Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" und die zerbrechenden Familien und Vaterbilder am Ende des 19. Jahrhunderts


Ausarbeitung, 2002

10 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Einleitung

In den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts bildet sich der Naturalismus als eine literarische Bewegung heraus, deren Ziel es ist, den künstlerischen Ausdrucksweisen des bürgerlichen Realismus entgegen zu arbeiten. Der naturalistischen Strömung liegt eine Verstärkung der antiidealistischen Bewegung von Materialismus und Positivismus vor dem Hintergrund der sozialen Frage zu Grunde. Der Naturalismus versucht, die realistischen Ansätze des bügerlichen Realismus zu radikalisieren und gleichzeitig eine Gegenbewegung zur Kunstproduktion für das Bürgertum zu bilden.

Im Bereich des Theaters ist eine Abkehr vom bürgerlichen Trauerspiel hin zum naturalistischen sozialen und psychologischem Drama zu erkennen. Da sich die Autoren des Naturalismus an den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen ihrer Gegenwart orientierten, spiegeln die literarischen Werke dieser Zeit ein differenziertes Bild der sozialen, politischen, ökonomischen und privaten Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts wider.

Das Drama Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“ (1891) ist eines von drei seiner Dramen („Vor Sonnenaufgang“, „Das Friedensfest“), die insbesondere die Familienverhältnisse dieser Zeit thematisieren.

Im folgenden Text werde ich zuerst das Drama unter Berücksichtigung der Entstehungsprozesses, der Biographie des Autors und der Rolle des naturalistischen Dramas im historischen Kontext kurz zusammenfassen. Die darauffolgende Analyse von „Einsame Menschen“ untersucht die Ausprägung und die Konstellation der einzelnen Charaktere unter besonderer Berücksichtigung der Familienstruktur und der Vaterbilder. Dieser analytische Teil wird die Entwicklung der Gesellschaft und des Individuums zur Zeit des deutschen Naturalismus einbeziehen, so daß er in einem weiteren historischen Kontext steht. Schließlich werde ich mich zu einer diskursanalytischen Interpretation des Dramas auf Texte von Max Horkheimer beziehen (Autorität und Familie) und Richard Sennett (Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität) beziehen, um die Aktualität von „Einsame Menschen“ darzustellen und die Vorbedingungen als auch die Nachwirkungen des Verhältnisses Gesellschaft und Familie des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu erläutern.

1. Zusammenfassung und Entstehung von „Einsame Menschen“

Gerhart Hauptmann schrieb im August 1890 eine erste, hastige Kurzfassung des Dramas. Zunächst gab er dem Stück den Titel „Maria und Martha“, benannte es aber in „Einsame Menschen“ um. Er beendete es am 23. November 1890 in Berlin, wo es kurze Zeit später, am 11. Januar 1891 an der Freien Bühne uraufgeführt wurde. Die Uraufführung wurde im Gegensatz zu der Premiere von „Vor Sonnenaufgang“, die zu einem Theaterskandal ausuferte - in der zeitgenössischen Kritik weitgehend mit Wohlwollen aufgefaßt.

Wie die von Hauptmann verfassten Stücke „Vor Sonnenaufgang“ (1889) und „Das Friedensfest“ (1890) gehörte auch „Einsame Menschen“ zu den typischen Familiendramen des Autors. Diese unterscheiden sich von seinen nachfolgenden sozialen Dramen (z.B. „Die Weber“ UA 1893, „Der Biberpelz“ (UA 1893) vor allem in der Beschäftigung mit innerfamiliären Konflikten und der psychologischen Problematik der einzelnen Personen. Diese ergeben sich aus den jeweiligen Lebensumständen der Personen und deren individuellen emotionalen Verfassungen und Denkweisen, die zeitgenössischen „echten“ Menschen nachempfunden waren. Im fünfaktigen Drama „Einsame Menschen“ lebt Johannes Vockerat mit seiner Frau Käthe und dem neugeborenen Kind Philippchen in einem Landhaus in Friedrichshagen bei Berlin. Das Stück beginnt mit der Taufe des Kindes, zu der Johannes´ Eltern angereist sind. Johannes leidet unter dem mangelnden Verständnis seiner Familie für seine naturwissenschaftliche Arbeit: Als philosophischer Epigone Darwins und Haeckels steht er im Gegensatz zu der pietistisch-bürgerlichen Lebensweise seiner Eltern. Als verkopfter und gleichzeitig sensibler Theoretiker gelingt es ihm nicht, sich um die praktischen, finanziellen und materiellen Probleme des Haushalts zu kümmern, so daß seine unsichere und überforderte Frau Käthe diese Probleme lösen muß. Als die russische Studentin Anna Mahr, eine „Emanzipierte“ einige Zeit als Sommergast bei den Vockerats verweilt, findet Johannes in ihr das, was er bei seiner bürgerlich-hausbackenen Frau und seinen Eltern vermißt: „Dieses Wissen! Die Selbständigkeit im Urteil!“ (1. Akt). Sein Wunsch, mit Anna Mahr in einem „neuen, höheren Zustand der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau“ (4. Akt) zu leben, kann aufgrund der konventionelle Zwänge seiner Ehe, der er sich trotz seiner freiheitlichen, modernen Ideen ergibt, nicht erfüllt werden.

