Realität und "Realität" im Fernsehen: Informationssendungen, Reality TV, Big Brother


Seminararbeit, 2002

22 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Was ist Realität wirklich?

3. Die Rolle der Realität im Fernsehen

4. Informationssendungen

5. Reality-TV
5.1. Begrifflichkeit und Definition
5.2. Formate
„Augenzeugen-Video“
„Notruf“
„Nur die Liebe zählt“
„Bitte melde Dich“
5.3. Rezipienten

6. Big Brother
6.1. Das Format
6.2. Rezipienten
6.3. „Big Brother“ und die Realität

7. Schlussbetrachtung und Ausblick

8. Literatur

1. Einleitung

Seit Beginn der Neunziger Jahre hat sich mit der Einführung des dualen Rundfunksystems ein neues Genre im deutschen Fernsehen ausgebreitet und etabliert: Das sogenannte Reality-TV. Nicht mehr nur die Nachrichten, auch Infotainment-Magazine, Talkshows, Doku-Soaps und die von Kritikern als „Voyeur- Sendungen“ betitelten Formate beanspruchen für sich einen Realitätsbezug. Auf Grund des großen Erfolgs von Unterhaltungssendungen, die das Etikett „Realität“ tragen, scheint es sinnvoll, sich einige dieser Formate genauer anzuschauen und auf ihren Realitätsbezug zu untersuchen.

Die vorliegende Arbeit möchte sich mit dem Verhältnis von Realität auf der einen und Reality-TV auf der anderen Seite beschäftigen. Hierzu möchte ich zunächst auf die Begrifflichkeit von „Realität“ und auf ihre Rolle im System der Massenmedien eingehen und beschreiben, was im Folgenden darunter verstanden werden soll.

Anschließend möchte ich drei Formate bzw. Genres des heutigen Fernsehens vorstellen, in denen dem Realitätsbezug eine besondere Bedeutung zukommt: Informationssendungen, Reality-TV und die Sendung „Big Brother“. Vor allem die beiden letztgenannten sollen in ihrer Eigenschaft als Unterhaltungsformate bezüglich ihres Inhalts und ihrer Rezipienten betrachtet werden, um an Hand der gewonnenen Erkenntnisse folgende Fragen zu reflektieren: Welche Rolle spielt die Realitätsdarstellung in den Sendungen? Wie lässt sich der Erfolg solcher Sendungen erklären? Und: Inwieweit tragen diese Sendungen zur gesellschaftlichen Konstruktion von Realität bei?

2. Was ist Realität wirklich?

Bevor wir uns mit der Frage nach der Realitätsdarstellung im Fernsehen beschäftigen können, bedarf es zunächst einer begrifflichen Reflexion des Wortes

„Realität“1: Was ist überhaupt „die Realität“?2

Im wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs ist man sich mittlerweile einig, dass es eine Realität im objektiven Sinne nicht gibt, bzw., was dem gleich kommt, sie für uns nicht erkennbar ist. Die wahrgenommene Realität ist also immer eine subjektive. Das erste Mal wurde diese Überlegung in Platons Höhlengleichnis formuliert. Es beschreibt die Menschen als Bewohner einer Höhle, die die Schatten an der Höhlenwand für ihre primäre Wirklichkeit halten. Diese Schatten sind jedoch nur die Abbilder dessen, was sie eigentlich sind, nämlich Ideen. Auch der radikale Konstruktivismus vertritt die Ansicht, dass Realität kognitiv konstruiert wird und somit zu einer Stütze für die Gesellschaft wird, die diese Realitätsauffassung teilt.

