Der dringende Tatverdacht in Abgrenzung zum hinreichenden Tatverdacht


Ausarbeitung, 2002

26 Seiten, Note: 12 Punkte


Leseprobe


Inhaltübersicht

I) Einleitung

II) Dringender Tatverdacht
1) Retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil
a) Erste Ansicht
b) Zweite Ansicht
c) Stellungnahme
2) Prognostisches Wahrscheinlichkeitsurteil
a) Erste Ansicht
b) Zweite Ansicht
c) Stellungnahme
3) Ergebnis

III) Hinreichender Tatverdacht
1) Doppelte Prognoseentscheidung
a) Ansicht der Literatur
b) Ansicht der Rechtsprechung
c) Stellungnahme
2) Rechtsnatur des hinreichenden Tatverdachts
a) Unbestimmter Rechtsbegriff
b) Ermessensentscheidung
c) Stellungnahme
3) Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo“
4) Prozessvoraussetzungen
a) Ablehnende Auffassung
b) Gegenansicht
c) Fazit
5) Sonstige Umstände
a) Deliktsschwere
b) Persönlichkeit des Angeschuldigten
c) Öffentliches Interesse
d) Fazit
6) Ergebnis

IV) Abgrenzung

1) Gleiche Verdachtsintensität

2) Unterschiedliche Verdachtsintensität

3) Stellungnahme

Literaturverzeichnis

I) Kommentare

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

II) Lehrbücher

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

III) Aufsätze

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

IV) Dissertationen Staber, Wolfgang

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Bezüglich Abkürzungen wird verwiesen auf:

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I) Einleitung

Es gibt in der Strafprozessordnung unterschiedliche Verdachtsstufen des Tatverdachts. Bei dem Tatverdacht handelt es sich dabei um ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das über den Verdächtigen abgegeben wird und unterhalb des Beweises liegt. Dieses Wahrscheinlichkeitsurteil kann im Verlauf des Strafverfahrens unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Die wichtigsten Verdachtsstufen, die sich aus der Strafprozessordnung ergeben, sind der Anfangsverdacht gemäߧ§ 152 II, 160 I StPO, der hinreichende Tatverdacht gemäߧ 203 StPO, der dringende Tatverdacht gemäߧ 112 I S. 1 StPO und der an bestimmte Tatsachen geknüpfte Verdacht gemäߧ 100a S. 1 (Telefonüberwachung) und § 111 I S. 1 StPO (Einrichtung von Kontrollstellen).

Diese Verdachtsgrade erlauben mehr oder weniger einschneidende Maßnahmen in die Rechte von Personen, ohne dass es zuvor zu einer Schuldfeststellung gekommen ist.1 Es soll vielmehr aufgrund des vorliegenden Tatsachenmaterials ein auf die Verurteilungschancen bezogenes Wahrscheinlichkeitsurteil abgegeben werden.2

Da die Strafprozessordnung eine Legaldefinition dieser Verdachtsstufen nicht enthält, macht dies eine dogmatische Abgrenzung der verschiedenen Verdachtsformen erforderlich. Dies gilt im besonderen Maße bei der Abgrenzung des hinreichenden von dem dringenden Tatverdacht, da zwischen ihnen eine genaue Grenzziehung schwierig erscheint.

Mit diesem Referat soll der Versuch unternommen werden zu klären, welche Kriterien zu der Abgrenzung des hinreichenden von dem dringenden Tatverdacht herangezogen werden können.

Zunächst sollen die Begriffe als solche erläutert werden.

II) Dringender Tatverdacht

Der dringende Tatverdacht ist, abgesehen von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Haftgrund, Grundlage für die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychischen Krankenhaus gemäߧ 81 II StPO, oder für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäߧ§ 112 I S. 1, 112a I StPO. Bei Jugendlichen treten durch den Subsidaritätsgrundsatz (vgl. § 72 JGG) für die Anordnung einer Untersuchungshaft noch weitere Erfordernisse hinzu; dies gilt besonders bei Jugendlichen unter 16 Jahren.3

Da sich eine Definition des dringenden Tatverdachts nicht aus dem Gesetz ergibt, werden für die Auslegung des Begriffs unterschiedliche Kriterien herangezogen.

1) Retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil

Es besteht Einigkeit darüber, dass hierfür ein retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil erforderlich ist.4 Dieses Wahrscheinlichkeitsurteil wird zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlass des Haftbefehls5 aufgrund des vorliegenden Belastungsmaterials abgegeben. Daher müssen zunächst die zum Zeitpunkt des retrospektiven Wahrscheinlichkeitsurteils verfügbaren Erkenntnisse zusammengetragen werden, um bestimmen zu können, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein Ereignis in der Vergangenheit auf die eine oder andere Weise abgespielt hat.6

Dies verdeutlicht allerdings auch, dass die Qualität dieses Wahrscheinlichkeitsurteils bedeutend von der Richtigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen abhängt.

