Die erste Marokkokrise und die Einkreisung der Mittelmächte


Ausarbeitung, 2003

15 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
I. a) Personen- und Sachkommentar

II. Die1. Marokkokrise und das Gespenst der Einkreisung
II. a) Die Vorgeschichte
II. b) Die Marokkokrise
II. c) Die Konferenz von Algeciras

III. Fazit

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Im Folgenden befasse ich mich mit der ersten Marokkokrise und dem so genannten „Gespenst der Einkreisung“. Die Marokkokrise spielte sich in den Jahren 1905/06 ab und ist eng mit dem Problem der Einkreisung oder Isolation Deutschlands und Österreich/ Ungarns innerhalb der internationalen Bündnisse verbunden.

Zudem bietet diese schwere internationale Krise und ihr Verlauf ein gutes Beispiel um zu veranschaulichen, wie am Anfang des 20. Jahrhunderts, oftmals sehr riskant, außenpolitisch „gepokert“ wurde, wie Bündnisse entstanden und diese gegeneinander ausgespielt wurden.

In meinen Ausführungen werde ich versuchen, auszuleuchten, inwieweit die Isolation der Mittelmächte mit der deutschen Außenpolitik verknüpft war und ob die Krise und ihr Ausgang als Weichenstellung für den weiteren Verlauf der Dinge bis 1914 gesehen werden kann.

Da die eigentliche Krise nur der Höhepunkt einer Verkettung von Ereignissen war, die seit der Jahrhundertwende ihren Lauf nahmen, werde ich in meinen Ausführungen etwas weiter ausholen und auch auf die Vorgeschichte eingehen. Zu diesem Zweck habe ich die eigentliche Arbeit in drei Punkte (II. a, b und c) aufgeteilt.

I. a) Personen- und Sachkommentar

Bernhard Fürst von Bülow (1849- 1929). War seit 1900 deutscher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Bülow war Gegner der Sozialdemokratie und setzte sich für den Ausbau der Flotte ein. 1909 wurde er als Folge der Daily Telegraph- Affäre, bei der bedenkliche Äußerungen des Kaisers an die Öffentlichkeit gerieten, entlassen[1]. Friedrich von Holstein (1837- 1909). War seit 1860 im auswärtigen Dienst Preußens. Der auch als „graue Eminenz“ bezeichnete Freund Bismarcks war im Wesentlichen für die „Politik der Stärke“ Frankreich gegenüber verantwortlich[2]. Kontinentalbund. Ein Plan der während der Affäre um die „Krüger Depesche“ entwickelt wurde. Deutschland plante ein deutsch- russisch- französisches Bündnis um die Feindschaft mit Frankreich zu überwinden und sich gegen England abzusichern, mit dem Deutschland eine Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit des südostafrikanischen Staates Transvaal hatte[3]. Joseph Chamberlain (1836- 1917). Konservativer englischer Politiker und Begründer der Entente Cordiale. War nie Premierminister, hatte aber ebenso großen Einfluss[4]. Theophile Delcassé (1852- 1923). War französischer Staatsmann von 1898 bis 1905 und 1914/15 nochmals Außenminister. Er begründete die Entente Cordiale und erneuerte das russisch- französische Bündnis[5]. Wladimir Nikolajewitsch Lamsdorff (1844- 1907). War deutschlandfreundlicher russischer Diplomat und Politiker und von 1901- 06 Außenminister. Er setzte sich für einen Ausgleich mit Japan ein[6].

II. Die 1. Marokkokrise und das Gespenst der Einkreisung

II. a) Die Vorgeschichte

Um die Jahrhundertwende war England auf der Suche nach einem starken europäischen Bündnispartner. Die englische Regierung wollte das Empire stärken und nach Außen absichern. Mit diesem Anliegen wandte man sich zunächst an Deutschland. Doch die deutsche Regierung zeigte kein Interesse an einem Bündnis und so kam eine deutsch-englische Annäherung nicht zustande.

