Die lateinamerikanischen Präsidialsysteme. Merkmale und Probleme


Hausarbeit, 1998

15 Seiten


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Merkmale der lateinamerikanischen Präsidialsysteme
2.1. Die verfassungsgemäßen Befugnisse des Präsidenten
2.1.1 Das Vetorecht
2.1.2. Dekretrechte
2.1.3. Gesetzesinitiativrecht
2.1.4. Recht zur Ernennung von Ministern, Offizieren und Richtern
2.2. Mehrheitsanforderungen bei der Präsidentschaftswahl
2.3. Das Prinzip der no re-elección
2.4. Das Parlament in den lateinamerikanischen Präsidialsystemen

3. Probleme der lateinamerikanischen Präsidialsysteme

4. Ansätze zur Lösung der Probleme

5. Literatur

1. Einleitung

Lateinamerika istdieRegion der Präsidialdemokratien. Mit Ausnahme von Kuba finden sich in allen 18 Ländern Lateinamerikas1präsidentielle Regierungssysteme und auch in der Vergangenheit konnte der Parlamentarismus in dieser Region nie Fuß fassen. In dieser Arbeit sollen nun die Präsidialsysteme Lateinamerikas in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit vorgestellt werden. Diese Systeme sind oft in Kritik geraten, denn in der Vergangenheit sind die Demokratien Lateinamerikas immer wieder zusammengebrochen und wurden durch autoritäre Staatsformen abgelöst. Als Erklärungsmuster für die Instabilität und das Scheitern der Demokratie in Lateinamerika gibt es drei Richtungen: die soziokulturelle, die sozioökonomische und die politisch- institutionelle2. Auf die politisch-institutionelle Richtung, die hauptsächlich aus einer Kritik des Präsidentialismus und einem Plädoyer für den Parlamentarismus besteht, soll im zweiten Teil dieser Arbeit eingegangen werden. Ich möchte aber nicht auf den Parlamentarismus als Alternative zu den bestehenden Systemen eingehen, sondern die Probleme und Schwachstellen der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien aufzeigen und Lösungsansätze diskutieren, die das System Präsidentialismus beibehalten.

2. Merkmale der lateinamerikanischen Präsidialsysteme

Die Präsidialsysteme Lateinamerikas - das sind 18 Präsidialdemokratien, die freilich nicht überall identisch sind. Teilweise gibt es erhebliche Unterschiede. Allerdings gibt es einige Charakteristika, die allen Systemen mehr oder weniger eigen sind, und die die lateinamerikanischen Präsidialdemokratien von der US-amerikanischen zum Teil unterscheiden. Diese sollen im folgenden näher dargestellt werden.

2.1. Die verfassungsgemäßen Befugnisse des Präsidenten

Die siegreichen Armeen der neuen lateinamerikanischen Republiken sahen die Notwendigkeit für eine starke Exekutive, um die unterschiedlich zusammengesetzte Bevölkerung in den neuen Republiken zu vereinigen. Dennoch wollten sie die Macht des neuen Präsidenten begrenzen. Sie übernahmen das amerikanische System der checks and balances. Jedoch wurde die Macht des Präsidenten im Gegensatz zur amerikanischen Verfassung gestärkt. In späteren Verfassungsänderungen war hingegen oft das Bestreben zu erkennen, die Macht des Präsidenten wieder zu beschränken, um den oft betriebenen Mißbrauch zu verhindern.

Die verfassungsgemäßen Kompetenzen des Präsidenten sind ausschlaggebend für seine Stärke. Unter Stärke wird hier die Fähigkeit des Präsidenten, der Politik seinen Stempel aufzudrücken und sein politisches Programm zu verwirklichen, verstanden. Nur weitreichende verfassungsmäßige Kompetenzen ermöglichen einen starken Präsidenten unabhängig von der Stärke und Disziplin seiner Partei im Parlament. Die in der Verfassung festgelegten Kompetenzen der Präsidenten sind im Vergleich zu den USA oftmals weitreichender, was die legislativen Kompetenzen sowie die umfassenderen personalpolitischen Vollmachen in Administration und Justiz betrifft. Diese Kompetenzen, die die lateinamerikanischen Präsidenten neben der Entscheidung über die Außenpolitik und dem Oberbefehl über die Armee haben, sollen in den nächsten Abschnitten näher beleuchtet werden.

