Sharia-Vorbehalt und Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, erörtert anhand der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

32 Seiten


Leseprobe


Gliederung

1. Lebenssachverhalt und Agenda
a) Sharia-Vorbehalt für Menschenrechte?
b) IPWSKR als kultureller Menschenrechtsvorbehalt?

2. Mögliche Analysekonzepte
2.1 Rechtspositivismus
2.2 Naturrechtslehren
2.4 Explizit universalistische Modelle
2.4.1 Formalistischer Universalismus
2.4.2 Empirischer Formalismus
2.4.3 Rationalistischer Universalismus
a) Zum Einsatz der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit
b) Kurz-Rekonstruktion

3. Sharia-Vorbehalt, IPWSK und die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit
3.1 Sharia-Vorbehalt und IPWSKR im Urzustand
3.2 Umgang mit einem ungerechten Sharia-Vorbehalt und IPWSK: drei Modelle
3.2.1 Nationalstaatsmodell nach Rawls
3.2.2 Kosmopolitisches Modell
3.2.3 Arbeitsmodell
3.3 Schlussfolgerungen auf Basis des Arbeitsmodells

4. Diskussion

5. Literatur

Anhang

Rawls Gerechtigkeitsgrundsätze und Vorrangprinzipien

Skizze 1: Differenzprinzip unter der Bedingung der Freiheit

Skizze 2: Schleier des Nichtwissens

Skizze 3: Gerechtigkeitsgrundsätze der Gesellschaft der Teil-Gesellschaften

1. Lebenssachverhalt und Agenda

„Die Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. [..., LN]“

(Art. 1, S.1 AEMR)

„Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. [..., LN]“

(Art. 2, S.1 AEMR)

a) Sharia-Vorbehalt für Menschenrechte?

In der Kairoer Menschenrechtserklärung der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), wie sie 1990 von den Außenministern der Mitgliedsstaaten angenommen wurde, finden wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) in weiten Teilen wieder. Allerdings wird die Erklärung der Menschenrechte der OIC in ihrer Präambel unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Sharia gestellt (im Folgenden Sharia-Vorbehalt). (vgl. Bielefeldt 2000; 93) Die Legitimität der Menschenrechte bleibt jedoch solange „prekär“, „[...] solange der theoretische Geltungsvorrang der Sharia als göttliches und im Kern unveränderliches Recht gewahrt [...]“ bleibt (Bielefeldt 2000; 95) Kandil sieht in der Menschenrechtserklärung der OIC primär den Versuch einer religiösen Legitimierung eigentlich autoritärer, säkulär- nationalistischer, nichtreligiöser Staatsführungen. (Kandil 2001; 112f) Bloß eine Frage positiven Rechts und für politisches Handeln unbedeutend? Allein eine Frage juristischer Interpretation, ob beide Erklärungen miteinander vereinbar sind?

Diese Menschenrechte können sich potenziell erheblich von den AEMR-Menschenrechten unterscheiden. Um nicht mit islamischem Recht in Konflikt zu geraten, lässt beispielsweise Abul A’la Mawdudi in seinem Vorschlag einer Erklärung der islamischen Menschenrechte1die Verbote der geschlechts- und religionsspezifischen Diskriminierung außen vor und beschränkt sich auf Verbote der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Rasse, Sprache und Nationalität. (siehe Bielefeldt 2000; 92) Wie kann hiermit umgegangen werden?

b) IPWSKR als kultureller Menschenrechtsvorbehalt?

Der internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle (Menschen-)Rechte (IPWSKR) enthält in seiner Präambel folgende Formulierung:

„[...] in accordance with the Universal Declaration of Human Rights, the ideal of free human beings enjoying freedom from fear and want can only be achieved if conditions are created whereby everyone may enjoy his economic, social and cultural rights, as well as his civil and political rights […]”

(Präambel IPWSK)

„All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.”

(Art.1 IPWSK)

Die AEMR kannte Rechte, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zustanden und in gleicher Weise für alle Menschen galten. (vgl. Haase 1995; 251) Nun behauptet die IPWSKR, dass das Ideal der Freiheit des Menschen („human beings“) von Angst und (seine Freiheit überlagernden) Bedürfnissen („wants“) nur realisiert werden kann, wenn Bedingungen geschaffen würden, die jeden seine ökonomischen, sozialen und kulturellen sowie bürgerlichen und politischen Rechte wahrnehmen lassen; dies entspräche übrigens der AEMR („in accordance with the Universal Declaration of Human Rights“). Der Geist der ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte scheint in den Augen der Unterzeichner des IPWSKR bereits die AEMR durchweht zu haben, freilich ohne sich in Form von Normsätzen zu manifestieren (in diesem Sinne: vgl. Klee 2000; 60; gegen diese Auffassung: vgl. Abou 1994; 17).

Wendet man Alexys Theorie der Grundrechte - die er bezogen auf die Grundrechte des Grundgesetzes der BRD (GG) entwickelt - hierauf an, so stellt man fest, dass „[...] jede Behauptung über die Existenz eines Grundrechts die Geltung einer entsprechenden Grundrechtsnorm voraussetzt [...]“ (Alexy 1994; 40), die mit einem Semantischen Modell als Normsatz zu finden sei. (Alexy 1994; 41ff)

Werden in Art. 22 AEMR die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in eine instrumentelle Beziehung zugunsten der Würde und Entwicklung der Persönlichkeit eines jeden Menschen als Zweck gerückt, so rückt Art. 1 IPWSKR das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Mittelpunkt. Stellt die im IPWSKR aufgestellte Behauptung der Existenz ökonomischer, sozialer und kultureller Grundrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die AEMR einen Fall „[..., LN] politische[r] Rhetorik und de[s] hin- und herwogenden Kampf der Weltanschauungen [..., LN]“ (Alexy 1994; 38) dar? Oder handelt es sich um eine explizite Veränderung der AEMR-Menschenrechte, nämlich eine Erweiterung, die im Falle einer Kollision de facto einer Relativierung der Menschenrechte der AEMR gleichkommt? Welche Haltung soll die BRD einnehmen? Soll sie die Frage dem Rechtssystem als Subsystem der Gesellschaft überlassen?

Ist diese Frage gar irrelevant, stellen doch Grund-, nicht jedoch Menschenrechte, „subjektive Rechte“ dar, die einem Individuum Macht verleihen, „[...] einseitig auf Rechtsverhältnisse gestaltend einzuwirken.“ (Haase 1995; 253)? Ohne Existenz eines globalen Menschenrechtsgerichtshofes stellen Menschenrechte de facto keine subjektiven Rechte dar. Welche Auswirkung hätte eine mögliche Modifikation des internationalen Menschenrechtsbegriffs auf die Grundrechtsordnung der BRD, bekennt sich doch auch die BRD zu „[...] Menschenrechten als Grundlage jeder Menschlichen Gemeinschaft [ ]“ (Art. 1 Abs. 2 GG)

Wer ist ein „Volk“, das seinen politischen Status und seine ökonomisch-soziale-kulturelle Entwicklung selbst bestimmen kann? Kann ein „Volk“ wie das der BRD an „seinen Menschenrechten“ festhalten und ein anderes „Volk“ an anderen? Doch stehen „die Menschenrechte“ dann noch jedem Menschen in gleichem Maße zu, oder stehen sie unter einem Selbstbestimmungsvorbehalt? Ist die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit von Frauen - sagen wir durch ein „panarabisches Volk“ - eine tolerierbare Einschränkung des Geltungsbereichs der Menschenrechte und rechtlich legitimierbar durch das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung der Völker? - auch in der Anfangszeit der BRD war eine entsprechende geschlechtsdiskriminierende Einschränkung zulässig. Ist ein Verbot von liturgischem Geläut eine zulässige, hinzunehmende Einschränkung, um die kulturelle Entwicklung der Menschen im panarabischen Volk zu ermöglichen? - auch in der BRD sind liturgische Gebetsrufe des Muezzin selten zu hören (freilich aufgrund einer freiwilligen Selbstbeschränkung (und sozialem Druck?)). Begründet das Recht auf einen selbst zu bestimmenden politischen Status und ökonomisch-soziale-kulturelle Entwicklung ein Recht auf Zurückweisung einer Einmischung von außen? Wie massiv müssen die Proteste „des Volkes“ ausfallen, bis andere Staaten auf völkerrechtlicher Basis Einfluss nehmen dürfen auf die Auslegung der Menschenrechte in einzelnen Kulturräumen?

Im Rahmen dieser Arbeit sollen „Empfehlungen“ an die BRD erarbeitet werden, wie sie sich zum Sharia-Vorbehalt und zu möglichen Auslegungen der IPWSKR stellen „sollte“.

2. Mögliche Analysekonzepte

Bei der Frage nach möglichen Analysekonzepten ist prinzipiell festzuhalten, dass nach einem kulturunabhängigen Konzept zu suchen ist. Nur auf diese Weise ist eine allseitige Akzeptanz gewährleistet. (vgl. Klee 2000; 79) Eine „humanitäre Intervention“, die beispielsweise auf einem spezifischen Menschenrechtsverständnis basiert, das dem Menschenrechtsverständnis des Landes, in das interveniert wird, fremd ist, würde „[...] nichts anderes als eine temporäre hegemoniale Grenzüberschreitung [darstellen, LN].“ (Maus 2002; 245)

2.1 Rechtspositivismus

Als möglicher Ansatz ist der Rechtspositivismus zu nennen, sei es nun in „bescheidener Form“, radikal oder als „reflektierender“ Rechtspositivismus. (vgl. Höffe 2001; 35f) Menschenrechte, wie auch immer inhaltlich bestimmt, wären zwar kein verbindliches Völkerrecht, sondern lediglich als Richtlinien aufzufassen, welche Rechte als Grundrechte in den Nationen der Welt zu positivieren sind. (vgl. Katz 1991; 272 & 294ff) Dabei setzt der Rechtspositivismus zumindest Verfahrensgerechtigkeit, formale Gerechtigkeit, das Postulat der Realisation und wahre Tatsachenfeststellung voraus. (vgl. Weinberger 1988; 221ff) Die Umsetzung der Menschenrechte könnte, dann via Gewaltenteilung erreicht werden. (vgl. Böckenförde 1999; 241ff)

In Falle der Wahl dieses Ansatzes wäre der BRD kaum mehr als die Förderung eines Diskurses über die in Grundrechte zu überführenden Menschenrechte zu empfehlen - sprich, 5 in hiesiger Arbeit wäre die UN-Praxis des „positivistischen Gedanken der Ratifikation“ (vgl. Klee 2000; 80) nachzuvollziehen. Ggf. sollte darauf hingewiesen werden, dass der Diskurs auch (Menschen- bzw.) Grundrechtschranken-Schranken, u.U. die Gefahr einer „Inflation von Grundrechtsschranken“ (so Böckenförde/Mahrenholz in einem Minderheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts; vgl. Bamberger 2000; 34f), sinniger Weise mit umfassen sollte. Besagter Sharia-Vorbehalt, IPWSKR oder beispielsweise der für Menschenrechte in China geltende Wohlfahrtvorbehalt (persönliche Freiheiten werden bei Normkollision einem Recht auf Wohlfahrt untergeordnet) (vgl. Nucci 2000; 442f) wären dann Fragen, die je nach Art des Positivismus mehr oder weniger exklusiv im Rechtssystem abzuarbeiten wären.

2.2 Naturrechtslehren

Naturrechtslehren (Grotius, Thomasius, zur ersten ausformulierten Naturrechtstheorie siehe Locke), denen an dieser Stelle auch Lehren göttlichen Rechts oder anthropologische Vernunftrechtslehren hinzugerechnet werden, haben sich Naturrechtslehren als nicht erfolgreich erwiesen. (Haase 1995; 25ff) Ihre Tradition brach bereits im ersten Drittel des 19.Jh. ab, um im 20.Jh. selbst durch den Begriff der Menschenrechte substituiert zu werden. (Höffe 2001; 41 & Klee 2000; 78)

In unserer Analyse wird dennoch bis zu einem gewissen Grade an eine „Naturrechtslehre“ im Gewande einer Vernunftlehre angeknüpft, indem ein auf „Moral“ basierender, überpositivistischer Ansatz gewählt wird. Zumindest werden im Rahmen der Erörterung eines auf Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit basierenden Modells auch empirische Erkenntnisse bezüglich eines moralischen Sinns mit einbezogen werden (im Sinne eines „empirisch informierten Diskurses“ (Zürn 1994)).