In den meisten Fällen treten diese Tatsachen als Urteile Dritter (Zeugen und Sachverständiger) in Erscheinung, da das menschliche Gehirn sinnliche Eindrücke eben nicht automatisch wiedergeben kann.7 Es handelt sich um Reproduktionen, die bereits bestimmte Wertungen enthalten.8 Jede Wahrnehmung stellt folglich eine interpretatorische Leistung dar.9

Daraus wird deutlich, dass die Qualität dieser wahrgenommenen Tatsachen überwiegend von der persönlichen Erfahrung und Einstellung des Wahrnehmenden abhängen. Ferner nehmen die aus den festgestellten Tatsachen gezogenen Schlussfolgerungen auf die Güte des Wahrscheinlichkeitsurteils Einfluss. So erweist es sich als ziemlich schwierig, Gesetzmäßigkeiten für ein retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil zu finden, wenn die Tatsachengrundlage nicht sehr umfangreich ist. Aus diesem Grund werden für eine ergänzende Interpretation von unvollständigem Beweismaterial divergierende Lösungsansätze vertreten.

a) Erste Ansicht

Es soll nach einer Auffassung der aus dem Zivilprozessrecht bekannte prima-facie-Beweis herangezogen werden.10 Der auch sog. Anscheinsbeweis zeichnet sich dadurch aus, dass eine tatsächliche Vermutung, die auf der allgemeinen Lebenserfahrung beruht, an die Stelle eines Beweismittels des Strengbeweises tritt.11

Die Anwendung von Erfahrungssätzen, wodurch sich der prima-facie-Beweis auszeichnet, ließe sich auf die Bestimmung einer Wahrscheinlichkeit übertragen. Es ist hierbei eine Unterscheidung zwischen einfachen Erfahrungssätzen, die weniger präzis und daher überzufällig sind, und den absoluten Erfahrungssätzen, deren Richtigkeit nach menschlichem Ermessen nicht widerlegbar ist, zu treffen. Zwischen diesen beiden Erfahrungssätzen liegen die sog. Erfahrungsgrundsätze, worauf letztendlich der prima-facie-Beweis beruht.

Gegen diesen Lösungsansatz spreche zwar die Praktikabilität des Verfahrens, aber es sei durchaus der Nutzen einer solchen gedanklichen Auslegung beim Zustandekommen eines Wahrscheinlichkeitsurteils erkennbar. Obwohl es hierbei an objektivierbarer Entscheidungskriterien fehle, entstehe aber die Notwendigkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit Erfahrungssätzen und ihren Wahrscheinlichkeitsgraden. Zudem sei eine bessere richterliche Kontrollmöglichkeit gewährleistet.

b) Zweite Ansicht

Nach der anderen Ansicht kann eine solche Interpretation nur aus der Konkordanz von Wahrscheinlichkeitssätzen und einer subjektiven Komponente erreicht werden.12 Ein rein objektives Verdachtsmaßsei nicht ausreichend.13 Im Hinblick auf die vielfältig notwendigen Bewertungen und Unsicherheitsreste sei ein Maßan personaler Stellungnahme unerlässlich. Die hierdurch entstehende Gefahr der Erkenntniswillkür sei jedoch durch die Kontrollinstrumente der Darlegungspflicht und den Instanzenzug reduziert.14

Innerhalb dieser Ansicht ist allerdings das dafür erforderliche Anforderungsprofil streitig.

Zum Teil wird die Gewissheit über die tragenden Fakten des Tatverdachts gefordert.15 Ein anderer Teil begnügt sich mit einer subjektiven, dem objektiven Beweiskriterium korrespondierenden Plausibilitätseinschätzung.16

c) Stellungnahme

Der letztgenannten Ansicht ist zu folgen, da das Erfordernis der Gewissheit in Anbetracht der Vorläufigkeit des Ermittlungsstandes und der wenigen Verfahrensgarantien eine Überforderung darstellen würde. Vielmehr ist deshalb für die Prüfung des dringenden Tatverdachts durch den Richter eine diesem durch die jeweilige Indizienkette aufdrängende Annahme zu fordern, dass der Beschuldigte die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen habe. Hierbei müssen auch allgemeine, kriminalistische und strafprozessuale Fragen sorgfältigst berücksichtigt werden.17 Zwar erscheint dadurch die Auslotung der objektiven Wahrscheinlichkeit und ferner die begrenzte richterliche Kontrollmöglichkeit aufgrund des veränderlichen Informationsgefälles zwischen den Ermittlungsbehörden und dem Ermittlungsrichter, bzw. Jugendrichter (vgl. § 125 I StPO bzw. § 34 I JGG) problematisch.

Jedoch erscheint es aus verschiedenen Gründen sinnvoll, am subjektiven Verdachtsmaßfestzuhalten. So kann auch die Neigung eines Betroffenen, bestimmte Straftaten zu begehen, als innere Tatsache in das subjektive Verdachtsmaßeinfließen.18 Weiterhin muss der Richter nach der freien Beweiswürdigung letztendlich bereit sein, die Entscheidung zu verantworten. Er kann sich aufgrund der verfahrensmäßigen Gegebenheiten eben nicht nur an objektiven Kriterien orientieren, sondern muss vielmehr eine eigene subjektive Entscheidung treffen.