2.1.1. Das Vetorecht

Vetorecht bedeutet, daß kein vom Parlament beschlossenes Gesetz ohne die Zustimmung des Präsidenten zu Recht werden kann. Die Gesetze, die vom Parlament verabschiedet wurden, werden dem Präsidenten vorgelegt, der sie entweder unterschreibt, oder in Form eines Vetos seinen Einspruch dagegen erhebt. Das Veto ist ein „reactive legislative power“1, das heißt, der Präsident kann damit nur das Parlament blockieren und den Status quo erhalten, er kann aber nicht eine weitergehende Veränderung damit erreichen.

Das Veto des Präsidenten kann vom Parlament überstimmt werden. Die Mehrheiten, die dazu nötig sind, variieren von der einfachen Mehrheit in Venezuela und Peru, über die absolute Mehrheit, die in Brasilien, Kolumbien, Nicaragua, Paraguay und Uruguay nötig ist, bis hin zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit, wie wir sie in den USA und in den meisten (10) lateinamerikanischen Ländern finden. Eine Ausnahme bildet Ecuador. Wenn der Präsident dort ein generelles Veto gegen ein Gesetz einlegt, kann sich der Kongreß erst ein Jahr später wieder mit dem Gesetz befassen. Der Kongreß kann den Präsidenten aber um ein Plebiszit über das fragliche Gesetz ersuchen.1In den meisten lateinamerikanischen Staaten hat der Präsident also ein sehr starkes Veto, wobei man berücksichtigen muß, daß schon die Forderung nach einer absoluten Mehrheit zur Überstimmung des Vetos in einigen Staaten ein starkes Veto darstellt, da die Zahl der anwesenden Abgeordneten meist sehr gering ist (z.B. in Brasilien) und sich die absolute Mehrheit (50% plus eine Stimme) auf die Zahl der Anwesenden bezieht.

Neben dem generellen Veto haben alle lateinamerikanischen Präsidenten (außer die in Costa Rica, Guatemala und Honduras), im Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten, auch ein partielles Veto.2Dies verleiht ihnen besondere Macht: Sie sind nicht mit dem Problem konfrontiert, daß sie einzelne, ihnen nicht genehme Gesetzesbestimmungen tolerieren müssen, wenn sie kein generelles Veto gegen ein Gesetz einlegen wollen. In Venezuela und in Uruguay kann das Parlament dieses partielle Veto jedoch mit einfacher Mehrheit überstimmen.

2.1.2. Dekretrechte

Durch Dekretrechte kann ein Präsident als legislativer Konkurrent des Parlaments auftreten. Das Ausmaß der Dekretvollmachten variiert von Land zu Land ganz erheblich. In neun Staaten sind in der Verfassung keinerlei Dekretrechte vorgesehen. In den Staaten, wo es Dekretvollmachten für den Präsidenten gibt, sind diese oft erheblich eingeschränkt. Sei es durch Dekretdelegation durch das Parlament oder Zustimmungspflicht des Parlaments innerhalb einer bestimmten Frist. Dekretdelegation bedeutet, daß der Präsident nur Dekretrecht hat, wenn ihm dieses vom Parlament verliehen wurde. Dies ist zum Beispiel in Chile und Venezuela der Fall. In vielen Ländern muß der Präsident beim Erlaß von Dekreten innerhalb eines kurzen Zeitraumes um die explizite Zustimmung des Parlaments nachsuchen, so zum Beispiel in Brasilien und Argentinien. Oft ist die Dekretvollmacht auch nur auf bestimmte Politikgebiete begrenzt. So darf zum Beispiel der Präsident in Peru nur Dekrete in Wirtschafts- und Steuerfragen erlassen. Die größte Dekretvollmacht hat der kolumbianische Präsident: Dort kann das Parlament die im Notstandsfall erlassenen Dekrete erst im nächsten Jahr ändern beziehungsweise ablehnen. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die meisten lateinamerikanischen Verfassungen dem Präsidenten und den Kabinettsmitgliedern erlauben, neue Verordnungen zu erlassen, die bestehende Gesetze implementieren. Aber nur sehr wenige Verfassungen erlauben dem Präsidenten, neue Gesetze zu erlassen, ohne daß er davor vom Parlament dazu aufgefordert wurde und ohne daß das Parlament im Nachhinein ein gewisses Mitspracherecht hat.

Auch wenn ein Dekret vom Parlament aufgehoben werden kann, kann der Präsident durch dieses Recht eine wichtige Rolle in der Gesetzgebung spielen, denn im Gegensatz zu einem vom Parlament erlassenen Gesetz, ist ein Dekret sofort Recht, bevor andere Instanzen überhaupt die Möglichkeit haben, zu reagieren. Zudem kann der Präsident das Parlament mit einer Flut von Dekreten überschütten, was es schwierig für das Parlament macht, Maßnahmen zu treffen, bevor das Dekret irreversibel als Recht in Kraft tritt. Außerdem kann der Präsident seine Dekretvollmachten strategisch nützen, um Themen auf die Agenda zu bringen, die der Kongreß nicht von alleine aufgegriffen hätte.

