Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit (in bezug auf die Früherfassung und Frühintervention bei suchtgefährdeten Kindern und Jugendlichen)


Praktikumsbericht / -arbeit, 2002

59 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ausgangslage
2.1 Forschungsfeld
2.2 Vorgehen
2.3 Methodik

3. Historischer Überblick

4. Fokus Kinder und Jugendliche

5. Ausbildung
5.1 Voraussetzungen, die für die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Ausbildungsinstitutionen geschaffen werden
5.2 Polizeischulen
5.3 Fachhochschulen und Höhere Fachschulen für Soziale Arbeit

6. Die Institutionen Polizei und Soziale Arbeit
6.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Auftrags
6.2 Der Auftrag der Polizei
6.3 Die Arbeitsweise der Polizei – eine Selbstdefinition
6.4 Das Image der Polizei bei den Jugendlichen
6.5 Das Fremdbild der Sozialen Arbeit (Bereich Jugendtreff) bezüglich der Polizei
6.6 Der Auftrag der Sozialen Arbeit
6.7 Arbeitsfeld Soziale Arbeit (Jugendarbeit)
6.8 Das Fremdbild der Polizei bezüglich der Sozialen Arbeit (Jugendarbeit, Beratung)

7. Die untersuchten Gemeinden
7.1 Köniz: Projekt „Früherfassung in der offenen Jugendarbeit“
7.2 Langenthal
7.3 Münsingen

8. Zusammenarbeit
8.1 Nutzen und Grenzen
8.2 Diskrepanz zwischen Basis und oberen Gremien

9. 24-Stunden-Präsenz der Sozialen Arbeit

10. Informationsaustausch und Datenschutz
10.1 Zwei Arten von Informationen
10.2 Gesetzliches

11. Gefässe
11.1 Informelle versus formelle Abmachungen
11.2 Spontane Zusammenarbeit
11.3 Gefässe

12. Schlusswort

Anhang

I. Literaturverzeichnis

II. Begriffsdefinitionen

III. Auswertung

IV. Ausbildung

V. Früherkennung mit BetäubungsmittelkonsumentInnen

VI. Adressen für weiterführende Auskünfte und Informationen

1. Einleitung

Früherfassung und Frühintervention suchtgefährdeter Kinder und Jugendlicher ist ein Teilauftrag der 4-Säulen-Politik des Bundes. Das 4-Säulenprinzip stützt sich auf Prävention, Überlebenshilfe, Therapie und Repression. Prävention ist die Bestrebung, den Einstieg in den Drogenkonsum oder den stärkeren Missbrauch zu verhindern. Involvierte Instanzen wie Eltern, Schule, Vereine, Nachbarschaft, Mediziner, Soziale Arbeit (offene Jugendarbeit, Sozialarbeit auf dem Jugendgericht, Beratungs- und Präventionsfachstellen und Sozialamt) und Polizei können dem Auftrag der 4-Säulen-Politik nur mit einer systemübergreifenden Zusammenarbeit gerecht werden. In der vorliegenden Projektarbeit geht es um die zwei letztgenannten Instanzen. Bei der Sozialen Arbeit haben wir uns im speziellen dem Arbeitsfeld der offenen Jugendarbeit angenähert.

Als Ausgangslage für unsere Untersuchung stützten wir uns auf folgende Hypothese:

Um einer ganzheitlichen Problembearbeitung in der Früherfassung und Frühintervention bei suchtgefährdeten Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, ist eine Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit sinnvoll und notwendig. Der Nutzen dieser Zusammenarbeit ist im Ausschöpfen und Fördern von Synergieeffekten und in der Erhöhung der Effizienz der jeweilig komplementären Rollen, Aufträgen und Eingriffen zu sehen.

Laut der schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) und verschiedenen Fachleuten stellt die Phase der Adoleszenz ein erhöhtes Risiko dar, in eine Sucht abzurutschen, da die Persönlichkeit noch wenig gefestigt ist. Dieses Risiko kann durch eine ganze Reihe von jugendspezifischen Problemen kumuliert werden.

Hier drängt sich der Gedanke der Prävention auf. Was geschieht jedoch mit den Jugendlichen, die nicht auf breitgestreute Prävention ansprechen und bereits akut suchtgefährdet sind? Früherfassung und Frühintervention als Teil der Sekundärprävention sind mögliche Antworten auf diese Frage. Dabei handelt es sich um ein frühzeitiges Erkennen von Entwicklungen, Auffälligkeiten und Ereignissen die zu Suchtmittelab- hängigkeit oder anderen Problemen wie Gewalt, depressiven Verstimmungen usw. führen können. In einem weiteren Schritt kann dann die frühzeitige Intervention folgen, welche stabilisieren und eine Chronifizierung der Problemsituation verhindern soll.

