Auf dem falschen Pferd gesessen? Glasnost, Perestroika und das Scheitern Gorbatschows


Seminararbeit, 2001

19 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. ) Einleitung

2. ) Gorbatschows Ausgangsbedingungen 1985
2.1. ) Die Auswirkungen des Rüstungswettlaufs auf die wirtschaftliche Lage
2.2. ) Die innenpolitische Ausgangslage
2.3. ) Auf welchen Apparat stützte sich Gorbatschow?

3. ) Gorbatschows Reformpolitik
3.1. ) Perestroika und die Konkurrenz zwischen Zivil- und Militärwirtschaft
3.2. ) Die neue Verteidigungsdoktrin, Abrüstungsbemühungen und der Rüstungshaushalt
3.3. ) Glasnost und die Unterstützung der Massen

4. ) Das Scheitern der Perestroika
4.1. ) Gorbatschow und die Partei
4.2. ) Der Verlust von Rückhalt im Volk
4.3. ) Der Putschversuch '91: der Apparat schlägt zurück
4.4. ) Warum Jelzins Erfolg gleichzeitig die Niederlage Gorbatschows bedeutete

5. ) Schlußteil

5.1. ) Fazit

1.) Einleitung:

Als Gorbatschow 1985 an die Macht kam, bestand deutlich die Notwendigkeit einer Umgestaltung der sowjetischen Wirtschaft.

Der jahrzehntelange Rüstungswettlauf, die Misswirtschaft und der sich erhöhende Druck der Krise der 80er Jahre auch auf den Ostblock zwangen ihn zu einem Umdenken. Zugleich war seine Machtbasis keine andere als die aller Führer der SU, nämlich die Nomenklatura bestehend aus dem Parteiapparat, der Armee und ihrer Generalität, und den in der Wirtschaft und dem öffentlichem Leben tonangebenden Funktionären und Bürokraten. Es ist offensichtlich, daß es sich hierbei nicht um abgeschlossene Personengruppen handelt, sondern um das Regierungssystem, das auch Gorbatschow als sein Mittel zur Machtausübung verstand.

Gorbatschows neue Politik der Perestroika bedeutete eine Reform, eine Umgestaltung, Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft. Die traditionelle Wirtschaft der SU war vor allem auf die militärische Balance bzw. Überlegenheit gegenüber dem Westen ausgerichtet. Da in einer nationalen Wirtschaft der Zivilsektor und der Militärsektor in ständiger Konkurrenz miteinander befinden, ist davon auszugehen, daß eine Reformierung, eine Anpassung an den Weltmarkt eine Umverteilung von Mitteln zugunsten der Zivilwirtschaft unbedingt voraussetzt.

Einer solchen Umverteilung stand die Nomenklatura entgegen, der es aus Gründen der System- und Machterhaltung vor allem darauf ankam, das wirtschaftliche Stärke sich weiterhin vor allem in militärischer Leistungsfähigkeit ausdrücken konnte.

Gerade Gorbatschows Basis war also das größte Problem bei der Umsetzung seiner Politik. Um sich die Unterstützung der Massen bei der Umgestaltung des Apparats bedienen zu können, „erfand“ er den zweiten Teil seiner Politik, eine Art Bürokratenkontrolle, Glasnost. Die langsame Einführung von Transparenz sollte es den Menschen ermöglichen, die Handlungen der Bürokratie zu überwachen und zu hinterfragen. Auch die Möglichkeit ökonomischer und politischer Zugeständnisse an das Volk und damit dessen echte Unterstützung war von der Durchsetzung einer Umverteilung weg vom militärischen Sektor abhängig.

Spätestens 1991 mit dem Putschversuch der alten Militärs wurde das Scheitern von Gorbatschows Politik offensichtlich. Auch wenn die Militärs nicht an die Macht kamen, was vor allem den Massen und Boris Jelzin dem als geschautem Funktionär das Vertrauen und Sympathie galt zu verdanken war. Gorbatschow kam nicht wirklich zurück an die Macht, und mit Jelzins aufgehendem Stern sank der Gorbatschows und seiner Perestroika.

Der Hauptaspekt meiner Arbeit wird die Frage nach den Auswirkungen der fortgesetzten Rüstung auf das Scheitern der Perestroika sein. Warum konnte Gorbatschow keine Umverteilung der Ressourcen auf den zivilen Sektor durchsetzen?

2.1. ) Die Auswirkungen des Rüstungswettlaufs auf die wirtschaftliche Lage

Im zweiten Weltkrieg waren die Rüstungsausgaben der Siegermächte, und natürlich auch Deutschlands auf ein nie dagewesenes Ausmaß gestiegen. So hat sich z.B. die Munitionsproduktion in den USA zwischen 1939 und 1944 verfünfzigfacht1. Weltweit stiegen die Rüstungsausgaben von im Schnitt 13 Mrd. Golddollar in den Jahren vor dem Krieg auf 730 Mrd. für jedes Jahr im Krieg . Das mag ja für einen Krieg relativ normal gewesen sein, das bemerkenswerte ist, daß nach dem zweiten Weltkrieg weder die USA noch die SU daran dachten, diese Überproduktion an Waffen einzustellen. Es entstand die Situation ständiger Konfrontation zwischen den beiden Supermächten und ihren Blöcken, der Nato und dem Warschauer Pakt.

Die ideologischen Begründungen für den Rüstungswettlauf waren im Osten nicht viel anders als im Westen. Den USA ging es darum, den weltweiten Kommunismus vor seiner Ausbreitung abzuhalten und ihn zurückzudrängen. Der Osten hingegen sah den sogenannten Imperialismus des Westens am Abgrund und den Sozialismus stalinistischer Prägung im weltweiten Vormarsch und hielt die wirkungsvolle Verteidigung der Sowjetunion und der „Bruderländer“ für die alles entscheidende Bedingung seines Erfolges. Beide Ideologien saßen dem Irrtum, Stalinismus für Sozialismus zu halten, auf. Was der Wahrheit am nächsten kommt, ist die Theorie vom Staatskapitalismus, die von Tony Cliff begründet worden ist. Diese Theorie vertritt den Standpunkt, daß die wahre Bedeutung der Konfrontation zwischen den Blöcken nicht in der Frage Sozialismus oder Kapitalismus liegt. Cliff analysierte die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sowjetischen Bevölkerung und fand heraus, daß von den Kriterien für Sozialismus, d.h. die Arbeiter kontrollieren die Produktionsmittel, die Art und Weise der Produktion und den Staat, keines auf die SU zutraf. Vielmehr hatte sich eine neue herrschende Klasse herausgebildet, die sich von dem Kapital im Westen vor allem durch seine Breite unterschied. Es war die Parteibürokratie, die Militärs und Funktionäre, die Nomenklatura, die die Maßstäbe in der Produktion setzte und auch die Arbeitsweise bestimmte. Die Produktionsmittel waren zwar Staatseigentum, der Staat aber wurde ja von der Nomenklatura kontrolliert, die alles daran setzte, den Arbeitern klar zu machen, daß Staatseigentum garantiert nicht ihr Eigentum ist.