Was die Dekrete betrifft, entspricht die Verfassungspraxis dem Verfassungsrecht häufig nicht. So sind zum Beispiel mißbräuchliche Praktiken in Ecuador und Peru sowie in Brasilien bekannt. Warum das so ist, darauf werde ich in Kapitel 3 zu sprechen kommen. Ähnlich der Dekretvollmacht ist die Möglichkeit des Präsidenten, Gesetzesentwürfe zum Referendum zu stellen. So könnte er mit Hilfe der Bevölkerung das Parlament umgehen. Diese Möglichkeit besteht zum Beispiel in Ecuador.1

Die Möglichkeit, mit Hilfe von Notstandsrechten das Parlament zu umgehen, sind in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder sehr begrenzt. In acht der 18 Staaten kann der Präsident nur mit Zustimmung des Parlaments den Notstand ausrufen, beziehungsweise hat das Parlament das alleinige Recht zur Notstandsverkündung. Sehr ausgeprägt ist das Notstandsrecht des Präsidenten in Peru, Kolumbien und in Chile.

2.1.3. Gesetzesinitiativrecht

Neben dem Veto- und dem Dekretrecht haben einige lateinamerikanische Präsidenten auch 6 das Recht, in einigen Politikbereichen exklusiv Gesetzesinitiativen zu machen. So kann ein Präsident verhindern, indem er keine Gesetzesinitiativen macht, daß in bestimmten Politikbereichen der Status quo verändert wird. In Peru zum Beispiel kann nur der Präsident die Steuern ändern und in Uruguay darf nur der Präsident Gesetze initiieren, wenn es um die Festsetzung von Mindestlöhnen und -preisen oder die Erhöhung der maximalen Preise geht.

2.1.4. Recht der Ernennung von Ministern, Offizieren und Richtern

Es herrscht ein weitverbreitetes Klischee, daß die lateinamerikanischen Präsidenten die rechtliche Möglichkeit besäßen, sich eine ihnen ergebenen Judikative zu schaffen. Dies ist aber nur in zwei Ländern uneingeschränkt wahr: In Panama und in Mexiko wählt der Präsident die Richter aus und benötigt zu ihrer Ernennung lediglich die Zustimmung der einfachen Mehrheit des Parlamentes. In sechs Ländern hingegen bestimmt das Parlament die obersten Richter in eigener Regie. In den anderen Ländern trifft das Parlament eine Auswahl zwischen eigenen und den Vorschlägen des Präsidenten (Nicaragua), hat der Senat das Auswahlrecht, bedarf aber der Zustimmung des Präsidenten (Paraguay), ernennt der Präsident die Richter mit Zustimmung des Senats (Argentinien) oder der Präsident wählt die Richter aus einer Vorschlagsliste des Obersten Gerichtshofs aus (Chile) oder ein Justizrat ernennt die Richter (Peru).

Die Ernennung der hohen Offiziere ist jedoch ein Privileg des Präsidenten. In den meisten, d.h. in elf Ländern bedarf er hierbei noch nicht einmal der Zustimmung des Parlamentes. Auch die Ernennung der Minister ist alleiniges Privileg des Präsidenten. In Costa Rica ernennt der Präsident sogar die Gouverneure der Provinzen.

2.2. Mehrheitsanforderungen bei der Präsidentschaftswahl

In Lateinamerika wird, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten1, der Präsident direkt vom Volk gewählt. In den meisten lateinamerikanischen Ländern wird die absolute, zumindest aber eine qualifizierte Mehrheit zum Sieg der Präsidentschaftswahl gefordert. Nur sieben Länder, die Dominikanische Republik, Honduras, Mexiko, Panama, Paraguay, Uruguay und Venezuela geben sich mit der relativen Mehrheit zufrieden. Wird die geforderte Mehrheit nicht erreicht, dann entscheidet eine Stichwahl zwischen den zwei Bewerbern, die am besten abgeschnitten haben. Nur in Bolivien entscheidet in diesem Fall das Parlament2. Begründet wird die Forderung nach einer absoluten Mehrheit mit dem Anspruch, auf diese Weise die Repräsentation der ganzen Nation zu gewährleisten. Dies ist allerdings umstritten, denn die Mehrheit, die die Stichwahl hervorbringt, ist eine eher künstlich durch die Regeln des Verfahrens geschaffene Mehrheit, als Ausdruck echten Wählerwillens. Theoretisch sollte die Mehrheit in der zweiten Runde durch die Unterstützung der unterlegenen Parteien erreicht werden, um eine regierungsfähige Mehrheitskoalition zu schaffen. In der Praxis sieht es aber so aus, daß die Mehrheit eher zufällig, ohne formelle Vereinbarungen, erzielt wird.3 Es gibt auch die Meinung, daß eine zweite Runde bei Nichterreichen der absoluten Mehrheit dazu führt, daß mehrere Kandidaten dazu ermutigt werden, anzutreten, was eine Zersplitterung des Parteiensystems begünstigt4, auf deren negative Folgen ich später zu sprechen komme.