Somit ist Früherfassung / Frühintervention nicht verschärfte soziale Kontrolle, die in sozialer Ausgrenzung endet, sondern soziale Anteilnahme, die unterstützend und fördernd wirkt.

Welche Rollen Polizei und Soziale Arbeit diesbezüglich spielen und inwieweit hier eine interdisziplinäre Zusammenarbeit stattfindet oder stattfinden könnte ist Gegenstand dieser Untersuchung.

Der vorliegende Projektbericht ist so aufgebaut, dass zuerst die Ausgangslage dargelegt wird. Anschliessend wird ein historischer Überblick über die Zusammenarbeit von Polizei und Sozialer Arbeit gegeben. Bevor die Ergebnisse unserer Untersuchungen präsentiert werden, wird der Fokus auf die suchtgefährdeten Kinder und Jugendlichen gerichtet.

2. Ausgangslage

Das Ziel unserer Arbeit ist das Aufzeigen von Möglichkeiten und Grenzen der Interdisziplinarität (unter Einbezug des heutigen wissenschaftlichen, gesetzlichen und praktischen Kontextes) zwischen der Arbeit der Polizei und den Tätigkeitsgebieten der Sozialen Arbeit.

Somit war unsere Zielsetzung das Erstellen einer explorativen Arbeit mit dem Schwergewicht der Analyse des Ist-Zustandes. Diese Zustandsanalyse soll als Diskussionsgrundlage zur weiteren Verbesserung der konkreten Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit auf dem Gebiet der Früherfassung und Frühintervention dienen.

Die Untersuchungspopulation der Befragungen waren VertreterInnen von Polizei und Sozialer Arbeit in unterschiedlichen Funktionen und Positionen.

Hauptfragestellung:

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit in bezug auf Früherfassung und Frühintervention suchtgefährdeter Kinder und Jugendlicher aus?

Aus der Hauptfragestellung ergeben sich folgende spezifische Fragestellungen: Wie agieren Polizei und Soziale Arbeit in der Früherfassung und Frühintervention suchtgefährdeter Kinder und Jugendlicher? Welche Strategien in der Früherfassung und Frühintervention werden bei der Polizei resp. bei der Sozialen Arbeit angewandt? Wo ist eine enge Zusammenarbeit sinnvoll und wo und weshalb allenfalls nicht (wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen)? Wo bestehen bereits welche Gefässe, die eine Zusammenarbeit erleichtern? Wie ist das Menschenbild der beiden Berufsgruppen in bezug auf suchtgefährdete Kinder und Jugendliche und welche Erklärungsansätze bestehen in bezug auf die Ursachen?

Und darüber hinaus: Inwiefern werden schon in der Ausbildung günstige oder weniger günstige Voraussetzungen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit geschaffen?

2.1 Forschungsfeld

Aufgrund unseres Zeitbudgets haben wir unser Untersuchungsgebiet auf drei Gemeinden eingegrenzt. Die in Absprache mit der Arbeitsgruppe ZuPo ausgewählten Gemeinden Köniz, Münsingen und Langenthal unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer geographischen Lage im Kanton Bern, differenzieren sich jedoch aufgrund ihrer demographischen Eigenschaften nicht so stark, als dass keine relevanten Vergleiche möglich wären.

In Köniz besteht hinsichtlich Früherfassung und Frühintervention von suchtgefährdeten Kindern und Jugendlichen ein Konzept auf Gemeindeebene, in Münsingen gibt es ein Konzept für eine Zusammenarbeit zwischen Beratungsstellen und Jugendgericht zur Früherkennung von BetäubungsmittelkonsumentInnen sowie andere Gefässe auf Gemeindeebene, bei denen Polizei und Soziale Arbeit direkt oder indirekt involviert sind. In Langenthal hingegen, bestehen nur informelle Abmachungen zwischen Sozialamt und Polizei, welche vor allem durch die räumliche Nähe im selben Verwaltungsgebäude begünstigt wird.

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen und die dazugehörigen Empfehlungen haben sicher eine Relevanz für andere Gemeinden, können jedoch keinesfalls auf die Gegebenheiten einer grösseren Stadt übertragen werden.

