstatt alle Mittel der Verteidigung auszunutzen. Dies tut sie nur, da sie sich schämt, ihr so gut gehütetes Geheimnis zu offenbaren. Doch auch Michaels Verhalten ist nicht unproblematisch. Er hätte durch eine Aussage zwar den Makel Hannas aufgedeckt, hätte ihr aber gleichzeitig zu einer milderen Bestrafung durch das Gericht verholfen, da Hanna nicht in vollem Umfang für die Taten und deren Folgen verantwortlich gewesen wäre.

c. Form und Sprache

Der doch recht komplexe und schwierige Stoff soll dem Leser durch seine „einfühlsame und transparente Sprache“8 näher gebracht werden. Einige Literaturkritiker sehen jedoch in der „Simplizität des Stils“9 einen „Köder für den Leser“. Doch genau diese Einfachheit und die klare Strukturierung des Romans „bergen ein kaum erträgliches Maßan Erschütterung in sich“10, da sich der Leser nicht durch komplexe Nebensätze und Metaphern „quälen“ muss. Durch den einfachen, schlichten Stil wird die emotionale Wirkung auf den Leser noch verstärkt. Die präzise und suggestive Beschreibung der Begebenheiten wecken beim Leser das Interesse und somit lässt sich auch die große Beliebtheit des Romans erklären. Die sprachliche Schlichtheit, die der Leser zunächst sehr schätzt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als „exakt kalkuliert und zeugt von hoher erzählerischer Intensität“11 Eine besondere Bedeutung kommt in Schlinks Roman den Kapitelanfängen zu. Sie sollen dem Leser von Anfang an einen gewissen Überblick geben, was im nächsten Abschnitt passieren wird. Würde man die Kapitelanfänge aneinanderreihen, käme es zu einer kurzen Zusammenfassung der Handlung. „Dann habe ich begonnen, sie zu verraten.“ (V. S. 72), „Am nächsten Tag war sie weg.“ (V. S. 79), „Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.“ (V. S. 86), (...), „Am nächsten Morgen war Hanna tot.“ (V. S. 192) Durch diese kurzen Einleitungen entsteht beim Leser ein „ästhetischer Reiz“12, der die Gegensätzlichkeit von karger sprachlicher Gestaltung und sehr hoher innerer Bedeutung des Inhalts verdeutlicht.

Somit wird der Leser zur Reflexion über das Geschehen angeregt und er kann sich zum Beispiel eigenständig ein Bild über die im nun folgenden Teil erörterte Schuldfrage machen.

2. Hannas Schuld

Hanna Schmitz’ Schuld besteht darin, dass sie als Aufseherin im Konzentrationslager Krakau „Selektionen“ (V. S. 102) durchgeführt hat. Dabei sind von ihr und vier weiteren Angeklagten monatlich die schwächsten und nicht mehr arbeitsfähigen Frauen aussortiert und zur Vernichtung nach Auschwitz gebracht worden. Dies ist nötig gewesen, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Des weiteren wird ihnen vorgeworfen, für den Tod von mehreren hundert Frauen verantwortlich zu sein, die während eines Bombenangriffs in einer Kirche ums Leben gekommen sind. Die Aufseherinnen sind auf einem sogenannten „Todesmarsch“ auf der Flucht vor den Alliierten gewesen, und dabei ist es zu dem Unglück gekommen. Um den Gefangenen die Flucht nicht zu ermöglichen, sind sie eingeschlossen worden und haben somit keine Möglichkeit gehabt, aus der brennenden Kirche zu fliehen.

a. Mögliche Gründe für Hannas Schuld

Durch ihren Analphabetismus kündigt Hanna ihre Arbeitsstelle bei Siemens, obwohl sie kurz vor ihrer Beförderung gestanden ist. Sie hat Angst, Verwaltungsaufgaben erledigen zu müssen, denn dabei würde sie Gefahr laufen, ihre bisher geheimgehaltene Schwäche zu offenbaren. Also entschließt sie sich, bei der SS als Aufseherin zu arbeiten. (Vgl. V. S. 40) Diese neue Aufgabe scheint ihren Charaktereigenschaften sehr entgegenzu­kommen, da sie von Michael schon zu Beginn seiner Erzählung als sehr bestimmend beschrieben wird. Sie legt großen Wert auf eine strikte und korrekte „Arbeits- und Pflichterfüllung“ (Vgl. V. S. 56). Deshalb verurteilt sie auch das sorglose Leben des Taugenichts13, von dem ihr Michael gelegentlich hat vorlesen müssen. Ihre „besitzergreifende Gründlichkeit“ und die bestimmende „Selbstverständlichkeit“ (Vgl. V. S. 33), mit der sie Michael immer entgegengetreten ist, lässt darauf schließen, wie sie ihre Arbeit in den Konzentrationslagern erfüllt hat. Mit diesen Voraussetzungen ist sie wie geschaffen, sich in der Befehlshierarchie des Naziregimes einzufügen und die Aufträge pflichtbewusst zu erledigen. So fasst Hanna ihr Handeln selbst unter den Schlüsselbegriffen „Ordnung“ und „Verantwortung“ zusammen. Aus heutiger Sicht spiegelt sich in ihr das typische Täterprofil dieser Zeit wieder. „Lauter pflichtbewusste Leute“ lautet der Titel eines Buchs von Ulrich Renz, das sich mit „Szenen aus NS-Prozessen“ beschäftigt14. Dieser Titel verdeutlicht, wie sich die Menschen in dieser Zeit verhalten haben und welche Beweggründe sie zu solch grausamen Taten veranlasst haben. Das oberste Ziel dieser Zeit ist die „ordnungsgemäße Pflichterfüllung gewesen, um nicht aufzufallen und Unannehmlichkeiten zu vermeiden“15. Mit dieser Einstellung handelt auch Hanna und nimmt damit den Tod von unzähligen unschuldigen Menschen hin, nur um ihren Auftrag erledigt zu haben. Sie sieht in den Opfern nur den Preis, der für eine bestimmte Ordnung bezahlt werden muss.

