Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Richtlinienkompetenz im GG: Grundlagen und Hilfsrechte
2.1 Das Ministervorschlagrecht
2.2 Das Recht der Organisationsgewalt
2.3 Das Recht auf umfassende Information
2.4 Die Vertrauensfrage
2.5 Das Recht zur Geschäftsleitung der Bundesregierung

3. Richtlinien und Richtlinienentscheidungen

4. Einschränkungen der Richtlinienkompetenz

5. Grenzen von Richtlinien

6. Ausgewählte Beispiele von Richtlinien und Ausführung der Richtlinienkompetenz
6.1 Regierungserklärung
6.2 Schriftliche Richtlinien und Taktieren im Kabinett
6.3 Netzwerke, persönliche Kontakte und Information
6.4 Medienpräsenz, Konsens und Machtworte

7. Schlussbemerkung

Literaturliste

1. Einleitung

Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Dieser Satz ist wohl jedem, der sich flüchtig mit Politik beschäftigt und die Nachrichtenlage auf Bundesebene verfolgt, geläufig. Die erste Bedeutung dieses Satzes scheint in der allgemeinen Interpretation folgende zu sein: Der Kanzler bestimmt, wo es lang geht. Er ist es, der das Schiff auf Kurs bringt und hält. Eben, in dem er die Richtlinien der Politik bestimmt. Der Politik-Experte Ernst Ulrich Junker hat es so definiert: „Die Richtlinien der Politik sind der Inbegriff der staatsrichtungsbestimmenden Gestaltungsentscheidungen im Bereich der Regierung. Sie sind die Prinzipien des Handelns der Regierung.“1

Doch was genau ist eine Richtlinie, wie sieht sie aus? Ist sie ein schriftlicher Erlaßmit der Überschrift „Richtlinie des Bundeskanzlers“, ist sie der gesamte Inhalt einer Regierungserklärung, jede Anordnung des Kanzlers, ein Machtwort im Kabinett oder Parlament?

Diese Hausarbeit soll versuchen, genau zu beschreiben, was eine Richtlinie ist und wie der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz erfolgreich ausüben kann. Dazu bedarf es zunächst einer genauen Begriffsbestimmung und Herleitung der Richtlinienkompetenz aus dem Grundgesetz. Anschließend sollen die Grundlagen und Grenzen einer Richtlinie und der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers erklärt werden und der Unterschied zur Richtlinienentscheidung benannt werden. Abschließend sollen Beispiele für Richtlinien die praktische Anwendung der Richtlinienkompetenz aufzeigen und belegen, in welch vielfältiger Weise ein Bundeskanzler in der Bundesrepublik Deutschland von seinem Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, Gebrauch machen kann und Gebrauch gemacht hat. In diesem Zuge will der Verfasser auch die Bedeutung der Richtlinienkompetenz als Führungsinstrument und Machtmittel verdeutlichen.

2. Die Richtlinienkompetenz im GG: Grundlagen und Hilfsrechte

Die in Artikel 65 des Grundgesetz benutzte Formulierung „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“ findet sich nach dem Zweiten Weltkrieg gleichlautend in zwei Verfassungsvorschlägen. In Artikel 54 Absatz II des „Entwurfs eines GG, Arbeitsgrundlage für die Bay. Delegation in Herrenchiemsee“ und Artikel 78 des von Küster und Schmoller für den UnterauschußOrganisationsfragen am 17. August 1948 in Herrenchiemsee vorgelegten Entwurfs.2 Die Formulierung hat alle Beratungen und die verschiedenen Fassungen im Verfassungskonvent unverändert passiert, wurde bei der Schlußabstimmung am 8. Mai 1949 genehmigt und trat am Tag nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 23. Mai 1949 in Kraft. Im Wortlaut heißt es in Artikel 65 des Grundgesetzes:

„Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet die Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung.“3

Ziel des Verfassungskonvents war es, nach den Erfahrungen der Weimarer Republik einen starken und handlungsfähigen, aber auch nicht übermächtigen Regierungschef zu installieren, dem es möglich sein würde, unter stabilen Bedingungen zu regieren. Um dieses Ziel zu erreichen, verleiht das Grundgesetz und die ergänzenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsbestimmungen dem Kanzler gleich mehrere Hilfsbefugnisse, um seine Richtlinienkompetenz effektiv ausüben zu können und die Ausführung der Richtlinien kontrollieren zu können.

2.1 Das Ministervorschlagsrecht

Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernannt (Art. 64 GG.). Dieses Vorschlagsrecht wird nur durch den Bundespräsidenten begrenzt, der die Ernennung eines Ministers verweigern kann, wenn er Einwände auf dem Gebiet der Verfassungspflege (wie zum Beispiel ein laufendes Ermittlungsverfahren oder eine nationalsozialistische Vergangenheit des Kandidaten) gegen den Minister hat. Der Kanzler hat auch das Recht, einzelne Minister zu entlassen. Durch diese Befugnisse hat der Kanzler ein Machtmittel in der Hand, das ihm bei der Durchsetzung seiner Richtlinien hilft. Widersetzt sich ein Minister den vorgegebenen Richtlinien oder erweist sich als unfähig, kann der Kanzler seinen Minister durch einen „willigeren“ Kollegen auswechseln. Alleine die Drohung, dieses zu tun, verleiht dem Kanzler eine mächtige Stellung und hilft ihm bei der Durchsetzung seiner Richtlinien. Zudem kann der Kanzler bei der Auswahl der Personen darauf achten, dass sie ihm hinsichtlich der Richtlinienkompetenz nicht zu gefährlich werden können (durch völlig gegensätzliche Einstellungen oder eine zu starke Persönlichkeit, welche die Kompetenz des Kanzlers in Frage stellen könnte).

2.2 Das Recht der Organisationsgewalt

Der Kanzler hat das Recht der Organisationsgewalt, die Geschäftsbereiche seiner Minister einzuteilen (§ 9 GeschOBReg). Dieses Recht gilt für die Zeit der gesamten Regierungsperiode. Sträubt sich ein Minister gegen die Umsetzung einer gewissen Richtlinie, kann ihm der Kanzler den betreffenden Geschäftsbereich entziehen und in ein anderes Ressort eingliedern. Zudem kann er neue Geschäftsbereiche auf die bestehenden Ministerien verteilen oder gar ein neues Ministerium schaffen, wie es zum Beispiel Helmut Kohl 1986 mit der Schaffung eines Umweltministeriums getan hat. Um das neue Ministerium einzuführen und mit Kompetenzen auszustatten, entzog Kohl per Organisationserlaßvom 5.6.1986 dem Innenminister die Zuständigkeit für Umwelt- und Strahlenschutz sowie für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen, dem Landwirtschaftsminister die Zuständigkeit für Umwelt und Naturschutz sowie dem Minister für Jugend, Familie und Gesundheit die Zuständigkeit für gesundheitliche Belange des Umweltschutzes, Strahlenhygiene, Rückstände von Schadstoffen in Lebensmitteln und Chemikalien.4 Die Schaffung eines Umweltministeriums war ein Signal für die Bevölkerung und so etwas wie eine weitgefasste Richtlinie: Die Bundesregierung kümmert sich in Zukunft verstärkt um diesen Politikzweig. Die Schaffung neuer Ministerien oder die Überführung von Zuständigkeiten von einem Ministerium in ein anderes gehen immer mit einem Kompetenzverlust eines Ministers, der Zuständigkeiten verliert, einher. Das Recht zur Einteilung der Geschäftsbereiche ist deshalb auch ein Disziplinarmittel, das der härtesten Maßnahme, der Entlassung eines Ministers, wirksam vorgeschaltet werden kann, weil ein Minister der Beschneidung seiner Zuständigkeiten nur ungern zustimmen wird. Ferner kann der Kanzler darauf verweisen, dass die Minister ihre Ressorts zwar eigenständig verwalten (Ressortprinzip), bei der Verwaltung aber nur innerhalb der vorgegebenen Richtlinien agieren dürfen.