2.4 Explizit universalistische Modelle

Abou unterscheidet drei Kategorien explizit „universalistischer Visionen“, „[...] die versuchen, die doppelte Untertänigkeit des Individuums gegenüber einer bestimmten menschlichen Gruppe und gegenüber der Humanität als solcher, unabhängig von jeglicher Determination in Einklang zu bringen [...]“ (Abou 1994; 39): den „formalistischen Universalismus“, den „empirischen Universalismus“ und den „rationalistischen Universalismus“.

2.4.1 Formalistischer Universalismus

Im Rahmen des formalistischen Universalismus geht es im Prinzip um das Auffinden von Inhalten verschiedener Kulturen, denen universale Bedeutung zugemessen werden kann, die also prinzipiell für alle Menschen aufgrund ihres Menschseins gelten können. Zu unterscheiden seien eine funktionalistische Richtung (Malinowski), die nach Basisfunktionen suche, die allen kulturellen Institutionen inhärent sei. Eine weitere Richtung suche nach allen Kulturen innewohnenden Gehalten und zuletzt rechnet Abou die „strukturelle Anthropologie“ von Lévi-Strauss dem formalistischen Universalismus zu. (Abou 1994; 53ff) Der formalistische Universalismus, gewisser Maßen die universelle Suche nach gemeinsamer Relativität, werde „[...] von den heutigen Relativisten gepriesen [...]: er betont einerseits die Einmaligkeit der kulturellen Funktionen - und zwar bei allen Menschen, sowohl den wilden als auch den zivilisierten -, und andererseits die Einmaligkeit der Funktionsweise des Geistes.“ (Abou 1994; 39)

Nun scheint mir diese Theorierichtung viel zu komplex, um als theoretisches Gerüst für eine Hausarbeit dienen zu können. Es sei darum auf eine eingehende Diskussion und Anwendung dieses verzichtet.

2.4.2 Empirischer Formalismus

Im Rahmen eines empirischen Formalismus sollen Werte auf bio-physischer Basis und einer „interessenbestimmten Ethik“ gewonnen werden. (Abou 1994; 39)

Dieser empirische Formalismus scheint mir aus dreierlei Gründen eine an dieser Stelle nicht erfolgversprechend. Erstens: Es bleibt weiterhin unklar, wie aus dem Sein ein Sollen werden soll, ist doch allein ein Sein empirischen Methoden zugänglich und dass Sollen dadurch definiert, dass es eben nicht ist. (Druwe 1995) Zweitens: Selbst wenn es durch Hinzunahme einer interessengeleiteten Ethik möglich wäre, aus dem Sein ein Sollen abzuleiten, so besteht weiter das Problem der Generalisierbarkeit der Untersuchungsergebnisse. Wenn beispielsweise das Ergebnis der Forschung lautet, dass kulturunabhängig Kindern und Jugendlichen seitens der Eltern ein Entscheidungsfreiraum eingeräumt wird (Nucci 2000; 450ff) und kulturunabhängig Korrelationen zwischen elterlicher Überkontrolle und deviantem Verhalten - z.B. eine Korrelation des PADS (Parental Authority Difference Scale) mit Depressionen einen Pearson-Korrelationswert von .43 auf einem Signifikanzniveau von nur p < 0,001 ergibt (Nucci 2000; 455f) - gefunden werden, dann stellt sich die Frage, ob dieses Eltern-Kind-Verhältnis so auf das Verhältnis Staat-Mensch übertragen werden kann. Bedeutet ein weniger an Freiheit durch Beschränkungen des Staates ein Mehr an Depressionen unter der (erwachsenen) Bevölkerung? Drittens: Wenn in einer Gesellschaft nur einzelne unterdrückt werden, so besteht die Gefahr, dass ein solchermaßen begründeter Menschenrechtsschutz für die geringe Zahl derer, die tatsächlich unter dem Freiheitsentzug leiden, schlicht übergangen wird, deren Leid einkalkuliert wird (die Anzahl der psychisch leidenden dürfte nur nicht zu groß werden). Insofern ist Nucci zuzustimmen:

„Solche empirischen Befunde können philosophische Analysen nicht ersetzen, aber Annahmen über die Wurzeln der Konstruktion eines „allgemeinen Menschenrechts auf Freiheit“ (Gewirth, 1982) und ähnliche Überlegungen stützen.“

(Nucci 2000; 473)

2.4.3 Rationalistischer Universalismus

Im Rahmen rationalistisch universalistischer Konzeptionen wird die Priorität eines vernünftigen, moralischen Wesens gegenüber seinem soziokulturellen Dasein angenommen. (Abou 1994; 39) Als vom Vernunftrecht inspirierte Variante, die sich insbesondere gegen rechtspositivistische Ansätze wendet, sind hier insbesondere modernen Vertragstheorien zu nennen. (vgl. Höffe 2001; 41; vgl. auch Weinberger 1988; 221ff)

a) Zum Einsatz der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit

Besonders prominent ist Rahmen Rawls Theorie der Gerechtigkeit geworden. Als konstruktivistischer Zugang bereinigt Rawls Kants Lehre des kategorischen Imperativs (ideengeschichtlich der Ausgangspunkt des Prinzips der Universalisierbarkeit (vgl. Weinberger 1988; 225ff)) „vom metaphysischen Beiwerk“ (Rawls 1979; 297; „Kantian constructivism“).

„Thus a constructivist liberal doctrine is universal in its reach once it is extended to give principles for all politically relevant subjects, including a law of peoples for the most comprehensive subject, the political society of peoples. Its authority rests on the principles and conceptions of practical reason, but always in these as suitable adjusted to apply to different subjects as they arise in sequence; and always assuming as well that these principles are endorsed on due reflection by the reasonable agents to whom the corresponding principles apply.”

(Rawls 1993; 46)

Dieser Ansatz scheint in unserem Kontext erfolgversprechend, da diese Herangehensweise einerseits geringe Annahmen voraussetzt (vgl. Maus 1998; 72), u.a. die prinzipielle Möglichkeit zu rationaler Reflexion, und andererseits eindeutige „Handlungsempfehlungen“ erwarten lässt: einerseits in Form eines Kanons von Grundrechten, andererseits eine Art gerechten „Finanzierungsmechanismus“ für Interventionen zugunsten einer internationalen Anerkennung dieses Kanons. (letzterer Gedanke wird in Abschnitt 3.2.3 „Arbeitsmodell“ entwickelt)

Zu beachten sind dabei die folgenden Aspekte. (vgl. im Folgenden u.a. Druwe 1995) Erstens: Obwohl gemeinhin von Rawls „Theorie“ der Gerechtigkeit die Rede ist - so auch im Folgenden -, handelt es sich um ein Gedankenexperiment der Form „unter Bedingungen A, B, C würden rationale Individuen X wählen.“ Wenn der Leser also bereit ist, die Bedingungen A, B und C (und keine weiteren) gedanklich nachzuvollziehen, so sollten seine logischen Erwägungen zu eben jenem Ergebnis X führen und nicht zu Y. (vgl. u.a. Weinberger 1988; 218)

Zweitens: Wie der Begriff Gedankenexperiment bereits andeutet, wird die Rawlsche „Theorie“ der Gerechtigkeit als Modell - also in analytischer Sprache - rekonstruiert. Während empirische Sprache sich auf (die) Realität bezieht und sich damit etwaige Folgerungen auf Realität beziehen (was freilich zu oben genanntem Problem der Nicht- Auffindbarkeit von Normen führt (siehe 2.4.2)), so geht der analytischen Sprache qua definitionem der Realitätsbezug ab. Dies trifft entsprechend auch für etwaige Schlussfolgen zu.

Drittens: Aus eben gesagtem geht hervor, dass mit dieser Arbeit lediglich, ausgehend von spezifischen Annahmen, möglichst kohärent ein Vorschlag zum Umgang mit den geschilderten Problemen entwickelt werden soll, dem man folgen mag oder nicht. In diesem Sinne sind die Lesbarkeit erhöhende Floskeln wie „soll“ etc. zu interpretieren.

Viertens: Rawls selbst warnt davor, das Gedankenexperiment (bzw. den Schleier des Nichtwissens) auf globaler Ebene anzuwenden, impliziere er doch ein individualistischnormatives Konzept:

„The difficulty with an all-inclusive, or global, original position [= Schleier des Nichtwissens, LN] is that its use of liberal ideas is much more troublesome, for in this case we are treating all persons, regardless of their society and culture, as individuals who are free and equal, and as reasonable and rational, and so according to liberal conceptions. This makes the basis of the law of people too narrow.”

(Rawls 1993, 66)

... doch andererseits vertritt Rawls m.E. zutreffend die Haltung, dass ...

„Eine Gerechtigkeitsvorstellung muss aufgrund der uns bekannten Bedingungen des menschlichen Lebens gerechtfertigt sein, oder sie ist es überhaupt nicht.“ (Rawls 1979; 494)

Insofern wird hier unter Berufung auf letzteres Zitat eine Position vertreten, die davon ausgeht, dass eine Konzeption der Gerechtigkeit nicht an metaphysischen Überlegungen ansetzen kann, dass also ein etwaiger Anspruch, dass Gerechtigkeit auch via göttlichem Recht erreicht werden könne, zurückzuweisen ist. Kommunitaristischen Positionen wird eigens ein Platz im Arbeitsmodell eingeräumt. (siehe 3.2.3; „Arbeitsmodell“)

b) Kurz-Rekonstruktion

Ziel der Rawlschen Überlegungen ist es, gerechte Grundsätze für eine wohlgeordnete Gesellschaft zu finden.2Die spiel- bzw. entscheidungstheoretischen Überlegungen Rawls basieren auf dem methodologischen Individualismus, gehen also von rationalen, kosten- nutzen-maximierenden Individuen aus. Eine gesellschaftliche Ordnung ist dann gerecht, wenn sie auf freiwilliger Zustimmung beruht. Entsprechend der Vier-Stufen-Methode (siehe Anhang) wählen die Bürger (aller Generationen der Gesellschaft) in einem fiktiven Urzustand („original position“) zunächst Gerechtigkeitsgrundsätze, auf der zweiten Stufe werden gemäß den bereits beschlossenen Gerechtigkeitsgrundsätzen ein System verfassungsmäßiger Befugnisse der Regierung und Grundrechte gewählt (im Folgenden i.d.R. kurz „institutionelles Arrangement“). (Rawls 1979; 224) Diese zwei Stufen sind im Rahmen der hiesigen Arbeit die zentralen, so dass die Rekonstruktion sich auf diese beschränkt. Auf der dritten Stufe wird dann entsprechend der Ergebnisse der ersten beiden Stufen über die Gerechtigkeit einzelner Gesetze und politischer Programme entschieden (Rawls 1979; 226) und auf der vierten und letzten Stufe findet eine „[...] Anwendung von Regeln auf Einzelfälle durch die Verwaltung und die Justiz und die Befolgung von Regeln durch die Bürger im Allgemeinen [...]“ (Rawls 1979; 228) statt.

Der entscheidende Punkt ist, dass die Individuen die Grundsätze unter fairen Bedingungen treffen, weshalb Rawls selbst von Gerechtigkeit als Fairness spricht: die Individuen wissen gerade so viel, dass sie eine „vernünftige“ Wahl in der jeweiligen Frage treffen können, was Rawls den „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) nennt, der „die [...] Funktion einer vernünftigen Selbstüberlistung interessierter Egoisten [...]“ (Maus 1998; 92) hat. So sind bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze allen Individuen gleichermaßen nur die „Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit“ bekannt, also, dass sie den gewählten Gerechtigkeitsgrundsätzen später unterworfen sind, und dass sie vernünftige Lebenspläne unter der Bedingung der Knappheit der Mittel, die zu deren Realisierung nötig sind, verfolgen werden; zudem vertehen sie politische Fragen, Wirtschaftstheorie, kennen Grundfragen gesellschaftlicher Organisation und Gesetze der Psyche. Nicht bekannt ist ihnen ihr jeweiliger Platz in der Gesellschaft, ihre Klassenzugehörigkeit, ihr persönlicher Status, ihre natürlichen Gaben, ihre Intelligenz, Körperkraft, die jeweilige Vorstellung vom persönlich gewählten Guten, Einzelheiten des Lebensplans und Besonderheiten der Psyche. Auf Stufe zwei wären entsprechend Grundsätze der Sozialwissenschaften, natürliche Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft und der wirtschaftliche und politische Entwicklungsstand der Gesellschaft bekannt. Weiterhin unbekannt sind natürliche Gaben, Vorstellung vom persönlichen Wohl und eigene Stellung. (Rawls 1979; 159ff & 223ff; der wirtschaftliche und politische Entwicklungsstand wird im Arbeitsmodell als nicht bekannt vorausgesetzt (siehe 3.2.3)) Von Stufe zu Stufe sind immer mehr Dinge bekannt, der Schleier des Nichtwissens wird gewissermaßen immer ein Stück weiter gelüftet.