2.3. Das Prinzip der no re-elección

Unter dem Verbot der re-elección versteht man das Verbot der zumindest unmittelbaren Wiederwahl des Präsidenten. Dies gilt in Lateinamerika traditionell als demokratisches Prinzip. Es wurde von der mexikanischen Revolution gegen Porfirio Diaz durchgesetzt, der mit Hilfe der Wiederwahlmöglichkeit eine jahrzehntelange Diktatur errichten konnte. Das Prinzip der no re-elección beschränkt den Präsidenten zwar nicht während seiner Amtszeit, es stellt aber eine Begrenzung des Präsidenten dar, was die Zeit betrifft, in der er regieren kann. In einigen Ländern ist die Wiederwahl nach einer, z.B. in Bolivien, Chile, El Salvador, Nicaragua und Uruguay, in anderen, Panama und Venezuela, nach Ablauf von zwei Legislaturperioden, möglich. Eine unmittelbare Wiederwahl ist nur in Argentinien, Brasilien, in der Dominikanischen Republik und in Peru möglich.5 In den restlichen sieben Ländern ist keine Wiederwahl erlaubt. Dieses Prinzip stellt eigentlich eine Verletzung wahrer Demokratie dar, die voraussetzt, daß der Wähler wählen kann, wen auch immer er will, ist aber dennoch weit verbreitet in Lateinamerika und wird als geeignet angesehen, die Macht des Präsidenten zu begrenzen.1Es soll verhindert werden, daß der Präsident die Wahlen manipuliert oder daß er eine parteipolitische Personalpolitik betreibt. Das Prinzip der no re-elección schwächt aber den Anreiz für den Präsidenten, den Wählern gegenüber verantwortlich zu bleiben und darauf einzugehen, was sie wünschen.

2.4. Das Parlament in den lateinamerikanischen Präsidialdemokratien

In den meisten lateinamerikanischen Staaten existieren zwei Parlamentskammern (Abgeordnetenhaus und Senat). Nur sechs Staaten haben ein Einkammerparlament. Es sind dies Costa Rica, Ecuador, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Peru.

Die Parlamente werden überwiegend mit dem Verhältniswahlrecht gewählt, nur in Chile gibt es ein Mehrheitswahlrecht und in Mexiko und Panama dominiert das Mehrheitswahlrecht. Das Verhältniswahlrecht hat den Vorteil, daß es die verschiedenen sozialen Gruppen und Interessen am besten repräsentiert. Wenn dazu die erforderliche Quote für einen Einzug ins Parlament für eine Partei so niedrig wie möglich ist, spiegelt das Parlament das Gleichgewicht der sozialen, kulturellen und ideologischen Interessen einer Gesellschaft am besten wieder. Wo es tiefe soziale Spaltungen in einer Gesellschaft gibt würde die Abkehr vom Verhältniswahlrecht zu einer Entfremdung der Politik von der Gesellschaft führen und Gewalt und Aufstände könnten die demokratische Stabilität gefährden.

Dieses System ist zwar sehr repräsentativ, aber schlecht für die Regierbarkeit, denn es führt dazu, daß sehr viele Parteien im Parlament sind, was Regierungsmehrheiten erschwert. Ein Mehrheitswahlrecht begünstigt jedoch Zwei-Parteien-Systeme, die eine bessere Basis für eine stabile Präsidialdemokratie darstellen als Mehrparteiensysteme.2Die drei Hauptfunktionen der Parlamente in den lateinamerikanischen Präsidialdemokratien ist die Einschränkung und Kontrolle der Macht der Exekutive, die Mitwirkung an der Politikgestaltung bzw. die „Mitregierung“ und die Repräsentation.3

Präsidenten Fujimori erlaubt, was eine dritte Amtszeit ermöglichen würde. Die Rechtmäßigkeit dieser Regelung ist jedoch juristisch umstritten.