2) Prognostisches Wahrscheinlichkeitsurteil

Weiterhin werden divergierende Auffassungen zu der Frage vertreten, ob der dringende Tatverdacht lediglich ein retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil erfordert, oder ob dieser Verdachtsgrad zusätzlich eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung enthalten muss.

a) Erste Ansicht

Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht ist der dringende Tatverdacht immer dann anzunehmen, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die in Kürze vom Gericht festgestellten Tatsachen auch eine Verurteilung erwarten lassen.19

Teilweise wird sogar die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gefordert.20

Als Grund wird hierfür der Zweck der Untersuchungshaft, sowie einer wirksamen Verbrechensbekämpfung nach der Strafprozessordnung angeführt. So diene die Untersuchungshaft der Durchführung eines geordneten Verfahrens und letztendlich der Sicherung der Vollstreckung einer zu verhängenden Freiheitsstrafe.21 Daher sei nur durch eine zügige Aufklärung der dem Inhaftierten vorgeworfenen Tat und eine darauf folgende gerichtliche Bestrafung der Eingriff in das Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit gerechtfertigt. Hierbei seien grundsätzlich auch die entlastenden Momente zu prüfen und Beweisverwertungsverbote zu beachten22

So lässt sich bei Privatklagedelikten der dringende Tatverdacht erst annehmen, wenn die Staatsanwaltschaft das Vorliegen des öffentlichen Interesses erklärt hat.23 Bei Antragsdelikten gilt ohnehin § 130 StPO. Ferner müssten auch Überlegungen angestellt werden, ob es nicht lediglich, statt zu einer Verurteilung, zu einer Verwarnung mit Strafvorbehalt oder gar zu einem Absehen von Strafe gemäߧ§ 59, 60 StGB kommen werde.24

Im Gegenteil dazu verfolgen die Vorschriften §§ 112a, 126a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr und einstweilige Unterbringung) auch präventive Zwecke.25

b) Zweite Ansicht

Eine andere Auffassung setzt dagegen keine zusätzliche prozessuale Prognose hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit voraus.26 Die bloße Möglichkeit der Verurteilung reicht hiernach aus.27 Als Argument hierfür wird angeführt, dass diese Ansicht der Praxis und Funktion der Untersuchungshaft gerecht werde. Insbesondere werde die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren gesichert und eine ordnungsgemäße Tatsachenermittlung gewährleistet. Besteht beispielsweise an der Täterschaft kein Zweifel mehr, fällt aber das einzig bekannte Beweismittel weg, so ist eine Verurteilung zwar augenblicklich nicht mehr wahrscheinlich, allerdings kann dennoch ein die Untersuchungshaft rechtfertigender Haftgrund so lange bestehen, wie eine Verurteilung mit Hilfe anderer Beweismittel noch möglich erscheint.

c) Stellungnahme

Für die letztgenannte Ansicht spricht der prozessuale Sinn und Zweck der Untersuchungshaft. Dieser wird durch die Schaffung einer weiteren Voraussetzung ausgehöhlt.

Es liegt in der Praxis häufig die Situation vor, dass der Ermittlungsstand zum Erlasszeitpunkt des Haftbefehls noch unvollständig ist. Der noch ausstehende Rest der Ermittlungen soll zwar in die Prognoseentscheidung, so weit es möglich erscheint, miteinfließen, kann aber nicht deren Voraussetzung sein.28 Daher erscheint es auch nicht sinnvoll, die von der erstgenannten Ansicht vorausgesetzte Wahrscheinlichkeits- betrachtung hinsichtlich der Verurteilung bereits zu diesem Zeitpunkt vorzunehmen.

3) Ergebnis

Zusammenfassend lässt sich danach festhalten, dass sich ein dringender Tatverdacht annehmen lässt, wenn nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte an einer Straftat rechtswidrig und schuldhaft handelnd beteiligt war.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Rechtfertigungs-, Schuld- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, beseitigen den dringenden Tatverdacht nicht.29 Gleiches gilt auch für nicht behebbare Verfahrenshindernisse.30 Dies ergibt sich bereits daraus, dass Rechtsfragen keiner Wahrscheinlichkeitsprognose unterliegen.31 Aus diesem Grund gilt auch der Grundsatz „in dubio pro reo“ im Haftrecht nicht.32

Es bedarf nicht einer prognostischen Verurteilungswahrscheinlichkeit.

III) Hinreichender Tatverdacht

Der hinreichende Tatverdacht ist gemäߧ§ 170 I, 203 StPO Grundlage für die Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft und den Erlass des Eröffnungsbeschlusses durch das Gericht.

1) Doppelte Prognoseentscheidung

Anders als beim dringenden Tatverdacht, bei dem eine einfache Prognoseentscheidung ausreicht, ist für den hinreichenden Tatverdacht eine doppelte Prognoseentscheidung erforderlich. Es geht hierbei nicht mehr allein um die Frage, ob der Angeschuldigte nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Straftat begangen hat, also um ein retrospektives Wahrscheinlichkeitsurteil.

Vielmehr ist darüber hinaus eine prospektive prozessuale Prognose dahingehend erforderlich, als im Anschluss an die Hauptverhandlung eine Verurteilung wahrscheinlich sein muss.33 Aber selbst bei einer noch so hohen Wahrscheinlichkeit an der Täterschaft des nicht geständigen Angeschuldigten besteht eine Verurteilungswahrscheinlichkeit immer erst zu dem Zeitpunkt, an dem es mit den Mitteln des Strengbeweises wahrscheinlich gelingen wird, eine Strafbarkeit zur Überzeugung des Gerichts zu beweisen.