Die Wissenssoziologie trennt „Realität“ in drei Bereiche, die Wegener wie folgt darstellt:

- „Die objektive soziale Realität: die Realität, die außerhalb des Individuums existiert und mit der es konfrontiert wird.
- Die symbolische soziale Realität: die Realität, die eine symbolische Umsetzung der objektiven sozialen Realität in Kunst, Literatur und in den Medien darstellt.
- Die subjektive soziale Realität: die Form der Realität, in der die individuellen Realitätsvorstellungen und –erfahrungen zusammengefaßt sind, die Individuen der objektiven Welt und ihrer symbolischen Repräsentation entnehmen.“3

Diese drei Realitätsdimensionen sind jeweils nochmal in die Distanzen „nah“ und „entfernt“ unterteilt (gemessen am Grad der jeweiligen Geläufigkeit bzw. Abstraktheit) und stehen miteinander in Wechselwirkung. Weitere vier Differenzierungsmöglichkeiten der Wirklichkeit formuliert Wegener in Anlehnung an Schneider:

- Die Realität der jeweiligen biologischen Art (d.h. das Weltbild eines Menschen unterscheidet sich von dem einer Hummel)
- Die subjektive Realität eines Kulturkreises (z.B. ist es eine subjektive Realität der Amerikaner, geprägt durch Erziehung und Tradition, dass die USA das tollste Land der Welt sind, der andere Nationen so sicherlich nicht zustimmen würden)
- Die subjektive Realität einer sozialen Gruppe (Kinder haben ein anderes Bild von der Wirklichkeit als Erwachsene, Arbeiter ein anderes als Wirtschaftsbosse)
- Die vorgetäuschte Realität, die von denen geschaffen wird, die ein Interesse daran haben, den Menschen eine fiktive Wirklichkeit zu vermitteln (z.B. Werbemacher, Politiker, z.T. auch Journalisten)

Es erweist sich also als schwierig, eine allgemein gültige Definition des Begriffs

„Realität“ zu finden. Wichtig scheint mir festzuhalten, dass wir eine objektive Wirklichkeit, so es sie denn überhaupt gibt, nicht wahrnehmen können und diese deswegen in der folgenden Arbeit nicht diskutiert wird.

3. Die Rolle der Realität im Fernsehen

Was die Untersuchung des Verhältnisses von Realität und Massenmedien zueinander anbelangt, kommt man seit einigen Jahren an dem Konstruktivisten und Systemtheoretiker Luhmann nicht mehr vorbei. Auch er vertritt die Auffassung, dass kognitive Systeme (z.B. der Mensch) keinen erkenntnisunabhängigen Zugang zur Realität haben, eine Erkenntnis der Dinge an sich sei unmöglich. Er formuliert das folgendermaßen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“4 Wahrgenommene Realität ist also immer konstruierte Realität. Die Massenmedien und somit auch das Fernsehen sind die Bedingung für die Möglichkeit die Wirklichkeit zu beobachten, ohne sie gibt es laut Luhmann keine Realitätsbeobachtung. Die „Realität der Massenmedien“, so der Titel seines Buches, ist für ihn doppelsinnig. Die eine Realität besteht für ihn in der objektiven Existenz der Medien und ihrer Operationen: Es wird gedruckt, gefunkt, gesendet. Die andere Realität, von der das Buch in der Hauptsache handelt, ist die beobachtbare Realität: „Man kann aber noch in einem zweiten Sinne von der Realität der Massenmedien sprechen, nämlich im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint.“5 Es geht Luhmann also nicht um die Verzerrung einer objektiven Realität durch die Massenmedien, wie dies oft Inhalt des öffentlichen Diskurses ist, sondern ihn interessiert vielmehr, wie Massenmedien die Realität konstruieren und was für eine Gesellschaft entsteht, wenn sie sich ständig durch Fernsehen, Radio und Zeitung selbst beobachtet. Die folgenden Kapitel zu Informationssendungen, Reality TV und Big Brother sollen diesem Ansatz folgen und dabei zwei für Luhmann wichtige Themen reflektieren: Auf welche Art und Weise stellt das Fernsehen in den genannten Sendungen gesellschaftliches Hintergrundwissen bereit? Und welche Konsequenzen könnten diese Sendungen für unsere Gesellschaft haben?