b. Hannas Umgang mit ihrer Schuld

Doch obwohl Hanna sehr kühl und reserviert erscheint, wird sie immer wieder von Erinnerungen an ihre Vergangenheit gequält. So zum Beispiel als sie mit Michael zusammen ist und er ihr aus Tolstois „Krieg und Frieden“ vorliest. Sie reagiert auf die darin behandelte Kriegsthematik scheu und zurückhaltend und als Michael sie kurz darauf in einem „liebevollen Metaphernspiel“16 mit einen Pferd vergleicht, schreckt sie erschüttert hoch. (Vgl. V. S. 69) Er versteht diese Reaktion nicht und versucht deshalb Hanna wieder zu besänftigen. Den Grund für dieses Verhalten verschweigt sie ihm beharrlich. Er weißnicht, dass die Bezeichnung „Pferd“ in Hanna Erinnerungen an eine KZ-Aufseherin weckt, die „Stute von Maidanek“17 genannt wurde. In ihr kommen Ängste hoch, ihr Geheimnis könne irgendwann doch aufgedeckt werden. Um ihren Analphabetismus und vor allem ihre Nazivergangenheit noch besser zu vertuschen, schottet sie sich weitgehend von ihrem Umfeld ab. Selbst Michael erfährt erst in den Verhandlungen, wer Hanna wirklich ist, denn während ihrer Beziehung hat sie ihn mit „ungenauen Informationen abgespeist“ (V. S. 40) und es ist ihm lediglich gelungen, den Platz zu bekommen, den sie ihm geben wollte (Vgl. V. S. 75). Doch jetzt beginnt er allmählich Teile ihres Verhaltens zu verstehen, da er weiß, warum sie so gehandelt hat.

c. Folgen dieser Umgangsweise

Im Verlauf des Prozesses wird Hanna direkt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und sie muss sich die verdrängten Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Bereits bei der Verlesung der Anklageschrift bezieht Hanna Stellung zu den Vorwürfen, „sie widerspricht, wo sie meint ihr geschehe Unrecht. Was ihr aus ihrer Sicht zu Recht vorgeworfen wird, gibt sie zu.“18 Bei der anschließenden Befragung durch den Richter schildert sie sachlich und ohne Gefühlsregungen, wie die Selektionen durchgeführt worden sind und gesteht somit ihre Schuld am Tod von vielen unschuldigen Menschen ein. Hanna ist bewusst, dass sie, juristisch gesehen, ein schweres Verbrechen begangen hat, doch sie ist nicht in der Lage diese Schuld auch auf moralischer Ebene anzusehen. Sie gibt dem Gericht zu verstehen, dass sie ihr damaliges Handeln nicht in Worte fassen kann19. Für sie war ihr Verhalten nichts Verwerfliches, sie war lediglich bemüht, in den Wirren des Bombenangriffs die Übersicht zu behalten, um ein Entkommen der Gefangenen zu verhindern. Für Hanna war es reine Pflichterfüllung. Als der Richter sie fragt, ob sie sich der daraus resultierenden Folgen bewusst gewesen ist, provoziert sie ihn durch die Gegenfrage, was er an ihrer Stelle getan hätte. (Vgl. V. S. 107) Dadurch bringt sie das gesamte Gericht gegen sich auf und mindert somit die Chancen auf eine mildere Bestrafung drastisch. In den Augen der Richter ist Hanna eine „brutale und berechnende“ Kriegsverbrecherin, die ihre Schuld nicht zugeben will. Hanna kämpft jedoch darum, von der Justiz verstanden zu werden, da sie in dieser Zeit einfach keine andere Handlungsmöglichkeit hatte. Doch gleichzeitig übernimmt sie die Verantwortung für Taten, an denen sie nicht beteiligt gewesen ist, nur um ihren Makel des Analphabetismus weiterhin geheimhalten zu können. Sie gesteht, den Bericht, der in den SS-Akten gefunden worden ist, der die Ereignisse dieser Brandnacht schildert, im Nachhinein verfasst zu haben, um zu vertuschen, dass sie allein am Tod der vielen Frauen schuld ist. Dies tut sie aber nur, um einer Schriftanalyse durch das Gericht zu entgehen, obwohl sie weiß, nie in der Lage gewesen zu sein, dieses Schriftstück zu verfassen. Durch dieses Geständnis entlastet sie die vier Mitangeklagten und ermöglicht ihnen somit, den Kopf aus der Schlinge der Justiz zu ziehen. Hanna selbst drängt sich durch dieses Verhalten aber immer mehr in die Rolle der Hauptschuldigen und nimmt eine härtere Strafe billigend in Kauf. Hanna entspricht somit nicht dem Bild einer typischen Angeklagten, die von Anfang alles bestreitet, umdeutet oder andere beschuldigt, um dann bei der Verurteilung den „Märtyrer der Gewalt“20 zu spielen. Sie kämpft vielmehr um „ihre Gerechtigkeit und ihre Wahrheit“ (V. S. 128) und schildert die Ereignisse so, wie sie es für richtig hält, egal ob sie damit Menschen gegen sich aufbringt oder nicht. „Sie akzeptiert, dass sie zur Verantwortung gezogen wird, will aber eine Bloßstellung verhindern.“ (V. S. 128) Große Bedeutung schenkt sie der Verurteilung aber nicht, da sie sich moralisch nicht schuldig fühlt. Sie fühlt sich vielmehr „verletzt, verloren und unendlich müde“ (Vgl. V. S. 157), da in ihren Augen die an sie gerichteten Vorwürfe „boshafte Unterstellungen“ ihrer Mitmenschen sind.21 Sie kann das Ausmaßund die Grausamkeit ihrer Taten nicht fassen und ist somit nicht in der Lage ihre moralische Schuld zu erkennen oder Reue zu zeigen.

d. Auswirkungen des Analphabetismus

Die fehlende Fähigkeit, über ihre Vergangenheit zu reflektieren, liegt wahrscheinlich in ihrem Analphabetismus. Die damit verbundene fehlende Bildung ermöglicht ihr keine Auseinandersetzung mit moralischen Problemen, da ihr die nötigen gedanklichen Strukturen fehlen.22 Somit kann sie die Konsequenzen ihrer Taten nicht richtig einordnen, da sie nach ihren Maßstäben korrekt gehandelt hat. Für sie haben die Ereignisse während des Dritten Reichs reine Pflichterfüllung bedeutet. Das Unrecht, das den unzähligen Opfern zugefügt wurde, wird ihr nicht bewusst. Auch im Vorfeld des Prozesses wirkt sich der Analphabetismus negativ für Hanna aus. Sie reagiert nicht auf die schriftlichen Vorladungen, was dazu führt, dass sie inhaftiert wird. (Vgl. V. S. 94) Damit hat sie sich die Chance auf eine faire Verhandlung bereits zerstört. Bei den Ermittlungen unterzeichnet sie zudem Protokolle, deren Inhalt sie nicht kennt (Vgl. V. S. 104) und belastet sich dadurch schwer. Diese unglücklichen Umstände führen vor Gericht dazu, dass die Mitangeklagten diese Fehler Hannas zu ihrem Vorteil ausnutzen, um damit einer harten Bestrafung zu entgehen. Obwohl Hanna weiß, dass ihr dadurch zu Unrecht eine härtere Strafe droht, übernimmt sie die Verantwortung für alle Taten, derer sie beschuldigt wird, nur um eine Bloßstellung zu vermeiden.

