Oralität und Literalität nach Jack Goody / Eric Havelock


Ausarbeitung, 2001

6 Seiten


Leseprobe


Dieses Referat befaßt sich im ersten Teil mit den Merkmalen oraler Gesellschaften. Danach beschäftigt es sich mit piktographischen Schriftsystemen nach Jack Goody. Zuletzt will es die große Bedeutung der Erfindung der phonetischen Schrift aufzeigen , wobei es hauptsächlich auf Eric A. Havelock Bezug nimmt.

Orale Kulturen

Sowohl Eric Havelock als auch Jack Goody haben sich in ihrer Forschung mit oralen Kulturen befaßt. Sie kommen zu ganz ähnlichen Aussagen über die mentalen Strukturen oralen Denkens und das Wesen oraler Gesellschaften.

Vergangenheit und Geschichte werden mündlich von Generation zu Generation überliefert. Weiter gegeben wird jedoch stets nur das Wissen, das aktuell benötigt wird im gesellschaftlichen Kontext. Dies hat zur Folge, dass Informationen, die längere Zeit oder gar Generationen lang nicht gebraucht werden, irgendwann in Vergessenheit geraten und nicht mehr „abrufbar“ sind. Es wird also deutlich, dass in oralen Kulturen stets das Wissen vorhanden ist, das auch in der Gegenwart von Bedeutung ist. Über anderes lohnt es sich nicht zu berichten. Ebenso verhält es sich mit der Überlieferung der Geschichte. Auch sie ist immer nur soweit von Bedeutung, als sie sich auf die Gegenwart bezieht. Orale Gesellschaften haben nicht, wie literale, die Möglichkeit, Wissen irgendwo abzulegen für den Fall, dass es irgendwann wieder gebraucht wird. Es findet also keine „Wissenskumulation“ statt wie in literalen Gesellschaften. Havelock formuliert das negativ, für ihn war der Dichter oder Geschichtenerzähler ein „unhinterfragter geistiger Führer, der in seinem Gedächtnis das verbindliche Wissen speicherte, verwaltete, organisierte und publizierte. Er war Träger und Garant des kulturellen Gedächtnisses, indem er alle Informationen, die für eine Gesellschaft notwendig waren, speicherte und vermittelte. Seine Inszenierungen dienten der Vergewisserung eines Weltbildes. Eine kritische, analytische und individuelle Reflektion von übermittelten Informationen fand nicht statt.“1. Es stellt sich die Frage, ob orale Gesellschaften überhaupt zu dieser Art von Reflektion fähig wären. Das Denken oraler Kulturen steht in direktem Handlungszusammenhang. Es besteht keine kritische Distanz zwischen Denken und Handeln. In diesem Zusammenhang sieht Havelock auch die Tatsache,„daß der Mensch in der oralen Kultur kein Ich, keine Seele kein Selbst kennt. Er erfährt sich nicht als autonomes Ich („personality“), das in der Lage ist, sich zu erinnern, zu denken oder eigene Standpunkte einzunehmen“2. Hier ist auf die Forschungen von Walter J. Ong unter Bezugnahme auf A. R. Lurija zu verweisen. Er glaubte, „Eine sich von der (Um)welt distanzierende Welt- und Lebensauffassung ist nicht denkbar ohne das ihr entsprechende Medium des kommunikativen Austauschs“3.

Jack Goody betont dies eher positiv. Was sozial von Bedeutung ist wird erinnert, der Rest vergessen. Damit kann die Gesellschaft nicht mit sich in Widerspruch geraten. Er betont die Bedeutung der Sprache als wichtigstes Medium eines „Prozesses sozialer Verdauung und Ausscheidung“4.