Der staatskapitalistische Block stand nicht nur ideologisch in Konkurrenz zum Westen, sondern vor allem materiell. Die von den USA betriebene permanente Rüstungswirtschaft führte nicht nur dazu, das die erste große Nachkriegskrise erst in den 70er Jahren über die Welt hereinbrach, sie hatte noch einen anderen Aspekt, der sich vor allem auf die sowjetische Wirtschaft auswirken sollte. Besonders seit der Entwicklung und „Präsentation“ der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki war klar, daß die SU alles daran setzen mußte, auf militärischem Gebiet gleichzuziehen. Der Rüstungssektor war und ist nicht nur einer der hochtechnologisiertesten Sektoren in der Volkswirtschaft, sondern besonders seit dem Bau der Bombe auch enorm kostenintensiv. Die Volkswirtschaft der USA und ihr Markt war weitaus entwickelter und profitabler als der der UdSSR, was außer der russischen Ausgangslage 1917 mit dem Zwang zur nachholenden Industrialisierung natürlich auch daran lag, daß, um es gelinde auszudrücken, die Akkumulationsbedingungen während des Weltkriegs für das amerikanische Kapital ungleich günstiger waren. Dazu kommt natürlich, daß die Kriegsschäden auf sowjetischem Boden verheerend waren, wohingegen die USA ja selbst kaum unter dem Krieg gelitten hatten. Deshalb waren die Ausgangsbedingungen für ein Wettrüsten in den USA gegeben, die Volkswirtschaft war in der Lage, neben den enormen und per Definition unproduktiven Militärausgaben auch noch eine wettbewerbsfähige und konsumorientierte Wirtschaft zu halten, das jedenfalls auf lange Zeit. Die SU aber hat sich durch die Teilnahme am Rüstungswettlauf quasi ihr eigenes Grab geschaufelt. Die Ausgaben für Rüstung beliefen sich auf Größen, die selbst im Krieg selten übertroffen wurden. Die Aufrechterhaltung des militärisch-industriellen Komplexes über vier Jahrzehnte forderte nicht nur große Opfer an Menschenleben, sondern verhinderte auch die Entwicklung und Technisierung von Produktionsmitteln, zivilen Gütern, von Waren abseits von Waffen, welche selbst nichts produzieren können, also totes Kapital sind. Die Konkurrenz zwischen den beiden Blöcken spielte sich also auf militärischer Ebene ab. Es kam darauf an, die wirtschaftlich Stärke in militärische zu verwandeln. Da sich der Osten gegenüber dem „Klassenfeind“ kein Schwächen erlauben durfte um den ruhmreichen Sozialismus nicht zu gefährden, zog er nach und ließ sich auf die militärische Konkurrenz ein, die von den USA initiiert wurde. Das hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Wirtschaftslage weltweit.

Auch die amerikanische Wirtschaft kam über die Jahre währende permanente Rüstungswirtschaft immer mehr ins Hintertreffen. Ihr Wettrüsten führte zwar dazu, daß die Profitraten künstlich oben gehalten wurden, weil riesige Mengen Kapital praktisch verschwanden, einer der Gründe, warum große Krisen bis in die 70er Jahre ausblieben. Aber spätestens in den frühen 80er Jahren drohten Deutschland und Japan eine Gefahr für den US-Markt zu werden. Da diesen Ländern durch die nach der Niederlage im Weltkrieg praktisch verboten wurde, eine schlagkräftige Armee aufzubauen, geschweige denn zu rüsten, waren ungleich größere Geldmengen vorhanden, die reinvestiert werden konnten. Das erhöhte die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber amerikanischen Gütern, weil die Investitionen in die Rüstung wegfielen. So kamen die USA unter Zugzwang und versuchten, die SU mit ihrem 1982 von Reagan initiierten SDI(Strategic-Defense-Initiative)-Programm vollständig zu ruinieren. Selbst wenn er nur als Idee bestanden haben sollte, der sogenannte Krieg der Sterne war wohl eine der aufwendigsten und teuersten Staatsaufgaben, die man sich vorstellen konnte, doch machte schon die Idee, daß die Atomraketen für die USA kein Bedrohungspotential mehr darstellen könnte, der UdSSR die Hölle heiß. Und genau das sollte die Initiative zur Schaffung des SDI auch bewirken. Das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde quasi aufgehoben, indem ein atomarer Schutzschild die Möglichkeit zu einem „Gegenschlag“ im Falle eines Atomkriegs für die UdSSR ausschloß. Die Sowjetunion war gezwungen, sich im Gegenzug auch um hochtechnologisierte Waffenabwehrsysteme Gedanken zu machen, und Hochtechnologie war für die SU nur für Devisen und wegen des Embargos auch nur unter der Hand zu beschaffen. Natürlich versuchte die Sowjetunion sich auch an der Entwicklung, das jedoch verursachte naturgemäß jedoch ebenso hohe Kosten, die ihren Teil zum wirtschaftlichen Ruin beitrugen. So schaffte es die SU zwar noch, die Mir sozusagen als Beweis der Gleichwertigkeit russischer Technik ins All zu schießen, aber der „Krieg“ gegen die Sowjetunion wurde ja auf einem ganz anderen Gebiet gewonnen, auf dem wirtschaftlichen nämlich und nicht dem der verteidigungspolitischen Parität, so daß die Mir eher ein verfrühter Grabstein auf dem Grab der SU war als ein Beweis der Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit gegenüber dem Westen. Insgesamt setzte insbesondere der Rüstungswettlauf aufgrund der riesigen Kosten, die eine Verteilung des Haushalts zu Ungunsten der Zivilwirtschaft, der Konsumgüterproduktion in den Verschwendungssektor Rüstung erzwang, die „Sozialistische“ Volkswirtschaft enorm unter Druck. Zudem bezog ja der Sozialismus seine Legitimation als Staatsideologie vor allem aus der Erwartung, daß es den Menschen besser gehen sollte, und zwar allen und nicht wie im „freien“ Westen nur denen die sich ihre soziale Position auf Kosten anderer errangen. Und diese Erwartung sah die Mehrheit der 200 Millionen Menschen in zunehmendem Maße und mit abnehmender Perspektive auf Verbesserung enttäuscht.