2.2 Vorgehen

Mit der Unterstützung von Projektbegleiterin Eva Nadai haben wir entschieden, uns der – in der Einleitung formulierten – Fragestellung mittels einer qualitativen Studie explorativer Art anzunähern. Dafür haben wir Interviews mit Berufspersonen aus dem Polizei- und Sozialbereich geführt. Für diese Interviews wurden in Absprache mit der ZuPo die Gemeinden Köniz, Langenthal und Münsingen berücksichtigt. Im Einverständnis mit den interviewten Berufsleuten konnten die Gespräche direkt an den jeweiligen Arbeitsorten in den genannten Gemeinden durchgeführt werden.

Wir entschieden uns, 12 Leitfadeninterviews durchzuführen, zu transkribieren und zu analysieren. Erfahrungswerte zeigen, dass mit dieser Anzahl von Interviews ein breites Spektrum von Einstellungen und Handlungsmustern nachgezeichnet werden kann.

Um ein möglichst umfassendes und realitätsnahes Bild zu erhalten, haben wir uns für InterviewpartnerInnen aus den folgenden Bereichen entschieden:

- Ebene „Basis“: Je ein Interview mit einer/m VertreterIn aus der Sozialen Arbeit (offene Jugendarbeit) und der Polizei.

Hauptziel: Fokussierung des Berufsalltages

- Ebene „Konzept“: Je ein/e VertreterIn pro Gemeinde (Beratungsstellen oder Sozialamt), welche/r an der Ausarbeitung der oben genannten Konzepte (Köniz und Münsingen) beteiligt war (in Langenthal wurde der Amtsvorsteher des Sozialamtes interviewt).

Hauptziel: Fokussierung der gemeindespezifischen Situation.

- Ebene „Experten“: Ein Experte aus der Sozialen Arbeit, zwei aus dem Bereich Polizei. Hauptziel: Fokussierung auf berufspolitische und -historische Themen.

Um die Frage nach der Ausbildung zu klären, versandten wir Befragungsmails an alle Fachhhochschulen und Höheren Fachschulen für Soziale Arbeit sowie an Polizeischulen der Deutschschweiz.

2.3 Methodik

Da uns die subjektive Wahrnehmung interessiert und wir gegenstands- und prozessorientiert vorgehen wollten, haben wir die interviewten Personen nach der Methode des fokussierten Interviews (vgl. Merton / Kendall 1979) befragt. Beim fokussierten Interview wird davon ausgegangen, dass die befragte Person aufgrund ihrer Alltagserfahrung antwortet. Das Interview ist jedoch durch die theoretischen Vorüberlegungen der befragenden Person bereits strukturiert. Es geht nun darum, in den Interviews zu testen, ob sich die - aufgrund des Vorwissens - formulierten Hypothesen in der Realität bestätigen. Dabei ist auf folgende vier Kriterien zu achten:

1. Die Nicht-Beeinflussung: Die befragte Person soll sich über Dinge äussern können, die ihr und nicht der interviewenden Person wichtig sind. Diese hat ihre Hypothesen für sich zu behalten, so dass die befragte Person frei erzählen kann.
2. Die Spezifizierung: Die interviewende Person drängt auf Spezifikation und Präzisierung des Gesagten.
3. Die Erfassung eines breiten Spektrums: Es sollen möglichst alle für die Fragestellung relevanten Aspekte und Themen angesprochen werden.
4. Die Tiefgründigkeit: Das Interview soll auf „selbstoffenbarende“ Kommentare der befragten Personen zielen.

Nach der Transkribierung wurden die Interviews in Anlehnung an die Grounded Theory ausgewertet. Mittels theoretischem Kodieren wurden zentrale Themen gesucht, sortiert und in ein Modell integriert. Ziel war, bezüglich den Kernthemen eine Sättigung zu erreichen.

Wir haben diesen Prozess der Sättigung mit folgenden Schritten zu erreichen versucht:

1. Analysierung der einzelnen Interviews nach zentralen Themen
2. Vergleich der verschiedenen Interviews und Einigung auf gemeinsame zentrale Themen
3. Wiederholung der Analyse der einzelnen Interviews mit Fokus auf die „gemeinsamen zentralen Themen“
4. Gegenüberstellung der Interviews aus den gleichen Ebenen
5. Gegenüberstellung der Interviews aus den gleichen Berufsgruppen
6. Gegenüberstellung der Interviews aus den gleichen Gemeinden

Mehr zur Forschungsmethode der Grounded Theory findet sich im Anhang unter dem Titel „Auswertung“.

3. Historischer Überblick

Zum Verhältnis zwischen Polizei und Sozialer Arbeit

Worauf beruhen die Bilder, Klischees und Meinungen, welche die Polizei und die Soziale Arbeit voneinander haben? Durch welche Ereignisse und Entwicklungen wurde die gegenseitige Wahrnehmung geprägt, gefestigt oder verändert?