Piktographische Schriftsysteme

Bildliche Darstellungen sind wahrscheinlich die ältesten Formen der Schrift, bereits Höhlen- menschen benutzten sie in ihren Wandmalereien. Ende des vierten Jahrtausends entwickelten sich komplexere Schriftformen, in denen versucht wurde, mit standardisierten Bildern Worte festzulegen. Dabei hatten viele Zeichen mehrere Bedeutungen oder erhielten in Verbindung mit einem anderen Zeichen eine neue Bedeutung (Logogramme). Durch die Erfindung des phonetischen Prinzips (ein Zeichen konnte auch für einen Laut stehen) wurde es möglich, auch abstrakte Begriffe wie „Leben“ oder „gut/böse“ darzustellen, ebenso wie Namen oder Fremdwörter. Die Hieroglyphenschrift der Ägypter ist ein Beispiel für solch ein weit ent- wickeltes piktographisches Schriftsystem mit phonetischen Elementen. Jack Goody betont aber die Nachteile dieser Bilderschriften als Mittel zur Verständigung . Es wird eine riesige Menge an Zeichen benötigt um alle für eine Gesellschaft relevanten Dinge auszudrücken. Ausserdem ist sie nur begrenzt erweiterbar, und neue Bilder oder neue Bedeutungen sind nur schwer durchzusetzen. Sie in ihren verschiedenen Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen zu erlernen braucht viel Zeit und Aufwand. Damit ist sie längst nicht allen Gesellschaftsschichten zugänglich, sondern nur einer kleinen Oberschicht der Priester, Schreiber, Beamten.

Deshalb benutzt Goody für diese Kulturen den Ausdruck „protoliteral“ oder „oligoliteral“ im Sinne einer zwar vorhandenen Literalität, die sich aber auf einen kleinen Teil der Gesamt- bevölkerung beschränkt (Havelock benutzt hier den Ausdruck „handwerkliche Literalität“). Zwar betont Goody die enormen sozialen, intelektuellen und technologischen Fortschritte, die in Ägypten, Mesopotamien und China aufgrund der Möglichkeiten der Schrift gemacht wurden, doch er unterstreicht auch, dass der größte Teil des Volkes nicht an der schriftlichen Kultur teilnehmen konnte. In allen drei Reichen hat sich eine „gebildete Elite von Autoritäten und Sachkundigen auf den Gebieten der Religion, der Verwaltung und des Handels ent- wickelt, die sich auf recht ähnliche Weise als zentralisierte Regierungsbürokratien be- hauptete“5.

Dadurch stagnierten die gesellschaftliche Entwicklung. Ebenso wie diese Schriften blieben auch ihre jeweiligen Kulturen viele Jahrhunderte hindurch beinahe unverändert. „Die Existenz einer infolge der Schwierigkeiten des Schriftsystems entstandenen Elite, deren fortgesetzte Machtausübung von der Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung abhing, muß als mächtige konservative Kraft gewirkt haben“6 Die entstandene Elite hat also weitere gesellschaftliche Fortschritte verhindert, um ihre eigene Position nicht zu gefährden. Goody betont aber die konservativen Tendenzen einer piktographischen Schrift überhaupt: „piktographische und logographische Systeme haben beide die Tendenz, die Bestandteile der natürlichen und der sozialen Ordnung zu verdinglichen, durch ihre Art der Aufzeichnung das aktuelle Bild der sozialen und ideologischen Situation als ein beständiges erscheinen zu lassen“7. Die Schriftsysteme „verbildlichen“ die Realität, ein Zeichen steht immer in Verbindung mit seinem Kontext und der Wirklichkeit und wird nur dadurch verständlich. Wie bereits erwähnt ist eine Erweiterung oder Veränderung des Wortschatzes oder der Bedeu- tungen nur schwer möglich, „neue Gedanken“ können kaum in Schrift umgesetzt werden und finden so auch keine Verbreitung.

Das phonetische Schriftsystem

Die Möglichkeiten der Schrift erweitern sich bedeutend durch die Erfindung der konsequent phonetischen Schrift durch die Griechen als Weiterentwicklung der semitischen Schrift um etwa 700 v. Chr.. Die Buchstaben sind jetzt im Gegensatz zu den Zeichen der piktographi- schen Schriften völlig ohne Bedeutung an sich. Die Schrift hat mit den Worten von Eric Havelock keinen intrinsischen Wert mehr. Statt dessen funktioniert sie „einem elektrischen Strom ähnlich, der dem Gehirn eine Erinnerung an die Laute des gesprochenen Wortes direkt übermittelte, so daß dessen Bedeutung ohne Bezug zu den Eigentümlichkeiten der benutzten Buchstaben im Bewußtsein gleichsam widerhallte“8. Das ist möglich, weil sie sich nicht mehr zwischen den Rezipienten und den Gedanken stellt. Vor allem dann, wenn das Alphabet in früher Jugend gelernt wird, muß man über seinen Gebrauch nicht mehr nachdenken.Das macht enorme gesellschaftliche Fortschritte möglich.