Drei Bereiche sind wichtig, damit diese Funktionen gewährleistet werden können:

Wahlrechte, legislative Kompetenzen und Kritik- und Kontrollkompetenzen. Auf die ersten Zwei soll hier nicht näher eingegangen werden, denn sie wurden im Kapitel über die Kompetenzen des Präsidenten schon mitbehandelt. Was die Kritik- und Kontrollkompetenzen betrifft, sind diese teilweise sehr weitreichend, verglichen mit dem idealtypischen Präsidentialismus und dem Präsidialsystem der Vereinigten Staaten. So können in einigen lateinamerikanischen Ländern die Minister vom Parlament formell zensiert oder gar entlassen werden. Eine Zensur mit einfacher Mehrheit ist nur in Venezuela möglich, aber in neun Ländern können Minister mit qualifizierter Mehrheit zensiert werden. In keinem Land kann die Absetzung des Ministers mit einfacher Mehrheit durchgesetzt werden, aber in sechs Ländern, Kolumbien, Ecuador, Guatemala, Paraguay, Uruguay und Venezuela, ist dies mit qualifizierter Mehrheit möglich.

Der Präsident kann nicht abgewählt werden, die einzige Möglichkeit ihn abzusetzen ist das impeachment-Verfahren, das greift, wenn sich der Präsident schwere kriminelle oder verfassungsfeindliche Verfehlungen zu Schulden hat kommen lassen.1

Eine Auflösung des Parlaments ist generell nicht möglich. Ausnahmen bilden nur Peru und Uruguay. In Peru kann der Präsident das Parlament auflösen, wenn es zweimal Kabinettsmitglieder zensiert hat und der Präsident trotzdem an ihnen festhält und auch in Uruguay kann das Parlament nach einer Zensur aufgelöst werden, jedoch nur, wenn weniger als drei Fünftel aller Parlamentarier am Absetzungsbeschluß festhalten und der Präsident sich dagegen widersetzt.2

3. Probleme der lateinamerikanischen Präsidialsysteme

Trotz ihrer umfassend erscheinenden Macht sind die lateinamerikanischen Präsidenten keineswegs allmächtig, im Gegenteil, sie haben oft erhebliche Probleme, ihr politisches Programm durchzusetzen. Und zwar besonders dann, wenn der Präsident keine Mehrheit oder wenigstens annähernde Mehrheit im Parlament hat, was in Lateinamerika oft der Fall ist.3„The fundamental weakness of presidential government is the frequent failure of presidents to secure cooperative legislative majorities“ bringt es Valenzuela treffend auf den Punkt.1 Die Gründe dafür liegen vor allem im Wahlsystem, sowohl was die Präsidentschaftswahl betrifft, als auch was die Wahlen der Parlamente angeht.2Bei der Präsidentschaftswahl wirkt sich das System der „ballotage“ nach französischem Vorbild nachteilig aus, denn es führt dazu, daß sich mehrere Parteien dazu ermutigt fühlen, zur Präsidentschaftswahl anzutreten, denn sie können darauf hoffen, daß sie in der zweiten Runde gewinnen. Zudem besteht keine Notwendigkeit für die Parteien, sich vor der Wahl zu gewinnträchtigen Koalitionen zusammenzuschließen, was nötig wäre, wenn es nur eine Runde gäbe. Dies alles erschwert natürlich die Koalitionsbildung nach der Wahl, für den Fall, daß der Präsident keine Mehrheit im Parlament hat. Da die Parlamente oft zum gleichen Zeitpunkt gewählt werden, zu dem die erste Runde der Präsidentschaftswahl stattfindet, kann es dazu kommen, daß der Präsident nur eine sehr schwache Unterstützung im Parlament hat, obwohl der in der zweiten Runde eine große Mehrheit erlangte.

Zu dem Problem der Minderheitenpräsidenten trägt auch das Phänomen der aus dem Nichts kommenden Präsidenten bei. Darunter werden Präsidenten verstanden, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und Selbstinszenierung gewählt werden, aber keinen nennenswerten Parteienhintergrund und oft nur geringe politische Erfahrung haben. Diese verdanken ihre Erfolge vor allem der enormen Reichweite des Fernsehens und der Mediatisierung der Politik.

Wie schon erwähnt, werden die meisten Parlamente Lateinamerikas nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, welches Mehrparteiensysteme begünstigt. Viele Politologen sind jedoch der Ansicht, daß die Kombination Präsidentialismus und Mehrparteiensystem keine solide Basis für eine langlebige, stabile Demokratie ist.3Die Statistik gibt ihnen Recht: Chile ist das einzige präsidentialistische Land, das ein Mehrparteiensystem hat und über 25 Jahre lang eine stabile Demokratie hatte. Die anderen Beispiele für stabile präsidentielle Demokratien kommen alle aus Ländern, die die meiste Zeit ein Zwei- Parteien-System oder wenigstens ein Zwei-Block-System hatten, wie Costa Rica, Venezuela, Kolumbien, Uruguay vor 1973, die USA und Frankreichs Fünfte Republik.