Trotz der Ehelüge, an der Johannes festhält, beschließt er mit Anna Mahr, in Zukunft „nach dem einen Gesetz“ (5.Akt) zu leben und die „Ahnung eines neuen, freien Zustands, einer fernen Glückseligkeit gleichsam, die in uns gewesen ist“(5. Akt), zu bewahren. Als Anna Mahr auf Drängen der Eltern Vockerat abreisen muß, bricht der Lebenswille des wieder einsamen Gelehrten vollends zusammen: er ertränkt sich im Müggelsee.

noch mehr umformulieren, da sehr nah am Kindler Text.

Der Konflikt des Dramas entfaltet sich zwischen einem bürgerlich-christlichen Elternhaus mit konventionellen Ehe und Familienvorstellungen und einem „fortschrittlichen“ philosophischen Standpunkt, der aber nicht in die Praxis umgesetzt werden kann.

Hier zeichnet sich die Stoffwahl des naturalistischen Autors Hauptmann ab: das Auseinanderfallen sozialer Strukturen, die kritische Darstellung bürgerlicher Verhaltens- und Lebensweisen und auch die Verinnerlichung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (im Drama thematisiert durch die wissenschaftliche Arbeit Johannes´, die sich auf Darwin und Haeckel bezieht). Andere naturalistische Dramen beschäftigen sich darüber hinaus mit Themen aus dem Proletariat: Sie zeichnen die Welt des Armut und Lasters, schildern den Menschen als Produkt seines Milieus und stellen ihn in oft als Triebwesen dar.

Typisch für das naturalistische Drama ist ebenfalls die sorgfältige Ausarbeitung der einzelnen Charaktere, die auf der Ebene des Verhaltens der einzelnen Person erfolgt.

Auch auf der Ebene der Sprache bringen naturalistische Autoren die Echtheit ihrer realistisch wirkenden Charaktere nah: Sie unterscheiden sich voneinander durch starken Dialekt (z.B. Waschfrau Lehmann), Hochsprache oder legerer Umgangssprache, in der auch Sätze abgebrochen und grammatische Fehler eingebaut werden. Die Verwendung des Dialekts baut Hauptmann vor allem in den sozialen Dramen (z.B. Die Weber 1893, Der Biberpelz1893) weiter aus. Die Natürlichkeit der Sprache wurde durch die starke Betonung der Mimik und der Gestik unterstrichen, die mit den zum Teil sehr ausführlichen Regieanweisungen und der Wortkargheit gestischer Szenen korrespondierten.

2. Familienstruktur und Vaterbilder in„Einsame Menschen“

Im folgenden werde ich die Vaterfiguren, insbesondere die zentrale Figur des Johannes Vockerat in ihrer Rolle innerhalb der Familienstruktur untersuchen. Die wenig handelnden Personen innerhalb der spärlichen Handlung - ein typisches Merkmal für das naturalistische Drama - charakterisieren sich im wesentlichen durch ihr Verhalten zueinander. Johannes Vockerats Person unterliegt - so scheint es zunächst - im besonderen den Zwängen, die für ihn das Zusammenleben mit seiner Familie bedeuten.