4. Informationssendungen

„Medien helfen beim Erschließen der Welt. Sie bieten in verschiedenen, für unser Leben relevanten Bereichen die einzige Möglichkeit der Exploration der Wirklichkeit, man denke nur an politische, z.B. bundespolitische Information und alle Ereignisse außerhalb des persönlichen Erfahrungsraumes.“6 Diese Informationsvermittlung ist die Domäne des Medienbereichs „Nachrichten und Berichte“, wie Luhmann Sendungen mit informativem Charakter kategorisiert7. Anders als beispielsweise Werbung oder Spielfilme sind die dargestellten Inhalte nicht fiktiv oder manipuliert, sondern erheben den Anspruch, wahre Begebenheiten darzustellen bzw. über sie zu berichten. Weist eine Fernsehsendung sich als Informationssendung aus (z.B. Nachrichten, politische Magazine, aber auch Formate wie „Explosiv“, „exklusiv – die reportage“ oder „Brisant“), so rezipiert der Zuschauer die dargebotenen Inhalte anders, als er dies im Falle eines Science-Fiction-Films oder eines Werbespots tun würde. Da diese Programmform auch hauptsächlich zur politischen Meinungsbildung der Zuschauer beiträgt und damit eine konkrete Auswirkung auf die gesellschaftliche Realität hat, gebührt ihrem Umgang mit der Realität besondere Aufmerksamkeit:

„Medien zeigen in Informationssendungen ausgewählte Ausschnitte der Realität, die verkürzt, verdichtet, zusammengefaßt, aufeinander bezogen und kommentiert werden. Diese zweifelsohne zunächst einmal sehr trivial aussehende Feststellung – es kann nicht weltweit jeder Vorgang in Echtzeit gesendet werden – bekommt insofern Relevanz, wenn man bedenkt, daß Medien und insbesondere das

Fernsehen einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Welt liefern.“8 Daran schließt sich die Frage an: Worüber berichten Informationssendungen, und worüber berichten sie nicht? Mit der Frage, worüber Nachrichten berichten, was also ein Ereignis zu einer Nachricht werden lässt, beschäftigt sich seit den Überlegungen von Galtung & Ruge 19659 die Nachrichtenfaktorenforschung. „Ereignisse besitzen bestimmte Eigenschaften wie Nähe, Schaden oder Prominenz der beteiligten Personen, und je ausgeprägter diese Eigenschaften, die man als Nachrichtenfaktoren bezeichnet, auf ein Ereignis zutreffen, [...] desto größer ist sein Nachrichtenwert“10. Nach Staab, der ein Vertreter der dritten Generation der Nachrichtenfaktorenforschung11 ist, sind folgende Faktoren ausschlaggebend für den Nachrichtenwert eines Ereignisses12:

- Nähe: räumlich, wirtschaftlich, politisch, kulturell (das bedeutet, dass Nachrichtenredaktionen nach ethnozentristischen Gesichtspunkten vorgehen)
- Status, Prestige, Prominenz (der beteiligten Personen oder Dinge)
- Überraschung
- Personalisierung
- Negativität: Kontroverse, Aggression, Konflikt, Schaden (Bad news are good news)
- Positivität: Erfolg, Nutzen
- Themenetablierung (Konsonanz)

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Nachrichten eine ganze Reihe von Geschehnissen unbeachtet lassen: „Nicht berichtet wird über Kriege, die nicht ohne weiteres verständlich sind, in denen nicht ein Aggressor oder Schuldiger festzustellen ist, die seit Jahren mit unverminderter Intensität und ohne Aussicht auf Beendigung in ‚gottverlassenen Gegenden‘ vor sich gehen. [...] Wenig gezeigt werden fundierte Hintergrundinformationen, auch wenn mancher redliche Versuch unternommen wird.“13 Alle Sachverhalte, die schwer zu durchschauen sind, bleiben also unberücksichtigt, da sie nicht in den Trend der unterhaltenden Information passen. Alltäglichkeiten hingegen, die bis vor wenigen Jahren als nicht nennenswert in den Medien und damit auch im Fernsehen nicht vorkamen (auf jeden Fall nicht in den