Wenig später, im Jahre 1902, kam es zu englisch-japanischen Bündnisgesprächen. Man wollte beiderseits den russischen Vormarsch auf Ostasien, insbesondere Korea und die Mandschurei, stoppen[7]. Damit vergrößerte sich der englisch-russische Gegensatz. Russland, nun seinerseits auf der Suche nach einem starken Bündnispartner, wandte sich sehr bald ebenfalls an Deutschland. Man sah sich nun auf deutscher Seite in der erhabenen Position, sich, aufgrund der eigenen Stärke, die Bündnispartner nach Belieben aussuchen zu können[8]. Da man jedoch befürchtete, ein neues Bündnis könnte Russland zu einem allzu schnellen Vorgehen in Ostasien veranlassen und so einen Weltkrieg entfachen, verhielt die deutsche Regierung sich auch Russland gegenüber äußerst zögerlich[9]. Andererseits spekulierte man auf deutscher Seite auch auf einen lokalen Konflikt zwischen Russland und Japan um die beiden Großmächte Russland und England gegeneinander auszuspielen und sich so einen kolonialpolitischen Vorteil zu verschaffen[10]. Nicht zuletzt auch mit diesem Hintergedanken zögerte man Russland gegenüber, um Japan nicht einzuschüchtern, sondern die Vorraussetzungen für einen russisch- japanischen Konflikt zu optimieren, ohne dies jedoch offensichtlich zu machen[11]. So kam auch diesmal kein deutsches Bündnis mit einer anderen Großmacht zustande.

Zur gleichen Zeit taten sich in Deutschlands bereits bestehendem Bündnis, dem Dreibund mit Österreich/ Ungarn und Italien, erstmals deutliche Risse auf[12]. Obwohl Italien sich seinen Bündnispartnern gegenüber stets korrekt verhielt und nach wie vor starkes Interesse an einer engen Zusammenarbeit hatte, wurde es von den beiden Großmächten als minderwertiger, fragwürdiger Bündnispartner angesehen. Aufgrund der nachteiligen Behandlung fühlte sich Italien in seinen Expansionsplänen nicht genügend unterstützt. Die italienische Kolonialpolitik hatte ein Augenmerk auf Tripolis im heutigen Lybien[13] geworfen, welches jedoch zum osmanischen Reich gehörte, an dessen Erhalt Deutschland und Österreich interessiert waren[14]. Da Italien damit auf dem afrikanischen Kontinent ein Interessengebiet hatte, musste man sich mit Frankreich arrangieren, welches zur selben Zeit in Marokko Fuß gefasst hatte. So kam es im Juni 1902 zum Abschluss eines italienisch- französischen Geheimvertrages, in dem man sich die Interessenzonen nochmals bestätigte und sich Neutralität im Kriegsfall mit einer anderen europäischen Macht zusicherte[15]. Dies geschah jedoch in völligem Einklang mit den Bestimmungen des Dreibundvertrages. Mommsen spricht hier von einer „Aushöhlung“ desselben[16]. Somit war Italien für Deutschland als Bündnispartner faktisch nutzlos geworden und seine Abwendung vom Dreibund war erstmals klar zu erkennen[17].

Nichtsdestotrotz wurde am 28. Juni 1902 der Vertrag des Dreibundes in seiner ursprünglichen Form verlängert. Die Zustimmung für Tripolis wurde mündlich gegeben[18], die von Italien geforderten Zugeständnisse im Bezug auf Frankreich wurden nicht berücksichtigt[19].

Das nächste wichtige Jahr für die internationale Politik war 1904. Im Februar des Jahres brach der russisch- japanische Krieg um Korea und die Mandschurei aus, welcher in Deutschland und Österreich unter, nach Außen hin gespielter, Überraschung begrüßt wurde, da er den Mittelmächten eine Entspannung im Osten verschaffte[20]. Außerdem spielte der Krieg in Ostasien für die weitere Entwicklung in Europa eine bedeutende Rolle, da Russland nun in seiner Handlungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt war und, aufgrund seiner Fokussierung nach Ostasien, für längere Zeit keinen bedeutenden Faktor in der internationalen Politik darstellte. Der, von Deutschland angestrebte, offene Konflikt mit England blieb aus.