Sennett:

Dabei betten sich die Familienstrukturen der alten Familie (Eltern Vockerat mit Sohn Johannes) und der jungen Familie (Johannes / Käthe mit Sohn Philippchen) in die typischen sozialen Strukturen des Bürgertums des 19. Jahrhunderts ein: Die erweiterte Familie, mit mehreren Generationen und zahlreichen Familienmitgliedern, entwickelt sich zur „Kernfamilie“, in der nur ein Ehepaar und höchstens zwei Generationen unter einem Dach leben. Die Kernfamilie scheint aufgrund der verringerten Anzahl der Handelnden stabiler: sie erzeugt Ordnung im Erscheinungsbild der Menschen durch Vereinfachung der Beziehung zwischen ihnen. Je weniger komplex sie sind, desto stabiler sind sie; je weniger es gibt, mit dem man sich auseinandersetzen muß, desto besser kann man seine Persönlichkeit entwickeln. (Sennett, S. 233) Kernfamilie bietet die Möglichkeit, Frauen und Kinder von der Gesellschaft fernzuhalten, sie zugleich zu unterdrücken und zu beschirmen. (Sennett, S. 230)

Die alten Eltern Vockerat bilden mit ihrem einzigen Kind Johannes die bürgerliche Familie in einer stabil scheinenden Dreierkonstellation. Stabilität war eine zentrale Tugend dieser bürgerlichen Kernfamilie: der Vater war Garant von Ordnung und Sicherheit und besaß als solcher absolute Autorität. Das Zuhause war ein Refugium vor der Außenwelt, ein Ort, zu dem die Verwicklungen des Arbeitslebens keinen Zutritt hatten. Diese Umgebung isolierte die Familienmitglieder vor Alltagssorgen und bietet eine Rückzugsmöglichkeit vor einer als instabil empfundenen Johannes Vater beruft sich implizit auf diesen Zustand, als er während der Auseinandersetzung mit seinem Sohn im 5.Akt darauf besteht, daß der Eindringling Anna das Haus verlassen muß und Johannes sich der gegebenen Struktur - seiner Frau u seinem Kind - wieder zuwendet.

Johannes Arbeitssituation versucht diese Abriegelung aufzubrechen: Er arbeitet zu Hause, bringt die Nöte seiner wissenschaftlichen Arbeit mit in das Familienleben und erwartet Anerkennung seiner Arbeit von seinen nicht-wissenschaftlichen Familienmitgliedern. Auch die Einladung Annas stört im wesentlichen die Vorstellungen einer bürgerlichen Familie, wie sie von den alten Vockerats und Käthe gehegt wird. Johannes jedoch heißt den „Störfaktor“ Anna er willkommen; an ausgewählten Einflüssen von außen zeigt er sich interessiert.

Mutter und Vater Vockerat

Mutter Vockerat - nach der Geburt ihres Enkels Philipp zeitweilig im Haushalt der jungen Vockerats lebend - und Vater Vockerat zeichnen sich durch eine fromme, bürgerliche Religiosität aus, mit der sie ihren Sohn Johannes erzogen haben - und immer noch versuchen, zu erziehen. Frau Vockerat erscheint als ein weibliches Inbild der traditionellen bürgerlichen Wertvorstellung. Sie geht ganz in der Betreuung ihres Sohnes Johannes auf und setzt „ihr Herzblut“ daran, Johannes „zu einem frommen Christenmenschen zu erziehen.“ (2. Akt) In der Gläubigkeit der Eltern Vockerat sind die christlich-protestantischen Prinzipien des 17. und 18. Jahrhunderts zu erkennen: „Der Mensch soll sich nicht vor der Kirche beugen, wie es im Katholizismus geschah, sondern er soll sich schlechthin beugen lernen, gehorchen und

Arbeiten“.(Horkheimer). Die autoritäre Struktur innerhalb der Familie spiegelte dabei das Autoritätsverhältnis von Staat und Gesellschaft. Im gottlosen Leben Johannes dieht Frau Vockerat die Gefahr des Ehebruchs mit Anna Mahr. Während eines „ekstatischen Ausbruchs“ formuliert Mutter Vockerat die Folgen, die die Abkehr ihres Sohnes vom christlichen Glauben nun habe: „ Seht ihr! Seht ihr!... Seht ihr nun!...Was habe ich gesagt? ... Ein Haus, hab´ ich gesagt, aus dem der liebe Gott verjagt ist, bricht über Nacht zusammen Erst Gottesleugner, dann Ehebrecher, dann “ (3.Akt) Mit ihrem vermeintlichen Rettungsversuch der jungen Ehe treibt sie ihren eigenen Sohn in der Freitod. Einmal mehr - nach Frau Buchner in „Das Friedensfest - ist die „ideale“ Mutter des Bürgertums mit ihrem Anspruch an die Familie gescheitert.