e. Schuldbewältigung Hannas

Während ihrer Inhaftierung hat Hanna den Entschluss gefasst, den Makel des Analphabetismus zu beseitigen und sie lernt schließlich Lesen und Schreiben. Anfänglich kommt sie durch die, von Michael besprochenen Kassetten wieder in Berührung mit erzählender Literatur. Im Laufe der Zeit befasst sie sich dann vermehrt mit wissenschaftlicher Literatur, die die Ereignisse des Dritten Reichs aufarbeitet und tiefe Einblicke in das Leid der damaligen Generationen gibt. Durch diese Schilderungen wird Hanna allmählich bewusst, was sie, als Mitglied im Machtapparat der Nationalsozialisten, den Menschen angetan hat. Dadurch wird ihr klar, dass sie sich nicht nur juristisch gesehen schuldig gemacht hat, sondern auch auf moralischer Ebene große Fehler begangen hat. Im Bewusstsein, große Schuld auf sich geladen zu haben, zieht sich Hanna immer weiter in die Isolation zurück und „selbst in einem Kloster wäre es ihr zu geschwätzig“. (Vgl. V. S. 196 ) Der Rückzug in die Einsamkeit und die damit verbundene Verwahrlosung führen schließlich dazu, dass sich Hanna am Abend vor ihrer Freilassung das Leben nimmt. Für sie ist der Selbstmord ein Zeichen ihres Schuldeingeständnisses und er soll als Sühne für ihre Taten dienen. Aus diesem Grund entschließt sich Michael, den Weg Hannas zu Ende zu gehen und spendet ihren Nachlass der Stiftung „Jewish League Against Illiteracy“ (Vgl. V. S. 206), einer jüdischen Institution, die sich um Analphabeten kümmert.

3. Michaels Schuld

Doch auch Michaels Verhalten ist nicht ganz unproblematisch, obwohl sich seine Schuld rein auf moralischer Ebene anzusiedeln ist. Dennoch wird er sein ganzen Leben von Schuldgefühlen gegenüber Hanna gequält.

a. „Verrat“ vor den Freunden

Im Laufe der Beziehung zu Hanna gerät Michael immer mehr in den Konflikt, sich zwischen seinen Freunden und seiner Geliebten entscheiden zu müssen, da er, seiner Meinung nach, beide Parteien nicht miteinander vereinen kann. Als er sich an einem Nachmittag mit seinen Schulkameraden im Schwimmbad verabredet hat, taucht Hanna ganz unvermittelt „zwanzig bis dreißig Meter entfernt“ (V. S. 78) auf. Er ist über ihr Erscheinen sehr erstaunt und beachtet sie kaum, obwohl sie zu ihm herüberblickt. Kurz darauf ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Als er sie am nächsten Tag besuchen will, um alles zu erklären, ist Hanna verschwunden. Von diesem Tag an wird Michael das Gefühl nicht los, an Hannas Verschwinden schuld zu sein, da er sie nicht beachtet und somit verraten hat. Diese Schuldgefühle werden immer stärker und nehmen fast traumatisierende Ausmaße an. Da Michael mit diesen Ereignissen nicht zurecht kommt, baut er schnell Abwehrmechanismen auf. Sein „großspuriges, überlegenes Gehabe“ (V. S. 84) verhindert, dass er erneut von zu vielen Emotionen berührt wird. In Hannas Verschwinden sieht er die gerechte Strafe für seinen Verrat. (Vgl. V. S. 80)

b. Schweigen vor Gericht

Als er Hanna Jahre später bei den NS-Prozessen wieder begegnet, nehmen seine Schuldgefühle neue Dimensionen an. Die Erinnerungen an seine Beziehung zu Hanna, die daraus resultierenden Konsequenzen und die Erkenntnis eine Verbrecherin geliebt zu haben, steigern die Selbstvorwürfe in immer größere Dimensionen. In seinen Augen hat er sich durch die Liebe zu Hanna selbst schuldig gemacht, denn würde er mit „auftrumpfender Selbstgerechtigkeit“ (V. S. 162) auf sie als Täter zeigt, würde dieser Fingerzeig auf ihn zurückweisen. (Vgl. V. S. 162) Im Verlauf der Verhandlung kommt er aber in einen noch größeren Gewissenskonflikt. Als der Richter Hanna mit seinen Vorwürfen immer mehr in die Enge treibt, gesteht sie schließlich, den Bericht im Nachhinein so manipuliert zu haben, dass die anderen Angeklagten mitschuldig erscheinen. Aufgrund dieser Begebenheit wird Michael allmählich bewusst, aus welchen Gründen Hanna dies alles zugibt. Er kommt bei einem Spaziergang durch den Wald hinter Hannas Geheimnis, nicht lesen und schreiben zu können. Dadurch verändert sich seine Einstellung zu Hannas Schuld grundlegend. Nachdem nur er allein von dieser Schwäche weiß, liegt es an ihm, das Gericht darüber zu informieren. Doch aufgrund der immer noch bestehenden Schuldgefühle ist er nicht fähig, sich zu Hanna zu bekennen und ihre Interessen zu vertreten.23 Das Treffen mit dem vorsitzenden Richter zerläuft in einem „Geplauder über Studien- und Berufsfragen“24, obwohl er eigentlich mit dem Vorhaben, Hannas Makel zu offenbaren, diese Zusammenkunft arrangiert hat. Sein Schweigen führt dazu, dass Hanna zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird. Hätte er sein Wissen jedoch preisgegeben, wäre es vielleicht zu einer milderen Bestrafung gekommen.