Die Annäherung an die Antworten zu diesen Fragen bildet die Basis unseres Vorhabens, die heutige Beziehung zwischen Sozialer Arbeit und Polizei zu explorieren. Gespräche mit Experten aus Polizei und Sozialer Arbeit sowie die Konsultation von Fachliteratur ergaben ein aufschlussreiches Bild über die neuere berufshistorische Dimension der Beziehung zwischen den beiden Berufen. Wir weisen darauf hin, dass die Zusammenarbeit zwischen den Autonomen Zentren, der Gassenarbeit, den städtischen Netzen, den Sozialämtern und der Polizei sehr verschieden und vielfältig waren und auch heute noch sind. Die folgende Darstellung bleibt deshalb skizzenhaft, hat also keinen Anspruch auf Vollständigkeit sondern wiederspiegelt vor allem die Antworten und Erzählungen der befragten Personen.

Die 80er: Die Jugendlichen erobern sich Freiräume

Ende der Siebziger und Anfang der 80er-Jahre wurden die wenigen Lokale, in denen Jugendliche ihre Aktivitäten durchführen konnten, geschlossen und es war äusserst schwierig, neue Jugendzentren zu lancieren. Besonders in den grösseren Städten zeigte sich ein enormer kultureller Nachholbedarf. Viele Jugendliche forderten als Alternative zum etablierten kulturellen Angebot nach Räumlichkeiten, welche als soziale Knotenpunkte, als Treffpunkte für Kultur- und Bildungsarbeit dienen konnten. Das Lebensgefühl der Jugendbewegung bewegte sich zwischen einer hoffnungslosen, rebellischen und von der Punk-Kultur beeinflussten „No-Future“-Attitüde einerseits und einem starken emanzipatorischen Willen zum Aufbrechen der bestehenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen anderseits. Hinter einheitlichen Grundinteressen hatte die heterogene Bewegung unterschiedlichste Ziele und verschiedenste Vorstellungen darüber, wie diese Ziele erreicht werden konnten. Während sich die einen in gewaltloser Form gegen Atomkraftwerke, den masslosen Konsum und die zunehmende Umweltzerstörung wehrten, war für andere Gewalt - vor allem in Form von Sachbeschädigung - ein legitimes Mittel im Kampf gegen das Establishment. Eine weitere Gruppe der Bewegung propagierte den Heroingenuss und auch die Prostitution praktisch als revolutionäre Handlung, als Ausdruck für eine radikale Verweigerung.

In diesem energiegeladenen Umfeld waren Polizei und Soziale Arbeit - durch ganz verschiedene Aufträge - zum Handeln gefordert.

Soziale Arbeit: Solidarisierung mit den Chaoten?

Die Soziale Arbeit orientierte sich an der Lebenswelt des Klientels und setzte sich für jugendgruppenspezifische Treffpunkte ein. Sie akzeptierte, dass besonders Jugendliche aus traditionellen Strukturen ausbrechen wollen um sich in subkulturellen Netzen neu zu orientieren. Da sich etablierte Institutionen wie Spitäler, Psychiatrische Kliniken und die Ärzteschaft gegenüber den Drogenkonsumierenden lange Zeit verschlossen hatten, machte die Soziale Arbeit aktiv auf die soziale Verelendung der Drogenabhängigen aufmerksam (HIV, Soziale Isolation, Obdachlosigkeit, hohe psychische Belastung etc.) und setzte sich dafür ein, das Drogenkonsumierende nicht mehr nur als Kriminelle betrachtet wurden. Mit dieser Ausrichtung am realen Phänomen lief die Soziale Arbeit die Gefahr, als einseitig solidarisch mit den Jugendlichen und Drogenkonsumierenden wahrgenommen zu werden. Dies führte soweit, dass Sozialarbeitende in Teilen der Bevölkerung als Parasiten betrachtet wurden, denn sie bezogen einerseits Geld vom Staat und soldarisierten sich anderseits mit einer revolutionär gesinnten, „staatsfeindlichen“ Bewegung, bzw. drogenkonsumierenden Personen. Zusätzlich aber unverhältnismässig verstärkt wurde dieses Bild dadurch, dass eine kleine Minderheit der Sozialarbeitenden ihre berufliche Aufgabe hinter ihre politische Gesinnung stellten und sich den demonstrierenden „Chaoten“ anschlossen. Dazu wurde uns seitens der Polizei folgendes erzählt: „Wenn ich da an S. denke, den Rädelsführer dieser Demonstrationen. Der ist eigentlich Sozialarbeiter. Der hat mir einmal ins Gesicht gespeutzt. Der hat es nicht ertragen, dass er irgendeinmal in die Fänge der Polizei gekommen ist. Er hat selber Drogen konsumiert und wollte sich und den Drögelern helfen. Er hat dann auch andere seiner Zunft gegen uns aufgehetzt. Und wir von unserer Seite sind natürlich sofort bereit gewesen, denen mal ein paar um die Ohren zu geben“.