Da die Bedingungen für die Entscheidung für alle gleich sind, kann die plastische Vorstellung einer Zusammenkunft und Wahl vieler durch die Vorstellung der Wahl eines „repräsentativen Bürgers“ ersetzt werden; dies macht de facto keinen Unterschied: die Gerechtigkeitsgrundsätze und Vorrangregeln, bzw. das institutionelle Arrangement, sind die logische Folge der Ausgangsbedingungen und rationalen Wahl im Gedankenexperiment. Die Gerechtigkeitsgrundsätze lauten:

(1) „Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist [...]“ und (2) „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: a) sie müssen unter der Einschränkung eines gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.“

(Rawls 1979; 336)

Die Vorrangregeln lauten:

(1) „Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; dem gemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: a) eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken; b) eine geringere als gleiche Freiheit muss für die davon Betroffenen annehmbar sein [...]“ und (2) „Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen: a) eine Chancen-Ungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern; b) eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mindern.“ (Rawls 1979; 336f) (weitere Kurzrekonstruktionen siehe v.a. Hart 1998; 117ff & Höffe 1998; 3ff; siehe ggf. auch Druwe 1995; Weinberger 1988; Schaber 1991)

An dieser Stelle ein letzter Hinweis, um einer Verwirrung ob des auf den ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes zugeschnittenen Arbeitsmodells: das Movens der Bürger ist in der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit ist das Wissen, dass sie eigene Lebenspläne unter den Bedingungen von Knappheit realisieren werden wollen. Sie entscheiden sich für eine Vorrangregel, weil „Freiheit“, die Rawls umreißt als „Dieser oder jener Mensch [...] ist frei [...] von dieser oder jener Einschränkung [...] und kann das und das tun [...]“ (Rawls 1979; 230), eine notwendige Bedingung für deren Realisierung ist; sie entscheiden sich ferner für das Differenzprinzip, weil der erste Grundsatz nicht ausreichend ist. Beide Grundsätze stehen in einer lexikalischen (bzw. lexikographischen) Ordnung zueinander: „Nach dieser Ordnung muss der erste Grundsatz erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann, dieser vor dem dritten usw.“ (Rawls 1979; 62) (Insofern verblüfft es, wenn die Diskussion um eine globale Anwendung des Schleiers des Nichtwissens in der Literatur, soweit sie mir bekannt ist (es soll sich um eine „Massenbewegung von Literatur“, „eine Debatte von fast industriellem Ausmaß“, eine „Legion“ von Literatur handeln (Höffe 1998; 1 (Vorwort))), derart massiv auf das Differenzprinzip abhebt.)

3. Sharia-Vorbehalt, IPWSK und die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit

Zunächst wird nach der Gerechtigkeit des Sharia-Vorbehalts und einer gerechten Interpretation des IPWSKR gefragt. Anschließend wird gefragt, welche Reaktion seitens der BRD als gerecht zu bezeichnen ist. Doch liefert uns die Theorie der Gerechtigkeit überhaupt einen konzeptionellen Rahmen hierfür? Erörtert wird letzterer Aspekt anhand zweier Modelle, die sich jedoch jeweils als problematisch erweisen, so dass ein Arbeitsmodell entwickelt wird.

3.1 Sharia-Vorbehalt und IPWSKR im Urzustand

Wenn der Sharia-Vorbehalt im Urzustand behandelt würde, so kann davon ausgegangen werden, dass er als perfektionistisch abgelehnt würde.

Als teleologische Theorie („strenger Perfektionismus“) würde der Sharia-Vorbehalt eine Maximierung gottgefälligen Verhaltens verlangen; als intuitionistische Theorie („gemäßigter Perfektionismus“), würde das Prinzip der Gottgefälligkeit neben anderen stehen. (Rawls 1979; 360f)

Den Perfektionismus als teleologische Theorie würde der repräsentative Bürger zurückweisen, müsste er doch damit rechnen, dass seine Ansprüche „hinter dem höheren gesellschaftlichen Ziel der Maximierung der Perfektion zurückstehen müssen“: „Die Beteiligten [bzw. der repräsentative Bürger, LN] können nicht ihre Freiheit aufs Spiel setzen, indem sie durch einen Wertmaßstab festlegen lassen, was gemäß einem teleologischen Gerechtigkeitsgrundsatz maximiert werden soll.“ (Rawls 1979; 362f & 363; vgl. auch 363ff) Auch wenn der repräsentative Bürger bei der Verwirklichung seines vernünftigen Lebensplans nicht durch den Sharia-Vorbehalt behindert würde, so hat er unter dem Schleier des Nichtwissens keine Kenntnis darüber, ob dem so sein wird.

Die intuitionistische Variante - „gemäßigter Perfektionismus“ - würde als solcher zwar nicht notwendig abgelehnt, doch müsste der repräsentative Bürger im Urzustand Grundsätze einer intuitionistischen Theorie beschließen. Dies würde er jedoch nicht, da er nach wie vor keinen Grund für die Anerkennung eines Perfektionsprinzips hätte. Vielmehr „[...] sind perfektionistische Maßstäbe als politische Grundsätze unbestimmt, ihre Abwendung auf öffentliche Fragen kann nur unsystematisch und subjektiv sein, wie überzeugend sie auch innerhalb engerer Denktraditionen und -gemeinschaften sein mögen.“ (Rawls 1979; 366; vgl. 365ff)

Ein Religionsvorbehalt würde einen perfektionistischen Grundsatz zugunsten einer bestimmten Religion - in unserem Falle des sunnitischen Islam - voraussetzen. Dieser Gedanke würde unter dem Schleier des Nichtwissens nicht gewählt werden werden. Damit ist auch der Sharia-Vorbehalt nicht im Urzustand wählbar und a priori als ungerecht im Sinne der Theorie der Gerechtigkeit zu bezeichnen; nach der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze widerspricht er dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz, der besagt, dass „Jedermann [...] das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist [hat].“ (Rawls 1979; 336)

Die Entscheidung zum Freiheitsverzicht bleibt in der Rawlschen Theorie dem Individuum überlassen. Gerade der Absolutheitsanspruch, den Religionen gegenüber (den ihren oder den) göttlichen Regeln verlangen, ist der Grund für das Recht auf Religionsfreiheit: „Es genügt, dass die einzige überhaupt mögliche Übereinkunft [bei Vorhandensein mehrerer Glauben, LN] nur den Grundsatz der gleichen Freiheit für alle in Kraft setzen kann.“ (Rawls 1979; 237) Der repräsentative Bürger würde folglich Religionsfreiheit als Grundrecht festschreiben. (vgl. Rawls 1979; 30f)

Entsprechend würden im Urzustand auch keinerlei Pflichten im Sinne einer wie auch immer gearteten Gottgefälligkeit gewählt. Es stellt sich nun die Frage, ob damit die gesetzlichen Regelungen, die den Sharia-Vorbehalt konkretisieren, per se nicht befolgt werden müssen. Rawls geht davon aus, dass - wenn die „Grundstruktur der Gesellschaft einigermaßen gerecht“ sei -, „so muss man ungerechte Gesetze als bindend anerkennen, falls sie ein gewisses Maß der Ungerechtigkeit nicht überschreiten.“ (Rawls 1979; 387) Mit religiöser (und auch geschlechtsbezogener) Unterdrückung sind jedoch Bedingungen gegeben, die zumindest zivilen Ungehorsam rechtfertigen; „[...] diese Ungerechtigkeiten [liegen in diesem Falle, LN] für jedermann auf der Hand [ ]“ (Rawls 1979; 409; vgl. auch ders. 391) Dabei ist unerheblich, ob es sich in der jeweiligen Gesellschaft um Gesellschaften handelt, in der der Islam von einer überwiegenden Mehrheit akzeptiert wird. Zwar nimmt der repräsentative Bürger mit der Einführung einer Mehrheitsregel bei der Wahl des institutionellen Arrangements

„[...] die Gefahr auf sich, unter den Mängeln der Kenntnisse und des Gerechtigkeitssinnes der anderen leiden zu müssen, um die Vorteile einer wirksamen Gesetzgebung zu gewinnen. Ein demokratisches Regierungssystem kann nicht anders funktionieren. [... doch, LN] Grob gesprochen, sollte die Last der Ungerechtigkeit auf lange Sicht mehr oder weniger gleichmäßig auf die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft verteilt sein, und in jedem Einzelfall sollten aus der Ungerechtigkeit keine allzu schweren Nachteile erwachsen. Daher ist die Gehorsamspflicht problematisch für ständige Minderheiten, die seit vielen Jahren Ungerechtigkeiten erlitten haben. Und gewiss braucht man auf die eigenen oder fremde Grundfreiheiten nicht zu verzichten, denn das konnte im Urzustand nicht im Sinne der Gerechtigkeitspflicht liegen, ebenso wenig im Sinne des Rechts der Mehrheit, wie es die verfassunggebende Versammlung beschlossen hat.“

(Rawls 1979; 391)

Die Mehrheitsregel hat nur eine untergeordnete Stellung „als bloßes Instrument“. (Rawls 1979; 392)

Beim IPWSKR gilt es zunächst zwei Fälle zu unterscheiden: (a) einmal als Bestätigung der individuellen Rechte, wie dies von Paul3 gesehen wird, oder (b) als Instrument zur Relativierung individueller Rechte, indem durch Bezugnahme auf Art. 1 IPWSKR eine Ausgestaltung der AEMR-Menschenrechte entsprechend einer selbstbestimmten kulturellen Entwicklung des eigenen Volkes.

Im ersten Falle wäre m.E. nichts ungerechtes am IPWSKR zu finden; der repräsentative Bürger hätte keinen Grund sie aus rationalen Gründen nicht zu wählen. Im zweiten Fall würde der bereits beim Sharia-Vorbehalt angesprochene Einwand zutreffen, dass der IPWSKR einen Verstoß gegen den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz darstellt. Letzteres wäre für den repräsentativen Bürger nicht wählbar und damit ungerecht.

Damit ist nun deutlich geworden, dass wir uns - mit Ausnahme einer individualistischen Auslegung des IPWSKR - im Rahmen der „Theorie der unvollständigen Konformität“, die sich nicht mit einer gerechten bzw. wohlgeordneten Gesellschaft beschäftigt, sondern mit der „Behandlung von Ungerechtigkeiten“ befinden. (vgl. Rawls 1979; 24f)

3.2 Umgang mit einem ungerechten Sharia-Vorbehalt und IPWSK: drei Modelle

Nun schließt hieran die Frage nach den Konsequenzen, die aus diesem ungerechten Zustand eines Sharia-Vorbehalts, bzw. in jenem Falle, dass die problematische IPWSKRInterpretation propagiert würde, erwachsen sollen. Bedarf es des Eingreifens von außen, oder ist dies a priori abzulehnen? Widerspräche ein Eingreifen der Souveränität der verschiedenen Gesellschaften/Staaten? Warum sollten rationale Individuen, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft leben, zugunsten eines Mehrs an Wohlordnung in einer anderen Gesellschaft überhaupt eingreifen, ist dies doch mit Kosten verbunden?

Bislang wurden zur Behandlung internationaler Fragen der Gerechtigkeit im Prinzip zwei unterschiedliche Modelle auf Basis von Rawls entwickelt, ein „Nationalstaatsmodell“ („inter- state justice“ (Nardin 1981)/nationalstaatliches Modell (Schaber 1991; Rawls 1979 & 1993)/„Modell separierter Gesellschaften“ (Koller 1999)) und ein „kosmopolitisches Modell“ (kosmopolitisches Modell (z.B. Beitz 1974 & 1983)/„Modell einer umfassenden Weltgesellschaft“ (Koller 1999)). (vgl. Schaber 1991; 2f) Mit Nardin lassen sich die Hauptstreitpunkte ausmachen als: Staaten versus Individuen als Bezugspunkt für Gerechtigkeit sind, und, ob es um ein zu erreichendes Gut geht, oder um Verfahrensgerechtigkeit. (Nardin 1981; 233)4

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es sich nur beim Rawlschen Modell um ein weitgehend ausgearbeitetes handelt, die kosmopolitischen jedoch i.d.R. nur Einzelaspekte thematisieren. (vgl. auch Schaber 1991; 3 & 67ff) Fand beispielsweise bis etwa Mitte der 80er-Jahre v.a. eine Auseinandersetzung im Sinne eines globalen Differenzprinzips statt, so dominiert heute die Frage nach einem „Weltdemokratiegebot“ (Höffe 2002; 11) eher im Vordergrund. (siehe z.B. Beiträge in Lutz-Bachmann / Bohman 2002 und Brunkhorst / Köhler / Lutz-Bachmann 1999) Durch diesen geänderten Fokus scheint die Debatte sich dabei von Rawls gelöst zu haben. Es scheint mir nichts desto trotz gerechtfertigt, von kosmopolitischen Modellen zu sprechen, da in diesen Überlegungen der Schleier des Nichtwissens mehr oder weniger konsequent global angewendet wird und entsprechend die Rolle, die Gesellschaften / Staaten / Nationen zugewiesen wird, variiert. Es wird ein eigenes Arbeitsmodell vorgelegt, dass m.E. plausible Vorschläge für die hier zu behandelnden Probleme ableitbar macht.