2.3 Das Recht auf umfassende Information

Um sicherzustellen, dass die Ressorts im Rahmen der Richtlinien des Kanzlers arbeiten, steht dem Kanzler ein umfassender Informationsanspruch zu. Im §3 der GOBR ist der Zusammenhang zwischen Informationsanspruch und Richtlinienkompetenz sogar benannt:

„Der Bundeskanzler ist aus dem Geschäftsbereich der einzelnen Bundesminister über Maßnahmen und Vorhaben zu unterrichten, die für die Bestimmung der Richtlinien der Politik und Leitung der Geschäfte der Bundesregierung von Bedeutung sind.“5

Der Informationsanspruch ermöglicht es dem Kanzler, zu überprüfen, ob die Ministerien im Rahmen der von ihm vorgegebenen Richtlinien handeln. Der Informationsanspruch ist zudem auch für das Entstehen von Richtlinien von hoher Bedeutung. Diese Entstehen nämlich nur in geringer Zahl durch „Ideen“ des Bundeskanzlers, sondern viel häufiger durch die faktische Information ns der Ministerien über konkrete Problemlagen und vorliegende Mißstände. Die Richtlinien entstehen dann als Reaktion auf diese Problemlage. Daraus folgt, dass ein Kanzler, der schlecht informiert ist, nur bedingt in der Lage ist, die Richtlinien seiner Politik zu bestimmen. Der Informationsanspruch ist deshalb nicht nur als Kontrollinstrument eine wichtige Hilfsfunktion der Richtlinienkompetenz.

Im Informationsanspruch steckt hinzukommend auch das Recht des Kanzlers, wichtige Dinge an sich zu ziehen, da ein Bundesminister laut § 4 GOBR angehalten ist, den Kanzler unter Angabe der entsprechenden Gründe mitzuteilen, wenn er eine Erweiterung oder Änderung der Richtlinien bezüglich seines Ressorts für erforderlich hält und dem Kanzler um seine Entscheidung zu bitten. Die Entscheidung des Kanzlers kann dann getrost als neue Richtlinie verstanden werden und ist als solche zu behandeln. Der Kanzler kann in diesem Sinne sicher gehen, dass wichtige Entscheidungen innerhalb der Ressorts nicht ohne seine Zustimmung gefällt werden.6

Der Informationsanspruch wird institutionell untermauert durch das Bundeskanzleramt, dass dem Bundeskanzler als Behörde zur Verfügung steht. Die Funktion des Bundeskanzleramts ist es, dem Kanzler zuzuarbeiten, ihn über laufende Fragen der Politik und die Arbeit in den Bundesministerien zu unterrichten. Wegen der Fülle der eingehenden und bestehende Informationen muss des Kanzlers Amt vor allem Informationen sortieren und bündeln und wichtige Projekte des Kanzlers in den Ressorts und außerhalb von ihnen koordinieren. Nur mit Hilfe des Kanzleramts kann es dem Bundeskanzler gelingen, über alle wichtigen Vorgänge in den Ressorts informiert zu bleiben und einen detaillierten Gesamtüberblick über die Ressortprobleme unter dem übergeordneten Blickpunkt der Gesamtpolitik zu erhalten. So trägt das Bundeskanzleramt in Zusammenwirken mit den einzelnen Fachressorts zu einer abgestimmten Haltung der Bundesregierung bei und unterstützt den Kanzler bei der Ausübung seiner Richtlinienkompetenz, in dem es ihm die Formulierung des Regierungswillens durch bündeln, vereinheitlichen und zusammenfassen der Informationen und Probleme überhaupt erst ermöglicht. Ohne die Arbeit des Kanzleramts wäre es dem Kanzler nicht möglich, den Überblick zu behalten und einen komplexen Regierungswillen, also die Richtlinien seiner Politik zu formulieren. Das Kanzleramt hilft zusätzlich auch bei der Kontrolle der Fachressorts bezüglich der Ausführung der Richtlinien.7 Der bekannte Satz: „Ohne das Kanzleramt wäre der Bundeskanzler ein bedauernswerter Vollinvalide: er könnte nicht sehen, hören noch schreiben, geschweige den Richtlinien bestimmen.“8 beschreibt die Situation polemisch, aber zutreffend.

2.4 Die Vertrauensfrage

Als Hilfsrecht der Richtlinienkompetenz kann auch die Vertrauensfrage (Art. 68 GG.) gesehen werden. Der Bundeskanzler hat das Recht, sich vom Bundestag das Vertrauen aussprechen zu lassen, wenn er einen entsprechenden Antrag stellt. Die Vertrauensfrage kann gegen den Willen des Kabinetts und der eigenen Fraktion gestellt werden. Die Vertrauensfrage kann in Zusammenhang mit der Richtlinienkompetenz gebracht werden, weil in dem Vertrauensvotum die Haltung des Parlaments zur Gesamtrichtung und- aktion der Bundesregierung, die der Kanzler verantworten muss, zum Ausdruck kommt. Also auch zu den Richtlinien des Bundeskanzlers. Der Kanzler kann das Parlament auflösen und Neuwahlen beantragen, wenn der Bundestag ihm das Vertrauen verwehrt. Er kann die Vertrauensfrage deshalb benutzen, um die eigenen Reihen hinter sich zu schließen, auf Geschlossenheit seiner Regierungsparteien zu dringen und letzten Endes die von ihm bestimmten Richtlinien seiner Politik durchzusetzen. So hat es zuletzt auch Bundeskanzler Gerhard Schröder getan, als er die eigene Koalition mit der Vertrauensfrage zur Zustimmung seiner Richtlinie, die Bundeswehr nach Afghanistan zu entsenden, „gezwungen“ hat.

Der Wert der Vertrauensfrage liegt darüber hinaus darin, dass er Regierung und Parlament zu einer Zusammenarbeit erziehen kann und unüberlegte Regierungsstürze verhindert. Die Vertrauensfrage zur Durchsetzung der eigenen Richtlinien heranzuziehen, ist eines der schwerwiegensten Maßnahmen, denen sich ein Bundeskanzler bedienen kann. Es ist nicht ohne Nachteile, denn die Vertrauensfrage zeigt nach außen hin auf, dass der Kanzler mit der Auflösung des Parlaments drohen muss, um die Richtlinien seiner Politik durchzusetzen oder sich des Vertrauens nicht mehr sicher ist. Gerade letzteres ist für die Machtposition nicht gerade zuträglich. Die Vertrauensfrage ist deshalb ein Machtmittel, das der Bundeskanzler nur spärlich und in extremen Fällen für die Durchsetzung seiner Richtlinie auswählen sollte.9

2.5 Das Recht zur Geschäftsleitung der Bundesregierung

Als weiteres Hilfsrecht zur Ausübung der Richtlinienkompetenz soll der Vollständigkeit halber noch Recht des Kanzlers zur Geschäftsleitung der Bundesregierung (Art. 65 GG.) genannt werden. Der Kanzler hat den Vorsitz bei allen Kabinettssitzungen inne und kann bei Stimmgleichheit im Kabinett durch Stichentscheid die Richtung weisen. Die Führungsposition des Kanzlers wird durch die Leitung der Sitzungen gestärkt und untermauert und hilft bei der Verkündung und Durchsetzung neuer Richtlinien im Kabinett.

3. Richtlinien und Richtlinienentscheidungen

Der Bundeskanzler entscheidet über die Richtlinien der Politik. Das heißt aber nicht, dass jede Entscheidung des Kanzlers eine Richtlinie ist. Neben Entscheidungen, die nicht einen generellen, in die Zukunft weisenden Inhalt haben und aus diesem Grund sowieso nicht als Richtlinie bezeichnet werden können, gibt es zusätzlich einen Unterschied: Man unterscheidet zwischen Richtlinien der Politik und den so genannten Richtlinienentscheidungen.