2.2. ) Die innenpolitische Ausgangslage

Gorbatschow trat 1984 als Nachfolger Tschernenkos seinen Posten als Generalsekretär des ZK der KPdSU (Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion) an. Das hieß, er war Staatschef. Seine beiden Vorgänger waren jeweils nur sehr kurze Zeit im Amt. Der, dessen Stempel die innenpolitische Situation vor allem trug, war nach wie vor Leonid Breshnew, der sich von 1964 bis zu seinem Tod 1982 im Amt befand. Ich kann mich noch deutlich an die mindestens eine Woche währende Staatstrauer anläßlich seines Todes erinnern, als es mir verboten wurde, mich in der Schule dem Traueraltar auf weniger als zwei Meter zu nähern. Breshnews Vorgänger war Chrustschow, der die stalinsche Vergangenheit begann, aufzuarbeiten. Chrustschow versuchte, der Basis mehr Macht über ihre Parteikader zukommen zu lassen, er ermutigte die Menschen, ihre Führer mehr zu „belästigen“. Das führte natürlich zu erheblicher Unsicherheit innerhalb der Bürokratie, die nach dem Tode Chrustschows mit der Wahl eines Kaders der alten Schule, Breshnew eben, reagierte. Er bedeutete wieder mehr Rückhalt für die Nomenklatura, die Leitlinie seiner Politik war „Vertrauen in die Kader“. Das bedeutete natürlich eine enorme Stärkung des Apparats und führte zu politischer Vereisung. Der Apparat hatte 18 Jahre lang praktisch Narrenfreiheit und eine Kontrolle fand nicht statt. Seine Politik führte zu einer dramatischen Überalterung des gesamten Kaders wofür auch die enorme Sterberate an der Spitze der Partei- und Staatsführung als Zeichen gewertet werden kann. Auch wirtschaftliche Folgen seiner Regentschaft waren nicht zu übersehen. Die Breshnew-Ära wird oft auch als eine „Periode der Stagnation“ bezeichnet. Die amerikanischen Raketenstationierungen wurden mit dem Ausbau des Netzes von Rampen für die SS-20 beantwortet, Osteuropa wurde mit einem Atomteppich überzogen. Der Einmarsch in Afghanistan kostete viel außenpolitische Integrität, und mit den ersten toten Soldaten, die zurückkamen, lernte auch die Sowjetunion die Bedeutung eines „Vietnamtraumas“ kennen. Das Wirtschaftwachstum sank unter anderem wegen des exzessiven Hochrüstens auf einen Tiefstand und unter Gorbatschows Leitung in seiner Funktion als ZK-Sekretär für Landwirtschaft fuhr die SU eine Mißernte nach der anderen ein und wurde zunehmend von Getreideimporten abhängig. Zudem stellten die Ereignisse in Polen, die (versuchte) Zerschlagung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc und die Ausrufung des Kriegszustands 1982, ein Symptom auch für die Entwicklungen innerhalb der Sowjetunion dar. Sie waren ein Zeichen für den Machtverlust der Partei und die zunehmende Entfremdung zwischen ihrer Politik und den Ansprüchen der Massen.

Breshnews Tod 1982 machte Platz für seinen Nachfolger Andropow, unter dessen Schutz sich auch Gorbatschow befand. Andropow begann damit, den wirtschaftlichen Mißständen mit Säuberungskampagnen an der Parteispitze und Disziplinierungsmaßnahmen an der Basis und unter den Arbeitern. Nach nur 15 Monaten im Amt verstarb auch Andropow und wurde durch den der Nomenklatura genehmeren Tschernenko ersetzt. Das könnte eine Lektion für Gorbatschows spätere Reformbemühungen sein. Er wußte, daß er, wenn er sich auf den Apparat stützen wollte, wozu er auch keine Alternative sah, bei seinen Reformbemühungen sehr viel vorsichtiger vorgehen mußte, besonders was die Umgestaltung der Herrschaftsstrukturen betraf, um sich den Apparat nicht wie Andropow zum Feind zu machen. Auch Tschernenko verstarb nach nur einem Jahr im Amte und seine kurze Regierungszeit hatte so gut wie keine Folgen auf die Herrschaftsstrukturen.

2.3. ) Auf welchen Apparat stützte sich Gorbatschow?

Für die weitreichenden Reformen, die Gorbatschow als notwendig ansah, um die SU aus ihrer Krise zu führen, war Gorbatschow vor allem wegen des zu erwartenden Widerstands des Militärs und des unter Breshnew vergreisten und zum Selbstzweck der Machterhaltung fast autark agierenden Kaders auf die Mobilisierung von Kräften angewiesen, die in der Lage und willens waren, seine Bemühungen zu unterstützen. Eine Alternative zu schon bestehenden Institutionen der Macht gab es in der Sowjetunion kaum. Auch wenn es relevante Ansätze oppositioneller Bewegungen von unten gegeben hätte, Gorbatschow hätte sie vermutlich aufgrund seiner Positionen und seines Werdegangs vermutlich kaum genutzt. Darauf, daß eine breite Basis für massive Kritik und Umgestaltung im Entstehen war, gab es schon Hinweise. Die miserable Wirtschaftslage und die zunehmende soziale Krise hätten auch schon vor den riesigen Bergarbeiterstreiks 1989 für eine Umgestaltung mobilisiert werden können, was aber auch zu einem Unsicherheitsfaktor werden kann, wenn sich die sozialen Bewegungen selbständig machen und sich einer Kontrolle von oben entziehen. Das Kritik an den herrschenden Verhältnissen eine große Zahl an Zuhörern gewinnen konnte, wurde zum Beispiel bei der Beerdigung des Liedermacher­Dissidenten Wladimir Wyssotzki deutlich, zu der sich in Moskau mehrere zehntausend Menschen versammelten. Gorbatschows typische Funktionärskarriere verstellte ihm den Blick auf andere Kräfte als die etablierten. Die klassischen Säulen des staatskapitalistischen Systems waren die Partei, das Militär und der KGB. Die KPdSU hatte 19 Millionen Mitglieder und stellte u.a. durch ihren im Artikel 6 der Verfassung festgeschriebenen Führungsanspruch eine unverzichtbare Basis dar. Die hierarchischen Strukturen machten das Führungsgremium, das ZK, zur wichtigsten Komponente. Während sein Vorgänger Tschernenko noch einstimmig zum Generalsekretär der Partei gewählt wurde, hatte Gorbatschow etwas mehr Schwierigkeiten. Im ersten Wahlgang des ZK's erhielt er nur vier von acht Stimmen, letztendlich wurde er im zweiten Wahlgang zum Generalsekretär gewählt. Erschwert worden ist seine Wahl durch verschiedene Faktoren. Zum einen wurde er, trotzdem er seit 1971 Mitglied des ZK war, erst 1978 nach Moskau geholt, was ihm nur wenig Zeit gab, sich die in der Breshnew-Ära unverzichtbaren Beziehungen an der Spitze aufzubauen. Zum anderen hatte er sich in seiner Eigenschaft als Sprecher des kranken Andropow hervorgetan, der den Status quo in den parteilichen Machtstrukturen bedrohte. Damit machte er sich natürlich damals im ZK wenig Freunde. Dem Unsicherheitsfaktor ZK begegnete er mit einer rigiden Personalpolitik, durch die bis 1990 7 der 8 Mitglieder ausgetauscht wurden. Durch die Säuberungen, die sich durch weite Teile des Parteiapparats zogen, löste er einerseits die verfestigten klüngelhaften Strukturen auf und verhinderte den Aufbau von neuen Netzen, die zu einer Gefahr für ihn hätten werden können. Ergänzend versuchte er während seiner Amtszeit seine Position als Generalsekretär gegenüber anderen Institutionen durch Verfassungsänderungen auszubauen. Den Führungsanspruch der Partei selbst tastete er bis zum Dezember 1989 nicht an, als er auf den Druck der Bergarbeiter hin den Artikel 6 aus der Verfassung strich. Um den Umbau der Partei abzusichern, versuchte er sich der Unterstützung der Medien zu versichern und gestand ihnen durch den Glasnost umfangreichere Rechte zu. Darauf werde ich später noch einmal zu sprechen kommen.