3.2.1 Nationalstaatsmodell nach Rawls

Das „Nationalstaatsmodell“ entwickelt Rawls selbst. (Rawls 1979; 415ff) Gemäß der VierStufen-Methode (siehe Anhang) werden zunächst für jede Gesellschaft gesondert die Gerechtigkeitsgrundsätze abgeleitet und ein entsprechendes institutionelles Arrangement gewählt. Auf diese Weise erhält er wohlgeordnete Gesellschaften.

Nun stellt Rawls sich einen „erweiterten Urzustand“ als Urzustand zwischen den Vertretern von „Nationen“ vor, die die Aufgabe haben, Grundsätze für die Regelung gegensätzlicher Ansprüche zwischen Staaten festzulegen. Kenntnisse über die von ihnen vertretenen Nationen besitzen sie nur insofern, als dass eine „vernünftige Entscheidung“ möglich ist. Der erweiterte Urzustand der Nationen entspricht also in etwa dem fairen Urzustand der Bürger:

„[...] Sie wissen zwar, dass jeder eine andere Nation vertritt, in der aber jeweils die gewöhnlichen menschlichen Lebensverhältnisse herrschen; doch sie wissen nichts über die besonderen Verhältnisse ihrer eigenen Gesellschaft, ihre Macht im Vergleich zu anderen, und sie kennen auch nicht ihre persönliche Stellung in ihrer Gesellschaft. [...]“

(Rawls 1979; 415)

Die Vertreter der wohlgeordneten Gesellschaften haben im erweiterten Urzustand primär das Ziel, gerechten Institutionen und die sie ermöglichenden Bedingungen zu wahren. (Rawls 1979; 417) Rawls meint nun, dass er erste Grundsatz der Gleichheitsgrundsatz (wie er auch im Völkerrecht zu finden ist) sei. Unabhängigen Völkern kommen für Rawls analog den Individuen auf Ebene der Gesellschaft gleiche „Grundrechte“ zu. Hierunter fielen der „[...] Grundsatz der Selbstbestimmung, das Recht eines Volkes, seine Angelegenheiten ohne Eingriffe fremder Mächte selbst zu regeln. Eine weitere Folgerung ist das Recht auf Selbstverteidigung gegen Angriffe sowie auf Bildung von Verteidigungsbündnissen zur Wahrung dieses Rechts. Ein weiterer Grundsatz ist, dass Verträge eingehalten werden müssen, sofern sie mit den übrigen Grundsätzen für die zwischenstaatlichen Beziehungen verträglich sind. Verteidigungsbündnisse in richtigem Verständnis wären also bindend, dagegen wären Vereinbarungen, bei einem ungerechtfertigten Angriff zusammenzuwirken, von Anfang an nichtig.“

(Rawls 1979; 416)

Ferner würde man sich für ein ius ad bellum und ein ius in bello entscheiden, wobei letzteres auf das Ziel eines „gerechten Frieden“ ausgerichtet sei. (vgl. Rawls 1979; 416f) Dieses Modell ist aus mehrerlei Gründen im Rahmen dieser Arbeit nicht anwendbar: Erstens setzt das Modell wohlgeordnete Gesellschaften voraus.5Wenn wir annehmen, dass die Mitgliedsstaaten der OIC jedoch keine wohlgeordneten Gesellschaften im Rawlschen Sinne sind, wie der Sharia-Vorbehalt nahe legt, so ist dieses Modell nicht anwendbar. Wer wäre im Falle einer nicht-wohlgeordneten Gesellschaft der Vertreter im erweiterten Urzustand? Und wie könnte er eine derartige Nation vertreten? Als Vertreter jener Bürger, die nicht unter dem perfektionistischen Prinzip leiden (u.U. gar profitieren) sind die von Rawls vorgeschlagenen völkerrechtlichen Grundsätze rational wählbar. Im Falle eines Vertreters als vernünftiger Bürger jener Gesellschaft, der in keine Kenntnis darüber besitzt, ob er in jener Gesellschaft einer Minderheit angehört (es besteht immerhin eine 50%-Wahrscheinlichkeit, dass er als Frau der übervorteilten „Minderheit“ angehört), würde er diesen Grundsätzen so rationaler Weise nicht zustimmen können.

Zweitens geht das Rawlsche Modell von verschiedenen Gesellschaften aus, die sich lediglich auf Grundsätze des Umgangs miteinander - im Sinne von Verboten zugunsten der Bewahrung der eigenen gerechten Institutionen - einigen. In herkömmlichen Begriffen, würden diese inter-gesellschaftlichen Grundsätze lediglich „Abwehrrechte“ gegeneinander konstituieren, jedoch keine „Anspruchsrechte“ aneinander. Dies wird von Beitz dahingehend kritisiert wird, dass die natürlichen Ressourcen sehr ungleich verteilt seien und entsprechend ein globales Differenzprinzip zur Anwendung kommen müsse: ein Mehr an natürlichen Ressourcen ist rein zufällig und mitnichten verdient. (s.u.)

Drittens ist einzuwenden, dass in der Rawlschen Konzeption der moralische Gesichtspunkt der Gerechtigkeit als Fairness weitestgehend verloren geht. Wenn der repräsentative Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft den Sharia-Vorbehalt in einer anderen Gesellschaft beurteilen würde, so würde er ihn für ungerecht halten. Aber weiter würde er sich nicht darum kümmern: weil es eben eine andere Gesellschaft ist - und damit deren binnengesellschaftliche Angelegenheit. Er könnte zwar getrost davon ausgehen, dass auch die Mitglieder der anderen Gesellschaft im Prinzip zu dem selben Urteil wie er kommen würden, aber es würde ihn nicht kümmern. Der Schleier des Nichtwissens wäre zwar generationsübergreifend jedoch nicht global. Jede zu gründende Gesellschaft würde also ihre eigenen Ziele verfolgen, was auf einer „fragwürdige[n] Analogie“ (Schaber 1991; 75) zwischen Individuum und Gesellschaft/Staat gründet; diese Ziele besäßen in diesem Modell über alle Generationen hinweg Gültigkeit, und würden die „anthropologische Konzeption“ von Rawls, vernünftige Lebenspläne und moralischer Sinn (Rawls 1979; 548), zur Gänze überlagern.6

Schwieriger nachzuvollziehen wird dieser Sachverhalt darüber hinaus auch dadurch, dass Rawls sich vorstellt, jeder Bürger könne im Prinzip zu einem repräsentativen Bürger werden kann, der dann so entscheiden kann, wie es auch seine Mit-Bürger tun würden, wenn sie den Schleier des Nicht-Wissens aufsetzen würden. Warum sollte derjenige, der sich in den Status des repräsentativen Bürgers versetzt nicht auch ein Urteil „gerecht“ oder „ungerecht“ über Gesellschaftsgrenzen hinaus fällen können? (vgl. Rawls 1979; 39)7

Rawls selbst meint, dass man die Gerechtigkeitsgrundsätze, nach denen die wohlgeordnete Gesellschaft zu organisieren ist, mit unserem wohlüberlegten Alltagsurteil übereinstimmen würde. (vgl. Rawls 1979; 37f; Hart 1998; 120) Der Nachvollzug der völkerrechtlichen Grundsätze scheint mir jedoch nur unter der Bedingung, dass es sich nur um wohlgeordnete Gesellschaften handelt, möglich. M.E. hat Rawls zwar den Vertragsgedanken gerettet - indem nur Ansprüche innerhalb einer Vertragsgemeinschaft entstehen, die dann auch auf Akzeptanz stoßen -, doch auf Kosten der Gerechtigkeit als Fairness.

Unter Anwendung dieses Modells, bei dem die Empfehlungen auf der dritten Stufe der vier- Stufen-Methoden anzusiedeln sind, würde es angeraten erscheinen, den IPWSKR zu unterstützen, bestärkt er - wenn man die IPWSK-Rechte im Sinne einer Untermauerung individueller Rechte sieht - die gerechte Grundordnung der eigenen Gesellschaft; im Falle einer Auslegung mit Fokus auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, würde der IPWSKR den im erweiterten Urzustand beschlossenen Souveränitätsgrundsatz stützen, so dass der repräsentative Bürger auch in diesem Falle dem IPWSKR rationaler Weise zustimmen könnte.8

Hinsichtlich des Sharia-Vorbehaltes legt das Modell nahe, das Thema zu ignorieren: Der Vertragsgedanke bleibt stets auf die jeweilige Gesellschaft beschränkt, so dass nur festgestellt werden kann, dass die BRD keine Veranlassung hat, eine bestimmte Position zu beziehen. De facto würde das Beziehen einer Position in dieser nicht die eigene Vertragsgemeinschaft betreffenden Frage gegen das gewählte Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen (dieses zumindest anzweifeln); darüber hinaus wäre es in diesem Modell ungerecht (da nicht rational wählbar), beispielsweise unfreiwillig erhobene Ressourcen (Steuern) für einen Menschenrechtsdialog o.ä. (z.B. auch Entwicklungshilfe (!)) aufzubringen, da es sich hierbei um eine Minderung der Chancen auf Verwirklichung der vernünftigen Lebenspläne der zu Steuerzahlungen verpflichteten Bürger der BRD handeln würde.

Grundlegender vielleicht noch dürfte der Einwand sein, dass in dieser Rawlschen Konzeption kein Platz für „Menschenrechte“ ist: sie sind Menschenrechte entweder obsolet, weil sie im Rahmen der Institutionen bereits als Grundrechte abgesichert sind, oder sie dienen lediglich als eine Art Orientierungsmaßstab im Falle des Zusammenbruchs der Ordnung in einer Gesellschaft; dies jedoch nur für jene Bürger, die sich in der vom Zusammenbruch getroffenen Gesellschaft befinden; andere Gesellschaften würden gegen die im erweiterten Urzustand beschlossenen Grundsätze verstoßen, wenn sie eingreifen würden. Zudem treten Pflichten im Sinne der Gerechtigkeit - z.B. das Differenzprinzip - nicht zwischen den Gesellschaften auf, da sie selbst keine große Einheitsgesellschaft konstituieren.