Die Richtlinien sind die vorhandenen oder geplante Grundzüge einer Politik, die Prinzipien des Handelns einer Regierung (s.o.). Sie sind die Leitgedanken der Politik einer Bundesregierung, können aber auch Einzelfälle von besonderer Bedeutung treffen. Diese Richtlinien entstehen aus einzelnen Richtlinienentscheidungen des Kanzlers sowie den Regierungsentscheidungen des Bundeskabinetts und der Bundesminister, die sich an ihnen orientieren. Man kann also sagen: Die Richtlinie ist das Dach, dass sich über einem Gebäude von Einzelentscheidungen befindet, die dieses Dach tragen. Das muss nicht unbedingt heißen, das es zuerst einer Reihe von Richtlinienentscheidungen geben muss, bevor sich die Richtlinie als Essenz (in unserem Falle Dach) herausbildet. Eher der umgekehrte Weg ist in der Praxis die Regel. Der Kanzler bestimmt eine Richtlinie, nach denen die Fachminister handeln müssen und welche diese mit Richtlinienentscheidungen in ihren Ressorts untermauern.10

4. Einschränkungen der Richtlinienkompetenz

Der Bundeskanzler kann die Festlegung seiner Richtlinien nicht uneingeschränkt nach eigenem Gutdünken und Belieben vornehmen. Seiner Richtlinienkompetenz sind gewisse Grenzen gesetzt. Zuallererst muss sich der Kanzler bei der Formulierung seiner Richtlinien von deren Verfassungsmäßigkeit und Einklang mit den allgemein geltenden Gesetzen überzeugen. Ferner braucht er für ihre Durchsetzung die Zustimmung der Mehrheit seiner übrigen Kabinettsmitglieder, seiner Minister, welche die eigentlichen Adressaten der politischen Richtlinien sind und diese in ihren Fachressorts umzusetzen haben. Der Bundeskanzler im politischen System der Bundesrepublik hat kein Monopol auf Regierungsentscheidungen und kann kein Recht auf die Gesamtheit der Regierungsentscheidungen beanspruchen. Die Richtlinienentscheidungen des Kanzlers müssen seinen Ministern deshalb „Raum lassen für weitere Ausgestaltung, , müssen also auch ausfüllbar sein.“11 Ferner fallen Entscheidungen im Kabinett unter der Leitung des Kanzlers per mehrheitlichen Kabinettsbeschluß. Wilhelm Hennis unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Regel- und Einzelfallentscheidung.12 Die Einzelfallentscheidung bezieht sich auf einen konkreten, sachbezogenen Aspekt und läßt dem einzelnen Minister im Fachressort keinen weiteren Raum zur Ausgestaltung. Die Regelentscheidung hingegen ist die grobe Festlegung einer Richtung, deren konkrete Umsetzung und Ausgestaltung dann den jeweiligen Ministern obliegt. Auch in diesem Punkt zeigt sich die Abhängigkeit des Kanzlers vom Kabinett bezüglich einzelner Richtlinien, da der Kanzler nach dem Ressortprinzip nicht in den von den Ministern verwalteten Ressortbereich „hineinregieren“ darf. Der Kanzler kann zwar Richtlinien für die Leitung des Ressorts an den Minister richten und die ordnungsgemäße Ausführung seiner Richtlinien in den Ressorts kontrollieren. Er kann auf Grund der Ressortautonomie aber nicht unter Übergehung des Ministers selber in dessen Ressort tätig werden, also weder personelle und sachliche Entscheidungen in den Ressorts Kraft Richtlinienkompetenz an sich ziehen, noch unmittelbare Weisungen an die dem Minister unterstellten Behörden und Beamten richten. Es bedarf im konkreten Fall daher einer Beratung und Abstimmung mit dem Minister und des geschickten Einsatzes der Disziplinierungsmaßnahmen (siehe Hilfsrechte, wie die Drohung mit Kompetenzverlagerung oder Entlassung), bevor die einzelne Richtlinie verkündet werden kann.

Eine gehobene Stellung unter den Ministers bezüglich der Richtlinienkompetenz genießt der Finanzminister. Seine Sonderstellung beruht vorderrangig auf Art. 122 GG. Darin steht:

„Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden.13

Tritt der Fall über- oder außerplanmäßiger Ausgaben ein, hat der Finanzminister das alleinige und endgültige Recht, über das Vorliegen der im Gesetz benannten, „unabweisbaren Bedürfnisse“ zu entscheiden. Auch wenn der Bundeskanzler die Frage zum Gegenstand einer Richtlinienentscheidung macht, kann weder die Richtlinie noch ein Kabinettsbeschlußdie fehlende Zustimmung des Finanzministers ersetzen. Das Grundgesetz setzt hier eine deutliche Einschränkung der Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Die Ausgabe müßte in jenem Fall ausbleiben, solange der Kanzler nicht einen neuen Finanzminister bestimmte, der dieser Ausgabe zustimmen würde.

Auch beim Haushaltsentwurf, der durch die Einteilung der verfügbaren Mittel auf verschiedene Ressorts und Projekte ein Stück weit die Richtlinien der künftigen Politik widerspiegelt, hat der Finanzminister ein suspensives Vetorecht, wenn er die Begründetheit von finanziellen Anmeldungen eines Ressorts als nicht gegeben erachtet. Der Finanzminister kann gegen den Beschlußder Bundesregierung, die Anmeldung der Mittel zuzulassen, Widerspruch einlegen, kann aber in einer erneuten Abstimmung von der Kabinettsmehrheit und der Kanzlerstimme überstimmt werden. Die Sonderrechte des Finanzminister wurden im Grundgesetz verankert, um einen besonderen Schutz des Haushaltsgleichgewichts gegenüber der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zu gewährleisten und stellen daher eine Einschränkung der Richtlinienkompetenz des Kanzlers dar.14

Die bereits erwähnte Notwendigkeit der Absprache der Richtlinien mit dem Kabinett gilt auch im Zusammenhang mit dem Bundestag. Eine Richtlinienbestimmung gegen den Bundestag kann es nicht geben, man spricht in diesem Zusammenhang vom „Übereinstimmungszwang“. Der Kanzler braucht für seine Politik eine parlamentarische Basis. In der Praxis bedeutet dieses: Der Kanzler prüft die Billigung des Parlaments, bevor er eine neue Richtlinie verkündet. Solange Meinungsverschiedenheiten bestehen, wird verhandelt: Der Bundeskanzler redet vor dem Bundestag, empfängt die Fraktionschefs und führende Abgeordnete. Der Übereinstimmungszwang steht im direkten Verhältnis zur Kontrollfunktion des Bundestages. Die Mitglieder des Bundestages prüfen die Arbeit und die Vorhaben der Bundesregierung, beschließen oder verwerfen sie wieder. Billigt das Parlament einen Regierungsakt nicht, so trifft seine Mißbilligung denjenigen, der nach der Verfassung die Verantwortung dafür trägt: den Bundeskanzler. Zu diesem Zweck sieht die Verfassung die Maßnahme des konstruktiven Mißtrauensvotums vor. Zudem kann erst der Bundestag den Richtlinien des Kanzlers durch die Gesetzgebung die normative Geltungskraft verleihen. Ohne die entsprechenden Gesetze blieben Richtlinien nur die Verkündigung einer Absicht oder Meinung, erst durch Gesetze werden sie in die Tat umgesetzt. So haben sich in der Vergangenheit beispielsweise Richtlinien in der Sozialpolitik durch Versorgungs- und Versicherungsgesetze, Richtlinien in der Wirtschaftspolitik durch Steuer- und Marktordnungsgesetze verwirklicht.

Die Stärke der Begrenzung der Richtlinienkompetenz durch den Bundestag hängt, wie im Kabinett auch, von den Machtverhältnissen im Parlament ab. Ein Kanzler mit absoluter Mehrheit im Bundestag und -rat braucht bei der Bestimmung seiner Richtlinien keine Rücksicht auf die übrigen Fraktionen und deren Abgeordnete nehmen, ein Kanzler, der mit einem Koalitionspartner gemeinsam regiert, wird in der Praxis Zugeständnisse bei der Formulierung der Richtlinien nehmen müssen, zumindest jedoch versuchen müssen, den Koalitionspartner von der Richtigkeit oder Notwendigkeit der Richtlinie(n) überzeugen müssen. Jede Koalition geht deshalb ein Stück weit zu Lasten der Richtlinienkompetenz. Wie im Kabinett kommt es aber auch auf die Autorität des Kanzlers und seine Wechselmöglichkeiten des Koalitionspartners an.