Des weiteren rechnete er mit Unterstützung des KGB (der Geheimdienst) bei seinen Reformvorhaben. Erstens war sein „Ziehvater“ Andropow Chef des KGB bevor er Generalsekretär wurde und zweitens hatte der Geheimdienst durch sein Monopol auf Informationen Einblick in die tatsächliche wirtschaftliche Situation. Das mag dazu geführt haben, daß Gorbatschow schon vor dem (absehbaren) Tod Tschernenkos Informationen bekam, die den meisten anderen ZK-Mitgliedern nicht zugänglich waren.

Das Militär sollte sich als das größte Problem erweisen. Um die Reformen umsetzen zu können, war Gorbatschow gezwungen, den Rüstungs- und Militärhaushalt einzuschränken. Selbstverständlich konnte er das nur gegen die Generäle durchsetzen. So zeichnete sich schon bei der Beerdigung Tschernenkos ein Bedeutungsverlust der Armee ab, zu der erstmals keine Paraden stattfanden. Dieser Apparat war der zu bekämpfende, in seinem Einfluß zu beschneidende, stellte also selbstverständlich keine Unterstützung dar, was allerspätestens durch den 91'er Putschversuch der Generäle deutlich wurde.

3.1. ) Perestroika und die Konkurrenz zwischen Zivil- und Militärwirtschaft

Als Gorbatschow an die Macht kam, sah er sich mit einer wirtschaftlichen Lage konfrontiert, die damals von den Reformern noch als Vorkrise bezeichnet wurde, was eine grobe Untertreibung war, wie sich herausstellen sollte. Unter Breshnew und seinen beiden Nachfolgern machten sich zunehmende Ressourcenengpässe bemerkbar. Das Wirtschaftswachstum sank kontinuierlich und zeigte eine Tendenz zum Nullwachstum, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern nahm, wenn man das Bevölkerungswachstum berücksichtigt, ab. Mißernten, stagnierende Technologisierung der Produktion, Transport- und Rohstoffengpässe ebenso wie Probleme bei der Versorgung mit Gütern und veredelten Materialien verschärften das Bild einer Mangelwirtschaft. Dennoch stieg der Anteil der Rüstungsproduktion am Bruttosozialprodukt auf 15-17% im Jahre 1985. Zum Vergleich: der Rüstungshaushalt der USA belief sich auf 5,8%, der Großbritanniens auf 5%3. Nach Angaben des CIA wuchs der Verteidigungshaushalt in der SU zwischen 1970 und 1985 um 2-5% jährlich4.

Wegen der traditionellen Ressourcenknappheit der SU-Wirtschaft war deren Verteilung zwischen Zivil­und Militärwirtschaft von jeher ein Problem. Seit die Perspektive, Stalins These vom Sozialismus in einem Land folgend, nicht mehr in der weltweiten Erhebung gegen den Kapitalismus und seinem Sturz durch Revolutionen lag, war klar, daß die Priorität der sowjetischen Wirtschaft die Verteidigungsfähigkeit des „ersten sozialistischen Staates“ und nicht die Zivilwirtschaft war. Daß die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg fast unter die Räder kam, war allein Stalins Säuberungen in der Armee und seinem dummdreisten Vertrauen in den Hitler-Stalin-Pakt zu verdanken. Diese Prioritätensetzung hat sich seitdem auch nie wieder geändert. So wirkte sich der Mangel an Ressourcen immer zu Lasten des zivilen Sektors aus, was eine Sogwirkung nach sich zog, da, wie weiter oben schon erwähnt der Rüstungssektor keine Modernisierungen der Produktion nach sich zieht, sondern lediglich Zerstörungspotential aufbaut. Die Verteidigungs- und die Zivilwirtschaft waren aus verschiedenen Gründen in der Sowjetunion nicht wirklich getrennt, sonder eher verzahnt. Das ist nicht wirklich eine sowjetische Besonderheit, sondern auch im Westen relativ normal. Das Internet, um nur ein Beispiel zu nennen, ist zuerst ja auch eher für militärische Zwecke entwickelt worden. Entwicklungen, die für das Militär in Angriff genommen wurden, werden nach und nach auch für die Bevölkerung nutzbar und konsumierbar. Die Militärwirtschaft hatte in der Sowjetunion genau wie die Schwerindustrie in der DDR die Auflage eine bestimmte Menge Konsum-, und Gebrauchsgüter herzustellen. Das waren in der SU unter anderem Kühlschränke und Waschmaschinen, bei Bergmann Borsig, dem größten Schwermaschinenkombinat in der DDR, zum Beispiel Handhebelscheren und der BeBo-Scher- Rasierapparat. All diesen Produkten war an ihrer miserablen Qualität (man erinnere sich an den Spruch „Scheiß Osten“, der sich meist auf Qualitätsmerkmale bezog) als Abfall- bzw. Alibiprodukte zu identifizieren. Auch die Verteidigungsindustrie hatte rückwirkend unter der Misere der Zivilwirtschaft zu leiden, was sich an dem Verhältnis zwischen den Rüstungsausgaben insgesamt und den Ausgaben für Neuanschaffungen ablesen läßt. Im Verhältnis zum Wachstum der Verteidigungsausgaben insgesamt stiegen die Ausgaben für Neuanschaffungen um nur ein viertel bis ein drittel. Genauere Angeben sind schwer zu machen, da es keine wirklich zuverlässigen Angaben über den sowjetischen Verteidigungshaushalt zu geben scheint. Das weißt evtl. darauf hin, wie schwer es gerade der Glasnost im Militär haben würde, das überall der Bereich ist, der der größten Geheimhaltung unterliegt.