Wenig später jedoch, im April des Jahres, gab es eine weitere Entwicklung, die in Deutschland mit größter Sorge betrachtet wurde: der französische Außenminister Delcassé und der britische Staatsminister Chamberlain hatten sich für eine englisch- französische Annäherung eingesetzt und am 8. April die Verträge zur Bildung einer Interessengemeinschaft der beiden Staaten unterzeichnet. Die „Entente Cordiale“ war zwar kein festes Bündnis, doch wurde durch sie sehr schnell deutlich, dass es, entgegen den deutschen Erwartungen, sehr wohl zu einer engen Zusammenarbeit zwischen England und Frankreich kommen konnte[21]. In den Verträgen der Entente Cordiale sicherte man sich vorerst diplomatische Unterstützung zu und machte sich an die Klärung kolonialer Streitfragen. England hatte schon seit längerer Zeit eine Interessenzone in Ägypten und war somit Frankreichs „Nachbar“ auf dem afrikanischen Kontinent. Wie grundlegend sich mit diesem Vertrag die Situation änderte wird deutlich, wenn man bedenkt, dass England und Frankreich in der Vergangenheit wegen Marokko und Ägypten schon kurz vor dem Krieg standen[22].

In Deutschland betrachtete man diese neue Situation, wie bereits erwähnt, mit großer Sorge. Man fühlte sich bedroht und suchte nach Wegen, um der englisch-französischen Annäherung entgegenzuwirken. Es entstand der Plan, dem vom Krieg geschwächten Russland ein Bündnis nach dem Muster alter Kontinentalbundpläne anzubieten. Diese sahen ein Bündnis von Deutschland, Russland und Frankreich vor[23]. Man wollte mit einem deutsch-russischen Bündnis den ewigen Konkurrenten Frankreich vor vollendete Tatsachen stellen und so an Deutschland binden. Russland fühlte sich jedoch durch das bereits bestehende russisch-französische Bündnis verpflichtet, Frankreich gegenüber mit offenen Karten zu spielen. So kam es nicht zu der von Deutschland gewünschten Konstellation, und die deutsche Regierung stand mit leeren Händen da.[24]

II. b) Die Marokkokrise

Zu Beginn des Jahres 1905 wollte Frankreich den marokkanischen Sultan zwingen, Reformen durchzuführen und Marokko so zum französischen Protektorat machen. Die französische Regierung strebte die Zollkontrolle und eine Reform der Armee unter französischer Führung an und wollte sich der marokkanischen Staatsfinanzen annehmen[25].

Deutschland sah in dem französischen Vorgehen nun die Legitimation, offen Druck auf Frankreich auszuüben[26]. Nachdem die Bündnispläne mit Russland nicht umgesetzt werden konnten, suchte man einen anderen Weg, um einen Keil zwischen das im Entstehen begriffene Bündnis zwischen Frankreich und England zu treiben[27]. Deutschland sah sich zudem einer massiven Ungerechtigkeit ausgesetzt und pochte auf sein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit[28]. Dieses politische Vorgehen war nicht zuletzt auch von wirtschaftlichen Interessen motiviert. Der deutsche Handel hatte sich gerade in Marokko etabliert. Man hatte Fuß gefasst und es gab Pläne, sich ins Landesinnere auszubreiten. Auch die deutsche Schwerindustrie hatte großes Interesse an den reichen Bodenschätzen des Landes. Zudem war Marokko wegen seiner strategischen Lage als Flottenstützpunkt äußerst begehrt[29]. Der damalige deutsche Reichskanzler Bülow war der Meinung, Deutschland brauche einen Platz an der Sonne[30].