Eine Einschränkung „unserer Verantwortung“ auf die „Gerechtigkeit aller sozialen Institutionen [... auf] unser nationales Institutionensystem [...] ist [...] unhaltbar.“ (Pogge 2002; 133) Dieser Meinung schließe ich mich an dieser Stelle an.910

3.2.2 Kosmopolitisches Modell

Kosmopolitischen Modellen sind drei Eigenschaften gemeinsam: sie setzen (1) am Individuum als letztem moralischen Bezugspunkt an („Individualismus“), beschränken sich

(2) nicht auf Individuen einer spezifischen Gesellschaft, Rasse, Kultur o.ä. („Universalismus“) und nehmen (3) eine „Allgemeinheit der Verpflichtung“, also eine globalen Gültigkeit des Modells, an. (Pogge 2002; 126) Beitz entwickelt ausgehend von seiner Kritik am Rawlschen Nationalstaatsmodell11erste Ansätze für ein kosmopolitisches Modell. So meint er, dass selbst im Rahmen einer vollständigen Theorie der Gerechtigkeit moralische Konflikte bezüglich der Ressourcenverteilung und aufgrund transnationaler Produktion entstehen können. (Beitz 1974; 366ff, 371 & 373ff) Möge es einem Individuum überlassen sein, seine Talente auch nicht auszuschöpfen, so sei die Situation in einer Welt knapper natürlicher Ressourcen, in der einige Gesellschaften über mehr als andere verfügen, eine andere:

„The appropriation of valuable resources by some will leave others comparatively, and perhaps fatally, disadvantaged. Those deprived without justification of scarce resources needed to sustain and enhance their lives might well press claims to equitable shares. […] Not only can one not be said to deserve the resources under one’s feet; the other grounds on which one might assert an initial claim to talents are absent in the case of resources, as well.“

(Beitz 1974; 368f)

Dies erkennt Rawls später selbst an, wenn er feststellt, dass jede moderne Gesellschaft nicht isoliert von anderen existiert, sondern mannigfaltige Bezüge bestünden. Infolgedessen entstünde die Notwendigkeit, eine Leitlinie („conception“) für die eigenen Beziehungen zu diesen zu entwerfen. (Rawls 1993; 43ff)

Deutlicher tritt der kosmopolitischen Charakter von Beitzs Modell später zu Tage, wenn er die Argumentation über die Ungleichverteilung der natürlichen Ressourcen für unnötig erklärt (vgl. Beitz 1983): die in Rawls Theorie der Gerechtigkeit implizite Anthropologie (Gleichheit der Menschen als moralische Wesen, also Fähigkeit zu vernünftigen Lebensplänen und moralischer Sinn (vgl. Rawls 1979; 548)) und die Feststellung ungleicher Chancen zur Gerechtigkeitsgrundsätze die „archimedischen Punkte“ (Rawls 1979; 565), sondern „Hierarchical societies are well-ordered in terms of their own conceptions of justice.“ (Rawls 1993, 64) Wie gravierend diese Abkehr Rawls’ von seinem ursprünglich liberalen Konzept ist, mag man an seinem Eingehen auf eine „consultation hierarchy“ ermessen: „Although in hierarchical societies persons are not regarded as free and equal citizens, as they are in liberal societies, they are seen as responsible members of society who can recognize their moral duties and obligations and play their part in social life.” (Rawls 1993, 62) Es handelt sich hier um keine Gesellschaft der Rechte mehr, sondern um eine Gesellschaft der Pflichten. (vgl. Dworkin 1984; 293ff) Damit scheidet letzteres Konzept als möglicher Ansatzpunkt für die hiesige Erörterung aus, wurde die Theorie der Gerechtigkeit doch just aus jenem Grund gewählt, weil sie eine spezifische philosophische Doktrin enthält, die zudem noch allen Menschen rational nachvollziehbar sein dürfte: sie ist (abgesehen von den abstrakten Annahmen des Urzustands) weitestgehend voraussetzungslos. (vgl. Maus 1998; 72)

Realisierung der Lebenspläne aufgrund von Ungleichheiten reicht völlig aus, die Einführung eines globalen Differenzprinzips einzufordern.12

Damit hat Beitz die Perspektive des Staates bzw. einer bestimmten Gesellschaft (eine ungerechtfertigte Abweichung vom Liberalen Paradigma (Schaber 1991; 68f)), zugunsten einer strikt am Individuum ausgerichteten, aufgegeben. Die Menschen werden unabhängig von Staaten/Gesellschaften als Gemeinschaft gesehen. dem Staat wird nur noch die Funktion der Sicherung administrativer Abläufe etc. zugewiesen und „Der Begriff der unbeschränkten Souveränität eines Staates wird somit aufgegeben.“ (Schaber 1991; 74; vgl. auch 69f)

Der Urzustand kann nun „global interpretiert“ (Beitz) werden und auch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze als globale Gerechtigkeitsgrundsätze angenommen werden. Auch das von Beitz vorgeschlagene Modell scheint mir nur bedingt auf die hier zu beurteilende Situation anwendbar zu sein. Die ungleiche Verteilung natürlicher Ressourcen würde ein globales Differenzprinzip zum Ausgleich ungleich verteilter natürlicher Ressourcen im erweiterten Urzustand als einzig rationale Wahl erscheinen lassen. (vgl. Beitz 1974; im Sinne eines globalen Differenzprinzip siehe z.B. Nardin 1981; 24113) Entsprechend können in diesem Modell der Sharia-Vorbehalt und die verschiedenen Interpretationen des IPWSKR unter einem Schleier des Nichtwissens beurteilt und als dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz widersprechend, also als nicht rational wählbar und damit ungerecht, erkannt werden. (siehe 3.1)

Dieses Modell macht jedoch, wie Beitz selbst eingesteht, aus der Vertragstheorie eine teleologische Theorie (vgl. Beitz 1974; 385): das Moralelement, die Gerechtigkeitsgrundsätze, dominiert. Das Vertragselement, die Gründung einer Gesellschaft und die Regelungen bezüglich des institutionellen Arrangements, fehlen. Geht man von der ersten Stufe der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze zur zweiten Stufe über, auf der „Gemäß den bereits beschlossenen Gerechtigkeitsgrundsätzen [...] sie [die / der repräsentative(n) Bürger, LN] ein System für die verfassungsmäßigen Befugnisse der Regierung und die Grundrechte der Bürger entwerfen [...]“ (Rawls 1979; 224), so müsste eine Art „Weltregierung“/„Weltstaat“ gebildet werden, die u.a. die Aufgabe der Umsetzung der Gerechtigkeitsgrundsätze obläge.14Für ein solches System fehlt allerdings ein empirisches Relativ. Und, mit Blick auf den hier behandelten Lebenssachverhalt, obläge eben dieser Weltregierung eine Entscheidung, wie mit Sharia-Vorbehalt und IPWSK umzugehen wäre, nicht jedoch, einem Gebilde wie der BRD. Das kosmopolitische Modell hält im Gegensatz zu Rawls Modell für Grundrechte keinen Platz bereit. Es kennt nur Menschenrechte. Hier setzt nun das Arbeitsmodell als kosmopolitisches Modell an. Dieses wird im Gegensatz zur Fokussierung auf das Differenzprinzip, welches (soweit ich sehe) bislang häufig im Zentrum der Betrachtungen stand, auch den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz und dessen Vorrang einbeziehen. So bezweifle ich, dass ein rationaler repräsentativer Bürger einer „Globalisierung“ des Differenzprinzips unter den Bedingungen einer unvollständigen Theorie der Gerechtigkeit ohne weiteres zustimmen würde, wenn zugleich der erste Gerechtigkeitsgrundsatz nicht erfüllt ist (siehe 2.3.3 b)).15

3.2.3 Arbeitsmodell

Das Arbeitsmodell, das hier entwickelt wird, schließt an das kosmopolitische Modell an. Mag es auf den ersten Blick auch Ähnlichkeit mit Kollers „Modell interdependenter Nationalgesellschaften“ haben, so trifft dies nicht zu: mit dem Arbeitsmodell, dass eine Verfahrensgemeinschaft von Teil-Gesellschaften konstituiert, wird just die von Koller u.a. geforderte „Institution der internationalen Kooperation, die alle Staaten unter Androhung hinreichender Sanktionen zur Achtung und zum Schutz [... von Menschenrechten verpflichtet, LN]“ (Koller 1999; 244; Hervorhebung im Original), als unnötig riskante politische Schicksalsgemeinschaft zurückgewiesen.

Von Rawls übernommen wird der Schleier des Nichtwissens, unter dem ein repräsentativer Bürger, der rational handelt, sich für die von Rawls vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze entscheidet. Ebenso sind im Arbeitsmodell die beiden Vorrangregeln von Belang. (zur Rawlschen Skepsis bezüglich der Anwendbarkeit der Vorrangregeln im Rahmen einer unvollkommenen Gerechtigkeitstheorie siehe 4.; „Diskussion“)

Auf der zweiten Stufe denke ich allerdings, dass sich der repräsentative Bürger nicht nur die Frage stellen würde, welche politischen Institutionen zu schaffen sind, sondern auch, ob er eine oder mehrere Gesellschaften gründen wird. Der repräsentative Bürger wird, auch wenn er zunächst angetreten sein mag, „eine“ Gesellschaft zu gründen, sich für die Gründung mehrer Teil-Gesellschaften entscheiden, die über Pflichten miteinander verbunden sind. Der repräsentative Bürger ist rational und keine Spielernatur; nachdem ihm die Politikwissenschaft kein Modell anbieten kann, das sicherstellt, dass er in einer wohlgeordneten Gesellschaft leben wird - „Bisher jedenfalls gibt es keine Theorie der gerechten Verfassung als eines Verfahrens, das zu gerechten Gesetzen führt [...]“ (Rawls 1979; 397) -, wird er skeptisch sein und auf die Maximin-Regel zurückgreifen.16

(I) Er wird sich - wie bei der Wahl des Differenzprinzips, in der er implizit davon ausging, dass er an natürlichen Gaben, Erbschaft etc. arm sein könnte (vgl. Rawls 1979; 29; Kritisch gegenüber der Maximin-Regel siehe auch Maus 1998; 80f) - für die Gründung mehrer Teil-Gesellschaften entscheiden. Im Sinne der Maximin-Strategie werden verschiedene institutionelle Arrangements gewählt, die in den so entstehenden Teil-Gemeinschaften zu verwirklichen sind.

(Dieser Gedanke dürfte zulässig sein, andernfalls könnte die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit auch nicht auf föderale Staaten angewendet werden, in denen (im Sinne der Theorie) gerechtigkeitsrelevante Entscheidungen dezentral gefällt werden (so z.B. die Todesstrafe in den USA). Diese Modifikation ist also nicht allein dem Versuch der Anwendung Rawls auf die hier zur Debatte stehenden Fragen geschuldet.)

(II) Des weiteren wird er keine Gemeinschaftsinstitution, die den Teil-Gemeinschaften vorgelagert ist, wählen, denn diese käme der Gründung einer Einheitsgesellschaft gleich und würde ihrerseits das Risiko bergen, dass eine wohlgeordnete, gerechte Teil-Gesellschaft sich ungerechten Regeln beugen müsste. Ebenso wenig würde sich der repräsentative Bürger m.E. für einen Kompromisszwang oder Dialogzwang einsetzen, kann dieser sich doch sowohl in positiver Weise für die Gerechtigkeit auswirken, genauso jedoch auch umgekehrt. Er liefe also Gefahr, später eigentlich in einer wohlgeordneten Gesellschaft zu leben und seine Lebenspläne verwirklichen zu können, doch u.U. diesbezüglich erhebliche Einschränkungen hinnehmen zu müssen, weil er im Urzustand für entsprechende Zentralinstitutionen optiert hatte. Dies umso mehr, gelte es dem repräsentativen Bürger „[...] mithin als ausgemacht, dass die Institutionen nicht festliegen, sondern sich im Laufe der Zeit verändern, und zwar durch natürliche Umstände und durch die Tätigkeit und den Kampf gesellschaftlicher Gruppen.“ (Rawls 1979; 593; vgl. auch Höffe 2002; 15)

Kurz: der repräsentative Bürger würde als Ordnungsprinzip die Konkurrenz und keine Hierarchie wählen.

Dies ist kein grundlegend neuer Gedanke. Auch Pogge und Höffe lehnen bei ihren Konzeptionen von Weltstaaten es aus jenem Grunde ab, einen Einheitsstaat zu gründen.17Ich gehe jedoch davon aus, dass die Forderung Höffes nach einer „Weltrepublik“ als „Weltbundesstaat“ mit „Welttag als der Bürgerkammer“ und einem „Weltrat als der Staatenkammer“ im Urzustand, unter der Annahme, dass es eine beliebige Zahl nicht- wohlgeordneter Gesellschaften geben könnte, zurückgewiesen würde. (vgl. Höffe 2002; 23ff; siehe v.a. auch: „Einspruch Nr.2“; 25 & „Zum Prinzip der Subsidiarität“; 26) Ferner meine ich, dass auch ein Modell der „Dezentralisierung zweiter Ordnung“ - ein System der Checks and Balances -, in dem jeder Mensch „[...] mehreren politischen Einheiten verschiedener Größe angehören und an ihren demokratischen Entscheidungsprozessen als Bürger mitwirken [...]“ (Pogge 2002; 142 & 147ff) unter eben geschilderten Bedingungen nicht minder scharf zurückgewiesen würde. (vgl. insbesondere auch Pogge 2002; 158ff)

Nun könnte der repräsentative Bürger sich anschließend auch in einer nicht wohlgeordneten Gesellschaft wiederfinden. Um zu vermeiden, dass die Bürger in den wohlgeordneten Gesellschaften ihre Lebenspläne verwirklichen und eine Intervention zugunsten der Bürger in den nicht-wohlgeordneten Gesellschaften als Eingriff in ihre Freiheit zugunsten vermeintlicher „Nicht-Vertragspartners“ zu vermeiden, wird er sich für das folgende Prinzip entscheiden:

(III) Gemeinschaften (nicht Individuen, denn die verfolgen ja primär ihre vernünftigen Lebenspläne) müssen zugunsten der gemeinsamen Gerechtigkeitsgrundsätze in jeder nicht- so-wohlgeordneten Gemeinschaft intervenieren. Dies umfasst sowohl das Vorgehen gegen Ideologien etc., die direkt gegen die Freiheit gerichtet sind, sowie ein Differenzprinzip zur Ermöglichung von Freiheit in dem am wenigsten materiell begünstigten Gesellschaften.

