Ist die coincidentia opposi torum der Schlüssel zu einem modernen Gottesbeweis?


Hausarbeit, 2002

8 Seiten


Leseprobe


1.

1440 formulierte Nikolaus von Kues in seiner Studie Die wissende Unwissenheit (De docta ignorantia) ein Theorem, das heute als Schlüsselaussage seiner Gotteslehre gilt - die »coincidentia oppositorum«: den Zusammenfall der Gegensätze in Gott.

„Das in Absolutheit Größte ist ganz Wirklichkeit, da es alles ist, was es sein kann. Da es eben alles ist, was es sein kann, kann es nicht größer und, aus demselben Grund, auch nicht kleiner werden. Das Kleinste aber ist jenes, über das hinaus nichts kleiner sein kann und da das Größte von derselben Art ist, ist es klar, daß das Kleinste mit dem Größten koinzidiert.“1 Nach Auffassung von Helmut Gestrich, dem seit 1973 amtierenden Vorsitzenden der Cusanus-Gesellschaft, ist dieses Theorem heute noch ebenso aktuell wie zu der Zeit, als Nikolaus von Kues es zuerst ausgesprochen hat.2

Dieses Theorem hat mittlerweile die engen disziplinären Barrieren der philosophischen Theologie überschritten und ist in die unmittelbar angrenzenden Fachgebiete von Mathematik und Physik vorgedrungen. So wird es wird physikalisch nicht nur als historischer Vorläufer des Relativitätsprinzips3 verstanden, es gilt auch mathematisch als exemplarisches Anwendungsbeispiel der sogenannten »parakonsistenten Logik« - ein neuen modernen Form der Logik, die sich mit Widersprüchen und ihren Folgen für formale Systeme auseinandersetzt.4

Trotz dieser sich mehrenden Gegenwartsbezüge ist die naheliegendste wie auch weitreichendste Implikation, die dieses Theorem für das moderne Denken bereithält, weithin unbeachtet geblieben. Tatsächlich beinhaltet es die Möglichkeit, die Existenz Gottes empirischer Verifikation zugänglich machen zu können. An der Wahrnehmung dieser Möglichkeit, einen modernen Gottesbeweis führen zu können, sind sowohl Nikolaus von Kues selbst als auch Generationen von Theologen und Philosophen achtlos vorübergegangen.

2.

Gottesbeweise haben in der Geschichte theologischen Denkens verständlicherweise immer eine zentrale Rolle gespielt, denn eine Theologie, die sich als Wissenschaft versteht, setzt stets die Existenz Gottes als gegeben voraus.

Seit dem Erscheinen der Kritik der Reinen Vernunft (1781) sind die Möglichkeiten, die Existenz Gottes beweisen zu können, jedoch epistemologisch auf das Gebiet der sicht- und erkennbaren »Welt« beschränkt. Unmittelbare, auf Gott selbst zielende Beweisformen sind von Immanuel Kant als erkenntnistheoretisch „trüglich“ entlarvt und zurück- gewiesen worden.

Moderne Gottesbeweise, sofern sie nicht als unaufgeklärt gelten wollen, können daher nicht mehr hinter dem von Kant erreichten Erkenntnisstand unkritisch zurückgehen, sondern sie müssen von dort aus weiter denken. Das bedeutet, daß das Bemühen, die Existenz Gottes beweisen zu wollen, sich vorzugsweise an das Gebiet der erkennbaren Welt zu halten hat - oder dem, was man gemeinhin auch als das »Werk Gottes« oder »Seine Schöpfung« bezeichnet.

Obwohl die römisch-katholische Kirche diese von Kant geforderte »methodologische Kehre« längst vollzogen hat5, sind die auf diesem Wege liegenden Beweismöglichkeiten bislang jedoch nicht ernsthaft und entschieden genug verfolgt worden.