Durch die Verbindung von retrospektivem und prospektivem Wahrscheinlichkeitsurteil wird zum einen für die Justiz gewährleistet, zeit- und personalintensive Hauptverhandlungen bei von vornherein unzureichenden oder aussichtslosen Klagen auszuschließen; zum anderen wird der Angeschuldigte davor geschützt, ohne hinreichenden Grund einer regelmäßig unangenehmen Hauptverhandlung ausgesetzt zu werden.34

In diesem Zusammenhang ist allerdings der Grad der Wahrscheinlichkeit umstritten, der für eine Verurteilung gefordert wird.

a) Ansicht der Literatur

Es wird hierzu, nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht, für die Eröffnung des Hauptverfahrens eine hohe Wahrscheinlichkeit gefordert.35

Es sei mit Rücksicht auf die geringere Beweisdignität eine hohe Wahrscheinlichkeit zu fordern.36 Dies folge daraus, dass vorrangig nach Aktenlage prognostiziert werde, was einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad erfordere.

b) Ansicht der Rechtsprechung

Nach einer überwiegend in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung reicht es dagegen aus, dass die sog. Verurteilungswahrscheinlichkeit gegenüber der Nichtverurteilungswahrscheinlichkeit lediglich höher ist. Danach müssen mögliche Zweifel an der Ausschließbarkeit eines Freispruchs nicht restlos ausgeräumt sein.37

c) Stellungnahme

Der letztgenannten Ansicht ist im Ergebnis zu folgen. Würde man für die Annahme des hinreichenden Tatverdachts bereits eine hohe Wahrscheinlichkeit fordern, so hätte dies eine Erschwerung der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Folge, da nach dieser Ansicht trotz überwiegend wahrscheinlicher Täterschaft des Angeschuldigten eine Hauptverhandlung dennoch nicht durchgesetzt werden könnte.

Um dem entgegenzuwirken und letztendlich eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit zu erreichen, müsste jedes in Frage kommendes Beweismittel bereits im Ermittlungsverfahren erhoben werden. Durch diese Sichtweise würde man in unzulässiger Weise das Schwergewicht des Strafverfahrens aus der Hauptverhandlung in das Ermittlungsverfahren verlegen.

2) Rechtsnatur des hinreichenden Tatverdachts

Ferner ist die Rechtsnatur des hinreichenden Tatverdachts in der Literatur und Rechtsprechung umstritten.

a) Unbestimmter Rechtsbegriff

Nach einer Ansicht handelt es sich bei dem Begriff des „hinreichenden Tatverdachts“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff und nicht um eine Ermessensentscheidung.38

Gegen eine Ermessensentscheidung spreche die Tatsache, dass ein so folgenschwerer Eingriff in den Persönlichkeitsbereich, wie ihn die Anklageerhebung bereits darstelle, durch das Gesetz selbst berechenbar werden müsse.39 Es sei mit der Bindung staatsanwaltlicher Tätigkeit an Recht und Gesetz nicht vereinbar, wenn eine derartige Entscheidung in das Ermessen einer Behörde gestellt werde. Dies gelte auch für das Eröffnungsgericht.

b) Ermessensentscheidung

Nach einer anderen Ansicht verbleibt dem Gericht über das „Ob“ ein gewisser Ermessensspielraum.40

Als Argument führt diese Auffassung an, dass unterschiedliche Lösungen durch verschiedene Betrachter durchaus möglich seien, ohne dass sie als pflichtwidrig bezeichnet werden können.41 Hieraus ergebe sich ein zulässiges Ermessen, das allerdings pflichtgemäßausübt werden müsse.

c) Stellungnahme

Gegen die letztgenannte Ansicht spricht der Wortlaut des § 203 StPO. Danach beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens durch den sog. Eröffnungsbeschluss, wenn der hinreichende Tatverdacht vorliegt. Das Gesetz verwendet demzufolge bewusst nicht den Terminus „kann“ und räumt daher dem Gericht kein Ermessen ein. Außerdem spricht die Gesetzessystematik gegen die Sichtweise der zweiten Ansicht. Der § 204 StPO betrifft den Gegenteil für den Fall, dass der hinreichende Tatverdacht fehlt und stellt daher eine spiegelbildliche Ergänzung von § 203 dar.

Außerdem spricht der Zweck des hinreichenden Tatverdachts für die erstgenannte Ansicht. Der Eröffnungsbeschluss stellt eine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung dar.42

Insofern kann aufgrund des damit verfolgten Schutzgedanken, Betroffene vor leichtfertigen Klagen zu schützen, ein Ermessen nicht angenommen werden. Daher ist der erstgenannten Ansicht zu folgen. Der hinreichende Tatverdacht lässt sich infolgedessen als unbestimmter Rechtsbegriff einordnen.

3) Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo“

Der Grundsatz „in dubio pro reo“ kann bei einem Wahrscheinlichkeitsurteil nicht unmittelbar in Ansatz gebracht werden, da die zu treffende Entscheidung auf keiner allzu festen Tatsachenbasis steht.

Deshalb wird der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei Prognoseentscheidungen der Verurteilungswahrscheinlichkeit auch mittelbar relevant.43 Dieser Grundsatz ist insofern zu berücksichtigen, als der hinreichende Tatverdacht mit der Begründung verneint werden kann, dass bei Aktenlage nach den gegebenen Beweismöglichkeiten am Ende das Gericht wahrscheinlich freisprechen werde.44 Dies entspricht der Filterfunktion des hinreichenden Tatverdachts.45

Jedoch ist anzumerken, dass bei Zweifeln über die Schuld die Klärung der Schuldfrage der Hauptverhandlung vorbehalten werden muss. Der hinreichende Tatverdacht ist insbesondere anzunehmen, wenn noch Aufklärungsmöglichkeiten ausstehen, die gerade für die Hauptverhandlung typisch sind, wie die Konfrontation der Angeklagteneinlassung mit Zeugenaussagen oder der persönliche Eindruck der Aussagenden.46

Hieraus wird deutlich, dass für die Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“, bedingt durch die eingeschränkte Tatsachenbasis nur wenig Raum ist.