Die bisherigen Erfahrungen haben auch Michaels weiteres Leben geprägt. Er befasst sich auch beruflich weiterhin mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und spezialisiert sich aus diesem Grund auf das Recht im Dritten Reich. Auf diesem Gebiet erlangt er schließlich sogar wissenschaftliches Ansehen.25 Trotzdem belasten ihn noch immer Schuldgefühle und vor allem quält ihn, eine Naziverbrecherin geliebt zu haben.

c. Michaels Vergangenheitsbewältigung

Michael versucht deshalb seine Vergangenheit noch einmal bewusst aufzuarbeiten. Aus diesem Grund nimmt er wieder Kontakt zu Hanna auf und schickt ihr besprochene Tonbänder. Somit kann er aus einer gewissen Distanz mit ihr kommunizieren, ohne dass wieder eine tiefere Bindung entsteht. Als er ihr später eigene literarische Texte schickt, gibt er auch Hanna die Möglichkeit, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und das Ausmaßihrer Taten zu begreifen. Nachdem er von ihrer Begnadigung erfahren hat, hilft er mit, sie auf die Resozialisierung vorzubereiten, vermeidet aber lange, direkten Kontakt aufzunehmen. Erst nach ihrem Selbstmord gelingt es ihm, seine Vergangenheit zu akzeptieren und über die Beziehung zu Hanna zu reden.

Die Niederschrift des Romans sieht Michael als Friedensschluss mit seiner Vergangenheit, da er es geschafft hat, nach Jahrzehnten des inneren Konflikts sein Leben so hinzunehmen, wie es geschehen ist. Die tiefen Wunden, die er in dieser Zeit erlitten hat und die damit verbundenen Erinnerungen werden ihn sein ganzes Leben begleiten, auch wenn er gelernt hat, dass er nicht für das Scheitern anderer verantwortlich ist.

III. Schuldfrage in „Bronsteins Kinder“

1. Allgemeine Informationen zum Werk

a. Lebenslauf Jurek Beckers

Jurek Becker wird 1937 als Sohn jüdischer Eltern in Lodz geboren. Seine ersten Lebensjahre verbringt er in einem Getto in Lodz, bevor er dann 1947 mit seinem Vater nach Ostberlin zieht. Nach Abitur und Militärdienst studiert er Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, die er jedoch aus politischen Gründen 1960 verlassen muss. 1962 beginnt er Skripte für Film und Fernsehen zu schreiben. Sieben Jahre später erscheint sein erster und bekanntester Roman, „Jakob der Lügner“, der 1974 in der DDR verfilmt wird. In den Jahren 1973 und 1976 veröffentlicht er zwei weitere Romane, „Irreführungen der Behörden“ und „Der Boxer“. 1975 wird er als Vorstand des Schriftstellerverbandes mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Nach dem „Fall Biermann“ im Jahr 1976 wird Becker aus der SED ausgeschlossen und lebt seit Ende 1977 mit Genehmigung der DDR-Behörden in West-Berlin. In den folgenden Jahren erscheinen Werke, die sich mit dem Fall Biermann und den Ausweisungen anderer Schriftsteller befassen. 1986 veröffentlicht er den Roman „Bronsteins Kinder“, der sich wie sein letztes Werk „Amanda herzlos“ mit dem Thema Judentum und den damit verbundenen Ereignissen während des Holocaust beschäftigt. Sein Debütroman „Jakob der Lügner“ und seine beiden letzten Werke weisen stark autobiographische Elemente auf. Sie handeln meist in Ost-Berlin und befassen sich mit zwei Themenkomplexen, die auch Beckers Leben bestimmten: Das Problem der jüdischen Herkunft und die damit verbundenen Ereignisse im Dritten Reich, sowie der Umgang mit der Vergangenheit nach Kriegsende. Im März 1997 erliegt Jurek Becker einem Krebsleiden.26

b. Inhalt

Jurek Beckers Roman „Bronsteins Kinder“ ist eines seiner bekanntesten Werke und verdeutlicht sehr anschaulich die Probleme der Juden, während des Holocaust und der Zeit danach. Dieses Werk erhält einen besonderen Stellenwert, da es dem Leser genaue Einblicke in die damaligen Strukturen bietet und gleichzeitig zum Nachdenken anregt, ob es nicht noch immer antisemitische Ansätze in der Gesellschaft gibt und sich das Rad von Gewalt und Gegengewalt unaufhaltsam weiterdreht.

Der vorliegende Roman hat einige Merkmale eines Entwicklungsromans, denn er erzählt die Geschichte des jungen Hans Bronstein, der während seiner Abiturprüfungen mit ansehen muss, wie sein Vater durch die Entführung eines ehemaligen KZ-Aufsehers immer tiefer in eine ausweglose Situation sinkt. Der Vater, der, wie die beiden anderen Entführer Jude ist und das Konzentrationslager überlebt hat, bringt sich mit dieser Tat in einen schweren Gewissenskonflikt. Auf der einen Seite will er den ehemaligen Peiniger bestrafen, auf der anderen Seite vernachlässigt er seine Vaterpflichten. Von seinem Sohn bekommt er zusätzlich vorgehalten, er würde die Täter-Opfer-Rolle umkehren und sich so auf das Niveau der Nationalsozialisten begeben. Die drei Entführer Arno Bronstein, Kwart und Rotstein halten ihr Opfer im Wochenendhaus der Bronsteins am Rande Ostberlins gefangen, obwohl sie keine direkte Beziehung zu dem ehemaligen Aufseher Heppner hatten - er ist nie in ihrem Konzentrationslager tätig gewesen. Lediglich ein zufälliges Zusammentreffen in einer Kneipe hat dazu geführt, dass sie Heppner unter einem Vorwand in sein Gefängnis gelockt wurde. Für Hans ist das Haus ein Liebesnest, in dem er ungestört mit seiner Freundin Martha sein kann. Bei einem neuerlichen Besuch des Hauses überrascht er die drei Entführer bei den Misshandlungen des Gefangenen. Er zeigt wenig für die Machenschaften seines Vaters, kann sich aber nicht zur Befreiung des Opfers durchringen, obwohl er mit seinem Nachschlüssel die Möglichkeit hätte, unbemerkt ins Haus zu gelangen. Nach einigen halbherzigen Befreiungsversuchen macht er sich dennoch mit zwei Feilen auf den Weg zum Haus, um den tablettenabhängigen Heppner doch zu befreien. Dort angekommen findet der „Zögerer“ (B. S. 295) seinen Vater tot neben Heppner liegen. Der Gefangene kann sich nach seiner Freilassung durch Hans nach Westdeutschland absetzen.

c. Form und Sprache

Ein „schnoddrig-emotionsarmer“27 Ton kennzeichnet den Erzählbericht in „Bronsteins Kinder“. Der nüchterne Einführungssatz, „Vor einem Jahr kam Vater auf die denkbar schwerste Weise zu schaden, er starb.“ (B. S. 7) nimmt den Ausgang des Geschehens schon vorweg und lenkt das Interesse des Lesers auf die Umstände, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Nicht die Folgen der Entführung stehen im Vordergrund, sondern die Beweggründe, die dazu geführt haben. Gleichzeitig werden das gespannte Verhältnis zwischen Vater und Sohn angedeutet, sowie die Selbstvorwürfe des Sohnes, schuld am Tod des Vaters zu sein. Zunächst spricht Hans wertfrei von einem „Ereignis“ (B. S. 5), später dann erst von einem „Unglück“ (ebd.). Die Andeutung, „ich habe es kommen sehen“ (ebd.) deuten an, dass auch Hans an der Entwicklung dieses Geschehens mit beteiligt ist, da er die Möglichkeit gehabt hätte, den Ausgang zu beeinflussen.