Im Bundesrat können zusätzliche Probleme die Richtlinienkompetenz des Kanzlers eingrenzen. Denn im Gegensatz zum Bundestag, in der der Kanzler, wenn auch in den meisten Fällen mit einem Koalitionspartner, über eine eigene Mehrheit verfügt, kann es im Bundesrat eine mehrheitliche Stimmverteilung zugunsten der Opposition geben, die Gesetzesvorhaben der Regierung und damit das Durchsetzen der Richtlinien blockieren kann. In diesem Fall kommt es auf das Verhandlungsgeschick des Kanzlers an. Kann er die Opposition von der Notwendigkeit seines Vorhabens überzeugen, kann er durch Zugeständnisse oder Änderungen im Gesetzesentwurf die Opposition zum Zustimmen bewegen oder sich die Entscheidung durch mehr Gelder für die oppositionsgeführten Länder und Projekte oder Zugeständnisse in anderen Politikbereichen „erkaufen“? Schafft er es, die Opposition öffentlich als Verhinderer moderner Gesetze und notwendiger Reformen hinzustellen, die Medien und die Bevölkerung hinter sich zu ziehen und damit öffentlichen Druck auf die Opposition auszuüben? Auch bei der Eingrenzung der Richtlinienkompetenz durch den Bundesrat kommt es also auf das Geschick und die Autorität des Bundeskanzlers an. Man erinnere sich an die Abstimmung im Bundesrat über die Steuerreform unter Bundeskanzler Schröder, in der der Kanzler die Entscheidung durch geschicktes Taktieren mit der Opposition für sich entscheiden konnte.

Gleichsam wichtig für die Richtlinienkompetenz ist auch das Verhältnis des Kanzlers zur eigenen Partei und Fraktion, die ihm die Mehrheit für seine Richtlinien im Bundestag besorgen muss. Zwar muss ein Bundeskanzler nach dem Grundgesetz keiner Partei angehören, bis zum heutigen Zeitpunkt war dieses aber immer der Fall. Ein Kanzler, der gegen die Ansichten seiner Partei und Fraktion regiert, wird nur schwer eine Mehrheit für seine Richtlinienpolitik bekommen. Die Pflege eines guten Verhältnisses zur Fraktion und Partei ist deshalb enorm wichtig und kann beispielsweise durch Besuche, Anhörungen und Zugeständnisse erfolgen. Der Kanzler benötigt für eine erfolgreiche Richtlinienpolitik also eine Hausmacht, am besten hat er neben dem Amt des Bundeskanzlers auch das des Parteivorsitzenden inne oder pflegt ein gutes Verhältnis zu diesem und dem Fraktionschef. Die Wertigkeit dieses Verhältnisses bestimmt den Stärke der Eingrenzung der Richtlinienkompetenz durch den Bundestag, die eigene Fraktion und die eigene Partei. Gleichzeitig ist der Bundeskanzler in gewissem Maße an das Parteiprogramm, das bereits eine Formulierung der von der Partei erwünschten Richtlinien enthält, gebunden, will er sich des Rückhalts seiner eigenen Partei und Fraktion versichert sein.15

5. Grenzen von Richtlinien

Die Richtlinien, die ein Bundeskanzler der Politik seiner Amtszeit zu Grunde legt, genießen keinen Anspruch auf ewige Gültigkeit. Sie sind vielmehr Ausdruck dessen, was der Kanzler und die Bundesregierung zu einem gewissen Zeitpunkt unter Berücksichtigung der aktuellen Situation und von Zukunftsprognosen als die beste Handlungsweise erachten. Sie sind gleichzeitig auch eine Entscheidung für und gegen etwas, das Setzen von Akzenten und Schwerpunkten.

Die Richtlinien eines Kanzler sind nicht für immer gültig. Zum einen kann sich die politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Situation im Land ändern und das Hervorheben anderer Schwerpunkte oder Handlungsweisen nötig werden lassen. In diesem Falle kann ein Kanzler die Richtlinien seiner Politik der aktuellen Situation anpassen und verändern.

Zum anderen können Richtlinien auch im Falle der Abwahl eines Kanzlers oder seines Rücktritts ihre Gültigkeit verlieren. Der neue Bundeskanzler mag andere Schwerpunkte setzen, die politische Landschaft anders einschätzen oder in wesentlichen Grundzügen anderer Meinung sein als der frühere Kanzler. Er wird die Richtlinien deshalb neu bestimmen und verändern wollen. Oft ist er auch gewählt worden, um genau dieses zu tun: Der Politik eine neue Richtung zu geben, die Dinge besser zu machen, Situationen zu verändern, weil die Wähler mit der Grundhaltung der alten Regierung oder den Ergebnissen, die aus diesen resultierten, unzufrieden waren. Das kann sogar soweit gehen, dass nicht nur die Richtlinien von einem neuen Bundeskanzler und einer neuen Bundesregierung geändert werden, sondern auch die Entscheidungen, die wegen ihnen getätigt wurden, das heißt, beschlossene und bereits bestehende Gesetze.

Die Wahl eines neuen Bundeskanzlers muss jedoch nicht heißen, dass alle Richtlinien ihre Gültigkeit verlieren. Besonders im Hinblick auf das Ausland, Europa und die Bündnispartner hat ein neuer Bundeskanzler keinen großen Spielraum, bleibt beispielsweise die Richtlinie der Bündnistreue oder Aussöhnung in jedem Fall bestehen, weil über diese Richtlinien allgemeiner Konsens in der Gesellschaft und feste Verträge bestehen, an die sich die neue Regierung zu halten hat. Dass die Richtlinien eines Kanzlers ihre Grenzen im Bereich der Politik finden, ist dabei selbstverständlich. Außer der Bundesregierung ist den Richtlinien niemand in besonderer Weise verpflichtet, nicht einmal der Bundestag (s.o.), die Medien und Bürger schon mal gar nicht. Denn normative Gesetzeskraft haben Richtlinien ohne die entsprechenden Gesetze nicht.16

6. Ausgewählte Beispiele von Richtlinien und Ausführung der Richtlinienkompetenz

Wir kennen nun die theoretischen und gesetzlichen Grundlagen der Richtlinien und der Richtlinienkompetenz. Der Kanzler ist mit einer Menge von Hilfsrechten in Form von ergänzenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsbestimmungen ausgestattet, um die vom Grundgesetz zugesagte Richtlinienkompetenz ausführen und deren Einhaltung überwachen zu können. Gleichzeitig aber ist diese Kompetenz auch rechtlich und zeitlich eingeschränkt sowie diversen Kontrollmechanismen unterzogen, um einen Mißbrauch der hohen Kompetenzen zu verhindern.

Wie sieht aber die Ausführung der Richtlinienkompetenz in der Praxis aus und wie sieht eine Richtlinie des Kanzlers im reellen politischen Alltag aus?