Um die deutsche Offensive gegen Frankreich ins Rollen zu bringen, überredeten Reichskanzler Bülow und der Staatssekretär des auswärtigen Amtes, Holstein, den Kaiser, während einer Mittelmeerreise in der marokkanischen Hafenstadt Tanger an Land zu gehen und öffentlich gegen das französische Vorgehen Stellung zu beziehen[31]. Am 31.03.1905 kam es zu der geplanten Landung in Tanger. Der Kaiser protestierte dort offiziell gegen die französischen Absichten und sicherte dem Sultan die deutsche Anerkennung Marokkos als souveränen Staat zu[32]. Die deutsche Führung versprach sich von dieser Aktion, dass Frankreich erkennen würde, dass allein die englische Unterstützung zur Verwirklichung seiner Ziele nicht ausreichen würde und es sich aufgrund dessen von England lösen würde[33].

Öffentlichkeit, Presse und Politik in den Ländern der Entente Cordiale reagierten mit Empörung auf diese Aktion. Deutschland, sich wohl bewusst das Russland durch seinen Krieg und die aufkommende Revolution beschäftigt war und seinen Bündnisverpflichtungen Frankreich gegenüber, wenn überhaupt, nur äußerst schwach und zögerlich nachkommen konnte[34], ließ sich davon nicht beeindrucken und weiterhin die Muskeln spielen. Auch in Frankreich war man sich der Lage Russlands bewusst und die französische Regierung war sich sehr unsicher, wie man sich Deutschland gegenüber verhalten sollte[35]. Um die Lage zu beruhigen und Deutschland den Wind aus den Segeln zu nehmen, bot man zunächst eine Lösung nach dem Muster der Entente Cordiale an. Bülow und Holstein lehnen dies jedoch ab und verlangen stattdessen eine internationale Konferenz mit allen interessierten Mächten[36].

Der französische Außenminister Delcassé, der als einer der wenigen die deutsche Politik des Bluffens, welche nur auf dem Wegfall Russlands und einer Neutralität Englands beruhte, durchschaut hatte[37] und eine harte Linie Deutschland gegenüber forderte, wurde von Bülow aus dem Amt gedrängt, nachdem dieser sich persönlich an die französische Regierung gewandt und für dessen Entlassung plädiert hatte[38].

Kurz darauf, am 8. Juli 1905 kam die französische Zustimmung zu der von Deutschland geforderten Konferenz. Bülow und Holstein atmeten auf und waren sich ihres Sieges gewiss. Sie wollten auf der internationalen Konferenz Frankreich überstimmen und in die Ecke drängen und so einen Keil zwischen Frankreich und seine Verbündeten treiben[39].

Während man in Deutschland noch über den vermeintlichen Erfolg jubelte und sich siegessicher auf die Konferenz vorbereitete, verschlechterte sich die Situation für Russland innerhalb kurzer Zeit auf tragische Weise. Schon im Mai 1905 war die russische Flotte bei Tsuschima völlig vernichtet worden und die Revolution war mittlerweile im vollen Gange. Die Zarenmonarchie stand kurz vor ihrem Zusammenbruch[40].

Aufgrund der Sympathie und der familiären Bindung zwischen Kaiser Wilhelm und der Zaristischen Herrscherfamilie und nicht zuletzt auch wegen wirtschaftlicher Faktoren, Deutschland bezog seit jeher Nahrungsmittel und Rohstoffe aus Russland, entschloss man sich in Deutschland, der russischen Monarchie zu helfen. Man entschloss sich, Russland ein Bündnisangebot zu machen, um die Monarchie zu stützen und den deutschen Einfluss auf Russland zu stärken. Natürlich war auch diese Bündnisangebot von dem Hintergedanken begleitet, der russisch- französisch- englischen Annäherung entgegenzuwirken[41]. Das man sich in Deutschland sehr wohl über die Brisanz dieses Vorgehens bewusst war, wird in der Strategie deutlich, in dieser Angelegenheit die familiären Bindungen der Königshäuser zu nutzen, statt den normalen, diplomatischen Weg zu gehen[42].