Ganz im beschränkten Gesichtsfeld ihrer Gläubigkeit gefangen, verstehen die Eltern nicht das angestrengte Ringen ihres Sohnes um eine neue Idee. Stattdessen versuchen beide, ihren Sohn zu dominieren, indem sie sich ungebeten in die Angelegenheiten des jungen Ehepaars einmischen. Alarmiert von der intensiven Freundschaft zwischen Anna und Johannes, in der sie einen Ehebruch wittert, ruft Frau Vockerat ihren Ehemann an den Müggelsee, damit dieser das Fräulein Mahr aus dem Haus befördern und die familiäre Ordnung - die Ehe zwischen Johannes und Käthe - wieder herstellen soll.

Käthe

In der Figur Käthe Vockerats können Parallelen zu Hauptmanns Frau Marie gesehen werden. Ihre Schwermut, ihre gewisse einfache Denkweise und den Mangel an Selbstvertrauen empfand Hauptmann - wie auch Johannes Vockerat - immer als Beschränktheit und Enge und als fehlende Anteilnahme an seiner geistigen Entwicklung. Doch der Konfliktstoff dieses Dramas - die Eheproblematik - ist nicht nur in Hauptmanns unmittelbarer Biographie zu suchen, sondern kann auch als Tendenz seiner Zeit gesehen werden. In Hauptmanns zeitgenössischer sozialen Sphäre wurde das große Problem der Zeit, die „Ehelüge“ immer lauter: In seinen Tagebüchern beschreibt er den Grund aller Ehekonflikte in dem Mangel der Frau, dem Mann geistig folgen zu wollen.

Vom ersten Augenblick ihrer Heirat an empfindet Käthe ein Ungleichgewicht in ihrer Beziehung zu Johannes, das sich als Minderwertigkeitsgefühl bei ihr etabliert. Sie klagt ihrer Mutter: „Ich weiß, den ganzen Tag drumselte es mir im Kopf herum: was soll denn nur ein so geistreicher und gelehrter Mann mit dir anfangen? Was kann er denn an dir haben? Siehst du, das war ganz richtig gedacht.“ (5.Akt) Schwere Vorwürfe seitens ihres Mannes und die Ankunft einer Frau, die scheinbar alle Defizite ausgleicht, die Käthe in Bildung und Wissen aufweist, treiben sie in eine Depression, die vor allem durch Minderwertigkeitsgefühle geprägt ist: Sie sieht sich als eine „beschränkte Seele“ und klagt: „Unsereiner spielt doch solchen gebildeten Wesen gegenüber eine etwas armselige Rolle.“(1.Akt)

Der Charakter Käthes ist geprägt von selbstloser Liebe, stiller Beharrlichkeit und Schlichtheit ihres Lebens. Damit repräsentiert die die bürgerlich-pietistischen Eigenschaften des Bürgertums des 17. Und 18. Jahrhunderts.

Anna

Die vermeintlich emanzipierte Frau bei Hauptmann zeichnet sich hauptsächlich durch eine gewisse Selbständigkeit in ihre geistigen und seelischen Haltung sowie in ihrer Lebensführung aus.(S. 205)

Im Gegensatz zu Käthe ist Anna als Vollwaise ohne elterliche Erziehung aufgewachsen. Ohne den Zwang einer väterlichen Autorität ist Anna in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht eingeschränkt.

Sie vereint zwei charakteristische Vorurteile über die Frau zu dieser Zeit: das scheinbar positive, Frauen seien bescheiden und hätten Anstand, und das offenbar negative, die emanzipierten Frauen seien sicher und lebhaft, folglich unweiblich. (S. 206). Diese neue Frau bei Hauptmann zeichnet vor allem die Fähigkeit aus, dem geistig schaffenden Mann einfühlendes Verständnis zu bieten und ihn in jeder Hinsicht zu fördern. Dabei ist die „Selbständigkeit im Urteil“ (Johannes, GH, S. 36, 1.Akt) erwünscht, doch wird von keiner eigenen Schaffenskraft oder Arbeitsleistung Annas berichtet. Nur darin, daß sie die Fähigkeit besitzt, die Schaffenskraft des Mannes anzutreiben, findet man Hauptmanns Leitbild von der neuen Frau. Anna trägt manche positive Grundzüge des idealen Weiblichkeitsbildes: Im Gegensatz zu Ibsens „Nora“ zeichnet sie sich mehr durch ein still empfindendes Gemüt als durch verstandesmäßige Geistigkeit aus. Sie besitzt auch einen durchaus sittlichen Charakter, der vor allem auf der Moral der bürgerlichen Gesellschaft basiert.