Wird diese »methodologische Kehre« wirklich in aller Entschiedenheit vollzogen und fortan grundlegend darauf verzichtet, Gott selbst finden zu wollen, dann ergibt sich die auf »Sein Werk« gerichtete Beweisstrategie früher oder später ganz von selbst: Wenn Gott und die Welt, wenn also Schöpfer und Schöpfung im Einklang miteinander stehen sollen, dann muß die Welt notwendig eine ganz spezielle Struktur aufweisen. Diese innerweltliche Struktur muß nämlich mit den Gott traditionell zugeschriebenen außerweltlichen Bestimmungen verträglich sein. Zu dem gleichsam klassischen Bestimmungen, die Gott traditionell zugeordnet werden, gehören jene typischen All-Bestimmungen, wie z.B. die der Allmächtigkeit, die der Allwissenheit, die der Allgütigkeit und die der Allgegenwärtigkeit.

Wenn Gottes Schöpfung oder modern: das »physikalische Universum« auf die eine oder andere Weise der sichtbare Ausdruck eben dieser All- Bestimmungen sein soll, dann muß es eo ipso eine mit diesen All- Bestimmungen gleichermaßen konsistente und kohärente Struktur aufweisen. Gelänge es diese gleichsam »göttliche« Struktur des Universums theoretisch hinlänglich zu präzisieren, dann bestünde, was wissenschaftlicher Denkweise entspricht, die Möglichkeit, auch überprüfen zu können, ob das von uns beobachtete reale Universum eine solche theoretisch/theologisch präzisierte Struktur empirisch zu erkennen gibt oder nicht.

Auf diesem Wege könnte es dann möglich sein, zu jener natürlichen Gotteserkenntnis vorzudringen, die bislang immer nur ein Traum war - ein erkennen und zu lieben, entdeckt er auf der Suche nach Gott gewisse „Wege“, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen. Man nennt diese auch „Gottesbeweise“... Diese „Wege“ zu Gott haben die Schöpfung - die materielle Welt .. - zum Ausgangspunkt.“ In und mit diesem Artikel 31 sind die Auffassungen des Ersten Vatikanums über die natürliche Gotteserkenntnis fast unverändert aufgegriffen worden. Sie sind als solches seit langem untrennbarer Teil der römisch- katholischen Weltsicht.

Traum, der sich auch nach fast zwei Jahrtausende währender Denkanstrengungen nie hat einlösen lassen.

Da die Gott traditionell zugeschriebenen All-Bestimmungen transzendenter Natur sind und als solches außerhalb der empirischen Welt angesiedelt sind, haben wir bislang, wie es scheint, noch keine klaren und verbindlichen Erkenntnisse darüber, ob und inwieweit diese All-Bestimmungen mit der sichtbaren, immanenten Welt in Beziehung stehen.

3.

Um erste Einblicke in das Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Welt erlangen zu wollen, ist es naheliegend, jene Grenze aufzusuchen, wo sich beide Bereiche der Wirklichkeit auf sehr unmittelbare Weise berühren. Die theoretische Ausleuchtung dieses Grenzbereiches bietet m.E. am ehesten die Chance, herauszufinden, welche strukturellen Vorgaben die sichtbare Welt erfüllen muß, wenn sie sich mit jenen außerweltlichen Bestimmungen bruchlos zu einem Ganzen zusammenfügen lassen soll.

Nikolaus von Kues ist einer der wenigen Denker, der mit seinen Studien genau in dieses Grenzgebiet der Wirklichkeit vorgestoßen ist. So zeigt das von ihm formulierte Theorem - der Koinzidenz des Kleinsten und des Größten -, welche grundlegende strukturelle Beziehung die sichtbare Welt erfüllen muß, wenn sie mit etwas Allgegenwärtigem verträglich sein will: Ist Gott das Größte, dann umfasst Er alles. Ist Er auch zugleich das Kleinste, dann ist Er in allem enthalten. Ist Gott aber allesumfassend und in allem enthalten, dann ist er a llgegenwärtig.