Die „expositorische Struktur“28 des ersten Kapitels dient dazu, dem Leser die nötigen Informationen mitzugeben, um sein Hauptaugenmerk auf das Wesentliche des Romans, den Entwicklungsprozess, zu lenken.

Die zwei ineinander verschränkten Zeitebenen schildern den Tod des Vaters aus verschiedenen Perspektiven. Der Ich-Erzähler berichtet in Rückblenden über die Ereignisse, die zum Tod des Vaters geführt haben und setzt sie in Beziehung zu seiner Gegenwart. Während das „erlebende Ich“ die Vorgänge bis zum Ableben des Vaters miterlebt, kommentiert das „erzählende Ich“ „kritisch und ironisch das eigene damalige Verhalten aus der Distanz des Trauerjahres“29. Der Nachteil dieser subjektiven Erzählweise liegt darin, dass sich der Leser auf die Schilderungen des Erzählers verlassen muss und somit sein Blickwinkel verengt wird. Doch immer wieder wird dem Rezipienten bewusst, dass man Hans nicht zu „blauäugig“30 folgen soll. Vor allem Elles kritische Briefe relativieren Hans‘ Einschätzungen.

Eine Besonderheit des Romans stellt die, mit einer Novelle vergleichbare Struktur dar. Becker beschreibt ein zentrales Thema, eine „sich ereignete, unerhörte Begebenheit“31, die in einer Binnenhandlung erklärt wird. Die Rahmenhandlung stellt den Bezug zur Gegenwart des Erzähler her, der vom Tod seines Vaters und den Umständen, die dazu geführt haben, berichtet. Im Gegensatz zum Novellenschema wird die Handlung nicht auf das Ereignis beschränkt, sondern auch die Hintergründe werden erläutert, es bleibt aber immer ein Bezug zum Ausgang des Geschehens bestehen.

Diese Methode des Schreibens wird in der Literaturkritik oftmals auf die jiddischen Erzählformen zurückgeführt. Becker wehrt sich aber strikt gegen diese Deutungen, da er sich von den jüdischen Traditionen distanziert und nicht von ihnen beeinflusst wird. Dennoch hält er unbewusste Einflüsse für möglich.32

2. Arnos Schuld

Den Hintergrund für die Entführung Heppners bildet seine Vergangenheit als KZ-Aufseher im Lager Neuengamme. Die drei Entführer sind in einem anderen Lager inhaftiert gewesen und mussten somit unter den Schikanen ihrer Aufseher leiden. Sie sehen in Heppner einen Mitstreiter der Nationalsozialisten und wollen ihn dafür bestrafen.

a. Heppners Vergangenheit als KZ-Aufseher

Heppner kann die Vorwürfe der ehemaligen Opfer nicht verstehen, da er sich nach damaligem Recht nicht schuldig gemacht hat. (Vgl. B. S. 25) Er hat nur seine Pflicht erfüllt, wie viele Andere auch. Heppner hält sich für einen Mitläufer, ein „Nichts“ (B. S. 103), das sich dem Ausmaßseiner Taten nicht bewusst zu sein scheint. Seine Unschuldsbeteuerungen beeindrucken aber weder die drei ehemaligen Opfer, die mit der Vergangenheit noch nicht abschließen können, noch Hans, der durch Zufall zum Mitwisser wird. Der Vater und seine zwei Komplizen sehen in der Folter eine gerechte Bestrafung Heppners. Hans ist nicht einmal in der Lage für den „alten, nach Scheiße stinkenden Mann“33 Hass zu empfinden. Bei ihm macht sich nur Ekel und Ablehnung, dem Opfer und seiner Vergangenheit gegenüber, breit. Heppner kann nach dem Tod Arnos und seiner anschließenden Befreiung mit einer Reisegruppe nach Westdeutschland fliehen, um sich dort abzusetzen. Aufgrund seiner Anonymität braucht er im Westen keine juristische Verfolgung befürchten, da niemand seine wahre Identität als Naziverbrecher kennt. Somit hat er die Möglichkeit, seine Erfahrungen während des Dritten Reichs und der Folter im Waldhaus zu verdrängen und nach Außen ein unbeschwertes Leben zu führen.

b. Vergangenheit der drei Entführer

Der Auslöser für die Entführung - die Gefangenschaft in einem Konzentrationslager - liegt schon über dreißig Jahre zurück, als Bronstein, Kwart und Rotstein den ehemaligen KZ-Aufseher Arnold Heppner in einer Kneipe kennenlernen und ihn kurz darauf in Bronsteins Waldhaus locken. Dort soll er gefoltert werden, um von ihm ein Geständnis in Bezug auf seine Nazivergangenheit zu erpressen. Anschließend soll er vor Gericht gebracht werden, um für seine Verbrechen die gerechte Strafe zu erhalten. Die gemeinsame Lagererfahrung hat die drei alten Männer so zusammengeschweißt, dass sie jetzt auch dieses Vorhaben gemeinsam durchführen wollen.