Polizei: Konzentration auf Repression

Die Polizei hatte sich an der offiziellen Drogenpolitik zu orientieren. Die Eckpunkte der damaligen Drogenpolitik waren Prävention, Therapie, Repression. Die Polizei wurde zu dieser Zeit in die Rolle gedrängt, die Drogenproblematik quasi im Alleingang und mit Hilfe der Repression zu lösen. (Die vierte Säule der Schadensverminderung - welche heute die Zusammenarbeit zwischen Sozialer Arbeit / Gesundheitswesen und Polizei massgeblich beeinflusst - war zu dieser Zeit noch kein Bestandteil der Schweizer Drogenpolitik.) Die vorherrschende - nicht nur auf den Kreis der PolizistenInnen beschränkte - Einstellung war: Wie kann man nur Personen auf der Gasse akzeptieren, unterstützen und tolerieren?

Dialog zwischen der Sozialen Arbeit und der Polizei: praktisch inexistent

In den 80er-Jahren war der Dialog zwischen Polizei und Sozialer Arbeit praktisch inexistent, denn die starke Polarisierung zwischen Polizei und Sozialer Arbeit verunmöglichte eine Zusammenarbeit. Wie von beiden Seiten rückblickend bestätigt wird,

waren grosse Teile beider Berufsgruppen nicht an den anderen interessiert und es bestanden ganz falsche und unvollständige Bilder. Diese gegenseitig ignorante Haltung führte dazu, dass die Aufgaben der jeweils anderen Berufsgruppe weitgehend unbekannt waren. Ein Beispiel (seitens der Sozialen Arbeit) illustriert die damalige Situation:

„Plötzlich kamen die Junkies auf die Drogenberatungsstelle kochen - die besten Menüs. Das unterstützte ich und plötzlich hatte ich eine Anzeige der Polizei auf dem Pult. Dies darum, weil ich den Junkies dazu verholfen habe, ihre erbeutete Ware - wie sich herausstellte, hatten sie alles gestohlen - in unserer Institution zu kochen. Ich sollte da also zum Gehilfen verurteilt werden. Und das hat dann sehr viel Gespräch gebraucht, damit wirklich keine Strafanzeige gegen mich eingereicht wurde“. Sehr zaghaft, langsam und punktuell begann zwischen Sozialer Arbeit und Polizei ein holpriger Prozess eines gegenseitigen Dialogs und des Versuchs, vermehrt ergänzend statt gegeneinander zu arbeiten.

Die 90er: Zuspitzung der Drogenproblematik

Die bereits in den 80er-Jahren entstandenen sogenannten „offenen“ Drogenszenen wuchsen stetig an und lösten bereits vor Anbruch der 90er-Jahre eine grosse öffentliche Resonanz aus. Die Verelendung der Süchtigen wurde immer sichtbarer und die Folgen von Aids schockierten die breite Öffentlichkeit. In den „offenen“ Drogenszenen kam es zu einer massiven Zunahme der Gewalt. Die Bilder, allen voran der Zürcher Letten, gingen unter dem Schlagwort „Needle-Park“ um die Welt. Die Politik stand unter hohem Erwartungs- und Handlungsdruck. 1994 verlangten SP, CVP und FDP eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums, einen Ausbau der ärztlich kontrollierten Heroinverschreibung, eine verstärkte Prävention und ein schärferes Vorgehen gegen Drogenhändler. So wurden die gesetzlichen Mittel der Repression verstärkt (der Tatbestand des „organisierten Verbrechens“ wurde ins Strafgesetz aufgenommen und die Massnahmen zur Bekämpfung der Geldwäscherei wurden verstärkt); es erfolgte ein Ausbau der Polizeiarbeit, insbesondere der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. Ebenfalls im Jahr 1994 bekannte sich die Regierung ausdrücklich zum Vier-Säulen-Modell (Prävention, Therapie, Schadensverminderung/Überlebenshilfe, Repression). Es wurde eine Kommission eingesetzt, um Vorschläge zur Revision des Betäubungsmittelgesetzes zu erarbeiten. 1995 wurde die „offene“ Drogenszene in Zürich geschlossen und 1997 wurden erste Ergebnisse der ärztlichen Verschreibung von Heroin veröffentlicht. Sie zeigten, dass die heroingestützte Therapie machbar ist und das Schwerabhängige, die in anderen Therapien scheitern, deutlich körperliche, psychische und soziale Verbesserungen erreichen können. Die von der Gassenarbeit seit Anfang der 80er-Jahre thematisierte Spritzenabgabe erfuhr nach etwa zehn Jahren schweizweite und breite Akzeptanz.