Beispielsweise erleichtert es die gegenseitige Übersetzung von Sprachen deutlich, wenn beide im phonetischen System notiert sind. Außerdem werden andere Mnemotechniken, die in oralen Gesellschaften wie im damaligen Griechenland üblich sind, überflüssig. Überlieferungen wurden bis dahin in Versform vorgetragen und weitergegeben, weil diese Technik das Erinnern erleichterte. Diese Methode schränkte jedoch die Möglichkeiten dessen, was gesagt werden konnte, deutlich ein.

Die Schrift kann Informationen für die Ewigkeit festhalten. Das bedeutet zum einen, dass alles so festgehalten werden kann, wie es gedacht oder gesagt wird. Die Alphabetschrift gibt alle Gedanken unmißverständlich wieder, egal ob eigene, individuelle Gedanken formuliert werden oder Aussagen von gesellschaftlicher Wichtigkeit. Zum anderen werden die gewaltigen Erinnerungsleistungen der Dichter und Geschichtenerzähler überflüssig. Durch diese Entlastung des Gedächtnisses werden riesige Kapazitäten frei. „Das Alphabet förderte die Produktion neuartiger Aussagen und stimulierte damit das Denken neuartiger Gedanken, die in schriftlicher Form herumliegen, erkannt werden, gelesen und wieder gelesen werden konnten und so ihren Einfluß unter den Lesern ausbreiten konnten“9. Auf diese Weise förderte die Schrift beim Menschen die Bildung einer kritischen Distanz zwischen Wahrnehmung und Denken, wie sie bis dahin nicht möglich war und förderte die Entwicklung eines individuellen Bewußtseins. Wenn Havelock sagt, in oralen Kulturen kannten die Menschen kein Ich, keine Seele, kein Selbst, so muß für ihn die menschliche Seele hier ihren Ursprung haben.

Auch betont er, dass bedeutende wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse sich erst nach der Durchsetzung der Alphabetschrift entwickelt haben.

Die tatsächliche Einführung der Schrift in Griechenland und die Auswirkungen auf die Gesellschaft gingen jedoch nur langsam voran. Zwar war die Schrift leicht zu erlernen, doch fehlte es noch lange an schulischem Unterricht, um sie zu verbreiten. Das wurde erst ungefähr 300 Jahre später erreicht. Erst damit verlor die Literalität erstmals ihren Elitestatus und wurde allgemein zugänglich.

Literatur:

-Kloock Daniela / Spahr Angela; Medientheorien, eine Einführung; 2. Aufl.; München 2000
-Schöttker Detlev (Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999

[...]


1 Daniela Kloock/Angela Spahr; Medientheorien, eine Einführung; 2. Aufl.; München 2000; S.:244

2 Daniela Kloock/Angela Spahr; Medientheorien, eine Einführung; 2. Aufl.; München 2000; S.:244

3 Daniela Kloock/Angela Spahr; Medientheorien, eine Einführung; 2. Aufl.; München 2000; S.:247

4 Daniela Kloock/Angela Spahr; Medientheorien, eine Einführung; 2. Aufl.; München 2000; S.:244

5 Detlev Schöttker(Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999; S.:158

6 Detlev Schöttker(Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999; S.:159

7 Detlev Schöttker(Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999; S.:160

8 Detlev Schöttker(Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999; S.:165/166

9 Detlev Schöttker(Hg.); Von der Stimme zum Internet; Göttingen 1999; S.:169

Ende der Leseprobe aus 6 Seiten

Details

Titel
Oralität und Literalität nach Jack Goody / Eric Havelock
Hochschule
Universität Karlsruhe (TH)
Veranstaltung
Seminar Medientheorie/ Mediengeschichte
Autor
Jahr
2001
Seiten
6
Katalognummer
V107442
ISBN (eBook)
9783640057153
Dateigröße
403 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Oralität, Literalität, Jack, Goody, Eric, Havelock, Seminar, Medientheorie/, Mediengeschichte
Arbeit zitieren
Andrea Geiss (Autor:in), 2001, Oralität und Literalität nach Jack Goody / Eric Havelock, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107442

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