Am 24. Juli trafen sich Kaiser Wilhelm II. und der Zar Nikolaus II. in der finnischen Hafenstadt Björkö, um über das Bündnis zu verhandeln. Der deutsche Kaiser bot dem Zaren den gleichen Vertrag an, den Russland schon einmal abgelehnt hatte, mit einem Zusatz, in dem man sich die volle Unterstützung im Kriegsfall zu Land und zu Wasser zusicherte[43]. Es gelang dem Kaiser auch, den Zaren zur Unterzeichnung zu überreden. Doch als dieser mit dem Vertrag nach St. Petersburg zurückkehrte, waren die russischen Minister regelrecht außer sich und forderten, den Vertrag sofort rückgängig zu machen. Man war auf die französische Unterstützung in finanzieller Hinsicht angewiesen und befürchtete, dass Frankreich sich aufgrund des Vertrages von Russland abwenden würde[44].

Wenig später traf die Nachricht aus St. Petersburg bei der deutschen Regierung ein, man sei zwar mit dem Vertrag einverstanden, nur müsse es eine Ausnahmeregelung für den Fall einer deutschen Auseinandersetzung mit Frankreich geben. Damit war auch dieser Vertrag für die deutschen Pläne nutzlos geworden[45].

Die Situation war von nun an festgefahren. Deutschland erhöhte den Druck auf Frankreich in der zweiten Hälfte des Jahres 1905 enorm. England stellte sich entschlossen hinter Frankreich, da man befürchtete, ein Umbruch in Marokko könne sich auch negativ auf das benachbarte Ägypten auswirken[46].

Ende 1905 war die Situation aus deutscher Sicht so ausweglos, dass man offen über einen Präventivkrieg gegen Frankreich nachdachte. Man überlegte, durch das Ausschalten Frankreichs den Machtblock zu sprengen, der sich um Deutschland und Österreich/ Ungarn formierte, und außerdem die Marokkofrage zu lösen. Bei einer Ausweitung der französischen Herrschaft auf Westmarokko wollte man den Schlieffenplan, welcher eigens zu diesem Zweck entwickelt wurde, zum Einsatz bringen und Frankreich endgültig ausschalten[47]. Die Lage war so explosiv, dass man auf der Gegenseite fest mit einem deutschen Angriff rechnete[48].

Im Januar 1906 gab es jedoch plötzlich einen Kurswechsel in der deutschen Politik. Die Kriegspläne wurden (zumindest vorübergehend) aufgegeben und man trat Frankreich weniger offensiv als bisher gegenüber. Für diesen schnellen Wechsel der Strategie gab es mehrere Gründe. Zunächst hatte der britische Außenminister Grey dem deutschen Botschafter in London zu verstehen gegeben, dass Deutschland in keinem Fall mit einem neutralen Verhalten Englands im Kriegsfall mit Frankreich rechnen könne[49]. Man war in England seit jeher daran interessiert, Frankreich als Gegenpol zu den Mittelmächten auf dem europäischen Festland auf jeden Fall zu erhalten[50]. Ein weiterer Faktor war, dass die deutsche Arbeiterklasse geschlossen gegen einen Krieg eintrat und vor dem Hintergrund der Vorgänge in Russland hatte die deutsche Führung starke Bedenken, dass revolutionäre Wellen ins Land schwappen und einen nationalen Aufstand auslösen könnten[51]. Die, von innenpolitischen Kreisen formulierte, Sorge ein Krieg könne beginnen, bevor die deutsche Flotte der englischen vollständig gewachsen sei, sei hier nur am Rande erwähnt[52]. Außerdem hatte es auch in der russischen Außenpolitik einen Kurswechsel gegeben. Der deutschlandfreundliche Außenminister Lamsdorff wurde von seinem Nachfolger Iswolski abgelöst, der eine konsequente Bündnispolitik mit Frankreich befürwortete[53].