4) Prozessvoraussetzungen

Bei den sachlichen Prozessvoraussetzungen ist eine abschließende Rechtsprüfung durchzuführen.47 Jedoch besteht Uneinigkeit darüber, ob auch in tatsächlicher Hinsicht das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen festgestellt werden muss.

a) Ablehnende Auffassung

Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen nicht Teil des hinreichenden Tatverdachts, sondern eine neben dem hinreichenden Tatverdacht erforderliche Voraussetzung ist.48

Die Gegenansicht berücksichtige nicht, dass insoweit auch in der Hauptverhandlung das Freibeweisverfahren gelte und daher die Hauptverhandlung auch hier zusätzliche Erkenntnismöglichkeiten biete.49

b) Gegenansicht

Nach einer anderen Ansicht wird der Begriff des hinreichenden Tatverdachts als Summe aller derjenigen Urteile und Entscheidungsvoraussetzungen verstanden, die das Gericht vor Eröffnung des Hauptverfahrens bejahen muss.50

Begründet wird diese Ansicht damit, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne einer Verurteilungswahrscheinlichkeit immer nur dann bestehen könne, wenn die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs im Wege des Strafprozesses überhaupt zulässig ist.51

c) Fazit

Dieser dogmatische Streit bleibt allerdings letztendlich ohne Auswirkung auf den Eröffnungsbeschluss, da nach beiden Ansichten dieser erst ergehen kann, wenn auch eine Prüfung der Prozessvoraussetzungen erfolgt ist.

5) Sonstige Umstände

Weiterhin steht in Frage, welchen Einfluss sonstige Umstände, wie die Schwere des Delikts, die Persönlichkeit des Angeschuldigten und das öffentliche Interesse, auf die Entscheidung über das Bestehen des hinreichenden Tatverdachts haben.

Natürlich kann keiner dieser Faktoren geeignet sein, sich unmittelbar auf den Grad der Verurteilungswahrscheinlichkeit auszuwirken. Es könnte allerdings ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verurteilungswahrscheinlichkeit und diesen sonstigen Umständen bestehen.

a) Deliktsschwere

Eine Berücksichtigung der Deliktsschwere würde in der Umsetzung bedeuten, dass bei geringfügigen Straftaten ein geringeres Maßan Wahrscheinlichkeit zur Eröffnung des Hauptverfahrens verlangt werden würde als bei schweren Straftaten. Dies hätte zur Folge, dass die Durchführung einer Hauptverhandlung besonders bei schwerwiegenden Delikten erschwert wäre, obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung bereits bestünde.

Dagegen müssten Bagatelldelikte, für die eine geringere Verurteilungswahrscheinlichkeit ausreichen würde, in einer Hauptverhandlung erörtert werden.

Da eine derartige Sichtweise dem Zweck des Zwischenverfahrens -Schutz des Angeschuldigten vor unzureichenden Klagen und Entlastung der Gerichte- zuwiderläuft, erfolgt die Prüfung des hinreichenden Tatverdachts, nach nunmehr einhelliger Auffassung, deliktsneutral.52

b) Persönlichkeit des Angeschuldigten

Für ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Täterpersönlichkeit und dem Grad der Verurteilungswahrscheinlichkeit findet sich in der Strafprozessordnung kein Anhaltspunkt.

Es folgt vielmehr aus dem Wortlaut des § 203 StPO, dass der Begriff des „hinreichenden Tatverdachts“ für alle Angeschuldigten, also täterneutral, aufzufassen ist.53

Ermittlungen zur Persönlichkeits- und Sozialprognose sind lediglich für die Strafzumessung von Belang, lassen hingegen die Bewertung des Wahrscheinlichkeitsgrads unberührt.

c) Öffentliches Interesse

Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei der Heranziehung des öffentlichen Interesses ab. Ein vermeintlich öffentliches Interesse darf keinen Einfluss auf die Frage der Verfahrenseröffnung haben.54

Hierfür spricht bereits die Gesetzessystematik der Strafprozessordnung. Der Gesetzgeber hat durch § 376 StPO eine Regelung hinsichtlich der Einbeziehung des öffentlichen Interesses im Fall von Privatklagedelikten geschaffen. Hingegen wird in § 203 StPO die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ausschließlich an das Bestehen des hinreichenden Tatverdachts geknüpft.

Eine weitergehende Berücksichtigung des öffentlichen Interesses würde demnach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers widersprechen.

d) Fazit

Es kann daher festgehalten werden, dass sowohl die Deliktsschwere, als auch die Angeschuldigtenpersönlichkeit und das öffentliche Interesse keinen Einfluss auf den Grad der Verurteilungswahrscheinlichkeit haben können.

6) Ergebnis

Wie sich zeigte, lässt sich der hinreichende Tatverdacht annehmen, wenn der Täter die ihm vorgeworfene Tat wahrscheinlich begangen hat und -unabhängig von Art und Schwere des Delikts, bzw. der Täterpersönlichkeit- eine vorläufige Tatbewertung ergibt, dass eine Verurteilung des Angeschuldigten in der Hauptverhandlung wahrscheinlich erscheint.

Die Entscheidung über das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts erfolgt durch das Gericht, bei dem die öffentliche Klage erhoben wurde, durch den Eröffnungsbeschluss. Im Eröffnungsbeschluss wird die Klage zugelassen (vgl. § 207 StPO) und rechtshängig.