Es gibt kaum Entscheidungen, die unter der offiziellen Bezeichnung „Richtlinien der Politik“ erfolgen. Ein Bundeskanzler wird nur selten erklären, dass er von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen möchte, um eine Entscheidung durchzupauken. Das regelmäßige Verfahren besteht eher darin, dass der Kanzler auf ein Problem aufmerksam wird oder von den Ministerien, dem Bundeskanzleramt oder den Medien darüber informiert wird und sich eine Meinung bildet, die er dann in der Beratung, im Kabinett, in den Medien, im Gespräch oder schriftlich vertritt. Diese Meinung trägt nicht das Etikett einer Richtlinie. Der Bundeskanzler diskutiert darüber, versucht zu überzeugen, erbittet oder rät ab und wart die kollegialen Formen. Das Geheimnis liegt oftmals nicht im autoritären Gehabe und dem Proklamieren des Begriffs „Richtlinie“, sondern vielmehr im Detail: Ein Kanzler, der geschickt agiert und Autorität im Kabinett und Bundestag genießt, findet auch ohne den Einsatz des Begriffs „Richtlinie“ Zustimmung oder zumindest Gehorsam, eben weil jeder weiß, dass des Kanzlers Standpunkt in jedem Fall auch als Richtlinienentscheidung ergehen könnte. Wäre ein Bundeskanzler genötigt, jedesmal zu betonen, dass seine Meinung als Richtlinienentscheidung verstanden werden soll, wäre seine Amtsführung erschwert und seine Autorität gefährdet.17 Dennoch hat es auch diese Praxis in der Vergangenheit gegeben, meist als letztes Mittel, wenn die Fronten festgefahren waren. Die Möglichkeiten des Kanzlers, seine Richtlinienkompetenz durchzusetzen oder diese für die Erreichung von politischen Zielen, wenn auch verdeckt und ohne die direkte Nutzung des Begriffs, einzusetzen, sind vielfältig. Vor allem aber kommt es auf sein persönliches Geschick im Umgang mit den Ministern, seine Überzeugungskraft und Autorität im Kabinett und sein Verhandlungsgeschick an. Die oben beschriebenen Hilfsrechte geben dem Bundeskanzler zwar Möglichkeiten, seine Richtlinien durchzusetzen. Er selber muss aber wissen, wie er diese Möglichkeiten nutzt, wann er welche Möglichkeit einsetzt und wann nicht. So hängt eine effektive Richtlinienbestimmung und -durchführung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland stark von der Persönlichkeit des jeweiligen Kanzlers ab. Ein einnehmendes Wesen, Leichtigkeit, Witz und Schlagfertigkeit im Umgang mit den Kabinettskollegen, die Fähigkeit zum small-talk, all diese Fähigkeiten sind nützlich, um die Minister, also die Adressaten der Richtlinien von der Marschrichtung zu überzeugen. Und nur ein überzeugter Minister wird die Richtlinien seines Kanzlers auch konsequent umsetzen, nach außen überzeugt vertreten und verteidigen. So ist von dem ehemaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bekannt, dass er vor schwierigen Verhandlungen im Kabinett stets eine lustige Anekdote zum Besten geben konnte und einmal, an einem heißen Tag, die Kabinettssitzung kurzerhand in den Park des Palais Schaumburg unter die berühmte Platane verlegt hat. Was auf den ersten Blick normal oder unbedeutend für die Richtlinienpolitik erscheint, war auf den zweiten Blick geschicktes Taktieren im Hinblick auf das Durchsetzen von Richtlinien: In dem Kiesinger bewußt eine entspannte und heitere Diskussionsausgangslage schaffte, erleichterte er die Verhandlungen, die Beschlußfassung und das Schlichten von Konflikten im Kabinett.18

Auch im alltäglichen Umgang mit den Ministern liegt eine Grundlage effektiver Richtlinienpolitik begründet. Im Kabinett ordnet der Bundeskanzler deshalb nicht unbedingt an oder verliest seine Richtlinien. Eher versucht er, in der Diskussion zu überzeugen, „bittet“, „weist auf etwas hin“, „bringt in Erinnerung“, „bittet um Berücksichtigung“ oder „fordert zu etwas auf“.19 Grundlegende Meinungsverschiedenheiten mit einzelnen Ministern wird der Kanzler nicht fortwährend beilegen, in dem er den Minister vor seinem Kabinett anfährt, demütigt und bloßstellt. Dies mag in Einzelfällen der richtige Weg sein, um dem Kabinett zu zeigen, wer der Herr im Haus ist. Viel effektiver kann es aber sein, einen Minister im Einzelgespräch umzustimmen, seine Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten zu erkennen und zu nutzen, um ihn zu motivieren, die gewünschte Richtlinie zu akzeptieren oder besser noch, gutzuheißen. So kann Richtlinienpolitik schon durch ein persönliches Telefonat, ein Abendessen oder einen Spaziergang mit dem jeweiligen Minister praktiziert werden. Sein übergestelltes Amt spielt dem Kanzler dabei in die Hände. Jeder Minister wird im Sinne seiner Karriere um ein gutes Verhältnis zum „Chef“ bemüht sein, sich geschmeichelt zeigen durch die Einladung zu einem persönlichen Gespräch oder Essen und, vom Kanzler geschickt ins „Vertrauen“ gezogen, eher bereit sein, seine Einstellung zu ändern. Vor allem dann, wenn der Kanzler ihm die Möglichkeit bietet, nach außen (vor der Öffentlichkeit und den Kabinettskollegen) sein Gesicht zu wahren. Die genannten Beispiele zeigen bereits, dass die kleinen Dinge und der persönliche und geschickte Umgang mit den Ministern und Medien von großer Bedeutung für die Durchsetzung von Richtlinien ist.

Enorm wichtig für das Durchsetzen von Richtlinien ist des weiteren das öffentliche Ansehen des Bundeskanzlers. Ein Kanzler, der bei der Bevölkerung unbeliebt ist, schlechte Umfragewerte hat und von den Medien dauerhaft kritisiert wird, also wenig öffentliches Ansehen genießt, hat auch um Kabinett bei der Durchsetzung der Richtlinien Schwierigkeiten. Denn öffentliches Ansehen geht einher mit Autorität. Ein beliebter Kanzler, der von Bevölkerung und Industrie bewundert oder geschätzt wird, wird es einfacher haben, seine Richtlinien durchzusetzen. Ein Kanzler aber, den die Minister wegen seines fehlenden öffentlichen Ansehens schon kurz vor der Abwahl sehen, hat es schwer. Die Minister werden versuchen, sich als Nachfolger zu profilieren, und verhindern wollen, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, ein bedingungsloser Unterstützer des unbeliebten Kanzlers oder seines Kurses zu sein. Mit einem Verlierer wollen „politische Freunde“ oftmals nichts (mehr) zu tun haben. Ein hohes öffentliches Ansehen geht deshalb einher mit erhöhter Macht und Autorität und ist für die Durchsetzung von Richtlinien von hoher Bedeutung. Hinzu kommt die Notwendigkeit des Gespürs für den richtigen Moment, die passende Situation. Es kann sein, dass die Durchsetzung einer Richtlinie nur für einen kurzen Zeitpunkt möglich ist. Verpasst der Kanzler den richtigen Moment, kann es schon zu spät sein. Nehmen wir zur Veranschaulichung das Beispiel der Terroranschläge vom 11. September 2001, die auch die deutsche Bevölkerung geschockt und verunsichert haben. Bundeskanzler Schröder und sein Innenminister Otto Schily haben es geschickt verstanden, die Verunsicherung und Angst der Bevölkerung für die Verschärfung von Gesetzen und Ausweitung von Kompetenzen für Polizei, Verfassungsschutz und Geheimdienst (zusammengefasst in den so genannten Sicherheitspaketen) zu nutzen. Die Verschärfung dieser Gesetze darf man getrost als Richtlinie (Mehr innere Sicherheit) des Kanzlers verstehen, deren Ausführung in dieser Form nur zu diesem Zeitpunkt möglich gewesen ist. Zum einen haben die Sicherheitspakete der Bevölkerung gezeigt, dass die Bundesregierung die Bevölkerung vor Terroristen schützen will, auf der anderen hat die Regierung die Situation genutzt, um Maßnahmen zu treffen und Kompetenzen von Regierungsbehörden in einer Form auszuweiten und sich auf Grund der internationalen Lage die Zustimmung der Opposition zu sichern, wie es in friedlichen Zeiten vor den Terroranschlägen in den USA nicht möglich gewesen wären. Ein Bundeskanzler, der seine Richtlinien erfolgreich umsetzen will, muss deshalb das nötige politische Gespür für die passende Situation haben.

Wie wichtig das öffentliche Ansehen für die Autorität des Kanzlers und damit auch die Richtlinienkompetenz ist, zeigt das Beispiel des ehemaligen SPD-Kanzlers Willy Brandt. Brandt hatte sich mit langen Diskussionen, einem zu schwachen Führungsstil und mangelnder oder zu langsamer Entscheidungsfähigkeit seinen guten Ruf im Kabinett, vor allem aber seine Autorität ein Stück weit verspielt, gerade weil er die von ihm erwartete Ausführung der Richtlinienkompetenz nur ungenügend ausgeführt hatte. Das Bild der Partei in der Öffentlichkeit war schlecht, die Umfrageergebnisse gingen nach unten und Brandts Ansehen schwand zusehends. In einer solchen Situation, in der die eigene Partei dem Kanzler eine erfolgreiche Richtlinienpolitik nicht mehr zutraut, die Macht des Kanzlers also schwindet, versuchen andere, das Steuer zu übernehmen. So spottete SPD-Fraktionschef Herbert Wehner damals in Anlehnung an die Entscheidungsschwäche Brandts: „Der Herr badet gerne lau“.20 Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, wagte sich sogar noch weiter vor und dachte in einem Fernsehinterview laut über die Ablösung Brandts nach: „...eine Regierungsumbildung allein könnte möglicherweise ein Trick sein. Es mußschon ein bißchen tiefer gehen, als ein paar Personen auszuwechseln.“21 Für Brandt war die öffentliche Demontage durch seine Parteikollegen, die wegen mangelnder Autorität, schwindendem Ansehen und schlechter Führung entstand, der Anfang von Ende seiner Kanzlerschaft.