II. c) Die Konferenz von Algeciras

Am 16. Januar 1906 kam es zu der von Deutschland geforderten internationalen Marokkokonferenz. Sie fand in der spanischen Küstenstadt Algeciras statt und dauerte bis zum 7. April desselben Jahres. Die Teilnehmer waren Deutschland, Frankreich, England, Russland, Amerika, Schweden, Belgien, Niederlande, Österreich/ Ungarn, Italien, Spanien und Portugal.[54]

Es stellte sich während der Konferenz schnell heraus, dass Deutschland mit seinem Standpunkt alleine dastand. Einzig Österreich/ Ungarn stellte sich hinter Deutschland. Alle anderen Mächte, einschließlich Italien, unterstützten den französischen Standpunkt. Somit ging der Plan Bülows und Holsteins, Frankreich in die Ecke zu drängen und so zu isolieren, nicht auf. Im Gegenteil, die Isolation Deutschlands und Österreichs, die sich schon seit Beginn der Krise deutlich herausgebildet hatte, nahm mit dem Verlauf der Konferenz konkrete Formen an. Holstein erkannte, dass dieser Kampf verloren war und nahm am 5.4.1906 seinen Abschied. Bülow und der Kaiser waren jedoch fest entschlossen, bis zum letzten durchzuhalten und blieben[55].

Frankreich bot auf der Konferenz an, internationale Institutionen mit französischem Schwerpunkt in Marokko einzusetzen, die Polizei sollte für 5 Jahre unter spanischer und französischer Leitung funktionieren und die Bank von Marokko sollte je einem französischen, englischen, deutschen und spanischen Zensoren unterstellt werden. Das Staatskapital wurde in 15 Teile geteilt, wovon Frankreich 3 und die anderen Teilnehmer der Konferenz je einen Teil erhalten sollten. Deutschland und Österreich waren überstimmt und mussten sich mit dieser Regelung zufrieden geben. Am 7. April wurde der Vertrag unterzeichnet, und Deutschland stand klar als Verlierer der Konferenz da[56]. Damit war die Isolation vollzogen und auch der deutschen Führung bewusst, sie war „zur Tatsache geworden“[57]. Die Fronten waren von nun an geklärt und die Weichen für den weiteren Verlauf der Dinge bis zum Kriegsbeginn waren gestellt.

Nun einen konkreten Gegner vor Augen, begann man unmittelbar nach der Konferenz auf beiden Seiten aufzurüsten und bereitete sich auf eventuelle kriegerische Auseinandersetzungen vor. In Deutschland ging man daran, den Flottenplan umzusetzen und in Frankreich, Belgien und England begann man erstmals mit der Ausarbeitung von konkreten Kriegsplänen[58].

III. Fazit

Schaut man sich den Verlauf der Krise an, so tauchen immer wieder Punkte auf, an denen man kein Verständnis für die Handlungen und Reaktionen der deutschen Regierung unter Kaiser Wilhelm II., Bülow und Holstein aufbringen kann. Man fragt sich, welchen Sinn bestimmte Aktionen haben sollten und aus welchen Überlegungen viele der offensichtlich falschen Einschätzungen entstanden. Oftmals gewinnt man auch den Eindruck, die gesamte deutsche Außenpolitik sei von verletztem Stolz und innerer Uneinigkeit geprägt, die man durch Stärke nach außen überspielen wollte. Mommsen spricht in diesem Zusammenhang von einer Politik für die „Galerie“[59].

Es lassen sich einige Punkte im Verlauf der Krise fixieren, die wesentlich ihren Verlauf bestimmten:

Der Plan, hinter Frankreichs Rücken mit dessen Bündnispartner ein neues Bündnis gegen französische Interessen zu schließen war offensichtlich zum scheitern verurteilt. Vor allem wenn man bedenkt, dass dieses Bündnis in keiner Weise von der russischen Regierung gedeckt war[60].