IV) Abgrenzung

Es werden nun die Verdachtsgrade „dringender Tatverdacht“ und „hinreichender Tatverdacht“ miteinander verglichen. Eine solche Abgrenzung der Begriffe wird häufig nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad des jeweiligen Tatverdachts (sog. Verdachtsintensität) zum Zeitpunkt der Anklageerhebung vorgenommen. Es werden für eine solche Abgrenzung mehrere Lösungsansätze vertreten.

1) Gleiche Verdachtsintensität

Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht ist der hinreichende Tatverdacht mit dem dringenden Tatverdacht gleichwertig. Für beide Begriffe sei eine gleich hohe tatsächliche Wahrscheinlichkeit erforderlich.55

Dies gebiete nicht nur der Grundsatz der Verfahrensökonomie, sondern sei der Sinn des Ermittlungsverfahrens an sich.

Durch das Ermittlungsverfahren werde nämlich bezweckt, eine Hauptverhandlung gegen Beschuldigte zu vermeiden, sofern keine Verurteilung erwartet werden könne.

Weiterhin wird diese Ansicht darauf gestützt, dass beim Haftrecht stets auch der dringende Tatverdacht nach Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegen muss, damit die Untersuchungshaft aufrechterhalten werden darf. Wenn man für den hinreichenden Tatverdacht eine einfache Wahrscheinlichkeit genügen ließe, könnte die bizarre Situation entstehen, dass das Gericht den Eröffnungsbeschluss erlassen und damit zum Ausdruck bringen müsste, dass eine Hauptverhandlung stattfinden soll. Im gleichen Atemzug wäre das Gericht dann bei nahezu sicherer Fluchtgewissheit gezwungen, den Haftbefehl mangels dringenden Tatverdachts aufzuheben und müsste demzufolge in Kauf nehmen, dass die Hauptverhandlung aller Voraussicht nach nicht stattfinden kann.

2) Unterschiedliche Verdachtsintensität

Nach dieser Auffassung ist der dringende Tatverdacht in der Intensität des Verdachtsgrades stärker ausgeprägt, als der hinreichende.56

Als Argument führt diese Ansicht an, dass für den hinreichenden Tatverdacht eine einfache Wahrscheinlichkeit ausreiche, jedoch § 112 I S. 1 StPO für den Erlass eines Haftbefehls eine große Wahrscheinlichkeit verlange.57 So sei der Begriff „dringend“ als eine Steigerung des Begriffs „hinreichend“ zu verstehen.58

3) Stellungnahme

Der letztgenannten Auffassung ist mit einigen Einschränkungen der Vorzug zu geben, da sich das Erfordernis einer hohen Wahrscheinlichkeit für die Eröffnung eines Hauptverfahrens aus dem Gesetzeswortlaut (§ 203 StPO) nicht ergibt.

Vielmehr zeigt der abweichende, ursprüngliche Entwurf der Strafprozessordnung von 1877, der für die Anordnung der Untersuchungshaft noch den hinreichenden Tatverdacht voraussetzte59, dass der Gesetzgeber in der endgültigen Fassung mit der Auswechselung des Wortes „hinreichend“ gegen den Ausdruck „dringend“ im Falle der Anordnung der Untersuchungshaft gerade eine Verschärfung des Haftrechtes beabsichtigte.

Weiterhin spricht der Wortlaut des § 138a I StPO für diese Sichtweise. Indem der Gesetzgeber hierin beide Formen des Tatverdachts durch das Wort „oder“ verbindet, ist auch der Gesetzgeber von zwei unterschiedlichen Bedeutungen ausgegangen.

Für diese Sichtweise sprechen ferner die divergierenden Denotate. Das Wort „hinreichend“ drückt aus, dass etwas, in diesem Zusammenhang der Tatverdacht, zu Genüge oder ausreichend vorhanden ist.

Indessen beschreibt der Begriff „dringend“ einen eiligen und nicht aufschiebbaren Zustand. Der Begriff „dringend“ wurde infolgedessen vom Gesetzgeber bewusst gewählt und zielt auf den besonderen Zweck der Untersuchungshaft ab. Zweck der Untersuchungshaft ist ausschließlich die Durchsetzung des Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters.60

Die rasche Täterbestrafung und die effektive Verfahrenssicherung standen damit bei der Untersuchungshaft im Vordergrund. Somit sind die Begriffe schon von ihrer Wortbedeutung heterogen, so dass dies gegen die erstgenannte Meinung spricht.

Der Zweck des Zwischenverfahrens liegt darin, eine Hauptverhandlung gegen Beschuldigte zu vermeiden, bei denen keine Verurteilung zu erwarten ist. Dies wird auch durch den als Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung interpretierenden hinreichenden Tatverdacht gewährleistet, da eine Verurteilung immer schon zu erwarten ist, wenn sie überwiegend wahrscheinlich ist. Dies ist der Fall, wenn mehr und gewichtigere Gründe für eine im Rahmen der Hauptverhandlung nachweisbare Tat dafür sprechen, als dagegen [vgl. II 2)].

Darüber hinaus darf der Begriff der Verfahrensökonomie nicht fehlinterpretiert werden. Es sollen lediglich von vornherein aussichtslose Klagen ausgeschlossen werden. Eine Vermeidungen von Hauptverhandlungen, bei denen eine Verurteilung in Frage steht, können und sollen im Zwischenverfahren nicht geklärt werden. Zu diesem Zweck existiert die Hauptverhandlung, in der das Gericht die zur Verurteilung erforderliche sichere Überzeugung gewinnt.