Es zeigt sich also, dass die Persönlichkeit des Kanzlers, sein Ansehen, seine Autorität und auch das Gespür für den richtigen Zeitpunkt wichtig für die effektive Durchsetzung von Richtlinien sind. Die Möglichkeiten, diese Fähigkeiten zusammen mit den gegebenen Hilfsrechten in der Praxis einzusetzen, sind vielfältig.

Auf den folgenden n sollen praktische Beispiele für die Durchführung der Richtlinienkompetenz und für das Bestimmen von Richtlinien aus der Geschichte der Bundesrepublik benannt werden. Es soll dabei kein kompletter Überblick über sämtliche wichtigen Richtlinien der Bundesrepublik gegeben werden, sondern an Hand von Fallbeispielen aufgezeigt werden, auf welch vielfältige Weise Richtlinien ergehen können und die Richtlinienkompetenz, das eine mal weniger wirkungsvoll, das andere mal mehr, umgesetzt werden kann.22

6.1 Regierungserklärung:

„Eine Regierungserklärung ist eine vor dem Bundestag abzugebende Erklärung des Bundeskanzlers nach Art. 65 GG oder eine im Auftrage der Bundesregierung abzugebende Stellungnahme zu den in der Erklärung angesprochenen Fragen oder Tatsachen. Die Regierungserklärungen sind die maßgebliche Formulierung der Richtlinien der Politik, auf die der Bundeskanzler die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag festlegt. Sie werden sorgfältig ausgearbeitet und stellen die erste Antwort des Bundeskanzlers auf die (unausgesprochene) Frage des Bundestags dar, nach welchen Richtlinien die Regierung ihre Politik führen werde.“23

In der Regierungserklärung, die der neu gewählte Bundeskanzler am Anfang seiner Legislaturperiode oder aus aktuellem Anlass vor dem Bundestag hält, werden die Richtlinien der Politik klar benannt. Der Kanzler erklärt, welche Sachfragen in Zukunft Priorität haben und in welche Richtung der Kanzler und die Bundesregierung bezüglich dieser Sachfragen agieren wollen. Alles in allem handelt es sich bei der Regierungserklärung also um eine konkrete Benennung der Richtlinien. So auch im Falle der Regierungserklärung Willy Brandts vom 28.10.1969. „Mehr Demokratie wagen!“ und „eine neue Ostpolitik“ sind die Richtlinien, die der Nachwelt von Willy Brandts Regierungserklärung in stärkster Erinnerung geblieben sind. Die Formulierung Brandts:

„Die Bundesregierung setzt die im Dezember 1966 durch Bundeskanzler Kiesinger und seine Regierung eingeleitete Politik fort und bietet dem Ministerrat der DDR erneut Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen an, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen sollen Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“24 wurde als Richtlinie verstanden, die Verbindungen mit der DDR aufrecht zu erhalten und zu intensivieren, oder wie Brandt es ausdrückte, „das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung“25 zu lösen. Mit der Formulierung von den „zwei Staaten, die in Deutschland existieren“, hatte Brandt eine Richtungsänderung in Form einer neuen Richtlinie eingeschlagen, nach dem die Politik der Großen Koalition unter Kiesinger die Existenz eines zweiten souveränen Staates deutscher Nation nicht anerkennen wollte.

Die Formulierung der Richtlinien in der ersten Regierungserklärung zeigt häufig den Wechsel der Prioritäten und die neue Richtung, in die es unter der neuen Regierung gehen soll, an. Richtlinienverkündungen in Form von Regierungserklärungen können aber auch zu aktuellen Situationen, wie zum Beispiel einer Krisensituation, erfolgen. Sie sind nicht alleine auf den Beginn einer neuen Legislaturperiode beschränkt.

6.2 Schriftliche Richtlinien und Taktieren im Kabinett

Der erste deutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer galt als besonders geschickt und erfolgreich im Umgang mit seiner Richtlinienkompetenz und setzte seine Richtlinien zumeist effektiv im Kabinett durch. Schon die äußere Erscheinung Adenauers strahlte Autorität aus. Mit seinen 1,88 Meter Körpergröße überragte er die meisten seiner Mitmenschen, seine harten Gesichtszüge verbargen jegliche emotionale Regung. Auch seine Ausgangsposition als erster deutscher Bundeskanzler spielte ihm zu: Zu den anfangs für die Deutschen „verbotenen Gebieten“ gehörten die Aus- und Verteidigungspolitik. Da Adenauer also keine entsprechenden Ministerien besetzen konnte, wurde er wichtigster Ansprechpartner der Alliierten auch auf diesen Gebieten. Zudem konnte er, da er die Grundausstattung der Bundesregierung völlig neu besetzen mußte, seine Konkurrenten durch geschickte Postenvergabe neutralisieren, abschieben oder verpflichten.

Adenauer erteilte seine Richtlinien gerne in Form von schriftlichen Erlässen und Anweisungen. Die Schreiben an die Minister begannen, besonders in Konfliktfällen, mit einer betont förmlichen Anrede, waren nur wenige Zeilen lang und enthielten als Inhalt eine Anweisung unter Berufung auf die Richtlinienkompetenz. Genauer gesagt also: eine Richtlinie. So schrieb er Wirtschaftminister Ludwig Erhard einmal: „Eventuell mußmeine Entscheidung eingeholt werden, da ich die Richtlinien der Politik bestimme.“26 Eine schriftliche Richtlinie erging auch an den gerade erst benannten Außenminister von Bretano: „Auf Grund des Artikel 65 des Grundgesetzes ersuche ich Sie, bis auf weiteres alle Gespräche und jede Verlautbarung, die meinen Ihnen bekannten Richtlinien über die Behandlung der Ost- West-Frage widersprechen, zu unterlassen.“27 Das Berufen auf die Richtlinienkompetenz, die Benennung einer Entscheidung oder Anweisung als Richtlinie war im Fall Adenauer erfolgreich. Sie funktionierte, weil Adenauer sein Kabinett mit seiner strengen Führung beherrschte, Diskussionen kaum zuließund keinen Widerspruch duldete. Nicht zuletzt deshalb hat Adenauer den Begriff der Kanzlerdemokratie geprägt. Nach Adenauer haben die Bundeskanzler aber kaum noch schriftliche Richtlinien an ihre Minister geschickt. Das Berufen auf die Richtlinienkompetenz kann bei den Ministern auch als Zeichen von Schwäche gewertet werden: Der Kanzler weißsich anders, zum Beispiel in einer fundierten Diskussion, nicht mehr durchzusetzen (s.o.)

Als Beispiel geschickten Taktierens im Bezug auf die Richtlinien soll hier Adenauers Verhalten in Kabinettssitzungen genannt werden. Im Gegensatz zu Willy Brandt, dessen Entscheidungsschwäche bereits erwähnt wurde, hatte Adenauer meist genaue Vorstellungen, wie ein Problem gehändelt werden solle, die Richtlinie also bereits formuliert. Bei deren Präsentation und Abstimmung im Kabinett agierte er geschickt. Eine seiner Taktiken: Adenauer klärte mit einigen ausgewählten Kabinettsmitglieder besonders strittige Fragen und Themen in Vorgesprächen. Diese Themen rief er dann im Kabinett zur Behandlung auf, obwohl sie nicht auf der Tagesordnung standen. Somit drängte er die nicht im Vorgespräch informierten Minister in die Defensive, vermied die Diskussion und beschleunigte die Beschlußfassung.