Weiterhin band die Verteidigungswirtschaft viele hochqualifizierte Fachleute wie z.B. Ingenieure oder Programmierer. Wenn Gorbatschow also wirklich eine Reform des wirtschaftlichen Systems in Angriff nehmen wollte , kam er also nicht umhin, eine Verschiebung der Prioritäten in Richtung Zivilwirtschaft anzugehen, um mehr Mittel und Ressourcen in die Konsumgüterproduktion umzuleiten. Dabei stand ihm die Breshnews hochgerüstete, auf Konfrontation ausgelegte Armee und deren Führung im Wege.

3.2. ) Die neue Verteidigungsdoktrin. Abrüstungsbemühungen und der Rüstungshaushalt

Die Ausrichtung der Truppen auf Konfrontation war also ökonomisch nicht länger tragbar. Der Krieg in Afghanistan verschlang Unsummen ebenso wie der Versuch, auf der Ebene nuklearer Bewaffnung mit den USA schrittzuhalten, deren Nationaleinkommen ungefähr sieben Mal so hoch war wie das sowjetische5. Um die Verteidigungsausgaben drosseln zu können, mußte sich eine Doktrin durchsetzen, die anstatt auf Abschreckung und Konfrontation auf Verhandlungen setzte. Zu der wirtschaftlichen Katastrophe kam im Falle der nuklearen Abschreckung noch die Katastrophe von Tschernobyl, die die Bevölkerung 1986 eindringlich mit den Gefahren und Folgen von Kernenergie, ob nun zivil genutzter oder militärischer, bekannt machte. So zeigte eine Umfrage in der Bevölkerung 1987, das 93% der Sowjetbürger keinen Grund sahen, der irgendwie den Einsatz von Nuklearwaffen rechtfertigen könnte6. Ein zusätzlicher Grund war Reagans SDI-Programm, das die Zweitschlagfähigkeit zu untergraben schien. Das sahen auch die Generäle und waren einer Veränderung der Ausrichtung der Armee nicht gänzlich abgeneigt. Gorbatschow aber versuchte von einer Vergleichbarkeit der militärischen Stärken, also dem Wettrüsten, hin zu sogenannter Hinlänglichkeit zu gelangen. Das war ein Punkt, in dem sich die Geister schieden, denn besonders nachdem der Western-Präsident Reagan seine Initiativen bekannt machte, war die Generalität der SU im großen und ganzen überzeugt, daß das Umdenken eher in Richtung neuer Militärtechnik wie z.B. Laser und Flugzeuge, die in der Lage waren, „kosmische“ Waffen zu tragen, gehen müßte, was mit einer Verringerung der Ausgaben nicht zu vereinbaren war. Man kann sagen, daß Reagans Programme und sein mehr als zögerliches Eingehen auf Gorbatschows Verhandlungsangebote eine ernsthafte Gefahr für die Perestroika und die wirtschaftliche Erholung der SU darstellten, und das war meiner Meinung nach kein Unfall. Die USA befanden sich auch in einer Position, die Verhandlungen nicht unbedingt notwendig machte, da der Verlust der sowjetischen Hegemonie, der auch eine Folge der wirtschaftlichen Notlage war, über Osteuropa absehbar war. Gorbatschow versuchte mit seinem „neuen Denken“ hin zu einer Sicherheitspartnerschaft zu gelangen. So begann er 1988 mit dem einseitigen Abbau von 500000 Truppen, 10000 Panzern 8500 Artilleriewaffen und 800 Flugzeugen. Gerade die Luftwaffe ist unter Breshnew ausgebaut worden und ist auch der teuerste Zweig der Militärwirtschaft, besonders seit der „Erfindung“ der Raumfahrt. Im INF-Vertrag wurde dem Abbau und der Zerstörung von SS-20-Raketen zugestimmt und der START­Vertrag beschloß die Reduzierung der Truppenstärke auf 50%. Es ist jedoch ein Trugschluß, zu glauben, daß allein Deeskalation sofort Kosten senkt. Was geschehen kann, ist daß Investitionen in die Verteidigungsindustrie zurückgehen. Da zwar versucht wurde, die Verteidigungs- und die zivile Industrie miteinander zu verzahnen und so der Kontrolle der Waffenproduktion den Militärs ein Stück weit zu entziehen, dies aber nicht vollständig gelang, hatte die Generalität weiterhin erheblichen Einfluß auf die Ausrichtung der Produktion. Außerdem ist es wahrscheinlich, daß Kosten für Diplomatie, Rüstungskontrolle, Spionage und eben Abwehr , die besonders auf teure Hochtechnologien angewiesen ist, steigen, weil halt eher auf diese Mittel gesetzt wurden. Fragt sich, ob eigentlich trotzdem weiter investiert worden ist und diese Kosten die anderen nicht ersetzten, sonder noch zusätzlich entstanden Gorbatschow versuchte den Apparat durch eine Postenrotation unter Kontrolle zu bekommen, die vor allem die alten Kader austauschen sollte, aber auch den jüngeren keine Chance bieten sollte, sich langfristig zu etablieren. Eine sichtbare Folge dessen, und ein Zeichen dafür, daß er evtl., jedenfalls in den Augen der „Alten“, dabei war, daß Kind mit dem Bade auszuschütten, war die Landung des deutschen Sportfliegers M.Rust ausgerechnet am Tag der Grenztruppen 1987 auf dem Roten Platz in Moskau. Als Reaktion darauf ersetzte Gorbatschow den alten Verteidigungsminister durch einen Mann namens Jasow, der interessanterweise eher der Fraktion der Angriffstheoretiker angehörte. Man kann annehmen, daß, da der Verteidigungshaushalt unter Gorbatschow nicht nennenswert gesunken ist, trotzdem sich die SU aus Afghanistan zurückzog und begann, abzurüsten, vermehrt Mittel in die Erforschung von Hochtechnologie flossen, will man nicht allein Gorbatschows rigides Eingreifen in die „Nationalitätenkonflikte“ für den Haushalt verantwortlich machen.

3.3. ) Glasnost und die Unterstützung der Massen

Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Stagnation und der daraus hervorgehenden Frustration und Perspektivlosigkeit in breiten Teilen der Bevölkerung kann man davon ausgehen, daß jede Öffnung, jeder Reformversuch, alles, was irgendwie einen Ausweg aus der Lage bot, bei den Massen offene Türen einrennen mußte. In der pro Kopf Konsumption an Gütern und Dienstleistungen nahm die SU weltweit den 50. bis 60. Platz ein, in der Produktivität der Landwirtschaft den 90. unter 109 Ländern, laut Schätzungen lebte Mitte der 80er Jahre 20% der Menschen unter der Armutsgrenze .