(IV) Die Eingriffspflicht endet nur dort, wo die Freiheit in der wohlgeordneten Gesellschaft selbst bedroht ist.

(V) Ineffizienter Mitteleinsatz wäre als Verstoß gegen den Geist des auf die Verwirklichung der Gerechtigkeitsgrundsätze ausgerichteten Vertrages zurückzuweisen. Beispielsweise wären die Mittel bei einem Eingreifen so zu wählen, dass möglichst viel Freiheit unter Einsatz von möglichst wenig Freiheit erreicht werden kann.

(a) Freiheit kann gemäß der Vorrangregel 2b) (siehe 2.3.3 b) bzw. Anhang) nur auf freiwilliger Basis eingesetzt werden, um ein größeres Gesamtsystem der Freiheit auf globaler Ebene zu erreichen.

(b) Mittel, die nicht die Freiheit einschränken stehen nicht unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit. So folgt aus dem Vorrang der Freiheit unter der Bedingung des nicht verwirklichten ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes, dass das Differenzprinzip Ansprüche primär zugunsten der Freiheit darstellt:

„Nach dieser [lexikographischen, LN] Ordnung [der Gerechtigkeitsgrundsätze, LN ] muss der erste Grundsatz erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann, dieser vor dem dritten usw.“

(Rawls 1979; 62)

Das Differenzprinzip stellt in diesem Modell - m.E. weitestgehend in Einklang mit der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit von 1979 - eine Art „Finanzierungsmechanismus“ für die Verwirklichung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes bereit.

(c) Differenzbasierte Ansprüche können an unfreie Teil-Gesellschaften nur zurückgewiesen werden, wenn der Mehrbesitz im Prinzip umzuverteilender Güter zum Ausbau der eigenen Freiheit benötigt wird.

Über letzteren Grundsatz, der klare Regeln für die Mittelwahl (durchaus auch im Sinne eines ius ad bellum, wie es von Rawls skizziert wird (siehe 3.2.1)) und der Zulassung des Rechts, unter Hinweis auf die Gefährdung der Freiheit in der eigenen Teilgesellschaft Ansprüche zurückweisen zu können, würde m.E. ein „Weltkriegsprogramm“, wie Maus es befürchtet, sollte unter den Bedingungen der „faktischen Heterogenität der real existierenden Staatenwelt“ ein Weltstaat als liberale Demokratie durchgesetzt werden, ausschließen. (siehe Maus 2002; 243) Vielmehr obläge es der intervenierenden Gesellschaft, den Nachweis der Unfreiheit in der zur Intervention freigegebenen Gesellschaft zu erbringen, um nicht hinsichtlich der eigenen Bürger ungerecht zu handeln. (zu letzterem Gedanken vgl. Beitz 1974; 363) Just an dieser Stelle scheinen mir kommunitaristische Vorbehalte (kultureller, gemeinschaftgefühlsbedingter oder sonstiger Natur) angebracht. Zumindest scheint es mir (aus libertarianischer Sichtweise) unproblematischer, diese erst hier, bei konkret zu entscheidenden Frage anzubringen, als a priori bei der Frage nach dem Anwendungsbereich des Schleiers des Nichtwissens. (siehe 2.3.3 b))18

Speziell im Grundsatz (V) zeigt sich m.E., dass das Arbeitsmodell weiterhin auf der Idee der Verfahrensgerechtigkeit zugunsten der Freiheit basiert und nicht als teleologische Freiheitstheorie anzusehen ist (s.u.).

(VI) Der Gedanke der Souveränität würde von dem repräsentativen Bürger a priori zurückgewiesen, käme dieser Gedanke einer Aufkündigung des Vertrages gleich.

(Skizze zur Verfahrensgesellschaft der Teil-Gesellschaften siehe Anhang)

In diesem Modell obläge es den wohlgeordneten Teil-Gesellschaften, ein Nicht-Eingreifen in andere Gesellschaften zu begründen, d.h. plausibel nachzuweisen, dass ein Eingreifen zugunsten einer Ausweitung von Freiheit absolut gesehen einen stärkeren Verlust von Freiheit zur Folge hätte und damit ungerecht im Sinne des Vertrages würde. Damit scheint ein, unter Gerechtigkeitsaspekten potenziell fragwürdiges Ignorieren ungerechter Zustände in anderen Teil-Gesellschaften ausgeschlossen. (vgl. 3.2.1) Ungleichverhältnisse bei den Chancen auf die Realisierung der eigenen vernünftigen Lebenspläne wären in diesem Modell der Unsicherheit über die möglichen Vorzüge und Nachteile institutioneller politischer Arrangements geschuldet, keiner einer Gerechtigkeitstheorie fremder „Ziele von Gesellschaften“ (vgl. 3.2.1). Dennoch wären diese Unterschiede, wenn Verfahrensprinzipen zur Nivellierung der Unterschiede beschlossen würden, m.E. mit der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness vereinbar:

„Es ist vielleicht zweckmäßig, aber nicht gerecht, dass einige weniger haben, damit es anderen besser geht. Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch auch den nicht so Begünstigten besser geht.“

(Rawls 1979; 32)

Mit anderen Worten, die von Rawls zugestandene Möglichkeit, auf Freiheit zu verzichten, um das für Freiheit notwendige Zivilisationsniveau zu erreichen,19findet sich in dem skizzierten Modell, in dem vom Vorhandensein unfreier Gesellschaften ausgegangen wird, als Ungleichverteilung von Freiheit zwischen den Teil-Gesellschaften wieder. Damit ist m.E. kein Übergang zu einer teleologischen Theorie, die „das Gute lokal“ definiert, vorgenommen worden, sondern die von Rawls als Kern der Verfahrensgerechtigkeit genannte „Folge bestimmter Strukturformen“ bleibt erhalten (vgl. Rawls 1979; 614): solange es den Teil- Gesellschaften überlassen bleibt wie sie ein pareto-optimales System der Freiheit erreichen (siehe Anmerkung 6), haben die oben genannten Grundsätze weiterhin den Charakter einer Sicherung im Sinne des Minimax-Prinzips; und eben der Unsicherheit, welches institutionelle Arrangement die Verwirklichung der Gerechtigkeitsgrundsätze sicher zu stellen in der Lage ist, ist das Konkurrenzsystem geschuldet. Der größte Vorzug dieses Modells dürfte sein, dass es ohne externe Annahmen auskommt und eine (Teil-)Gesellschaft nicht über spezifische, nicht näher spezifizierte Ziele der (Teil-) Gesellschaft (jenseits der Gründe, die zur Gründung der dieser geführt haben) auskommt.

Wenn mit der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit „[...] eine Idealvorstellung von Gesellschaftsordnung aufgestellt worden ist, die die Richtung der Veränderungen und Reformbemühungen bestimmen soll [...]“ (Rawls 1979; 613), so wurde hiermit den Gerechtigkeitsgrundsätzen noch immer „keine Übermacht“ verliehen; es wurde lediglich ein redundantes System von Pflichten eingeführt, die dem Ideal mehr oder weniger auf die Sprünge helfen können: nicht mehr nur binnen(teil-)gesellschaftliche Bemühungen um deren Durchsetzung sind zugelassen, sondern auch (teil-)gesellschaftlich externe.

Problematisch an dieser Konzeption erscheint, dass eine Kontrollinstanz für teil- gesellschaftliches Außenverhalten fehlt. Andererseits dürfte die Orientierung an der Vertragssituation hinreichen, um ein Mindestmaß an gerechtem Außenverhalten sicherzustellen: so mag der repräsentative Bürger im Urzustand Kenntnisse über Kohlbergs Theorie einer (in erster Linie) endogen bedingten moralischen Entwicklung haben. (zur Verbindung Rawls-Kohlberg siehe u.a. Kohlberg 2001; 55 und Rawls 1979; 502; „Anmerkung 8“) Die Vertragstheorie ist in diesem Modell primär moralbasiert. Die Forderung nach einer Verwirklichung der Gerechtigkeit innerhalb der Teil-Gesellschaften bliebe von dieser Modifikation weitestgehend unberührt. Insofern ist anzunehmen, dass die Gerechtigkeit in wohlgeordneten Gesellschaften diesen tendenziell eine größere Legitimität und Stabilität verlieht, so dass tendenziell eher davon auszugehen ist, dass das global verwirklichte Ausmaß von Gerechtigkeit steigt. (vgl. Rawls 1979; 539ff; insb. 544)

Die Gesamtgesellschaft zeichnet sich in dieser Konzeption weder durch ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl, noch über Kultur oder sonst eine dem Urzustand externe Größe aus. Sie ist die Folge des Urzustandes (inklusive der gewählten Gerechtigkeitsgrundsätze), einer maximin-basierten Entscheidung zugunsten einer Pluralität institutioneller Arrangements und der infolge dessen gewählten Grundsätze zum Außenverhalten der Teil- Gesellschaften. Es handelt sich um eine Art Verfahrensgemeinschaft der Teil-Gesellschaften.

3.3 Schlussfolgerungen auf Basis des Arbeitsmodells

Welcher Stellenwert kommt nun im Arbeitsmodell Menschenrechten und Grundrechten zu? Wie gezeigt wurde, kennen die beiden anderen hier behandelten Modelle entweder nur Grundrechte (siehe 3.2.1) oder nur Menschenrechte (siehe 3.2.2). Der Lebenssachverhalt, den es hier zu behandeln gilt, lässt sich kaum in die vorgeschlagenen Modelle integrieren. Im Arbeitsmodell ist m.E. Platz für eine AEMR, einen IPWSKR und Grundrechte. Grundrechte würden, entsprechend jene subjektiven Anspruchsrechte sein, wie sie auf Stufe zwei für die Teil-Gesellschaften beschlossen würden. Sie würden sich nicht von denen von

Rawls vorgeschlagenen unterscheiden: 1. politische Freiheit, 2. Rede- und Versammlungsfreiheit, 3. Gewissens- und Gedankensfreiheit, 4. persönliche Freiheit inklusive Unverletzlichkeit der Person, 5. Recht auf persönliches Eigentum und 6. Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft. (vgl. Rawls 1979; 82)

Menschenrechte, ob nun als AEMR und/oder IPWSKR, sind im Arbeitsmodell als Programmsätze aufzufassen, entsprechend derer die auf der ersten Stufe gewählten Gerechtigkeitsgrundsätze für alle Teil-Gesellschaften zu verwirklichen sind. Diese Programmsätze basieren auf der

„[...] Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen [siehe 3.2.1, LN] die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt [... und stellen, LN] als das von allen Völkern und Nationen [= Teil-Gesellschaften, LN] zu erreichende gemeinsame Ideal [dar, LN], damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten [= Teil-Gesellschaften, LN] selbst wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete zu gewährleisten.“

(Präambel der AEMR)

Diese Programmsätze sind entsprechend den im Arbeitsmodell skizzierten Grundsätzen für Teil-Gesellschaftliches Außenverhalten verbindlich und erlöschen nicht durch den Hinweis auf „die Souveränität“ eines anderen Staates. Dies käme einer Aufkündigung des fiktiven Vertrages gleich. Allein die Mittelwahl ist einem Diskurs zugänglich.

Entsprechend kann geschlossen werden, dass die BRD, würde sie sich unter den im Arbeitsmodell skizzierten Bedingungen - als (wahrscheinlich weitestgehend) wohlgeordnete Teil-Gesellschaft, deren Freiheit nicht akut gefährdet ist - rational verhalten, Maßnahmen ergreifen, einem Inkrafttreten der Menschenrechtserklärung der OIC mit angemessenen Mitteln (bislang fand noch keine Ratiofikation statt) entgegenzuwirken. Entsprechend würde die BRD, würde sie sich unter den im Arbeitsmodell skizzierten Bedingungen - als (wahrscheinlich weitestgehend) wohlgeordnete Teil-Gesellschaft, deren Freiheit nicht akut gefährdet ist - rational verhalten, Maßnahmen ergreifen, um einer nicht- individual-basierten Auslegung des IPWSKR entgegenzuwirken. Gefördert würde eine solche Auslegung nur, wenn dies als „listiger Schritt“ in Richtung auf eine Verwirklichung der Gerechtigkeitsgrundsätze zu interpretieren wäre; sollte diese ungerechte Interpretation (siehe 3.1) unter den Teil-Gesellschaften weite Verbreitung finden, so würde sich die BRD als rationaler Akteur dennoch dieser nicht verpflichtet fühlen.