Gegen das Argument unbilliger Ergebnisse der ersten Ansicht spricht, dass eine Verhaftung erheblich schwerer wiegt als die Durchführung einer Hauptverhandlung als Folge des Eröffnungsbeschlusses. Während im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens lediglich vom Angeschuldigten verlangt wird, dass der Schuldvorwurf geklärt wird, hat die Anordnung der Untersuchungshaft gegenüber dem Betroffenen eine unmittelbare Entziehung der persönlichen Freiheit, also einen Grundrechtseingriff, zur Konsequenz.

Ferner sprechen die mit der Anordnung der Untersuchungshaft verbundenen Auswirkungen für eine verschiedenartige Verdachtsintensität.

Die Verhaftung hat zahlreiche Grundrechtsbeeinträchtigungen zur Konsequenz. So wird nicht nur in erster Linie das in Art. 2 II S. 2 GG gewährleistete Recht der Freiheit der Person betroffen, sondern müssen auch die Beschränkungen der Art. 11 I, 4 II, 8 I und 12 I GG hingenommen werden.61

Der Untersuchungshäftling ist zwar gemäߧ 177 StVollzG i.V.m. § 119 III StPO von der Arbeitspflicht (vgl. § 41 I StVollzG) freigestellt, muss sich aber dennoch der in der Haftanstalt geltenden Ordnung anpassen. Es verbleiben trotz solcher Hafterleichterungen Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit. Nennenswert in diesem Zusammenhang sind die für den Inhaftierten geltenden Beschränkungen der Einbringungsgegenstände seiner Wohnzelle, sowie des Tagesablaufs -und der Freizeitgestaltung.

Auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen sind in diesem Kontext von Belang. Die Verhaftung führt nicht selten zum Verlust der Arbeitsstelle oder zur Vernichtung einer gewerblichen Existenz.

Darüber hinaus wird eine Verhaftung in der Öffentlichkeit schon leicht als Schuldbeweis angesehen. Dies führt zu einer Einbuße an Ehre und gesellschaftlichem Ansehen, selbst dann, wenn der Betroffene später wieder frei gelassen wird oder das Verfahren mit einem Freispruch endet.

Insbesondere sind auch die psychischen Auswirkungen der Untersuchungshaft nennenswert.

Gerade bei einer bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Person sind die seelischen Belastungen groß.

Bei nichtdeutschen Untersuchungshäftlingen tritt das Problem hinzu, dass es an grundlegenden spezifischen Behandlungskonzepten für ausländische Gefangene fehlt.62 Das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten, mit jeweils eigenständigen kulturellen Lebensgewohnheiten führt zu Konflikten zwischen den Insassengruppen, die häufig auch mittels Gewalt ausgetragen werden.63

Neben dem veränderten Umfeld in der Justizvollzugsanstalt und dem Kontakt mit Vorbestraften und Strafgefangenen, spielt die Ungewissheit hinsichtlich des Verfahrensstandes, der Lage der persönlichen Verhältnisse und der voraussichtlichen Haftdauer eine wesentliche Rolle.

Nicht außer Acht gelassen werden dürfen auch die prozessualen Nachteile der Untersuchungshaft. Im besonderen Maße sind die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der Justizvollzugsanstalt eingeschränkt. Die Beauftragung eines Wahlverteidigers scheitert häufig an der finanziellen Situation, eine Pflichtverteidigung (vgl. § 140 StPO) hingegen an den gesetzlichen Voraussetzungen.

Würdigt man all diese Folgen im Vergleich zu deren Auswirkungen, welche durch eine Annahme des hinreichenden Tatverdachts ausgelöst werden, so bedeutet für den Betroffenen die Anordnung der Untersuchungshaft den gewichtigeren Eingriff.

Stellt daher im Zeitpunkt der Anklageerhebung das für die Entscheidung zuständige Gericht fest, dass der Tatverdacht für die Eröffnung eines Hauptverfahrens gerade ausreicht, so kann auf dieselben Verdachtsgründe nicht die Anordnung der Untersuchungshaft gestützt werden.

Gegensätzlich dazu kann das Gericht aber unbedenklich die Anklage zur Hauptverhandlung zulassen, wenn sie den für den Erlass eines Haftbefehls stärkeren Verdachtsgrad angenommen hat.

Demzufolge ist es im Ergebnis gerechtfertigt, für den hinreichenden und den dringenden Tatverdacht zum Zeitpunkt der Anklageerhebung unterschiedlich hohe Anforderungen an die Verdachtsintensität zu stellen. Zugleich muss jedoch berücksichtigt werden, dass eine abstrakte Einordnung beider Verdachtsbegriffe auf einer Skala mit festen Positionspunkten nicht möglich ist. Es steht eher eine unterschiedliche Gewichtung der bei der Verdachtsfindung zu beachtenden Aspekte im Vordergrund.

Die beiden Tatbegriffe des dringenden und hinreichenden Tatverdachts unterscheiden sich hinsichtlich der Art der Prognose und des dabei maßgeblichen Zeitpunktes so stark voneinander, dass eine Abgrenzung beider Verdachtsformen nur sehr eingeschränkt möglich ist.

Da der hinreichende Tatverdacht auf den Zeitpunkt der Anklageerhebung bezogen ist, der dringende Tatverdacht hingegen auf den jeweiligen Ermittlungsstand, ist bei letzterem die Bewertungsgrundlage je nach Verfahrensstand differenzierend.