Glasnost bedeutete Demokratisierung, eine Öffnung in der Medienpolitik und die Möglichkeit einer Kontrolle der Nomenklatura von unten. Sie wurde aus verschiedenen Gründen notwendig. Die Führung hatte genausowenig wie das Volk Einblick in die wirkliche Lage des Landes. Das Beispiel des KGB zeigte, daß eine Institution, die das Monopol auf die Informationen hatte, sehr wohl Unterstützung für Reformen zeigen konnte, da sie mit den wirklichen Bedingungen vertraut war. Andererseits war Glasnost die Möglichkeit, den Filz abzubauen, der sich in den Strukturen breitgemacht hatte. Besonders die Rolle der Intelligenz wurde durch die schrittweise und nicht kontinuierliche Demokratisierung aufgewertet. Bücher, die über Jahre hinweg verboten waren oder verboten worden wären, wurden erhältlich und wurden geschrieben. Die Öffentlichmachung der Mißstände eröffnete Perspektiven auf eine Umgestaltung, die Abhängigkeit sowohl der Führung als auch der Basis von gefälschten und beschönigten Statistiken und Berichten konnte aufgebrochen werden. Obwohl Glasnost und Perestroika oft im gleiche Atemzug genannt werden, ist zu unterstreichen, daß die wirtschaftliche Umgestaltung Vorrang hatte und die Perestroika nur als ihre Flankierung gedacht war, also nie von gleichem Rang war. Doch verursachte Glasnost einfach dadurch, daß die Menschen ihre wahren Lebensbedingungen endlich nach Jahrzehnten Glorifizierung, wo nichts zu glorifizieren war, ein Erwachen der Kunst, des Bewußtseins und der Bereitschaft, sich zu engagieren ähnlich wie das in Revolutionen der Fall ist. Die Scheinwelt, in der sowohl die Arbeiter als auch die Führung getreu dem Spruch „die Arbeiter tun so als ob sie arbeiten, der Staat tut so, als würde er die Arbeiter bezahlen“ gehalten wurde, konnte nicht länger aufrecht erhalten werden. Das jahrelange Lügen hatte sogar den Effekt, daß die Menschen auch nicht mehr glaubten, was ihnen über den Kapitalismus erzählt wurde, auch wenn gerade das zum größten Teil der Wahrheit entsprach, wie besonders die Einwohner der DDR in einem jahrelangen Prozeß des Wartens auf die blühenden Landschaften erschrocken feststellen mußten.

Der Historiker Afanasjew schrieb in der Pravda vom 26.6.1988, daß die SU nie ein sozialistischer Staat gewesen sei, womit er meiner Meinung nach Recht hatte. Die kritisch Wochenzeitung „Argumenty i fakty“ verkaufte 1990 33 Mill. Exemplare, wohingegen die Regierungszeitung „Pravda“ („Die Wahrheit“, welch ein Zynismus!) zwischen 1985 und 1990 4 Mill. Leser verlor .

Der rechtliche Rahmen für eine wirkliche Pressefreiheit wurde erst am 1.8.1990 mit dem Gesetz über die Pressefreiheit in Kraft gesetzt. Auch das ist, neben der Tatsache, daß zum Beispiel Solshenizins „Archipel Gulag“ erst ab September '89 in Auszügen erscheinen konnte, ein Indiz für die nur schleppende Einführung der Pressefreiheit und die Zweitrangigkeit des Glasnost.

So vergrößerte Gorbatschow zwar seinen Rückhalt unter der Intelligenz, und natürlich nahmen die Massen, wie an den obigen Zahlen zu erahnen, regen Anteil an den neuen Möglichkeiten. Andererseits brachte Gorbatschow einen Stein ins Rollen, mit dem er nicht so gerechnet hatte. Als die Presseberichterstattung ihm nach dem Einmarsch in Wilna zu regierungskritisch wurde, schlug er dem obersten Sowjet im Januar 1991, wohlgemerkt wenige Monate vor dem Putsch, vor, das Gesetz über die Pressefreiheit auszusetzen!

Das größte Problem war wahrscheinlich, daß die kollektive Erfahrung des Elends, die den Menschen durch Glasnost ermöglicht wurde, selbstverständlich zu Erwartungen, sozialen und politischen Forderungen führte, die er nur auf Kosten der Rüstungswirtschaft und auf die Gefahr seines Machtverlusts hin hätte erfüllen können.

Die Bevölkerung war also in jedem Fall für eine Reform bzw. Erneuerung. Gorbatschow selbst schien jedoch stetig an Unterstützung zu verlieren, weil für die breite Masse keine wirklichen Verbesserungen zu erkennen waren, auf der sozialen Ebene geschah eher das Gegenteil.

4.1.) Gorbatschow und die Partei

Die Begriffe und die Idee der Perestroika sind auf dem 27. Kongreß der KPdSU zum ersten Mal von Gorbatschow vorgestellt worden. Die KPdSU vereinigte in ihrer enormen Größe Menschen aller Schichten, Klassen und auch politischer Einstellungen. Bis zu den ersten freien Wahlen 1989 war sie praktisch auch die einzige vorhandene legale Partei. Auch aufgrund ihrer Größe und des Verlusts des Geschichtsmonopols durch Glasnost verlor sie schnell an Kraft. Mit Glasnost und Perestroika begannen ihre Mitgliederzahlen rapide zu sinken. Es war unmöglich die Interessen, die in dem Lande vertreten waren, noch länger zusammenzuhalten, und das sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei. Ab dem Jahre 1989 kam es zu offenen Auseinandersetzungen zwischen dem ZK und der Basis der Partei sowie zwischen Konservativen und Reformern, die zunehmend dazu übergingen, Gorbatschow für entweder seine Reformbemühungen im allgemeinen oder für seine Zaghaftigkeit anzugreifen. 1991 gab sich die „reformistische“ Fraktion der Partei einen institutionellen Rahmen, sie gründete die Demokratische Plattform. Während der anhaltenden Sezessionskonflikte und Gorbatschows rigidem Eingreifen kam es zu Konflikten in der Partei, die z.B. in der Abspaltung einzelner nationaler Zweige wie zuerst der KP Litauen ihren Ausdruck fanden. Als Gorbatschow 1991 das neue Parteiprogramm vorstellte, kam es zu heftigen Protesten der traditionalistischen Teile. Insgesamt konnte eine Massenpartei wie die KPdSU mit ihrer Breite auf Dauer keinen zuverlässigen Rückhalt bieten. Als die KP in vielen Landesteilen der ehemaligen SU dann auch verboten wurde, regte sich zwar leiser Protest, doch keineswegs von einer Größe, wie er bei einer 19 Millionen Partei zu erwarten gewesen wären, wenn sie wirklich noch eine Massenbewegung dargestellt hätte.