Den Kopf des Trios bildet Arno Bronstein, der das Waldhaus zur Verfügung stellt und auch während der Verhöre der Wortführer ist. Seine Brutalität gegenüber Heppner kennt kaum Grenzen und er ist es, der den ehemaligen KZ-Aufseher am meisten misshandelt und quält. Sein krimineller Sachverstand, den er schon beim Schmuggel von Westgütern unter Beweis gestellt hat, gibt ihm die nötige Abgeklärtheit, das Vorhaben unbemerkt von seiner Umwelt durchzuführen. Niemand vermutet hinter einem gut angepassten deutschen Lebensstil ein solches Gewaltpotential. Während Rotstein nur eine „blasse Nebenfigur“34 ist und damit kaum eine Rolle in den Verhören spielt, steht Gordon Kwart Arno Bronstein in nichts nach. Auch er kann, versteckt hinter einer gutbürgerlichen Fassade, seinem Hass gegenüber dem KZ-Aufseher freien Lauf lassen. Er ist abgeklärt, berechnend und durch seine rhetorischen Fähigkeiten kann er jede mögliche Schwäche kaschieren. Als Hans „einen Keil zwischen die Entführer treiben will“ (B. S. 134) gelingt es Kwart, durch seine geschickte Gesprächsführung das Vorhaben scheitern zu lassen. Beim gemeinsamen Abendessen mit Arno und Hans kann er den Sohn schließlich sogar als Zeugen unschädlich machen.35

Arno und die beiden anderen Entführer schaffen es, sich komplett von ihrer Umwelt zu distanzieren und keinen in ihren Plan miteinzubeziehen. Die Möglichkeit, sich in ihrer eigenen Sprache, Jiddisch, zu unterhalten, grenzt Hans komplett aus, da er nicht verstehen kann, was sie über die Zeit im Lager und dort erlittenen Demütigungen erzählen. Doch das Trio ist prinzipiell der Meinung, dass niemand sie verstehen kann, da „niemand mit ihnen im Lager gewesen ist“. (Vgl. B. S. 189) Dadurch ist eine argumentative Diskussion zwischen den beiden Generationen von Anfang an ausgeschlossen.

c. Umkehrung der Täter-Opfer Beziehung

Über dreißig Jahre konnten die Opfer des Naziregimes ihren Hass und ihre Verachtung gegenüber dem deutschen Volk verbergen, doch jetzt kennen Aggressivität und Mit­leidlosigkeit keine Grenzen mehr.36 Die scheinbare Toleranz gegenüber den deutschen Juden ist in den Augen der drei Entführer lediglich von den Siegermächten aufgezwun­gen, das „deutsche Gesindel“ (B. S. 80) sei jedoch in Wirklichkeit nicht „vertrauens­würdig“37. Durch den persönlichen Racheakt soll nun zumindest ein Verbrecher für seine Taten büßen. In einer „Art Partisanenaktion“38 verschleppen die drei alten Männer den ehemaligen KZ-Aufseher Heppner in das Waldhaus. Arno Bronstein ist bei den Verhören der „Folterknecht“39, der die Legitimation für seine Selbstjustiz in seinen Lei­den während des Dritten Reichs sieht. Für ihn und seine zwei Mitstreiter ist die Entfüh­rung lediglich ein „Vergeltungsakt zur Wiederherstellung des Rechts“40. Dass sie sich dabei auf die gleiche Stufe mit den Nationalsozialisten stellen und ihnen in ihrer „Brutalität und Schäbigkeit“41 in nichts nachstehen, wird ihnen jedoch nicht bewusst. Die Erlebnisse des Holocaust haben die drei alten Männer so stark geprägt, dass sie diese bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht haben verarbeiten können. Eine „offene Rechnung“42, die bis heute noch nicht an Wert verloren hat, soll durch die Entführung beglichen werden, um mit der eigenen Vergangenheit abschließen zu können. Die von Mitleidlosigkeit und unnachgiebiger Härte geprägte Folter Heppners verdeutlicht, wie sehr die Männer von der Zeit im Konzentrationslager beeinflusst worden sind. Die Angst, ihr Racheakt könnte misslingen, führt dazu, dass sie immer brutaler mit ihrem Opfer umgehen. Die vollkommene Auslieferung gegenüber seinem Peiniger soll in Heppner die gleichen Gefühle hervorrufen, die die ehemaligen Opfer empfunden haben. Die Demütigungen und die Isolation, die den Menschen für immer an den Rand der Gesellschaft drängen, stehen symbolisch für die Deformation dieser Opfer.43 Die drei Entführer können die Umkehrung der Täter-Opfer Beziehung in dem Bewusstsein durchführen, keine juristische Verfolgung fürchten zu müssen. Denn hätte Heppner bei der Polizei wegen seiner Folter Anzeige erstattet, hätte er sich selbst ebenfalls wegen seinen Kriegsverbrechen belastet. Außerdem werden die Naziverbrecher in der ehemaligen DDR als „Ungeheuer“, die man „zerstückeln“ soll (B. S. 95) so verachtet, dass die Justiz die Legitimation zur Selbstjustiz schon fast selbst erteilt.

Dieses Verhalten der drei Entführer, die Peiniger mit ihren eigenen Methoden zu bestrafen, ist dennoch äußerst selten aufgetreten. Es gibt Berichte in der Literatur, dass vereinzelte Opfer ihre Peiniger bei einem Wiedersehen verprügelten. Doch dies ist weitgehend die Ausnahme geblieben. Vielmehr haben sich Opfer für ihre Vergangenheit geschämt, da sie keinen Widerstand gegen die Schikanen ihrer Peiniger geleistet haben und sich wie „Schafe zur Schlachtbank haben führen lassen“44. Viele von diesen Menschen sind nicht in der Lage gewesen mit diesen Erinnerungen umzugehen. Da sie nicht den Mut gefunden haben, ihren Peinigern gegenüberzutreten. Für viele ist der Selbstmord der einzige Ausweg aus dem Dasein voller Qualen und schrecklicher Erinnerungen gewesen.

Die drei Entführer haben für sich den Weg der Selbstjustiz gewählt, um sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, doch vor allem Arno Bronstein ist nicht bewusst geworden, dass er sich damit selbst überschätzt hat. Er steigert sich in einen derartigen Wahn, den ehemaligen Aufseher zur Rechenschaft ziehen zu müssen, dass er nicht merkt, wie er allmählich an die Grenzen seiner Kräfte stößt. Am Ende wirkt er verbraucht und ausgebrannt. Bei einem Gespräch am letzten Abend vor seinem Tod berichtet er Hans, dass der Gefangene gestanden habe. (B. S. 269) Der Ausdruck der Erleichterung im Gesicht des Vaters hat dabei eher einem Weinkrampf geglichen, als Freudentränen. Für Hans ist sofort klar, wie es um seinen Vater steht, denn „dabei liefen ihm [dem Vater] Tränen übers Gesicht. Ich [Hans] fand, daßer eher gequält als fröhlich aussah, und wenn er bei diesem Lachen fotografiert worden wäre, hätte man ihn auf diesem Bild bestimmt für einen Weinenden gehalten.“ (B. S. 270), doch er greift nicht ein. Bei einem neuerlichen Verhör muss Arno seinen Versuch, „die Verbrechen des Dritten Reichs aus eigener Kraft zu ahnden“45, mit dem Leben bezahlen. Daher ist er, Jahrzehnte nach der Herrschaft des Naziregimes, als „Opfer des Faschismus“46 gestorben. Bei dem Versuch, die Vergangenheit mit seinen eigenen Mitteln zu bewältigen, macht er sich selbst zum Täter. Ihm ist dabei nicht bewusst, dass er sich, zur Durchsetzung seiner Selbstjustiz, der gleichen Mittel bedienen muss, wie es die Faschisten getan haben.