4. Diskussion

Im Arbeitsmodell wird bezüglich unseres Lebenssachverhaltes just jener „durchgängig liberale[..., LN] Tenor“, den Hart (ders. 1998; 140) in Rawls’ Theorie entdeckt, als „Universalismus“ der Menschenrechte der AEMR offenbar. Dies sollte uns nicht überraschen, erhält die Rawlsche Theorie doch erst durch die zwei Prinzipien ‚fairen Chancengleichheit’ und ‚Differenzprinzip’ - v.a. letzteres - ihr sozialliberales Gepräge.

(siehe Rawls 1998; 296) Im Falle der Anwendbarkeit der Vorrangregeln in einer unvollständigen Theorie der Gerechtigkeit, zeigen diese an, „[...] um welche Beschränkungen man sich zuerst kümmern muss.“ (Rawls 1979; 337) Wenn Rawls sich bezüglich deren Anwendbarkeit skeptisch zeigt20, so weil er eine Verminderung der Chancen auf eine Realisierung der vernünftigen Lebenspläne allein durch (1) nicht allen Menschen in gleichem Maße zustehende Freiheiten, im Gegensatz zu (2) ungünstigen materiellen, erbschaftsbedingten, kognitiver oder sonstigen ungünstigen Eigenschaften, im Blick hat. In unserem Falle, in dem es darum geht, dass über eine Ideologie, religiöses Recht oder eine ähnliche nicht auf der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand basierende (und damit ungerechte) Größe eine Minderung der Freiheit eintritt, gibt es keinerlei Gründe, auf die Vorrangregel zu verzichten.

Wenn Pogge einen rechtlichen Kosmopolitanismus von einem moralischen unterscheidet (vgl. Pogge 2002; 126ff)21, so ist das Arbeitsmodell wohl unzweifelhaft letzterem zuzurechnen. Dies mag nicht notwendig zu bedauern sein, vermag laut Nardin Recht nicht notwendig Gerechtigkeit zu fördern:

„Although it is usual to demand that international law serve as the instrument of some higher purpose, such as the achievement of social justice on a global scale, and to insist that states (and individuals) have a duty to observe only those rules that might further this objective, the actual conduct of states suggests recognition that such a doctrine is in fact subversive of a common structure of rules, and is incapable of serving as the foundation of an international order based on such a structure. […, LN] The pursuit of social or distributive justice thus leads away from rather than towards the definition and perpetuation of a structure of common rules for international society. The result is an attitude incompatible with international society as a “moral” association, rather than as a chaos or mere order of power.”

(Nardin 1981; 243)

Maus weist, auf den Gedanken der Vertragstheorie bezugnehmend, m.E. zu Recht darauf hin, dass mit Rawls Theorie „[...] letztlich die Position einer Gerechtigkeitsexpertokratie gegen demokratische Wollensbildungsprozesse zu rechtfertigen sei [...]“ (Maus 1998; 92). Rawls selbst warnt davor, das Gedankenexperiment (bzw. den Schleier des Nichtwissens) auf globaler Ebene anzuwenden, impliziere er doch ein individualistisch-normatives Konzept:

„The difficulty with an all-inclusive, or global, original position [= Schleier des Nichtwissens, LN] is that its use of liberal ideas is much more troublesome, for in this case we are treating all persons, regardless of their society and culture, as individuals who are free and equal, and as reasonable and rational, and so according to liberal conceptions. This makes the basis of the law of people too narrow.”

(Rawls 1993, 66)

Dem kann durchaus zugestimmt werden, ohne einen „Schuss von „Kommunitarismus““ (Habermas 1999; 223) scheint der Individualismus eine radikale Form anzunehmen. Kommunitaristische Argumente22werden also nicht a priori abgelehnt, doch fehlt m.E. weiterhin eine stringente Konzeption, was eine Gemeinschaft oder einen Staat zu etwas wie einem moralischen Subjekt macht. (siehe Anmerkung 9) Darum wurde in dieser Ausarbeitung weiterhin vom Individuum ausgegangen und kommunitaristische Argumenten nicht bei der Frage, „ob“ diese oder jene Menschenrechte gültig sind, eingebunden, sondern lediglich bei der Frage, „ob“ und „wie“ mit etwaigen Verstößen umzugehen ist. Oder, um mit Koller zu sprechen:

„Eine internationale Ordnung ist dann und nur dann moralisch legitim, wenn sie unter den kontingenten Bedingungen der Welt bei sorgfältiger Erwägung aller relevanten Umstände von jeder Person unabhängig von ihrer Gesellschaftszugehörigkeit angenommen werden könnte.“

(Koller 1999; 235)

... und unter der Unsicherheit, wie sich ein spezifisches institutionelles Arrangement auswirkt (immerhin die raison d’être der Forschungen zur demokratischen Performanz), heißt das eben, dass nur eine Pluralität von Gesellschaften wählbar ist.

„Von eigenen Traditionen Abstand zu gewinnen und eingeschränkte Perspektiven zu erweitern, gehört zu den Vorzügen des okzidentalen Rationalismus [...]“ (Habermas 1999; 217) und was wir heute im Rahmen einer kulturessentialistischen Sichtweise als westliche Errungenschaften sehen -„Toleranz, Sensibilität für Spielregeln, Mäßigung, Gewaltenteilung, Kompromissbereitschaft, der Sinn für mehr als das eigene Interesse usf.“ (Senghaas 1998; 35) - kann nur als scheinbar westlich angesehen werden:

„Alle diese Errungenschaften wurden gerade auch in Europa gegen die eigene Traditionerkämpft und nur im Widerstreit mit der eigenen Vergangenheit erreicht.“ (Senghaas 1998; 35f; kursiv im Original)

Aufgrund dieser Überzeugung wurde auch ein Diskurs, wie z.B. von Habermas vorgeschlagen, als möglicher Ansatz für diese Arbeit nicht in Betracht gezogen. (siehe 2.) Wenn von einer Inkompatibilität religiöser o.ä. Gedankengebäude ausgegangen wird (vgl. Paul 2000; 101), was mehr soll er erbringen, als einen vermeintlich größten gemeinsamen Teiler in verschiedene Traditionen hineininterpretierter Menschenrechtsvorstellungen?

Es wurde in dieser Arbeit keinem auf (nur bedingt nachvollziehbaren) kulturessentialistischen Annahmen beruhenden Kampf der Kulturen gehuldigt, sondern versucht, eine rationale Argumentation vorzulegen. Insofern mag man das obiges Habermas-Zitat als Schlusswort sehen - doch streiche man das Wörtchen „okzidental“, denn Rationalität ist im Prinzip jedem Menschen zugänglich, unabhängig von der Kultur: vgl. 2.4.3 a).

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Anhang

Rawls Gerechtigkeitsgrundsätze und Vorrangprinzipien

1. Gerechtigkeitsgrundsatz: „Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“

2. Gerechtigkeitsgrundsatz: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:

a) sie müssen unter der Einschränkung eines gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und

b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.“ (Rawls 1979; 336)

1. Vorrangregel:

„Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; dem gemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen:

a) eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken;

b) eine geringere als gleiche Freiheit muss für die davon Betroffenen annehmbar sein.“

2. Vorrangregel: „Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen:

a) eine Chancen-Ungleichheit muss die Chancen der Benachteiligten verbessern;

b) eine besonders hohe Sparrate muss insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mindern.“

(Rawls 1979; 336f)

Skizze 1: Differenzprinzip unter der Bedingung der Freiheit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Skizze 2: Schleier des Nichtwissens

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Skizze 3: Gerechtigkeitsgrundsätze der Gesellschaft der Teil-Gesellschaften

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Legende: K = keine Ansprüche können geltend gemacht werden; können unter dem

Hinweis auf gleiche Realisierungschance vernünftiger Lebenspläne gerechter Weise zurückgewiesen werden

F = Begünstigung auf freiwilliger Basis möglich; unter Hinweis auf damit einhergehenden Freiheitsverzicht können Forderungen gerechter Weise zurückgewiesen werden

S1 = Pflicht, die nur gerechter Weise zurückgewiesen werden kann, solange es keine Teil-Gesellschaft gibt, in der die Bürger ihre vernünftigen Lebenspläne weniger verfolgen können

S2 = Pflicht, die nur dann gerechter Weise zurückgewiesen werden kann, solange der eigene Wohlstand, Ressourcen etc. in mehr eigene Freiheit umgesetzt wird

P = Es kann auf eine Pflicht zur Hilfe verwiesen werden, die nur unter dem Hinweis auf die Gefährdung der Freiheit in der eigenen Teil-Gesellschaft gerechter Weise zurückgewiesen werden kann

Vor Querstrich jew. mögliche Ansprüche auf Freiheit, dahinter mögliche

Ansprüche im Sinne des Differenzprinzips; Pfeile (←; ↑) verweisen auf die zu begünstigende Teil-Gesellschaft.

Der graue Kasten steht für die potenziell ausnutzbaren Lebenschancen der Individuen in einer Teil-Gesellschaft. Optimal können sie genutzt werden, wenn Freiheit (grüner Balken) und Wohlstand (blauer Balken) gegeben sind; geschmälert wird die Chance zu deren Nutzung durch Unfreiheit (roter Balken) und Armut (gelber Balken).

[...]


1Im Rahmen des sunnitischen Islam gelten Koran (Mohammeds Wort) und Sunnah (Berichte über Mohammeds Leben) (als dritte Rechtsquelle ggf. Igma’ (Konsens)) als Rechtsquellen. Auf einem solchen Menschenrechtsbegriff greift die „Menschenrechtsorganisation“ CDD (Comité pour la Défense des Droits conformes à la loi islamique) zurück; die einzige Menschenrechtsorganisation in der arabischen Welt, die sich auf die AEMR-Menschenrechte beruft, ist die OADH (Organisation Arabe des Droits de l’Homme). (vgl. Aleeb Abu-Salieh 1994; 299, 332f)

2„Nehmen wir um etwas Bestimmtes vor Augen zu haben, an, eine Gesellschaft sei eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen, die für ihre gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennen und sich meist auch nach ihnen richten. [...] Wir wollen nun eine Gesellschaft wohlgeordnet nennen, wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird.“ (Rawls 1979; 20f)

3„Abschließend noch ein Wort zum sogenannten Menschenrecht auf kulturelle Identität. Ein entsprechender philosophischer Begriff ist meines Erachtens nicht sinnvoll. Denn philosophisch gesehen dürfte die Respektierung kultureller Identität eine Funktion der Achtung menschlicher und / oder des Rechts auf Leben sein.“ (Paul 2000; 103)

4„The issue is whether it is states or individuals who are members of international society, and whose conduct or situation is to be considered from the perspective of a concern with justice. […, LN] The second distinction rests on a distinction between justice as conduct according to common rules and justice as the pursuit of substantive good ends. [..., LN] And this division is in turn related to a disagreement about whether political association is best regarded as a union in terms of the authority of common rules or one defines by shared purposes.” (Nardin 1981; 233)

5„One objection to such reasoning might be that there is no guarantee that all of the world’s states are internally just, or if they are, that they are just in the sense specified by the two principles. […] More generally, one might ask why a principle which defends a state’s ability to pursue an immoral end is to count as a moral principle imposing a requirement of justice on other states.” (Beitz 1974; 364f)

6Um die veränderte Struktur der Rawlschen Theorie durch die Hinzunahme von je spezifischen Gesellschaftszielen und Souveränität zu verdeutlichen, führe man sich folgendes vor Augen: Die ursprüngliche Theorie hat die Struktur „1 + 2 = 3“, wobei 1 die Rawlssche Anthropologie, 2 der Schleier des Nichtwissens und 3 die Gerechtigkeitsgrundsätze sind. Die modifizierte Gleichung hingegen lautet „1 + 2 + x = 3“ wobei die Rechnung nicht dadurch aufgeht, dass verwiesen wird, dass x schon Null sein wird, sondern es wäre zu zeigen, in welchen Fällen x Null sein wird; nämlich dann, wenn beispielsweise über eine höhere Akzeptanz für Gemeinschaftswerte, die ihrerseits die Freiheit einschränken (- 5), durch bspw. weniger Staatseingriffe aufgrund einer Verletzung der natürlichen Pflichten (+ 5), im Betrag Null ergibt. Und: diese Argumentation funktioniert NUR, wenn Rawls selbst anerkennt, dass ein Weniger an Freiheit nicht nur über Freiheit, sondern über eine Größe, die keine Freiheit ist, - beispielsweise wie von Hart argumentiert wird -, beschränkt werden kann, bzw. im Falle, dass eine Ungleichverteilung materieller Ressourcen auf zwei verschiedenen Wegen zu einem gleichen Nutzengewinn für die Freiheit der am wenigsten begünstigten führt (was übrigens nicht auszuschließen ist). An dieser Stelle ein letzter Hinweis: sollte der repräsentative Bürger im Urzustand den Gedanken der natürlichen Pflichten zurückweisen, weil diese seine Freiheit beschränkt, dann bliebe ihm nur noch, die Entscheidung, ob nur eine Gesellschaft zu gründen sei, oder mehrere (die einander als souverän anerkennen) auf Basis einer spezifischen Präferenz für eine Methode, wie die Umverteilung stattzufinden habe; mithin gründete sich Souveränität gewissermaßen auf unterschiedlichen Präferenzen bezüglich Essensmarken oder Bargeld.