Die Väter

Der alte Vockerat ist der exemplarische Gegenentwurf seines Sohnes. Als autoritärer, frommer und treuer Ehemann und Vater vereint er alle idealen Vorstellungen des Vaters als Familienoberhaupt, wie es die Dramenfiguren des bürgerlichen Realismus´ vorschlagen. Er ist das Familienoberhaupt im traditionellen christlich-bürgerlichen Sinne und bewahrt damit die soziale Ordnung eines autoritären Systems.

In der Entwicklungsgeschichte der Familie fügt sich im Übergang von der absolutistischen zur liberalen Periode die Idee der Vernunft an die Idee des Gehorsams an. Die Erziehung zur Realitätsgerechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft ist in der protestantischen Familienauffassung vorbereitet. Die Grundgedanken des Luthertums finden sich hier in der Auffassung von der „körperlichen Überlegenheit als Ausdruck eines von Gott gewollten Überordnungsverhältnisses“ (Horkheimer) wieder. Die feste Ordnung ist dabei Hauptzweck aller sozialen Organisationen. Der Vater - exemplarisch ist dafür Herr Vockerat - nimmt dabei die Rolle des „Rechtsvertreters, des nicht kontrollierten Gewaltinhabers, des Brotherrn, des Seelsorgers und Priesters seines Hauses“ ein.

Johannes zeigt sich als ein innerlich schwacher, nervöser, äußerst leicht verletzbarer Mensch. Damit könnte er als Vorläufer und naturalistische Variante jenes skrupulösen, „nervösen“ Décadent gelten, den wir in der Literatur der Jahrhundertwende, vor allem in der Wiener Moderne (Bsp?), vielfältig vorgeführt bekommen. Ständig sucht er nach einem Halt durch Bestätigung, Anerkennung und Anregung. Im Gespräch Anna-Johannes im 2. Akt weißt sie ihn darauf hin: „Wenn Ihre Anschauungen Sie selbst befriedigen können, - lassen Sie sich´s doch nicht anfechten, daß die anderen dadurch nicht befriedigt werden.“ Doch Johannes: „Von meiner Familie habe ich nur Hemmnisse zu erwarten“, 2.Akt)

Zuletzt kommt Johannes diese Familie wie ein Gefängnis vor. Die tiefe mütterliche Liebe und Fürsorge kompensieren nicht die Verständnislosigkeit der Familienmitglieder. Er kann sich trotz mehrerer Ankündigungen (Johannes: „In wessen Haus sind wir hier?“ 3. AKt) nicht gegen die dominante Wirkung seiner Mutter durchsetzen. In Johannes treffen zwei geistige Leitprinzipien verschiedener Perioden aufeinander: Zum einen die des Bürgertums des 16. ,17. und teilweise 18. Jahrhunderts, das autoritäre Strukturen als bejahte Abhängigkeit akzeptierten und als einen produktiven Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung empfanden. (Horkheimer) Mit diesen Wertmaßstäben wurde Johannes von seinen Eltern erzogen. Zum anderen entwickelt der junge Vockerat das unabhängige, aufgeklärte Denken des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, das die individuelle Leistung in theoretischer und praktischer Arbeit als gesellschaftlichen Maßstab verkündet. Die Beziehungen Johannes / Käthe und Eltern Vockerat stehen dabei im selben Verhältnis zur Freundschaft Anna / Johannes: Hier die bürgerliche stabile Kleinfamilie, dort die freie seelenverwandte Freundschaft von Mann und Frau.