Die Soziale Arbeit: Mehr Transparenz

Seitens der Polizei wird festgestellt, dass die Soziale Arbeit damals an einer objektiveren Sichtweise gewann und offener für den Dialog wurde. Mit Aufklärungsarbeit zeigte die Soziale Arbeit, dass beispielsweise die „Fixerstübli“ (Gassenzimmer mit Injenktionsräumen) keine rechtsfreien Räume sind. Die Soziale Arbeit lud die Polizei ein, und gab offen Auskunft. Diese Transparenz und der zunehmende Kontakt ermöglichte eine langsame Aufweichung der verhärteten Fronten - Ängste und Misstrauen konnten abgebaut werden. In den Sozialen Bereichen der höheren Fachschulen wurden zunehmend PolizistInnen in den Unterricht eingeladen um Fragen zu beantworten.

Die Polizei: Erweiterte Ausbildung

Durch die Einführung der 4-Säulen-Politik wurde die Polizei entlastet und konnte sich zunehmend auf ihren Teil - den Kampf gegen den illegalen Betäubungsmittelhandel - konzentrieren. In den 90er-Jahren kam von verschiedener Seite immer wieder die Frage auf, "ob PolizistInnen auch psychologisch geschult seien oder ob sie nur Schiessen lernten" (Zitat Polizei). Die Wirklichkeit sah so aus, dass es zwar diesbezüglich bereits Kurse gab, jedoch gelang der Transfer der Theorie in die Praxis nicht. Die Polizei (KaPo Bern) begann in Zusammenarbeit mit der Universität Bern Kurse anzubieten, in welchen sich PolizistInnen zu Psychologie-TrainerInnen ausbilden lassen konnten. Teilweise hielten neue Unterrichtsformen (Kleingruppenarbeit statt Frontalunterricht) Einzug in die Polizeischulen und führten dazu, dass verstärkt auch Emotionen thematisiert und zugelassen wurden. Der neu angebotene Psychologische Dienst (KaPo Bern) fand überraschend grossen Anklang. Weil Zufriedenheit im Polizeicorps zu weniger Aggressionsverschiebung auf die Bevölkerung führt, wurde der Umgang mit Stress und Konflikten verstärkt thematisiert. An verschiedenen Polizeischulen wurden punktuell Gastdozierende aus der Sozialen Arbeit eingeladen.

Zusammenarbeit zwischen der Sozialen Arbeit und der Polizei

1996 gründen Experten aus BAG, BAP und VSPB eine paritätische Gruppe, welche eine kohärente und effiziente Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Sozialer Arbeit im Bereich der Drogen- und Aidsfragen fördern soll. Unter anderen wird die Grundhaltung formuliert, dass Drogenabhängige nicht allein wegen ihrer Abhängigkeit kriminalisiert werden sollen. Zur Zielgruppe gehören insbesondere Basisleute der Polizei und der Sozialen Arbeit. Zu den Generalzielen gehören die Anregung des Gedanken- und Erfahrungsaustausches, die Förderung des gegenseitigen Respekts und die Definierung von Werten, Normen und Zielen der verschiedenen Akteure. Durch Seminare kam immer mehr zum Vorschein, dass die beiden Berufsgruppen viele Gemeinsamkeiten haben. Dies führte zu einem weiteren Abbau der Vorurteile.

Die heutige Situation: Auf dem richtigen Weg - aber noch nicht am Ziel

In den letzen Jahren haben Politik und Gesellschaft die kulturellen Bedürfnisse der Jugendlichen zur Kenntnis genommen. Dies führte dazu, dass gegenüber den Belangen der Jugendlichen eine grössere Offenheit vorhanden ist. Die heutige kulturelle Vielfalt geht vor allem auf die achtziger Jahre zurück: die damaligen Forderungen nach alternativen Kultur- und Lebensräumen sind heute - wenn auch in bescheidenem und nicht unumstrittenen Masse - erfüllt. Trotz des immensen kulturellen (leider vielfach kommerziellen) Angebots für Jugendliche gibt es immer noch wenige Freiräume für experimentelle kulturelle Projekte.