Obwohl dieses enge Band zwischen dem innerweltlichen Theoriekonstrukt des Cusanuschen Gottestheorems und dem außerweltlichen Begriff der Allgegenwärtigkeit auch von anderen Theologen wahrgenommen worden ist6, ist die damit untrennbar assoziierte naturwissenschaftliche Bedeutung nie ausdrücklich ausgesprochen worden.

Versteht man die » Koinzidenz des Kleinsten und des Gr öß ten « jedoch ganz explizit als eine innerweltliche, auf den empirischen Raum der Wirklichkeit bezugnehmende Strukturaussage, die uns Auskunft darüber erteilt, wie sich etwas, das dem Begriff der »Allgegenwärtigkeit« genügt, in dem von uns beobachteten Universum bemerkbar gemacht haben muß, dann muß sich in eben diesem unserem Universum - im Falle der realen Existenz Gottes - auch eine dieser Koinzidenz entsprechende empirische Koinzidenz zu erkennen gegeben haben. Diese eigentlich ebenso naheliegende wie weitreichende Schlussfolgerung, die dem Cusanuschen Theorem inne- wohnt, ist bis heute nicht wahrgenommen worden. Hier sind offenbar kulturelle Idiosynkrasien am Werk, die aus dem historischen belasteten Verhältnis von Religion und Wissenschaft herrühren.

4.

Auch wenn die »Kuesche Koinzidenz« - die Koinzidenz des Kleinsten und des Größten - sprachlich kaum weniger abstrakt ist als der ihr zugrundeliegende transzendente Begriff der Allgegenwärtigkeit, so lässt sich jedoch mit ihrer Hilfe der Bereich, wo sich Gott innerhalb unserer Welt empirisch gezeigt haben muß, auf eine signifikante Weise eingrenzen: Da die Kuesche Koinzidenz ganz explizit von dem »Kleinsten« und von dem »Größten« spricht, verliert sich die Suche nach Gott nicht mehr in einem unspezifischen, empirisch unadressierbaren und nicht-lokalisierbaren Überall, wie es bei dem Begriff der Allgegenwärtigkeit der Fall ist, sondern sie beschränkt sich auf ungleich spezifischere Bereiche des von uns beobachteten realen Universums - nämlich auf seine Äußersten Grenzen.

Irgendwo, in diesen an den Grenzen des Universums befindlichen Sektionen musste sich, wenn Gott tatsächlich existierte, ein »Faktum« gezeigt haben, das eine wie auch immer geartete empirische Koinzidenz (Übereinstimmung) zum Gegenstand hatte. Eben diese Bedingung scheint das von uns beobachtete reale Universum zu erfüllen.

5.

Je genauer Physiker die Struktur der erkennbaren Welt untersucht haben, umso mehr entdeckten sie, daß ihre innere Struktur durch eine Reihe von empfindlich aufeinander abgestimmten Koinzidenzen gekennzeichnet ist. Eine dieser Koinzidenzen, die Physiker registrierten, hat sich bis heute jeglicher überzeugenden physikalischen Interpretation entzogen: Mißt man die Rotation der Erde kinematisch durch die scheinbare Rotationsbewegung des gesamten Fixsternhimmel und dynamisch durch die Präzessions- bewegung des Foucaultschen Pendels, dann zeigt sich, daß die beiden Messungen innerhalb der experimentellen Meßgenauigkeit auf die gleiche Winkelgeschwindigkeit führen. Der Physiker Friedrich Hund hat diesem fraglichen empirischen Befund eine sprachlich sehr prägnante Form gegeben: »Der Trägheitskompaß stimmt mit dem Sternenkompaß überein.«7

Bislang ist es den Physikern nicht gelungen, diese empirische Koinzidenz im Rahmen einer tragfähigen physikalischen Theorie ableiten zu können. Bei dieser empirischen Koinzidenz handelt es sich daher um etwas, was man wissenschaftshistorisch als »Anomalie« bezeichnen würde - als ein empirischer Befund, der sich mit den Mitteln des herrschenden physikalischen Paradigma jeglicher Erklärung entzieht.