Es können beispielsweise zu Beginn der Ermittlungen einzelne starke Indizien auch dann einen dringenden Tatverdacht begründen, wenn die Indizienkette in sich noch nicht geschlossen ist und noch die Möglichkeit besteht, dass der dringende Tatverdacht bei weiteren Ermittlungen nicht mehr anzunehmen ist. Steht jedoch fest, dass die Lücken in der Indizienkette auch auf Grund weiterer Ermittlungen nicht mehr ausgefüllt werden können, so kann ein dringender Tatverdacht nicht mehr angenommen werden.

Fern-Uni-Hagen: 12 Punkte

(Rechtsreferendar)

[...]


1 Lundberg, S. 117.

3 vgl. Eisenberg, § 72, Rn. 3.

2 Diss. Staber, S. 8.

4 KK - Boujong, § 112, Rn. 12; LR - Wendisch, § 112, Rn. 22; K/M-G, § 112, Rn. 5.

5 Pfeiffer, § 112, Rn. 2.

6 Lundberg, S. 11.

7 Kasper, S. 37.

8 Kasper, S. 38.

9 Kühne, NJW 1979, S. 617, 619.

10 Kühne, NJW 1979, S. 617, 621.

11 BGH, VersR 1991, S. 460; BGH, NJW 1996, S. 1828; OLG Düsseldorf, VersR 1998, S. 103.

12 Paeffgen, S. 189.

13 Paeffgen, S. 194.

14 Paeffgen, S. 191.

15 Dahs, NJW 1965, S. 889, 891.

16 LR - Wendisch, § 112, Rn. 25; Roxin, § 30B, Rn. 6.

17 SK - Paeffgen, § 112, Rn. 8; KK - Boujong, § 112, Rn. 8; Kleinknecht/Janischowsky, Rn. 13.

18 KG Berlin, NJW 1965, 1390.

19 OLG Köln, JMBlNW 1968, S. 235; OLG Koblenz, StV 1994, S. 316f.; Parigger, NStZ 1986, S. 211.

20 Paeffgen, S. 194.

21 Schäfer, Rn. 391.

22 AK - Deckers, § 112, Rn. 12; Joachimski, S. 56.

23 Schäfer, Rn. 396a.

24 Solbach, JA 1995, S. 964, 969.

25 Schäfer, Rn. 391b.

26 BGH NStZ 1981, S. 93, 94; K/M-G, § 112, Rn. 6.

27 K/M-G, § 112, Rn. 5.

28 K/M/R - Wankel § 112, Rn. 2.

29 Schlothauer, StV 1996, S. 393; a. A. SK - Paeffgen, § 112, Rn. 5.

30 OLG München, StV 1998, S. 270 f.

31 Lüttger, GA 1957, S. 211.

32 KK - Boujong, § 112, Rn. 44.

33 BayObLGSt 1977, S. 145; Lüttger GA 1957, S. 193, 197.

34 Lundberg, S. 16f.

35 LR - Rieß, § 203, Rn. 12; SK - Paeffgen, § 203, Rn. 11.

36 SK - Paeffgen, § 203, Rn. 11.

37 BGH, NJW 1970, S. 1543 f.; Beulke, Rn. 114.

38 K/M/R - Seidl, § 203, Rn. 16; Störmer, ZStW 108, S. 494, 517.

39 Steffen DRiZ 1972, S. 153, 155f.

40 BGH, NJW 1970, S. 1543 f.; Sailer, NJW 1977, S. 1138.

41 BGH, NJW 1970, S. 1543, f.

42 Schubarth, S. 23.

43 HK - Krehl, § 170, Rn. 2; Loos, JuS 1979, S. 699, 701; Bloy, GA 1980, S. 161, 163.

44 K/M-G, § 203, Rn. 2; Kühne, Rn. 319.

45 Michler, S. 48.

46 Loos, JuS 1979, S. 699, 702; LR - Rieß, § 203, Rn. 13; v. Kries ZStW 5, S. 1, 14.

47 AK - Loos, § 203, Rn. 4.

48 v. Kries, S. 513; Loos, JuS 1979, S. 699, 702 f.

49 AK - Loos, § 203, Rn. 4.

50 LR - Rieß, § 203, Rn. 7.

51 Lundberg, S. 26.

52 LR - Rieß, § 203, Rn. 18; Lüttger, GA 1957, S. 193, 200.

53 Lüttger, GA 1957, S. 193, 201.

54 Michler, S. 45.

55 Lohner, S. 62; LR - Rieß, § 203, Rn. 12.

56 KK - Boujong, § 112, Rn. 6; Kleinknecht/Janischowsky, Rn. 8.

57 KK - Boujong, § 112, Rn. 6.

58 vgl. Hahn, Motive I, S. 16.

59 vgl. Hahn, Motive I, S. 16.

60 BGH, NJW 1987, S. 2525; OLG Frankfurt, MDR 1979, S. 75; Hassemer, StV 1984, S. 40.

61 v. Hindte, S. 182 f.

62 Laubenthal, Rn. 316.

63 Laubenthal, Rn. 316.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Der dringende Tatverdacht in Abgrenzung zum hinreichenden Tatverdacht
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
Wahlstation für Rechtseferendare
Note
12 Punkte
Autor
Jahr
2002
Seiten
26
Katalognummer
V107310
ISBN (eBook)
9783640055838
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tatverdacht, Abgrenzung, Tatverdacht, Wahlstation, Rechtseferendare
Arbeit zitieren
Oliver Aissen (Autor:in), 2002, Der dringende Tatverdacht in Abgrenzung zum hinreichenden Tatverdacht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107310

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