Auf der drogenpolitischen Ebene hat ein Umdenken stattgefunden. Eine Mehrheit der StimmbürgerInnen ist der Meinung, dass die ärztlich kontrollierte Drogenabgabe ein gangbarer Weg ist. In dieser Beziehung nimmt die Schweiz eine Pionierrolle ein. Die Schweizer Drogenpolitik entwickelte sich zu einer Mischung zwischen Härte und Herz: Mit Polizeipräsenz sollen die Bildung „offener“ Szenen unterdrückt und die grösseren Dealer verfolgt werden (Problemorientierung); die Soziale Arbeit soll gesunde Strukturen fördern (Ressourcenorientierung). Drogenkonsumierende werden also nicht mehr primär als Kriminelle betrachtet, sondern als kranke Menschen.

Die Soziale Arbeit: Veränderte Rahmenbedingungen mit Inhalten füllen

Die Zeit der grossen Schritte ist vorbei. In kleinen Schritten wird nun versucht, die in den vergangenen zwanzig Jahren erkämpften, stark veränderten Rahmenbedingungen mit Inhalten zu füllen. Diese „Detailarbeit“ wird von Sozialarbeitenden, welche an den gesetzlichen, drogen- und gesellschaftspolitischen Umwälzungen in den vergangenen zwanzig Jahren mitgewirkt haben, als unpolitisch erlebt.

Die Soziale Arbeit versucht mit der Einführung des Qualitätsmanagements eine effizientere und wirkungsvollere Dienstleistung anzubieten und die Verknüpfung mit nahestehenden Berufen zu verbessern. Es hat sich als wichtig erwiesen, dass die Sozialarbeit nicht nur gegenüber der Polizei deklarieren kann, was sie tut und zu was sie fähig ist. Anstatt um Verständnis zu werben sollen Fakten präsentiert werden.

Aufgrund des Aufkommen von Übergriffen auf dem Sozialamt lassen sich Sozialarbeiten- de vermehrt von PolizistInnen bezüglich Sichherheitsoptimierung beraten.

Die Polizei: Pragmatische Zusammenarbeit

Bei der Polizei kam in den vergangenen 10 Jahren ein Prozess des Wandels in Gang: Die Polizei sieht immer mehr, was die Soziale Arbeit tut und wo ihre Zuständigkeit liegt. Als Beispiel sei hier die Spritzenabgabe genannt, bei welcher die Polizei mittlerweile merkbar toleranter ist. Seitens der Polizei ist das Verständnis für soziale Arbeitende auch gewachsen, seit es auch auf dieser Seite Todesfälle gegeben hat.

Das Schlagwort „Sicherheitsmarketing“ gewinnt an Bedeutung und fördert die generelle Bereitschaft zur Zusammenarbeit: Die Polizei kommt davon ab, das Monopol der Sicherheit alleine zu beanspruchen; u.a. sollen die Bevölkerung und die Gemeinden sollen vermehrt Verantwortung übernehmen und zusammen mit der Polizei an gemein- samen Zielen arbeiten.

Bei den Betäubungsmitteldelikten betrifft heute jede dritte Anzeige den Konsum von oder den Handel mit Haschisch und Marihuana (stabile Entwicklung im Vergleich mit den Vorjahren). Die Polizei stört sich daran, dass die Bevölkerung durch verschiedene Signale aus Politik und Medien davon ausgeht, weiche Drogen seien längst legal. Dies mache die Polizeiarbeit schwierig, denn der Konsum sei nach wie vor strafbar. Der Rückgang der Betäubungsmitteldelikte (Stadtpolizei Bern, 2001) wird nebst der vermehrten Markierung von Präsenz auch auf die Verbesserung der sozialen Dienste (Bsp: die Schaffung von Drogenabgabestellen) zurückgeführt. Durch vermehrte Präsenz soll die Etablierung fester Drogenszenen verhindert werden.

Zusammenarbeit zwischen der Sozialen Arbeit und der Polizei

Die einstige drogenpolitische Patt-Situation zwischen sozialen (auch gesundheitlichen) und repressiven Massnahmen ist zugunsten eines Prozesses in Richtung pragmatischer Politik und Praxis gewichen. Diese versucht, eine Balance zwischen der Gesundheit der einzelnen drogenkonsumierenden Personen und dem geltenden Betäubungsmittelgesetz zu finden. Es kann festgestellt werden, dass sich, anstatt der früheren Polarisierung von Polizei und Sozialbereich, zunehmend eine Zusammenarbeit etabliert.