Zudem zeigte Adenauer durch Anweisungen (z.B. absolutes Rauchverbot in den Kabinettssitzungen, Bestehen auf der Anrede „Herr Bundeskanzler“) zu jeder Zeit, wer der Chef im Kabinett ist. Wortmeldungen von Ministern, die in einer Sache einer anderen Meinung als Adenauer waren, übersah oder ignorierte der Kanzler oft geschickt , er alleine erteilte den Mitgliedern der Sitzung das Rederecht. Auch diese Taktik nutzte Adenauer bei der Durchsetzung seiner Richtlinien und verlieh ihm die Autorität, die er dazu benötigte. Das Beispiel Adenauer zeigt, wie wichtig Verhandlungsgeschick, Autorität und der persönliche Charakter eines Kanzlers für die Ausübung der Richtlinienkompetenz ist und wie geschicktes Taktieren die gewünschten Ergebnisse erbringen kann.28

6.3 Netzwerke, persönliche Kontakte und Information

Die intensive Nutzung persönlicher Kontakte und Netzwerke zur Ausübung der Richtlinienkompetenz war die Taktik eines anderen Bundeskanzlers. Helmut Kohl, ein Bewunderer Adenauers, baute sich ein riesiges persönliches Netzwerk auf, um seine Richtlinienkompetenz wirkungsvoll zu nutzen und seine Macht zu erhalten. Die Rede ist oft vom „System Kohl“. Es zeichnete sich dadurch aus, dass offizielle Dienstwege für den Kanzler zweitrangig waren. Brauchte Kohl Informationen, rief er die jeweiligen Personen direkt an. So konnte es im Kanzleramt jederzeit passieren, dass nicht beim Abteilungsleiter, sondern beim zuständigen Referenten das Telefon klingelte und der Kanzler am Hörer war, um sich über etwas zu informieren. Diese Handlungsweise war eine wirkungsvolle Art der Kontrolle seines Regierungsapparats und der Vorgänge im Kanzleramt. Kohls stärkste Waffe war das Telefon. Er nutzte es, um sein Netzwerk aufzubauen und zu erhalten. In wichtigen Fragen informierte er sich nicht nur bei einer oder zwei sachkundigen Personen, sondern telefonierte mit mehreren Personen. Dass er dann am Ende stets der einzige war, der den Inhalt aller Gespräche kannte, verschaffte ihm einen Informationsvorsprung, der ihm bei der Durchsetzung seiner Richtlinien zupass kam. Oft besorgte sich Kohl seine Informationen zudem direkt bei der Parteibasis. Die versteckten Informationswege führten dazu, dass kaum einer der Vertrauten in der Lage war, die Entscheidungsfindung genau nachzuvollziehen, zumal Kohl über vertrauliche Telefongespräche oftmals keine Akten erstellte.

Kohls Führungsstil im Kabinett war zumeist strikt. Die Sitzungen waren für ihn nicht der richtige Ort für Streit und endlose Gespräche. Konflikte wurden in Vor- und Einzelgesprächen vorgeklärt und gelöst, dass Kabinett so zum einfachen Beschlußorgan. Von seinen engsten Mitarbeiter verlangte Kohl bedingungslose Loyalität. Dafür genossen sie seine Protektion und Zuwendung. Gegner oder Widersacher strafte Kohl dagegen mit Nichtbeachtung und Beschneidung der Kompetenzen. Dieses System von „Zuckerbrot und Peitsche“ machte seine politischen Regierungskollegen in den meisten Fällen gefügig und war deshalb für die Durchbringung der Richtlinien außerordentlich effektiv. Die weiten Informationsnetze und guten Kontakte zur Parteibasis, die durch Finanzhilfen an die Landesverbände „intensiviert“ wurden, halfen zudem, aufkommenden Unmut oder Putschversuche gegen sich schon im Vornherein zu erkennen und dagegen angehen zu können. Das „System Kohl“ war deshalb auch ein wirkungsvolles Mittel zum Machterhalt.29

6.4 Medienpräsenz, Konsens und Machtworte

In Zeiten des Identitätsverlustes der Parteien kommt es umso mehr „auf die Äußerlichkeiten des Kanzlers an, seine mediale Begabung, auf den Stil, in dem er seine Macht handhabt. Seine Selbstdarstellung ... ist bereits die Botschaft.“30

Kein deutscher Kanzler hat dieses Prinzip so gut begriffen und in die Tat umgesetzt wie der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder. Sein professioneller und spielerischer Umgang mit den Medien hat ihm zumindest eine zeitlang einen starken Partner im Erhalt seiner Macht und bei der Durchsetzung seiner Richtlinien gegeben: die ihm zu Beginn gewogene Medienberichterstattung. Schon gibt es Beispiele dafür, dass Kanzler Schröder einige seiner Richtlinien im Fernsehen und der Zeitung, statt im Kabinett oder Bundestag, verkündet hat. So sprach Schröder schon am Tag der Terroranschläge auf das World Trade Center (11.09.2001) von „uneingeschränkter Solidarität“ zu Amerika. Dieser Begriff war als Richtlinie zu verstehen, wie seine ständige Wiederholung und die Politik der Bundesregierung in den folgenden Wochen und Monaten zeigen sollte. Als der grüne Koalitionspartner in Form von Parteichefin Claudia Roth und dem Parteirat eine Pause der US-Luftangriffe gegen das Taliban Regime in Afghanistan gefordert hatte, verwies der Kanzler auf seine Richtlinienkompetenz und die von ihm erlassene Richtlinie: „Uneingeschränkte Solidarität“, um seine Richtlinie durchzusetzen. Richtlinien ergehen also nicht immer in einer Regierungserklärung, im Kabinett an die Minister oder per schriftliche Anweisung. Schon eine kurze Äußerung im Fernsehen, ein nebenläufiger Satz auf einer Pressekonferenz oder im Gespräch mit Journalisten oder den Ministern, kann eine Richtlinie sein.

Die Richtlinienpolitik Schröders fußt auf zwei Ansätzen: Der Konsenspolitik und den so genannten Machtworten des Kanzlers. Streit zwischen den Ministern, publikumswirksame Sachfragen und Sachverhalte entscheidet Schröder gerne per Machtwort. Machtwort kann in diesem Fall als Synonym für den Begriff Richtlinie angesehen werden: Der Kanzler verkündet also eine Richtlinie, ohne den direkten Begriff zu verwenden.

Als die SPD-regierten Bundesländer im März 2001 verlangten, die Steuer auf vererbte Immobilien anzuheben, stoppte der Kanzler die Pläne im Kabinett mit einem Machtwort: „Wir wollen keine Erhöhung! Basta!“31 Das Beispiel zeigt: Schröders Machtworte sind Richtlinien. Mit ihnen festigt der Kanzler in der Öffentlichkeit sein Bild als Macher, Entscheider und Chef und entscheidet im Kabinett kritische Fragen und Sachverhalte oder schlichtet Konflikte zwischen seinen Ministern. Auch seiner Partei und dem Kabinett zeigt er damit unmissverständlich, wer für die Richtlinienpolitik verantwortlich ist. So verbessern Schröders Machtworte auf der einen sein öffentliches Image und stärken auf der anderen seine Autorität gegenüber dem Kabinett, der eigenen Partei und dem Koalitionspartner.