Johannes erweist sich als zu schwach, sich von seiner Frau zu lösen und sich gegen die väterliche Autorität und damit gegen die Moral der bürgerlichen Gesellschaft durchzusetzen. Wie in „Das Friedensfest“ wird der junge Vater Johannes von seinem Vater zur bedingungslosen Unterwerfung unter die väterliche Autorität gedrängt. So spricht der alte Vater Vockerat: „Auf den Gehorsam, mein´ ich, kommt es an, tja!“ und formuliert die ideale Verhaltensweise seines Sohnes: „Ein frommer, ein reiner, ein gehorsamer Mensch sein, tja: das ist die rechte Dankbarkeit.“ ( 5.Akt) Ohnmächtig klagt Johannes: „Eure Liebe hat mich gebrochen.“ (5. Akt) und kapituliert damit vor seiner bürgerlich-christlichen Erziehung. Daß er immer noch, trotz aller liberaler Gesinnung, der väterlichen Autoritätsstruktur unterliegt, wird deutlich, als er mit „leiser Stimme“ seine Eltern fragt: „Nun sagt, was soll ich tun?“

Nach Horkheimer wäre der Freitod Johannes´ das Ergebnis einer patriarchalischen Erziehung, bei der „der Eigenwille“ des Kindes gebrochen und das ursprüngliche Bedürfnis nach freier Entwicklung seines Verlangens durch den „Zwang zur unbedingten Pflichterfüllung“ beschnitten wird. Diese „Abneigung gegen die eigene Willenshandlung“ wird als charakteristisch für „die Erziehung in der Kleinfamilie“ der Zeit aufgefaßt. (Horkheimer)

3. Theoretische Texte, Soziologie

Fichte formuliert das Ideal bürgerlichen Denkens: „Wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos.“ Descartes, Voltaire, Locke, Kant und Fichte vertreten - jeder für seine Zeit - die Auffassung, daß in letzter Instanz der Mensch seine eigenen geistigen Fähigkeiten gebrauchen soll und nicht von Autoritäten abhängig sein. Das hieße für Johannes Vockerat, daß er im System bürgerlichen Denkens, gegen dessen Inhalte er sich versucht zu wehren und sie verlacht, immer noch gefangen ist; er glaubt an die gedankliche Freiheit des Menschen u meint, sich von der väterlichen Autorität losgesagt zu haben: „Du meinst: ich sollte alles tun, was du willst, auch wenn´s mir nicht recht erscheint?“ (5.Akt) Er befindet sich in einer paradoxen Situation: Mit der Infragestellung der väterlichen Autorität wiederholt er den emanzipatorischen Schritt der Aufklärung und scheitert daran kläglich, da er durch seine Erziehung von den verkrusteten bürgerlich-christlichen Strukturen gelähmt bleibt. Seine gedachten Inhalten entsprechen zwar den Prinzipien der Aufklärung, doch er findet keine liberale Struktur vor, in der er sie anwenden kann. Zu dieser Zeit bildete die Familie die „Keimzelle der bürgerlichen Kultur, welche ebenso wie die Autorität in ihr lebendig war. Dieses dialektische Ganze von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit erweist sich nun als Einheit auseinanderstrebender Kräfte. Das sprengende Moment der Kultur tritt gegenüber dem zusammenhaltenden stärker hervor.“ (Horkheimer)

Ausblick: Naturalismus als Wegbereiter der Moderne -> nachfolgende literar. Strömungen

Johannes: nimmt das Scheitern des modernen Menschen, der halbherzig nach „seiner Natur“ lebt, vorweg, als auch das Scheitern des einsamen männlichen Individuums, das sich später vor allen Dingen in der Großstadt etabliert - von Döblins Franz Biberkopf bis Scorseses „Taxi Driver“ Trevor. Die Vorausschau gilt auch für versagende Vaterfiguren, die nach und nach zum Herrscher ohne Reich werde: Th.

Mann, Die Buddenbrooks bis zu Mendes´ American Beauty, wo bereits eine neue, von Autorität unabhängige Vaterrolle entworfen wird.

Ende der Leseprobe aus 10 Seiten

Details

Titel
Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" und die zerbrechenden Familien und Vaterbilder am Ende des 19. Jahrhunderts
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
10
Katalognummer
V106743
ISBN (eBook)
9783640050185
Dateigröße
432 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hauptmann Drama Autorität Horkheimer 19. Jahrhundert Naturalismus
Arbeit zitieren
Sabine Kahlenberg (Autor:in), 2002, Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" und die zerbrechenden Familien und Vaterbilder am Ende des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106743

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