Fehlende Mehrheiten im Parlament führen oft dazu, daß sich die beiden Gewalten, Exekutive und Legislative, gegenseitig blockieren und so eine effektive Regierung unmöglich gemacht wird. Gravierend kann dies sein, wenn dringende soziale und wirtschaft- liche Probleme da sind, die gelöst werden müssen, dem Präsidenten aber wegen fehlender Unterstützung im Parlament die Hände gebunden sind. Der Präsident hat in dieser Situation mehrere Möglichkeiten, aus der Sackgasse herauszukommen. Entweder umgeht er den Kongreß mittels Dekreten, was aber eine Unterhöhlung der Demokratie darstellt, oder er strebt eine Verfassungsreform an, um seine Macht zu erweitern. Eine weitere Möglichkeit wäre natürlich auch, zu versuchen, eine Koalition zu bilden, was in präsidentiellen Mehrparteiensystemen aber wesentlich schwieriger ist als in parlamentarischen Systemen. Das liegt daran, daß es für die Oppositionsparteien oft keinen großen Sinn macht, den Präsidenten zu unterstützen. Die Unterstützung eines beliebten Präsidenten würde dessen Beliebtheit nur noch steigern, aber kaum die Wählergunst seiner Verbündeten im Kongreß steigern. Und einen unpopulären Präsidenten zu unterstützen macht insofern keinen Sinn, als die Oppositionsparteien den größten Gewinn für sich daraus ziehen, wenn sie sich vom Amtsinhaber distanzieren, um nach seiner Amtszeit mit ihren Führern an die Macht zu kommen.

Da die Präsidenten in den meisten Ländern nicht die Möglichkeit zur Wiederwahl haben, kann sich selbst ein Präsident, der eine Mehrheit besitzt, nicht auf seine Fraktion verlassen, denn Teile davon versuchen, ihre Chancen bei der nächsten Wahl zu verbessern, indem sie zum Beispiel unpopuläre Entscheidungen des Präsidenten nicht mittragen. Oft sitzen die schärfsten innerparteilichen Gegner des Präsidenten im Kongreß, wohingegen seine engsten Verbündeten im Kabinett sitzen.

Oft führt die Blockadepolitik des Parlaments auch dazu, daß der Präsident neue Behörden gründet und die Politik damit durch die staatliche Bürokratie und nicht durch den Kongreß gemacht wird. Dies führt zu einer gefährlichen Aufblähung und Expansion des Staatsapparates, was sich natürlich auch auf den Staatshaushalt negativ auswirkt. Eine letzte Möglichkeit liegt im Erkaufen der politischer Unterstützung einzelner Politiker aus Oppositionsparteien. Dies ist natürlich nur möglich, wenn die Parteien eher lose zusammengesetzt sind.

Es wird deutlich, daß es kein Wunder ist, daß die Präsidenten die Legislative oft zu umgehen versuchen und die Judikative schwächen, und versuchen, ihre Macht auch gegen die Verfassung auszuweiten, denn sie können ihre Politik oft nicht umsetzen und sind damit oft zu schwach und unfähig, die anstehenden Probleme zu lösen.

Eine weitere schwerwiegende Folge der Handlungsunfähigkeit der Regierung ist, daß sie in Lateinamerika oft zum Zusammenbruch der Demokratie geführt hat. Wenn ein Präsident unfähig ist, die anstehenden Probleme zu lösen, sei es daß er inkompetent oder krank ist oder daß im die Hände wegen fehlender Mehrheit gebunden sind, dann kann auch kein anderer Akteur innerhalb der demokratischen Spielregeln die Probleme lösen. Die einzige Möglichkeit scheint dann ein Staatsstreich zu sein, oft von Seiten des Militärs, das sich für die nationale Lage verantwortlich fühlt. Das Problem wird noch durch die absolut starr festgelegte Amtszeit verschärft, denn es besteht keine andere Möglichkeit als ein Staatsstreich, den Präsidenten loszuwerden und der Präsident kann auch nicht das Parlament auflösen und neue Wahlen ausschreiben, um damit vielleicht eine Mehrheit zu erlangen.