3. Hans¢ Schuld

a. Hans¢ Mitwisserschaft

Als Hans sich auf den Weg zum Waldhaus macht, um sich dort ungestört mit Martha zu treffen, überrascht er seinen Vater und die zwei Komplizen, wie sie Heppner verhören und misshandeln. Er ist schockiert von den Machenschaften seines Vaters und zeigt wenig Verständnis für die Selbstjustiz der drei alten Männer. Doch anstatt die Entführung zu beenden, verlässt Hans das Haus, um zu verhindern, dass Martha von der Entführung etwas mitbekommt. (Vgl. B. S. 27) Die Geschehnisse behält er aber für sich und spricht vorerst mit niemandem darüber. Bevor er sich erneut zu dem Haus aufmacht, erzählt er seiner Schwester Elle von dem Gefangenen, diese kann ihm jedoch auch nicht weiterhelfen.

b. Feindschaft zwischen Hans und Arno Bronstein

Hans konfrontiert seinen Vater schließlich mit der Begegnung im Wochenendhaus. Es kommt jedoch zu keiner vernünftigen Diskussion der Beiden, sondern nur zu einer gegenseitigen Zuweisung von Schuld und Verantwortung. Das von Anfang an kühle und rationale Verhältnis zwischen Vater und Sohn hat sich nach der Begegnung in eine offene Feinschaft gewandelt, in der beide Männer für ihre eigenen Ideale kämpfen. Der Vater kann mit den Zukunftsplänen des Sohnes und dessen Ablösung von den jüdischen Traditionen wenig anfangen. Während Hans dagegen ankämpft, als Jude eine Sonderstellung einzunehmen, versucht sein Vater die Erlebnisse des Holocaust zu verarbeiten und greift dabei zu unerlaubten Mitteln. Die ungenügende Kommunikation zwischen den beiden Parteien und die fehlende Betroffenheit über die Naziverbrechen verhindert, dass Hans sich in die Situation seines Vaters versetzen kann, um ihn zumindest annähernd zu verstehen. Die Folterung des ehemaligen KZ-Aufsehers widerstrebt zwar Hans‘ Rechtsbewusstsein, denn er fragt sich, ob „einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen noch zurückschlagen darf“ (B. S. 33) Doch anstatt sich bewusster mit dieser Problematik auseinanderzusetzen und die Qualen Heppners zu berücksichtigen, weigert er sich Position zu beziehen.47 Seine „mangelnde Lust am Verweilen“ (B. S. 123) führt schließlich dazu, dass er erst zum Handeln bereit ist, als alles schon zu spät ist.

c. Halbherzige Befreiungsversuche

Der innere Konflikt zwischen den Differenzen mit dem Vater und das Bewusstsein, Heppner helfen zu müssen, hindert Hans daran, sofort notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Der Sohn erkennt, dass sich der Vater überschätzt hat, findet aber keine Möglichkeiten, ihn aus dieser Situation zu befreien. Der halbherzige Versuch, eine Klassenkameradin, deren Vater als Rechtsanwalt arbeitet, (B. S. 153) für seine Zwecke zu gewinnen, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Hans nicht in der Lage ist Position zu beziehen. Der Plan, einen Erpresserbrief zu verfassen, (B. S. 150) verdeutlicht diesen Sachverhalt ebenso. Hans könnte aus dem Hintergrund die Situation beeinflussen, ohne dass jemand weiß, wer er wirklich ist. Diese Untätigkeit erscheint sehr unverständlich, zumal Hans die Möglichkeit hätte, die Gefangenschaft Heppners rasch zu beenden, da er einen geheimen Nachschlüssel zum Waldhäuschen besitzt. Er sucht das Gefängnis regelmäßig auf, doch meistens unterhält er sich mit Heppner lediglich über seine Vergangenheit und die Folter durch die drei Entführer. Dadurch er sich mitschuldig und hat Heppner genauso in der Hand wie sein Vater. Er findet nicht den Mut, der Gefangenschaft ein Ende zu setzen, er würde viel lieber davonlaufen und die Verantwortung auf Andere abschieben. Ihm ist jedoch bewusst, dass er Heppners einzige Chance ist, da nicht mir der Gnade der Entführer zu rechnen ist. Es würde vielmehr bedeuten auf ein „Wunder zu hoffen“ (B. S. 95). Bis sich Hans endgültig zu der Befreiungsaktion durchringen kann, vergeht noch einige Zeit. In diesem Zeitraum wird Hans auch immer klarer, dass sich sein Vater mit der Entführung überschätzt hat, doch er muss mit ansehen, wie sein Vater sich zu Grunde richtet, da er nicht früher eingreift. Als er endlich den Mut gefunden hat, Heppners Leiden zu beenden, wird er gleichzeitig mit dem Tod seines Vaters konfrontiert. Bei einem neuerlichen Verhör hat Arno den Belastungen nicht mehr Stand gehalten und ist im Waldhaus verstorben. Dieses dramatische Ereignis löst in Hans eine schwere Lebenskrise aus, die Hans hinter seiner nüchtern, rationalen Erscheinung verstecken will. Er schottet sich ab und will keine Emotionen mehr an sich heran lassen, nicht einmal der Tod eines Mitmenschen kann ihn noch berühren. (Vgl. B. S.8) Doch hinter der Fassade werden die Hilflosigkeit und die Verzweiflung sehr deutlich.48 Ob das Ende des Trauerjahres auch das Ende seiner Lebenskrise bedeutet ist ungewiss. Das Studium und der Umzug würden Hans jedoch eine Möglichkeit bieten, die Ereignisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten und sie zu verarbeiten.49