Informationssendungen), werden mit der Verbreitung des Infotainment mehr und mehr thematisiert, auch wenn keine prominenten Persönlichkeiten beteiligt sind. Besonders im sogenannten Reality-TV, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Information und Unterhaltung aufweichen, tritt der Normalbürger mit seinen alltäglichen Problemen und Anliegen in den Vordergrund des Interesses.

5. Reality-TV

5.1. Begrifflichkeit und Definition

Wörtlich übersetzt bedeutet Reality-TV Wirklichkeitsfernsehen. Welche Sendungen alle unter diesen Begriff fallen, darüber herrscht jedoch Uneinigkeit; die Grenzen zu anderen Genres sind fließend. Selbst die Produzenten und Redakteure der geläufigsten Reality-TV-Formate beantworten die Frage, was Reality-TV (RTV) eigentlich ist, ganz unterschiedlich. Fällt unter RTV für die einen jede Sendung, die sich selbst als solche bezeichnet, meint der andere, die Bezeichnung sei eigentlich eine Abkürzung für „reality-based TV“14. Das „Institut für Medienanalyse und

Gestalterkennung Essen“ definierte im Rahmen einer Untersuchung folgende Darstellungsformen als dem Reality-TV zugehörig15:

- Filmdokumente (also Originalaufnahmen, die meist ungewöhnliche Ereignisse zeigen)
- Dokumentationsdramen (von den Sendern nachgedrehte Geschehnisse, die sich wirklich ereignet haben)
- Reality-Shows (Unterhaltungs-Shows, die von den Konflikten der Gäste und Zuschauer leben)
- Suchsendungen (an anderer Stelle16 auch Problemlösesendungen genannt; Formate, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, als Anwalt der Zuschauer und Gäste aufzutreten und dadurch mit Hilfe der Fernsehtechnik zur Lösung eines Problems beizutragen)

Eine Definition klassischer RTV-Formate, auf die vielmals in der einschlägigen Literatur eingegangen und die teilweise noch erweitert wurde, leistete Wegenerschon im Jahr 1994, als das Genre in Deutschland noch recht jung war.

[...]


1 Ich setze in der folgenden Arbeit die Begriffe „Realität“ und „Wirklichkeit“ gleich

2 Die nachfolgenden Überlegungen folgen der Darstellung von Wegener 1994, S.31ff.

3 ebd., S.32; die alte Rechtschreibung wird hier wie in der gesamten Arbeit in Zitaten von der Vorlage übernommen

4 Luhmann 1996, S.9

5 ebd., S.14

8 Eberle 2000, S.219

9 vgl. Galtung, Johan / Ruge, Mari Holmboe (1965): The Structure of Foreign News. In: Journal of Peace Research 2, 965, 64-91.

10 Staab 1990, S.161

11 Nach Galtung & Ruge und Winfried Schulz

12 vgl. Staab 1990

13 Eberle 2000, S.225

14 vgl. Wegener 1994, S.15 ff.

15 Vgl. ebd., S.16 und Eberle 2000, S.211

16 Vgl. z.B. Eberle 2000, S.212

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Realität und "Realität" im Fernsehen: Informationssendungen, Reality TV, Big Brother
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Theorie und Empirie des Fernsehens
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
22
Katalognummer
V107054
ISBN (eBook)
9783640053292
ISBN (Buch)
9783640871704
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Realität, Fernsehen, Informationssendungen, Reality, Brother, Theorie, Empirie, Fernsehens
Arbeit zitieren
M. A. Nikola Weiß (Autor:in), 2002, Realität und "Realität" im Fernsehen: Informationssendungen, Reality TV, Big Brother, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107054

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