Ein weiteres Problem, das sich aus der starren Amtszeit und dem Verbot der no re-elección ergibt, ist, daß die Präsidenten nur eine kurze Zeit haben, ihre Ziele zu verwirklichen, was zu einer schlechtausgearbeiteten Politik und zu schneller Implementation führen kann. Auch mangelnde Kontinuität und wenig langfristige Politik werden dadurch begünstigt. Aber gerade die sind zur Entwicklung von unterentwickelten Ländern dringend notwendig.

4. Ansätze zur Lösung der Probleme

Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, ob Parlamentarismus das bessere Regierungssystem für Lateinamerika wäre, denn dies ist nur eine theoretische Debatte und nach dem Referendum über diese Frage in Brasilien 1993 ist es klar, daß Präsidentialismus auf absehbare Zeit das Regierungssystem Lateinamerikas bleiben wird. Die Frage ist vielmehr, wie man die Präsidentialdemokratien so reformieren könnte, daß sie besser funktionieren. Dabei ergeben sich aus den dargestellten Problemen drei Ansatzpunkte: Präsidentialismus funktioniert am besten, wenn wir ein Zwei-Parteien- System haben und wenn die Parteien diszipliniert sind, was beides eine Mehrheit für den Präsidenten im Parlament wahrscheinlicher macht, und wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, die Macht des Präsidenten beschränkt ist, um Mißbrauch und eine Unterhöhlung der Demokratie zu verhindern. Valenzuela bringt folgende Vorschläge für Reformen1: Die Parlamentswahlen sollten zum gleichen Zeitpunkt stattfinden, wie die Präsidentschafts- wahlen. Dies würde dazu führen, daß die Präsidenten eine größere parlamentarische Unterstützung bekommen würden. Dies löst jedoch nicht das Problem von Minderheitenpräsidenten in Mehrparteiensystemen. Sinnvoll wäre auch das Modell, das in Bolivien praktiziert wird, nämlich daß das Parlament den Präsidenten aus den zwei Kandidaten, die am besten abschneiden, wählt. Eine Möglichkeit, Krisensituationen besser zu meistern, wäre natürlich auch, wenn der Präsident das Recht bekommen würde, das Parlament einmal während seiner Amtszeit auflösen zu können. Es ist natürlich nicht sicher, daß er dann eine Mehrheit bekommen würde, aber es wäre zumindest ein Versuch.

Ein weitergehender Reformvorschlag zielt darauf ab, parlamentarische Praxis einzuführen und trotzdem den Präsidentialismus beizubehalten, wie das in der französischen Fünften Republik der Fall ist, wo ein vom Volk gewählter Präsident viel Macht besitzt, aber zusammen mit einem Premierminister regiert, der vom Parlament ernannt wird. Aber auch diese Maßnahme löst nicht das Problem von Minderheitsregierungen in Mehrparteien- systemen. Deshalb spielt die Reform des Wahlrechts für die Wahlen der Legislative, hin zu einem Mehrheitswahlrecht, eine entscheidende Rolle1. In einigen Ländern wurden auch schon Schritte in diese Richtung unternommen, so führte zum Beispiel Bolivien und Venezuela, die zuvor ein Verhältniswahlrecht hatten, ein System ein, das dem Deutschen entspricht, das Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht miteinander kombiniert.

Es gibt in Lateinamerika ja einige Länder, die seit Jahren eine stabile Demokratie haben und in denen die hier genannten Reformen zum Teil schon Wirklichkeit sind. Dies läßt darauf hoffen, daß das System Präsidentialismus in Lateinamerika eine Zukunft hat, die von Stabilität und demokratischer Konsolidierung geprägt ist.

Literatur:

Diamond, Larry: Three Paradoxes of Democracy, in: Diamond, Larry/Plattner, Marc F.(Hrsg.): The Global Resurgence of Democracy, Baltimore, London 1993

Kantor, Harry: Efforts made by various Latin American countries to limit the power of the president, in: Lijphart, Arend (Hrsg.): Parliamentary versus Presidential government, Oxford 1992

Krumwiede, Heinrich-W.: Die Parlamente in den Präsidialdemokratien Lateinamerikas. Ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen, in: Bodemer, Klaus et al. (Hrsg.): Lateinamerika Jahrbuch 1997, Frankfurt 1997

Mainwaring, Scott: Presidentialism in Latin America, in: Lijphart, Arend (Hrsg.): Parliamentary versus Presidential government, Oxford 1992 ders./Soberg Shugart, Matthew (Hrsg.): Presidentialism and Democracy in Latin America, Cambridge, 1997

Nino, Carlos Santiago: Ideas and attempts at reforming the presidentialist system of government in Latin America, in: Lijphart, Arend (Hrsg.): Parliamentary versus Presidential government, Oxford 1992

Nohlen, Dieter: Demokratie in Lateinamerika zwischen historischer Instabilität und

Konsolidierungsperspektive, in: Krakau, Knut (Hrsg.): Lateinamerika und Nordamerika, Frankfurt 1992

Jones, Marc P.: Electoral Laws and the survival of presidential democracies, Notre Dame, London 1995

Thibaut, Bernhard: Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Opladen 1996

Valenzuela, Arturo: Latin America: Presidentialism in crisis, in: The Journal of Democracy, Vol. 4, No. 4, Oktober 1993

[...]