IV. Intention der beiden Autoren

„Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das was wir nicht tun.“50 In beiden Romanen stellt die Verantwortung eines der Hauptthemen dar. Beide Autoren wollen in ihren Werken den Leser darauf aufmerksam machen, dass überall schwere menschliche Schicksale versteckt sind. Doch um damit umgehen zu können, muss jeder offen darüber reden und zu seinen Taten stehen, das heißt sich verantwortlich zeigen. Aber häufig wird die Verantwortung, auch aus Egoismus, auf andere Personen oder Geschehnisse abgeschoben. Der Mensch sieht nur sein eigenes Wohlergehen, bleibt damit egoistisch. Er sieht es nicht oder will es nicht sehen, dass für Ereignisse, wie im Dritten Reich, nicht nur wenige Schuldige ausgemacht werden können, sondern dass auch er als Einzelner sich mitverantwortlich zeigen muss. Leider ist das nicht geschehen und viele Menschen sind zu Mitläufern geworden, die genauso negativ bewertet werden können, wie die Initiatoren der Grausamkeiten während des Dritten Reichs: „Das Schlimmste, das ich kenne ist die Untertänigkeit oder der Wunsch, sich unbedingt zu unterwerfen, dieses Mitmachen, Mitlaufen, Mitsingen, Mitmarschieren und dabei auch noch in eine peinliche Euphorie verfallen.“51 Sich zum „Untertanen“ zu machen, und oft auch machen zu wollen ist ein Teil des Menschen, da er dadurch die gesamte Verantwortung gegenüber seiner Umwelt abgeben und völlig ichbezogen handeln kann. Im Dritten Reich sind Aufträge und Befehle ausgeführt worden, die häufig der eigenen Gesinnung nicht entsprochen haben; zum einen weil wenige nicht den Mut gefunden haben sich zu wehren, zum anderen weil der Rest in seinem egoistischen Wohl nicht beeinträchtigt worden ist und daher lieber blinden Gehorsam geleistet hat. Dies mag auch aus Angst vor Unannehmlichkeiten geschehen sein, aber durch die Abgabe der Verantwortung, muss jeder einzelne jetzt in Kauf nehmen, deshalb verurteilt zu werden.

C. Schluss

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“52 Beide Autoren, sowohl Bernhard Schlink als auch Jurek Becker, zeigen wie wichtig es ist, sich bewusst mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Mensch kann nur aus seinen Fehlern für die Zukunft lernen, wenn er sich mit diesen auseinandersetzt. Beide haben dies getan, indem sie ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben, eine Art Mahnmal gesetzt haben für die nachfolgenden Generationen von Lesern. Diese dürfen ihre Vergangenheit nie vergessen und müssen sich stets mit ihr auseinandersetzen, egal ob durch das Lesen von Büchern, das Sehen von Reportagen oder das Hören von Geschichten aus der Vergangenheit. Diese bewusste Auseinandersetzung wird vor allem vom deutschen Volk erwartet, was auch richtig ist, da es unmittelbar am Holocaust beteiligt gewesen ist. Aber auch andere Nationen, die mit dem Finger auf das deutsche Volk zeigen, müssen sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen, nicht nur weil sie damals anfänglich „mitgelaufen“ sind und erst sehr spät gehandelt haben, sondern auch, weil das in jedem Volk auf der Welt hätte passieren können. Alle müssen sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen und dabei leisten die Romane „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink und „Bronsteins Kinder“ von Jurek Becker einen entscheidenden Beitrag.

[...]


1 Zitiert aus: Schwencke, Olaf, Erinnerungen als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum. Loccumer Protokolle 25/1986.

2 Zitiert: Wolfgang Weyrauch (1907-1980).

3 Altbundeskanzler Kohl prägte diesen Begriff für Generationen, die in juristischem Sinne nicht schuldig an den Verbrechen der NS-Zeit sein können.

4 Thema Schuld in der dt. Nachkriegsliteratur, Vgl. Gigl, Claus J., S.171ff.

5 Zitiert nach: Umschlag „Der Vorleser“, Diogenes-Verlag, 1997.

6 Lebenslauf: vgl. Gigl, Claus J., Deutsche Literaturgeschichte, Freising, Stark Verlag, 1999, S.219f.

7 Homer, „Die Odyssee“.

8 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 105, zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.95.

9 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 105, zitiert nach: Neue Züricher Zeitung, 28.10.95.

10 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 105, zitiert nach: Weltwoche, 23.11.95.

11 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S. 109.

12 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S. 107.

13 Eichendorff, Joseph von, „Aus dem Leben eines Taugenichts“.

14 Renz, Ulrich, Lauter pflichtbewusste Leute. Szenen aus NS-Prozessen. Köln: Bund, 1989.

15 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 81.

16 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 50.

17 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 69.

18 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 20.

19 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S. 81.

20 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 82.

21 s. Reisner, Hanns-Peter, S. 51.

22 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S.51.

23 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S.43.

24 s. Reisner, Hanns-Peter, S.44.

25 vgl. Reisner, Hanns-Peter, S. 44.

26 Vgl. Pasche, Wolfgang, S.101ff.

27 s. Pasche, Wolfgang, S. 88.

28 s. Pasche, Wolfgang, ebd.

29 s. Pasche, Wolfgang, S. 96.

30 s. Pasche, Wolfgang, S. 99.

31 s. Pasche, Wolfgang, S. 99.

32 s. Pasche, Wolfgang, S. 100.

33 s. Pasche, Wolfgang, S. 69.

34 s. Pasche, Wolfgang, S. 68.

35 Vgl. Pasche, Wolfgang, S. ebd.

36 s. Pasche, Wolfgang, S. 57.

37 s. Pasche, Wolfgang, ebd.

38 s. Pasche, Wolfgang, ebd.

39 s. Pasche, Wolfgang, ebd.

40 s. Pasche, Wolfgang, ebd.

41 s. Pasche, Wolfgang, S. 67.

42 s. Pasche, Wolfgang, S. 74.

43 s. Pasche, Wolfgang, S. 58.

44 s. Pasche, Wolfgang, S. 78.

45 s. Pasche, Wolfgang, S. 58.

46 s. Pasche, Wolfgang, S. 58.

47 Vgl. Pasche, Wolfgang, S. 51.

48 Vgl. Pasche, Wolfgang, S. 54.

49 Vgl. Pasche, Wolfgang, ebd.

50 zitiert nach: Molière, Jean-Baptiste (1622-1673)

51 zitiert nach: Böll, Heinrich (1917-1985)

52 zitiert nach: Humboldt, Wilhelm von (1767-1835)

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Das Thema Schuld in der dt. Nachkriegsliteratur
Autor
Jahr
2003
Seiten
22
Katalognummer
V107778
ISBN (eBook)
9783640060054
Dateigröße
490 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es wird über Fußnoten zitiert - kein Literaturverzeichnis.
Schlagworte
Thema, Schuld, Nachkriegsliteratur
Arbeit zitieren
Heike Schieder (Autor:in), 2003, Das Thema Schuld in der dt. Nachkriegsliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107778

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