7Die Annahme, dass auch Bürger außerhalb eines aufgeklärt-liberalen Kulturraumes zu den Einsichten fähig sind, die wir mit der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit gewinnen können, war überhaupt erst der Grund, diese Theorie im Rahmen dieser Arbeit anzuwenden. (siehe 2.4.3)

8An dieser Stelle zeigt sich übrigens ein weiteres Problem des Nationalstaatsmodells: die im erweiterten Urzustand gewählten Grundsätze können zu anderen Beurteilungen führen, als die Gerechtigkeitsgrundsätze des herkömmlichen Urzustands.

9Pogge hält beispielsweise - obgleich er ein weltweites politisches System, dass Individuen und Staaten als Referenzobjekte hat (siehe Pogge 2002; 168) - die Zubilligung moralischer Qualitäten an ein Kollektivwesen „Staat“ für „schlechte Metaphysik“: „[... Es] ist unklar, wie Staaten beziehungsweise Völker Interessen und darauf beruhende moralische Ansprüche haben können, die nicht auf die von Menschen reduzierbar sind. Die Behauptung solcher Kollektivwesen riecht nach schlechter Metaphysik und lädt auch zu gefährlichen politischen und ideologischen Manipulationen ein [...]“ (Pogge 2002; 168) Eine Unterscheidung von Menschen anhand von Nationalitäten ist auch für Beitz eine Diskriminierung, die sich nicht von Rassismus unterscheidet: „For it might be that discrimination on the basis of citizenship is like discrimination on the basis of race or sex: priority for compatriots, like priority for whites and priority for males, could be nothing more than a reflection of relations of social power that have nothing, morally speaking, to be said for them. If this is not the case, we should be able to say why.” (Beitz 1983; 593; vgl. auch Beitz 1983; 595) Amdur sieht das Festhalten am Staat primär als historisches Artefakt: „Western political philosophers at least since Plato have assumed that the state is the appropriate unit for discussion of distributive justice. Because virtually no one has challenged this assumption, no one has felt the need to defend it. The weight of precedent has made it appear perfectly natural to ignore global questions.” (Amdur 1977; 453) Mit dieser These hat Amdur m.E. nicht notwendig recht, vielmehr kann es sich bei Nationen (= Teil-Gesellschaften), wie im Arbeitsmodell gezeigt wird (siehe 3.2.3), um eine logische Folge des Minimax-Prinzips handeln. Ebendies gilt auch für Beitz, der Nationen nur als psychologisch-soziologisches Artefakt ansieht:„A tempting answer is that the residual influence of the priority thesis [Priorität zugunsten der eigenen Landsleute, LN] is nothing more than a psychological or sociological artifact, whose significance for practical reasoning is merely that of an obstacle to be accommodated until it can be eliminated altogether.” (Beitz 1983; 599)

101993 baut Rawls sein Modell - wie er selbst schreibt über die Theorie der Gerechtigkeit hinausgehend (Rawls 1993; 42) - zu einer Theorie des „Rechts der Völker“ („law of peoples“) im Gegensatz zu herkömmlichem Völkerrecht („law of nations“) aus: „By law of the people I mean a political conception of right and justice that applies to the principles and norms of international law and practice.” (Rawls 1993; 42) “[…] I note the distinction between the law of peoples and the law if nations, or international Law. The latter is an existing, or positive, legal order, however incomplete it may be in some ways, lacking, for example, an effective scheme of sanctions such as normally characterizes domestic law. The law of peoples, by contrast, is a family of political concepts with principles of right, justice, and the common good, that specify the content of a liberal conception of justice worked up to extend to and to apply to international law. It provides the concept and principles by which that law is to be judged.” (Rawls 1993; 51) Mit dieser „political conception of justice” versucht er (1) den Gehalt, wie er in der öffentlichen politischen Kultur einer liberalen Gesellschaft implizit vorhanden sei, zu erfassen, (2) eine Konzeption zu entwickeln, die auf grundlegende politische, ökonomische und soziale Institutionen anwendbar ist, und (3) die unabhängig von religiöses, philosophischer oder moralischer Doktrinen sei: „1. it is framed to apply to basic political, economic and social institutions 2. it is presented independently of any particular comprehensive religious, philosophical, or moral doctrine, and though it may be derived from or related to several such doctrines, it is not worked out in that way 3. its content is expressed on terms of certain fundamental ideas seen as implicit in the public political culture of a liberal society” (Rawls 1993; Anmerkungen (220f)) V.a. letzterer Aspekt lässt die Abweichung von der Theorie der Gerechtigkeit deutlich werden, relativiert Rawls hiermit doch seinen Begriff der Gerechtigkeit als Fairness: nun sind eben nicht mehr die beiden

11„If the societies of the world are now to be conceived as open, fully interdependent systems, the world as a whole would fit the description of a scheme of social cooperation and the arguments for the two principles would apply, a forteriori, at the global level. The principles of justice for international politics would be the two principles for domestic society writ large, and their application would have a very radical result, given the tendency to equality of the difference principle. On the other hand, if societies are thought to beentirelyself-contained - that is, if they are to have no relations of any kind with persons, groups, or societies beyond their borders - then why consider international justice at all? [...] Rawls’ discussion of justice among nations suggests that neither of these alternatives describes his intention in the passage quoted. Some intermediate assumption is required.” (Beitz 1974; 363; Hervorhebung im Original)

12„If the original position is to represent individuals as equal moral persons for the purpose of choosing principles of institutional or background justice, then the criterion of membership is possession of the two essential powers of moral personality - a capacity for an effective sense of justice and a capacity to form, revise, and pursue a conception of the good.” (Beitz 1983; 595)

13„The shift in meaning of „international justice“ during the present century from issues concerning the rule of law to those of distributive justice is thus the result of a declining confidence in and appreciation of the civil conception of international society, and its gradual and partial replacement by a welfare-oriented conception of international society reflecting the application to intentional relations of concepts and principles that have come to be widely accepted in thinking about internal politics.“ (Nardin 1981; 241)

14„Nun ist, wie wir schon sahen [...], ein Hauptzug dieser Vorstellung von der Verteilungsgerechtigkeit der starke Anteil der Verfahrensgerechtigkeit. [...]Doch wenn der Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit etwas bringen soll, dann muss, wie ich schon sagte, ein System gerechter stützender Institutionen errichtet und unparteiisch angewendet werden.Wenn man sich auf die reine Verfahrensgerechtigkeit stützen will, dann muss die Grundstruktur den beiden Grundsätzen genügen.“ (Rawls 1979; 338; Hervorhebung LN)

15Natürlich würde die Chance der Bürger - sagen wir des Sudan - auf die Realisierung ihrer Lebenschancen steigen, wenn ein globales Differenzprinzip sich durchgesetzt hätte. Doch ob sich dies im Sinne der Etablierung einer wohlgeordneten Gesellschaft, in der die Freiheiten zur Basis der Selbstachtung werden, auswirken wird? Führt die Vernachlässigung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes und der Vorrangregeln - wobei sich Rawls selbst nicht sicher ist, ob diese global angewendet werden können - nicht zu einer Form der Wohlgeordnetheit à la Saudi-Arabien, Oman etc., in denen die materiellen Bedingungen für eine Realisierung der Lebenspläne gegeben sind und allein ein Mangel an Freiheit sich als Hemmschuh erweist? Oder angewendet auf unser Problem des Sharia-Vorbehalts: führte ein globales Differenzprinzip nicht zu wenig mehr als nun eben nicht-mehr-so-armen unterdrückten Frauen und religiös-bedingt-ihrer-Menschenrechte- enthobenen Minderheiten?

16„Denn noch weniger, als man aus Kriterien wie Sitzbequemlichkeit und Haltbarkeit einen konkreten Stuhl entwerfen kann, lässt sich aus Gerechtigkeitsprinzipien eine wohlbestimmte Rechtsnorm gewinnen.“ (Höffe 2002; 15) ..., geschweige denn ein institutionelles Arrangement, dass die Verwirklichung der Gerechtigkeitsprinzipien verbürgt.

17„In Wahrheit sprechen die universalistischen Argumente nur zugunsten einer Weltrepublik, aber nicht zugunsten ihrer staatlichen Homogenität.“ (Höffe 2002; 14)

18A priori Grundrechte kulturbedingt bestimmten Menschen vorzuenthalten, erscheint auch Nucci unredlich: „Das Bestreben zeitgenössischer Sozialwissenschaftler, die Implikationen unserer wertorientierten Forschung durch einen relativistischen Pluralismus zu vermeiden, sind nicht nur moralisch problematisch, sondern empirisch falsch. Es gibt einfach keine Belege für die Behauptung, dass der Wunsch nach Grundrechten einer bestimmten kulturellen Gruppe, Gesellschaftsschicht oder einem Geschlecht vorbehalten sei.“ (Nucci 2000; 473f)

19„Ich habe vorausgesetzt, dass die Menschen im Urzustand keine geringere Freiheit um größerer wirtschaftlicher Vorteile willen hinnehmen, wenn sie wissen, dass ihre Grundfreiheiten wirksam werden können. Nur wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse die vollständige Verwirklichung dieser Rechte nicht gestatten, kann man ihrer Einschränkung zustimmen. Die gleichen Freiheiten für alle können nur verweigert werden, wenn es zur Veränderung des Zivilisationsniveaus nötig ist, so dass in absehbarer Zeit jeder in den Genuss der Freiheiten kommt.“ (Rawls 1979; 587)

20„Die Rangordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze der idealen Theorie gibt also auch Leitlinien für die Anwendung dieser Grundsätze in nichtidealen Situationen an. Sie zeigt, um welche Beschränkungen man sich zuerst kümmern muss. In den extremen und verwickelten Fällen der nichtidealen Theorie versagen diese Vorrangregeln; vielleicht lässt sich überhaupt keine befriedigende Antwort finden. Doch man muss versuchen, den Tag der Abrechnung so weit wie möglich hinauszuschieben und die Gesellschaft so einzurichten, dass er womöglich gar nicht anbricht.“ (Rawls 1979; 337)

21Gerechtigkeit im Sinne der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness muss dabei nicht mit Alltagsurteilen übereinstimmen, auch wenn Rawls selbst dies weitestgehend annimmt. So lehnt Pogge die in dieser Theorie vertretene „empfängerorientierte“ Perspektive ab. (vgl. Pogge 1998; 162ff & Pogge 2002; 134f) Allein, mit Rawls ließe sich entgegnen: „[...] Im Rahmen der Gerechtigkeit als Fairness genießen die gewissenhaften Urteile jedes Menschen keine unbedingte Achtung; die Menschen haben auch keine völlige Freiheit zur Bildung ihrer moralischen Überzeugungen. [...] Wie stellen wir fest, dass ihr und nicht unser Gewissen irrt, und unter welchen Umständen kann man die anderen zwingen, nachzugeben? Die Antwort ergibt sich aus einem Rückgriff auf den Urzustand: Das Gewissen eines Menschen ist fehlgeleitet, wenn er den anderen Bedingungen aufdrängen möchte, die die Grundsätze verletzen, denen jeder in dieser Situation zustimmen würde.“ (Rawls 1979; 559f & 563)

22Weitere Einwände, ob sie nun auf Systemtheorie, Chaos-Lehre, Idealismus oder Parsons „ego-orientation“ fußen, können an dieser Stelle nur zur Kenntnis genommen werden. (hierzu siehe Tönnies 2001; 133ff; „Teil 2“)

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Sharia-Vorbehalt und Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, erörtert anhand der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit
Hochschule
Universität Stuttgart
Autor
Jahr
2002
Seiten
32
Katalognummer
V107364
ISBN (eBook)
9783640056378
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschenrechte, Durchsetzung, Sharia-Vorbehalt, Internationaler, Pakt, Rechte, Rawlschen, Theorie, Gerechtigkeit
Arbeit zitieren
Lars Neuberger (Autor:in), 2002, Sharia-Vorbehalt und Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, erörtert anhand der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107364

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