Besonders nach dem zweiten Anlauf zur Schaffung des von Deutschland so sehr gewünschten Kontinentalbundes hatte dieses sich in Europa viel verbaut und einige Sympathien eingebüßt[61].

Zudem kann man sagen, dass Deutschlands konsequentes, unnachgiebiges Verhalten Frankreich gegenüber, das von einer gefährlichen Politik der Sturheit und einem, wie Mommsen es nennt, „gewagten außenpolitischen Kalkül“[62] zeugt und im Wesentlichen nicht die Lockerung der entstandenen Bündnisse zur Folge hatte, sondern diese im Gegenteil eher festigte[63]. Doch auch dies, so meine ich, hätte sich seit der Bildung der Entente Cordiale voraussehen lassen können. Denn das England nun, schon wegen der eigenen Interessen in Ägypten, hinter Frankreich stand, war offensichtlich[64].

Umso erstaunlicher, das Frankreich sich, wie man bei der Beschäftigung mit dem Thema sieht, trotz der aggressiven deutschen Haltung bis zuletzt zurückhaltend und beschwichtigend verhielt.

Vor dem Hintergrund der Fakten der 1. Marokkokrise und ihrer Vorgeschichte kann man also sagen, dass die „Einkreisung“ keineswegs ein von den Mächten der späteren Triple Entente geplantes Unternehmen war, um Deutschland zu bedrohen. Eher war sie die Konsequenz einer nicht zuletzt von Deutschland selbst, durch seine ständigen, provokativen Spitzen gegen Frankreich und die nicht vorhandene politische Weitsicht im Bezug auf neu entstehende Situationen, vorangetriebene Entwicklung[65]. Weiter lässt sich festhalten, dass die Krise eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Weltkrieg war und das mit ihrem Ende die Weichen weitgehend gestellt waren, hatten sich doch nun zwei feste Lager herausgebildet, die mit Kriegsvorbereitungen begannen[66].

IV. Literatur

Bartmuss, Hans Joachim (Hg): Deutsche Geschichte Bd 2, 2. Auflage, Berlin 1967

Bibliographisches Institut Mannheim (Hg): Art. Chamberlain und Art. Lamsdorff in: Meyers großes Personen Lexikon, Mannheim 1968

Grundmann, Herbert: Gebhard, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd 3, 9. Auflage, Stuttgart 1973

Herzfeld, Prof. Dr. Hans (Hg): Art. Delcassé in: Das Fischer Lexikon, Geschichte in Gestalten Bd 1, Frankfurt a. M. 1963

Hiller v. Gaertringen, Friedrich: Art. Bülow in: Deutsche Biographische Enzyklopädie Bd 2, München 1999

Kinder, Hermann und Hilgemann, Werner: Zeitalter des Imperialismus, Italien in: DTV Atlas zur Weltgeschichte, Bd 2, Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, 12. erweiterte Auflage, München 1966

Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II., 1890 bis 1918. Bd 7, 2. Teil, Berlin 1995

Rössler/ Franz: Art. Holstein in: Deutsche Biographische Enzyklopädie Bd 5, München 1999

[...]


[1] Hiller v. Gaertringen, Friedrich: Art. Bülow in: Deutsche Biographische Enzyklopädie Bd 2, München 1999 S. 203- 204. Im Folgenden: DBE

[2] Rössler/ Franz: Art. Holstein in: Deutsche Biographische Enzyklopädie Bd 5, München 1999 S.154

[3] Grundmann, Herbert (Hg). Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte Bd 3 Von der französischen Revolution bis zum 1. Weltkrieg, 9. Auflage, Stuttgart 1970 S. 337- 338. Im Folgenden: Gebhardt