Schwierige und unangenehme Entscheidungen wälzt Schröder gerne auf von ihm eingesetzte Expertenrunden ab, wie zum Beispiel den Ethikrat, der über den Import von embryonalen Stammzellen beraten sollte. Hinter der Einsetzung solcher Expertenrunden steckt reine Taktik: Sie sollen die Richtlinien des Kanzlers nicht bestimmen, sondern deren Inhalt im Nachhinein rechtfertigen. So war im Fall des Ethikrats klar gewesen, dass Schröder den Import der Stammzellen (Richtlinie) befürwortet, die Entscheidung aber einer gewissen ethischen Brisanz nicht entbehrte. Der Ethikrat wurde von ihm deshalb in seiner Mehrheit mit Befürwortern des Stammzellenimports besetzt und befürwortete wie erwartet nach „eingehenden“ Beratungen den Import. Zwar mußletztlich der Bundestag über Gesetzesvorlagen entscheiden, die vermeintlich wissenschaftlichen Expertentipps geben dem Kanzler aber eine zusätzliche Argumentationsbasis für die Rechtfertigung seiner Richtlinien.32

Auch die Konsensstrategie von Schröder hat sich in vielen Fällen als erfolgreich hinsichtlich der Richtlinien erwiesen. Dabei versammelt der Kanzler alle Beteiligten eines Problems an einem Tisch und versucht, alle in den Lösungsprozess einzubinden. So verhindert er wütende Proteste und erbitterten Widerstand beteiligter Interessengruppen nach der Verkündung der Richtlinien. Im Fall dieser Konsensstrategie rückt der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz bewußt und geschickt in den Hintergrund, scheint zwischen den Beteiligten nur als Moderator der Diskussion aufzutreten, anstelle die Entscheidungen direkt nach eigenem Gusto zu fällen. Mit dieser Strategie, hinter der natürlich Kalkül und die Zielsetzung der Problemlösung im Sinne des Kanzlers und seiner Richtlinie steckt, ist es leichter, beiden n Kompromisse im Sinne einer „vernünftigen“ Lösung abzuverlangen. Zudem wären die Proteste größer, wenn der Kanzler selber durch Berufung auf seine Richtlinienkompetenz diese Kompromisse bestimmen würde. Auch im Gesetzgebungsverfahren, in Fällen, in denen der Kanzler die Zustimmung der Opposition für die „Gesetzwerdung“ seiner Richtlinien braucht, hat sich das Einbinden des „Gegners“ in einigen Fällen als erfolgreich erwiesen.

7. Schlussbemerkung

Die praktischen Beschreibungen im zweiten Teil haben gezeigt: Es gibt keine allgemeingültige und einzige Erscheinungsform einer Richtlinie. Sie kann in Form einer schriftlichen Weisung, mit der Berufung auf den Begriff Richtlinie, in Form eines Machtwortes, einer Äußerung in den Medien, durch einen Telefonanruf oder einen Satz im Vorbeigehen ergehen. Sie ist nur selten mit der Überschrift „Richtlinie“ gekennzeichnet und deshalb nicht immer sofort als solche erkennbar. Dies heißt jedoch nicht, dass ihre Umsetzung gefährdet sein muss: Durch die hohen Kompetenzen, die das Grundgesetz dem Bundeskanzler in der Bundesrepublik verleiht, setzen sich seine Wünsche und Einstellungen oftmals auch ohne das Benutzen des Begriffs „Richtlinie“ durch, eben weil der Kanzler sich, sollte sich jemand gegen die Umsetzung sperren, auf seine Richtlinienkompetenz berufen könnte.

Auch die Art und Weise, wie ein Kanzler seine Richtlinienkompetenz umsetzt und welche Taktik er dabei verfolgt, ist höchst unterschiedlich. Trotz aller gesetzlichen Kompetenzen und Hilfsrechte, die dem Kanzler zur stehen, kommt es bei der Ausführung der Richtlinienkompetenz stark auf die Person des jeweiligen Kanzlers, seinen Charakter, seine Stärken und Schwächen sowie sein Geschick und die Wahl der richtigen Taktik an. Die Beispiele haben gezeigt: Es gibt keinen allgemein gültigen Königsweg für eine erfolgreiche Richtlinienpolitik, die Möglichkeiten sind verschieden: Vom bestimmenden Herrscher bis zum moderierenden Kollegen im Kabinett kann die Bandbreite des Führungsstils eines Bundeskanzlers gehen. Und natürlich hängt der Erfolg der Richtlinienkompetenz auch von äußeren Faktoren wie der politischen Lage im Ausland, dem Koalitionspartner, der Persönlichkeit der Minister, Koalitionsführer und Oppositionsführer ab. Eines hat die Geschichte der Bundeskanzler in Deutschland aber auch gezeigt: Wird die Richtlinienkompetenz eines Kanzlers dauerhaft angezweifelt und mangelt es ihm an Autorität, schwindet die Möglichkeit, die Richtlinien ohne großen Widerstand oder überhaupt in der gewünschten Weise umzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen die umfangreichen Hilfsrechte, die dem Kanzler zur Ausführung seiner Richtlinienkompetenz zur stehen, und die im ersten Teil beschrieben worden sind, sinnvoll zu sein.

Literaturverzeichnis

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Brandt, Willy: Regierungserklärung am 28.10.1969 im Bundestag, Bonn. In: Ferdinand, Horst: Reden, die die Republik bewegten. Freiburg, 1988.

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Hennis, Wilhelm: Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik. Tübingen, 1964.

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Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Tübingen, 1964.

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Koch, Peter: Konrad Adenauer. Eine politische Biographie. Reinbek, 1985.

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Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie. Stuttgart, 1988.

Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 2000.

Volz, Ulrich: Kleine Geschichten aus dem Kanzleramt. Stuttgart, 1990.

[...]


1 Junker, Ernst Ulrich. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 135.

2 Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Tübingen. 1965. 70.

3 Hesselberger, Dieter: Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung. Neuwied. 1991. 237.

4 Busse, Volker: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Heidelberg. 1997. 45.

5 Hennis, Wilhelm: Regieren im modernen Staat. Tübingen. 1999. 116.

6 Vgl- Hennis, Wilhelm: Regieren im modernen Staat. Tübingen. 199. 166 ff..

7 Vlg. Busse, Volker: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. 53 ff..

8 Hennis: Wilhelm: Regieren im modernen Staat. 121.

9 Vgl: Hennis, Wilhelm: Regieren im modernen Staat. 87 ff..

10 Vgl. Busse, Volker: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. 44 ff. und Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 54/55.

11 Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 53/54.

12 Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 54.

13 Hesselberger, Dieter: Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung. 312

14 Vgl. Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 113 ff..

15 Vgl. Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 45-70.

16 Vgl. Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 45-70

17 Vgl. Junker, Ernst Ulrich: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 52.

18 Hoff, Klaus: Kanzler-Courteosie. In: Volz, Ulrich: Geschichten aus dem Kanzleramt. Stuttgart, 1990. n 55-59.

19 Siehe: Hennis, Wilhelm: Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik. 31.

20 Knopp, Guido: Kanzler. Die Mächtigen der Republik. München, 1999. 298.

21 Knopp, Guido: Kanzler: Die Mächtigen der Republik. 298.

22 Vgl. Hennis, Wilhelm: Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik. n 28-40.

23 Hennis, Wilhelm: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. 94.

24 Brandt, Willy: Regierungserklärung am 28.10.1969 im Bundestag, Bonn. In: Ferdinand, Horst: Reden, die die Republik bewegten. Freiburg, 1988. n 345/346.

25 Brandt, Willy: Regierungserklärung am 28.10.1969 im Bundestag, Bonn. In: Ferdinand, Horst: Reden, die die 20 Republik bewegten. n 345.

26 Koch, Peter: Konrad Adenauer. Eine politische Biographie. Reinbek, 1985. 391.

27 Koch, Peter: Konrad Adenauer. Eine politische Biographie. 391.

28 Vgl. Koch, Peter: Konrad Adenauer. Eine politische Biographie. n 383-394.

29 Vgl. Knopp, Guido: Kanzler. Die mächtigen der Republik. 389 ff..

30 Appel, Reinhard: Helmut Kohl im Spiegel seiner Macht. Bonn, 1990. 11.

31 Kleine, Rolf: Kanzler stoppt höhere Erbschaftssteuer. Bild Zeitung. 29.03.2001. 1.

32 Bolz, Norbert: Es geht auch anders. Ethik als Versteck und die Grenzen der Politikberatung. Frankfurter Rundschau. 29.05.2001. 19.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Hauptseminnar
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
27
Katalognummer
V106923
ISBN (eBook)
9783640051984
Dateigröße
474 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Viel Spaß beim Lesen!
Schlagworte
Richtlinienkompetenz, Bundeskanzlers, Hauptseminnar
Arbeit zitieren
Matthias Deiß (Autor:in), 2001, Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106923

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