4.2.) Der Verlust von Rückhalt im Volk

Gorbatschows Reformideen und besonders Glasnost weckte bei den Menschen riesige Hoffnungen und Erwartungen, was ihm zeitweise Rückenwind verschaffte. Besonders in der Intelligenz und sogar unter früher verfolgten und inhaftierten Regimegegnern stießen seine Ideen auf großen Widerhall. Boris Kagirlitsky zum Beispiel, Gefangener unter Breshnew, initiierte ein Konferenz unter dem Motto „soziale Initiativen für die Perestroika“: In dem Maße jedoch, wie Gorbatschow Hoffnungen enttäuschte und vor allem wenn er seinen Kurs unter dem Druck der Konservativen nach rechts korrigierte, verlor er an Rückhalt. Das tat er zum Beispiel, als er Jelzin zu größerer Popularität verhalf, indem er ihn 1987 von seinen Ämtern entband, weil Jelzin das schleppende Tempo der Reformen öffentlich kritisierte. Gorbatschow hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Massenbewegungen und tendierte eigentlich eher zu Repressionen, wenn er fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. So machten er und seine Reformer unter anderem die Massenstreiks im Kuzbass und Donbass für die wirtschaftliche Misere verantwortlich, und erließ Gesetze, die Streiks und das Anfachen von nationalen Bewegungen, die sich in vielen Republiken als Volksfrontbewegungen formierten, unter Strafe stellten. Parallelen zu den Streiks in Polen, die Jaruzelski zwangen, den Kriegszustand auszurufen, waren nicht zu übersehen. Im März 1991 ließ sich Gorbatschow sogar dazu hinreißen, öffentliche Demonstrationen in Moskau zu verbieten, ein Verbot das Gorbatschows Schwäche offensichtlich machte, es hielt sich nämlich auch hier niemand daran. Die Niederschlagung der Bewegung führte zwar zu Bitterkeit, hielt aber die Menschen nicht von weiteren Aktionen ab. Die wirklichen und größten Massenbewegungen waren aber die Volksfrontbewegungen, Nationalitätenkonflikte, die überall ausbrachen und große Teile der russischen KP-Konservativen zu chauvinistischer und antisemitischer Propaganda greifen ließen. Als die Menschen 1988 in Armenien auf die Straße gingen, war einer der Slogans „Das ist der Test der Perestroika“9. Dem begegnete Gorbatschow mit massivem Militäreinsatz, und zwar nicht, als die Massaker an Armeniern begangen wurden, sondern als er glaubte, Republiken könnten sich abspalten. Er war sich wahrscheinlich darüber bewußt, daß das zu einer Kettenreaktion führen könnte, was ja auch geschah. Die Hubschrauber, die das Militär schickte, um die Truppen zu stationieren wurden von den Armeniern „Schwalben der Perestroika“10 genannt.

4.3. ) Der Putschversuch '91: der Apparat schlägt zurück

Je schlechter die Lage im Land 1991 wurde, desto mehr versuchten die Konservativen, sich den Unmut der Leute zunutze zu machen. Dieser Versuch war, wie sich zeigen sollte, nicht von Erfolg gekrönt. Die Elite hatte die Massen verloren, sollten sie sie jemals überhaupt hinter sich gehabt haben. Die Soldaten wandten sich zunehmend den sezessionistischen Volksfronten zu, gründeten Plattformen und bauten eine Reformorganisation namens „Schild“

Auf. Der Offizierskorps war gespalten, stimmte teilweise Reformen zu und teilweise nicht.

Gorbatschow verlor sowohl über die Konservativen als auch über das Volk zunehmend die Kontrolle. Die Führung im Staat sah den Verlust innen- und außenpolitischer Macht und versuchte, die Demokratie- und sozialen Bewegungen niederzuhalten, worin Gorbatschow wechselnd konform mit ihnen ging und seine Zustimmung verweigerte. Demonstrationen wurden zerschlagen oder verboten und die demokratische Opposition unter Druck gesetzt. Im März 1991 attackierte Gorbatschow die demokratische Opposition als rechtsgerichtet und gab den Konservativen Nahrung.

Am 20.08.1991 stand die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrag an, der für die Konservativen ein Symbol für den Abschied von der Union war. Das war der Anlaß für acht Regierungsmitglieder, am 19.08. eine Notstandsregierung zu bilden. Gorbatschow, der sich zu der Zeit im Urlaub befand, wurde unter Hausarrest gestellt und von all seinen Funktionen entbunden. Die Putschisten sprachen davon, den Vormarsch des Kapitalismus stoppen zu wollen. Jedoch waren die Putschisten zu schwach, die Gegenbewegung, die sofort auf der Straße war, wenn auch mit viel weniger Stärke als bei den vorangegangenen Demonstrationen. Die Putschisten, die sich wenigstens die Unterstützung der Partei und der Führung in den anderen Unionsrepubliken sicher zu sein schien, doch diese zogen sich mehr oder weniger auf eine Abwartehaltung zurück.

4.4. ) Warum Jelzins Erfolg gleichzeitig die Niederlage Gorbatschows war

Jelzin verstand, wozu Gorbatschow unfähig war, nämlich die Menschen hinter sich zu bringen. Er schaffte es, Populismus, Demokratie, Nationalismus und den Markt unter einen Hut , den seinen nämlich, zu bringen. Er hatte die Fähigkeit und den Mut, die Dinge in Worte zu fassen, die Millionen unter den Nägeln brannten. Im September 1989 sagte er im Kongreß folgendes:

The people is loosing ist trust, while we are constantly repeating that perestroika has embraced everyone, that it is getting deeper and wider...This is already the fifth attempt to reform the country's economy in three decades. Remember the reforms of1956, 1966. 1979 and 1983. What did they lead to? Our fifth attempt has been getting nowhere for five years now.11

Das war etwas, das Gorbatschow wegen seines Respects vor dem und seiner Abhängigkeit vom Apparat nie zu sagen gewagt hätte. Die Zögerlichkeit und die ausbleibenden Erfolge von Perestroika und Glasnost führten zum Wachstum der pro-kapitalistischen Koalition, an deren Spitze sich Jelzin letztlich setzte. Er sah an dem in der Sowjetunion etablierten System nichts erhaltenswertes und war deshalb auch bereit, viel weiter zu gehen als Gorbatschow.