[4] Bibliographisches Institut Mannheim (Hg): Art. Chamberlain in: Meyers großes Personen Lexikon, Mannheim 1968. S. 241. Im folgenden: Meyers Lexikon

[5] Prof. Dr. Herzfeld, Hans (Hg): Art. Delcassé in: Das Fischer Lexikon. Geschichte in Gestalten Bd 1 Frankfurt a. M. 1963. S. 303- 304

[6] Art. Lamsdorff in: Meyers Lexikon S. 773

[7] Gebhardt, S. 352

[8] Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918, Bd 7, 2. Teil, Berlin 1995. S. 323. Im Folgenden: Mommsen

[9] Gebhardt, S. 352

[10] Mommsen, S. 323

[11] Mommsen, S. 323

[12] Gebhardt, S. 352

[13] Kinder, Hermann und Hilgemann, Werner: Zeitalter des Imperialismus, Italien in: DTV Atlas zur Weltgeschichte. Bd 2, von der französischen Revolution bis zur Gegenwart. 12. erweiterte Auflage, München 1966. S. 118

[14] Gebhardt, S. 352

[15] Gebhardt, S. 352

[16] Mommsen, S. 326

[17] Gebhardt, S. 352

[18] Gebhardt, S. 352

[19] Mommsen, S. 326

[20] Mommsen, S. 328

[21] Gebhardt, S. 353

[22] Mommsen, S. 327

[23] Gebhardt, S. 353

[24] Gebhardt, S. 354

[25] Bartmuss, Hans Joachim (Hg): Deutsche Geschichte Bd2, 2. Auflage, Berlin 1967. S. 722. Im Folgenden: Deutsche Geschichte

[26] Gebhardt, S. 354

[27] Gebhardt, S. 354/ Deutsche Geschichte, S. 722

[28] Deutsche Geschichte, S. 722

[29] Deutsche Geschichte, S. 722

[30] DBE, S. 204- 203

[31] Deutsche Geschichte, S. 723

[32] Gebhardt, S. 354

[33] Mommsen, S. 330

[34] Deutsche Geschichte, S. 722

[35] Deutsche Geschichte, S. 724

[36] Gebhardt, S. 354

[37] Gebhardt, S. 354

[38] Deutsche Geschichte, S. 724

[39] Gebhardt, S. 354

[40] Deutsche Geschichte, S. 724

[41] Deutsche Geschichte, S. 724- 725

[42] Mommsen, S. 331

[43] Gebhardt, S. 355

[44] Deutsche Geschichte, S. 726

[45] Deutsche Geschichte, S. 726/ Gebhardt, S. 355

[46] Deutsche Geschichte, S. 724

[47] Deutsche Geschichte, S. 726

[48] Deutsche Geschichte, S. 727

[49] Deutsche Geschichte, S. 727

[50] Mommsen, S. 333

[51] Deutsche Geschichte, S. 727

[52] Mommsen, S. 329

[53] Gebhardt, S. 355

[54] Gebhardt, S. 355

[55] Gebhardt, S. 355

[56] Gebhardt, S. 355

[57] Mommsen, S. 334/ 335

[58] Deutsche Geschichte, S. 727- 728

[59] Mommsen, S. 335

[60] Mommsen, S. 332

[61] Mommsen, S. 332

[62] Mommsen, S. 330

[63] Mommsen, S. 332

[64] Deutsche Geschichte, S. 724

[65] Vgl. Mommsen, S.333

[66] Vgl. Deutsche Geschichte, S. 728

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die erste Marokkokrise und die Einkreisung der Mittelmächte
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Veranstaltung
Integriertes Proseminar
Autor
Jahr
2003
Seiten
15
Katalognummer
V107654
ISBN (eBook)
9783640059058
Dateigröße
427 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Marokkokrise, Einkreisung, Mittelmächte, Integriertes, Proseminar
Arbeit zitieren
Sven Stienen (Autor:in), 2003, Die erste Marokkokrise und die Einkreisung der Mittelmächte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107654

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