Nach wie vor haben Polizei und Soziale Arbeit aber unterschiedliche Aufträge und Aufgaben. Diesbezüglich wird von beiden Berufsgruppen betont, dass die notwendige klare Rollenzuteilung zwischen Polizei und Sozialbereich nur funktioniert, wenn gleich- zeitig eine enge und gute Zusammenarbeit stattfindet.

Ein Spannungsfeld zeigt sich darin, dass die Polizei sozusagen rückwärtsgerichtet und auf der Basis eines bald 50jährigen Betäubungsmittelgesetzes ihre Aufgabe erfüllen muss. Die Soziale Arbeit ihrerseits ist darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Problem- stellungen möglichst vorausschauend wahrzunehmen und darauf adäquate Antworten und Lösungsansätze zu entwickeln.

4. Fokus Kinder und Jugendliche

Die Adressaten der Früherfassung und Frühintervention sind Kinder und Jugendliche. Weil wir in unserer Untersuchung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit unser Augenmerk auf diese Altersgruppe gerichtet haben, sollen folgende Über- legungen festgehalten werden:

Das Schweizerische Strafgesetzbuch setzt die Grenze zwischen Kind und Jugendliche/r folgendermassen: Bis zum 15. Altersjahr wird eine Person als Kind bezeichnet. Als Jugendliche gelten Personen, welche das 15., aber nicht das 18. Altersjahr zurückgelegt haben (StGB Art. 8260, Art. 8967).

Untersuchungen zeigen, dass die kritischen Einstiegspunkte in den Suchtmittelkonsum zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr liegen, also in der Adoleszenz (vgl. Berger 2000, S. 216). Zudem gilt für den Konsum von Alkohol, Zigaretten oder Drogen die allgemeine Regel: Je früher damit begonnen wird, desto grösser ist das Risiko einer Abhängigkeit.

Dass das Erwachsenwerden auf verschiedene Arten erlebt werden kann, geht schon aus den Erklärungen zum Wort Adoleszenz hervor, das aus dem Lateinischen (adolescere) stammt und bedeutet: heranwachsen, erstarken, aufflammen, auflodern. In dieser Übergangszeit zwingt der unwiederbringliche Verlust der Kindheit und die Selbstfindung in Beruf und Privatleben, den jungen Menschen zur Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner Familie und seiner Lebenssituation. Dabei sind Jugendliche experimentierfreudig, suchen Abenteuer und Herausforderungen, um dem Alltag und / oder der Langeweile zu entkommen und sie zeigen eine hohe Risikobereitschaft (vgl. Hubrich 2000, S. 122). Der Verlauf der Adoleszenz kann sowohl harmonisch verlaufen als auch über Verunsicherungen bis hin zu eigentlichen Krisen führen. Verläuft die Adoleszenz nicht harmonisch, so führt der Gestaltwandel und das Auflösen der kindlichen Welt zu Verunsicherung, Erschütterung des Selbstgefühls und einer Destabilisierung des ganzen Menschen (vgl. Berthel 2001, S.3).

Die Aufgaben welche während der Adoleszenz bewältigt werden müssen, sind sehr vielschichtig: 1. Konsolidierung eines Gefühls der Ich-Identität, 2. die Neubestätigung einer normalen sexuellen Identität mit der Integration zärtlicher und erotischer Neigungen in relativ stabilen Objektbeziehungen, 3. die Lockerung der Bindungen an die Eltern, mit erweiternden sozialen Interaktionen mit anderen Erwachsenen und Gleichaltrigen, 4. das Ersetzen infantiler Über-Ich-Gebote durch ein relativ abstraktes und depersonifiziertes, gut internalisiertes und doch flexibles System unbewusster und bewusster Moral (vgl. Kernberg 1988, Tabelle 1).

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit (in bezug auf die Früherfassung und Frühintervention bei suchtgefährdeten Kindern und Jugendlichen)
Hochschule
Fachhochschule Nordwestschweiz
Note
gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
59
Katalognummer
V107195
ISBN (eBook)
9783640054695
Dateigröße
718 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Note entspricht einer zwei in Deutschland!
Schlagworte
Zusammenarbeit, Polizei, Sozialer, Arbeit, Früherfassung, Frühintervention, Kindern, Jugendlichen)
Arbeit zitieren
Felix Mueller (Autor:in), 2002, Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialer Arbeit (in bezug auf die Früherfassung und Frühintervention bei suchtgefährdeten Kindern und Jugendlichen), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107195

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