Seit 1986 Mitglied des Politbüros wurde er 1987. als er in der Öffentlichkeit die viel zu langsam durchgesetzten Maßnamen der Perestroika anprangerte, gefeuert. Ab 1989 saß er im Kongreß der Volksdeputierten und wurde Anführer der Opposition. Er war der Wortführer der Befürworter einer radikalen sogenannten Marktreform, ein Terminus, der auf jeden Fall positive Implikationen hatte und für den Bruch mit allem Dagewesenen stand. Der von ihm unterstützte 500-Tage-Plan zur Einführung der Marktwirtschaft, der 1990 beschlossen wurde, stieß auf Gorbatschows Ablehnung aber hatte die Unterstützung der stärksten parlamentarischen Kraft außerhalb der KP, der Bewegung Demokratisches Rußland ,die 1990 20-30%12 der Stimmen erringen konnte. Am 29.5.1990 wurde Jelzin Vorsitzender des Parlaments. Als er im Februar 1991 in einer von ihm erzwungenen Ansprache im Fernsehen einen scharfen Angriff auf Gorbatschow fuhr und dessen Rücktritt verlangte, wurde er dafür von hunderten Abgeordneten der konservativen Fraktion scharf attackiert. In den Tagen des Putsches war Boris Jelzins Stunde gekommen. Aufgrund der Schwäche der konservativen Putschisten war es nicht schwer, sich im richtigen Moment sich an die Spitze der wahrscheinlich erfolgreichen Gegenbewegung zu setzen. Nur rund 20000 Demonstranten waren in der Lage, das „Weiße Haus“ des Parlaments gegen die Putschisten zu verteidigen (Man verglich das z.B. mit dem Widerstand gegen den Castor, wo die Erfolge nach 20 Jahren unter der Beteiligung von zig Tausenden kaum erfolgreich zu nennen ist). Jelzin stellte sich in bester Revolutionärsmanier auf einen gepanzerten Transporter und rief zum Generalstreik auf. Die durch den Putsch sichtbar gewordene Schwäche der Konservativen, die offensichtlich an einer maßlosen Selbstüberschätzung und Wirklichkeitsferne litten, was Gorbatschow nie erkannte, ermutigte Jelzin zu weiterem Handel. Er übertrug alles Eigentum auf russischem Boden an Rußland und führte sofort die alte russische Fahne wieder ein. Am 25.11. dankte Gorbatschow ab und die SU hörte am 31.11. auf, zu existieren. Gorbatschows Zögerlichkeit und seine Fixierung auf den alten Apparat, sein Glaube an die Existenz des Sozialismus auf russischem Boden, hielten ihn davon ab, die Bedeutungslosigkeit der Konservativen zu erkennen. Dieses Problem hatte Jelzin offenbar nicht.

5.1.) Fazit

Gorbatschows Mission war der Versuch einer Revolution von oben. Das Land war in einem desolaten Zustand. Er war ein Mann, der aus dem Apparat kam und um seine Position wegen des mangelnden Rückhalts zu verlassen. Er sah sich gezwungen, an die Nomenklatura, die er eigentlich bekämpfen wollte, Zugeständnisse zu machen. Das ist meistens das große Problem bei einer „Revolution von oben“, daß es bestenfalls eine Reform werden kann. Die Menschen, die von der Notwendigkeit einer Umgestaltung überzeugt waren, waren nicht die, die das alte System getragen hatten, sondern die, die darunter gelitten hatten und die Gorbatschow aber auch niederhielt, um eben seinen vermeintlichen Rückhalt nicht zu gefährden. Um eine wirkliche Marktreform und Gesellschaftsumwälzung zu erreichen, wäre eine Öffnung notwendig gewesen. Solange aber nach den Bedürfnissen des alten Systems produziert wurde, weil die alte Elite nach wie vor das Bild, die Produktion und die Strukturen dominierte, konnte den Bedürfnissen der Menschen genausowenig entsprochen werden wie denen de globalen Marktes. Die Prioritäten, also entweder wir produzieren für die Rüstung oder den zivilen Markt, eine Entscheidung, die wegen knapper Ressourcen getroffen werden mußte, hätten wirklich radikal verändert werden müssen. Das war unmöglich, wenn man die alten Dogmen darüber, daß der Sozialismus gegenüber dem Westen verteidigt werden müsse, aufrecht erhielt. Gegen diese Dogmen hatte Gorbatschow zu kämpfen, und zwar in Form der alten Elite, vor der er Respekt hatte und deren Schwäche er bis zum Schluß nicht erkannte. Seine Möglichkeit, wirkliche Unterstützung zu bekommen, hatte er bei der Masse der Menschen durch seine Halbherzigkeit verloren. Diese Möglichkeit hatte Boris Jelzin und der hat sie genutzt. Wahrscheinlich wäre eine Umverteilung zugunsten der Güter- und Warenproduktion auch keine Rettung für die sowjetische Ökonomie gewesen. Hätte Gorbatschow soziale Forderungen erfüllt, wäre er aber länger Integrationsfigur geblieben und hätte eine wirkliche Machtbasis, die Menschen nämlich, gehabt.

Literatur:

- Tony Cliff (1999): Die Ursprünge der internationalen Sozialisten, Frankfurt/Main: VGZA e.V., edition aurora

- Rüstung, Modernisierung, Reform, hrsg. Von Hans-Henning Schröder , Köln: Bund-Verlag, 1990

- Der sowjetische Rüstungssektor unter den Bedingungen der neuen Wirtschaftspolitik, Hans-Henning Schröder, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien, 36-1987

- Die Rolle des sowjetischen Generalstabes im politischen Entscheidungsprozeß unter Gorbatschow, Frank Umbach, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien, 4-1992

- Die Verteidigungspolitik der UdSSR 1987-1989, Hans-Henning Schröder, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien, 14-1989

- Gorbatschow und die Generäle, Hans-Henning Schröder, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien, 45-1987

- Rauh, Bernhard: Die Auflösung von militärischen Machtstrukturen in der Sowjetunion, Hamburg: Verlag Dr.Kovac, 1998

- Sowjetpolitik unter Gorbatschow, hrsg. Vom Göttinger Arbeitskreis, Berlin: Duncker und Humblot, 1991

- Die Sowjetunion unter Gorbatschow, hrsg. VonHannes Adomeit..., Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1990

- David Kotz, Fred Weir (1997) Revolution from above, London, New York: Routledge

- Gerhard und Nadja Simon (1993): Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München: DTV Wissenschaft

- Harman, Chris (1990): The Storm breaks, in: International Socialism 2:46, London: Frühjahr 1990

- Vilmar, Fritz: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Frankfurt/Main: europäische Verlagsanstalt, 1965

...


1 Tony Cliff ,Die Ursprünge der Internationalen Sozialisten , S.60

2 Fritz Vilmar, Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, S.28

3 Davis, Höhmann, Schröder (Hrsg.), Rüstung, Modernisierung, Reform, S.77

4 ebenda, S.78

5 Gerhard und Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S.108

6 Hans-Henning Schröder, Gorbatschow und die Generäle, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien 45-1987, S. 46

7 Gerhard und Nadja Simon, Verfall und Untergang, S.50/51

8 ebenda, S.46

9 Chris Harman (Frühjahr 1990), The storm breaks, in: International Socialism 2:46, S.11

10 ebenda, S.11

11 ebenda, S.10

12 David Kotz/ Fred Weir, Revolution from above, S.135

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Auf dem falschen Pferd gesessen? Glasnost, Perestroika und das Scheitern Gorbatschows
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V107520
ISBN (eBook)
9783640057825
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pferd, Glasnost, Perestroika, Scheitern, Gorbatschows
Arbeit zitieren
Paul Grasse (Autor:in), 2001, Auf dem falschen Pferd gesessen? Glasnost, Perestroika und das Scheitern Gorbatschows, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107520

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