Nach Auffassung des Physikers Trinh Xuan Thuan haben wir es an dieser Stelle mit einer geheimnisvollen, physikalisch unbekannten Wech- selwirkung zu tun, die weder auf Kraft noch auf Energieaustausch beruht und dennoch das gesamte Universum verbindet.8

Angesichts der Tatsache, daß sich gerade diese empirische Koinzidenz an den äußersten Grenzen des uns erkennbaren Universums bewegt, drängt sich zwangsläufig die Frage auf: Haben wir es in Gestalt dieser spezifischen Anomalie womöglich mit der empirischen Reflexion der Koinzidenz des Kleinsten und des Größten zu tun? Ist die Übereinstimmung von Trägheits- und Sternenkompaß der empirisch sichtbare »Schattenriß«, den die Allgegenwart Gottes in unserer Welt hinterlassen hat? Handelt es sich bei dieser spezifischen Anomalie folglich um eine »Signatur Gottes«? Kann die »coincidentia oppositorum« solchermaßen mit dem physikalischen Universum in Beziehung gesetzt, ein möglicher theoretischer Impetus sein, um der Frage nach der Existenz Gottes mit wissenschaftlichen Mitteln auf die Spur zu kommen?

All diese Fragen könnten nicht nur moderne theologische Fragen sein, es könnten auch ebenso moderne physikalische Fragen sein; Fragen, die uns möglicherweise - aus einer naturwissenschaftlich vielleicht völlig unerwarteten Richtung - eine Antwort darüber erteilen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Weitere Details in dem Essay Die Signatur Gottes - Ein moderner Gottesbeweis; erreichbar unter der URL: http://helmuthansen.bei.t-online.de/gott/

[...]


1 Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Schriften, Wien 1964, S. 205

2 Gestrich, Helmut; Vordenker der Versöhnung, Untertitel: Philosoph des Mittelalters liefert ein Modell für das 21. Jahrhundert, Rheinischer Merkur vom 18.05.2001

3 Treder, Hans-Jürgen; Relativität und Kosmos - Raum und Zeit in Physik, Astronomie und Kosmologie, Berlin 1968. S. 10

4 Ursic, Marko; Paraconsistency and dialectics as coincidentia oppositorum in the philosophy of Nicholas of Cusa; University of Ljubljana, Slovenia, 2000

5 So heißt es in Artikel 31 des 1993 publizierten Katechismus der katholischen Kirche: „Da der Mensch nach dem Bilde Gottes erschaffen und dazu berufen ist, Gott zu

6 So beschrieb der Theologe Paul Tillich in dem ersten Band seiner Systematischen Theologie dieses Theorem mit den Worten: „Die Art, wie der unerschöpfliche Grund in allem Seienden gegenwärtig ist, nennt Cusanus die »coincidentia oppositorum«.“ Vgl. Tillich, Paul; Systematische Theologie, Bd. I, 1955, S. 99

7 Friedrich Hund, Grundbegriffe der Physik, Mannheim, 1979, S.42

8 Trinh Xuan Thuan, Die verborgene Melodie, Stuttgart 1993, S. 321

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Details

Titel
Ist die coincidentia opposi torum der Schlüssel zu einem modernen Gottesbeweis?
Autor
Jahr
2002
Seiten
8
Katalognummer
V107218
ISBN (eBook)
9783640054923
Dateigröße
422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schlüssel, Gottesbeweis
Arbeit zitieren
Helmut Hansen (Autor:in), 2002, Ist die coincidentia opposi torum der Schlüssel zu einem modernen Gottesbeweis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107218

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