1In dieser Arbeit sollen nur die spanischsprachigen Länder in Süd- und Mittelamerika sowie Brasilien berücksichtigt werden.

2vgl. Nohlen 1992, S. 144

1vgl. Mainwaring/Shugart 1997, S. 42

1Die Angaben beziehen sich auf die Verfassungen, wie sie Ende 1994 gültig waren. Quelle: Mainwaring/Shugart 1997, Appendix S.440ff. Bei Krumwiede 1997, S. 96 finden sich andere Angaben. Nach den dortigen Angaben ist in 10 Staaten die absolute Mehrheit und in 6 Staaten die Zwei-Drittel-Mehrheit nötig.

2Dieses partielle Veto ist jedoch nicht in allen Verfassungen klar festgeschrieben, sondern oft Interpretationssache. In der Praxis werden die Verfassungen aber so interpretiert (auch gerichtlich), daß es erlaubt ist.

1In Argentinien kann nur der Kongreß, nicht aber der Präsident, ein bindendes Plebiszit über einen Gesetzesentwurf verlangen. Hier könnte damit das Parlament den Präsidenten ausspielen.

1Dort wird der Präsident durch ein Wahlmännerkollegium gewählt.

2Vor 1994 konnte das Parlament zwischen den drei Bestplazierten entscheiden. Die gleiche Regelung (Wahl zwischen den zwei Besten) gab es in Chile vor 1973.

3Dies war der Fall in Peru und Brasilien, wo die Präsidentschaftskandidaten keine Notwendigung darin

sahen, eine formelle Koalition mit den Unterstützern der anderen Kandidaten zu schaffen, da ihre

Herausforderer in der zweiten Runde für große Wählerschichten so inakzeptabel waren, daß die Wähler nach dem Motto „das kleinere Übel“ für sie stimmten.

4vgl. Mainwaring 1992, S. 116 und Valenzuela 1993, S. 7 f.

5In Argentinien, Brasilien und Peru ist die einmalige unmittelbare Wiederwahl und erneute Wiederwahl nach Ablauf einer Legislaturperiode erlaubt. In der Dominikanischen Republik wurde die Wiederwahlmöglichkeit 1996 außer Kraft gesetzt und in Peru ist seit neuestem die nochmalige Wahl des

1vgl. Kantor 1992, S. 102

2vgl. Mainwaring 1992. S. 113f.

3vgl. Krumwiede 1997, S. 92

1Eine Amtsenthebung gab es zum Beispiel in Venezuela 1993, Carlos Andrés Pérez, und in Brasilien 1992, Fernando Collor de Mello.

2Das kam allerdings noch nie vor. Hier nicht berücksichtigt werden die Fälle, wo Parlamente entgegen der Verfassung aufgelöst wurden, wie z.B. in Peru 1992, denn dies sind autogolpes, die nicht verfassungskonform sind.

3Nur 6 der 33 lateinamerikanischen Präsidenten hatten in beiden Häusern eine Mehrheit, 13 waren noch mit einer Mehrheit angetreten, die sie aber im Laufe ihrer Regierungszeit verloren. Vgl. Valenzuela 1993, S. 5

1Valenzuela 1993, S. 5

2vgl. Jones 1995

3vgl. z.B. Mainwaring, Lijphart, Valenzuela

1 vgl. Valenzuela 1993, S. 12ff.

1vgl. Jones 1995 und auch Mainwaring/Shugart 1997

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Details

Titel
Die lateinamerikanischen Präsidialsysteme. Merkmale und Probleme
Hochschule
Universität Hamburg
Veranstaltung
Entwicklungsprobleme Lateinamerikas in den 90er Jahren
Autor
Jahr
1998
Seiten
15
Katalognummer
V106755
ISBN (eBook)
9783640050307
Dateigröße
477 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Präsidialsysteme, Merkmale, Probleme, Entwicklungsprobleme, Lateinamerikas, Jahren
Arbeit zitieren
Eva Dorothée Schmid (Autor:in), 1998, Die lateinamerikanischen Präsidialsysteme. Merkmale und Probleme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106755

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