Die politische Theorie und Rechtstheorie von Habermas


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

27 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung
2.1 Prämisse
2.2 Begründung
2.3 Konklusionen für die Multikulturalismus-Debatte
2.4 Kritik

3. Habermas: Multikulturalismus in der deliberativen Demokratie
3.1 Position
3.2 Herleitung der Position
3.2.1 Die nationalstaatliche Konstellation
3.2.2 Die postnationale Konstellation
3.3 Kritik

4. Literatur

1. Einleitung

Ich weiß, was Sie jetzt denken – und sie haben Recht: Die Arbeit ist zu lang geworden und zu spät kommt sie auch noch! Zum einen lag dies an der Themenstellung: Habermas´ Beiträge zur politischen Theorie sind schlicht von ehrerbietiger Komplexität; zum anderen wollte ich mir diese Komplexität möglichst unverkürzt erschließen, um seine Position in der Debatte mit Taylor besser verstehen und herleiten zu können. Die Arbeit nahm ich aber auch als Gelegenheit wahr, mir Faktizität und Geltung erschließen zu können, nachdem ich mich bereits zuvor leidlich durch die Theorie des kommunikativen Handelns gewühlt hatte. Im Endeffekt hat es sich für mich gelohnt, das Ziel so hoch zu stecken (wenngleich ich mich während dieses hermeneutischen Kraftaktes das ein und andere Mal verwunschen habe).

Zum Eigentlichen: Habermas und Taylor stellen sich die Frage nach der sozialen Integration moderner Gesellschaften bzw. Nationen: Wie können die einzelnen Teile (Individuen) einer Nation zusammengehalten werden? Wodurch legitimiert sich eine Gesellschaftsordnung vor ihren Mitgliedern? Können Fremde in eine zuvor homogene Nation integriert werden und wenn ja, wie? Die beiden letzten Fragen geben zudem Aufschluss darüber, was eine Nation überhaupt ist Diese Fragen werde ich bei Taylor indirekt, bei Habermas dafür aber ausführlich beantworten. Im Grunde sind die Kapitel zu Taylor eher versehentlich in diese Arbeit geraten: Geplant war zunächst nichts, dann zum Zwecke einer Einleitung nur wenig über Taylor zu schreiben – daraus wurde ein kleines Exzerpt seiner theoretischen Architektonik (noch so eine Gelegenheit). Der Bezug zum Thema aber geht hierdurch nicht verloren.

2. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung

2.1 Prämisse

Der Ausgangspunkt Taylors in seinem Beitrag zur Multikulturalismus-Debatte ist seine Überzeugung, dass die Individuen als Bürger einer liberalen, demokratischen Gesellschaft den universellen Anspruch auf Menschenrechte und als Angehörige einer partikularen kulturellen Lebensform, zudem Anspruch auf die Anerkennung dieser Lebensform haben. Sind den Individuen beide Formen der Anerkennung garantiert, ist ihnen die Gesellschaftsordnung legitim.

2.2 Begründung

Für Taylor hängt das Wohl und Wehe eines modernen Individuums von der Ausbildung und Erhaltung einer Identität 1 ab (vormoderne Individuen bekamen eine solche bereits mit der Geburt zugeschrieben). Es muss, um sich in der Welt orientieren und Ziele verfolgen zu können, Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« finden. Die Antwort darauf (und damit die Identität) ist ganz entscheidend kulturell gefärbt und die Identität des Individuums ist folglich nicht von seiner Kultur zu trennen.

Die Grundgedanken Taylors sind folgende: Der Einzelne wird in eine Gemeinschaft sozialisiert, welche ihn in einen ihm vorangehenden kulturell gefärbten Bedeutungsraum bzw. moralischen Raum einbettet. »Moral« verwendet Taylor in einem »weiten« Sinne: Sie besagt nicht nur, was richtig, sondern auch was gut bzw. ein gutes Leben ist.2 Analog zum dreidimensionalen physischem Raum, hat nun auch der moralische drei Dimensionen: Die erste bestimmt das Verhältnis zu den Mitmenschen; die zweite bestimmt, was unter einem guten Leben zu verstehen ist; und die dritte legt fest, wie man sich die Achtung der Anderen sichern kann.3 »Wissen wer man ist, heißt, dass man sich im morali-

schen Raum auskennt, in einem Raum, in dem sich Fragen stellen mit Bezug auf das, was gut ist oder schlecht, was sich zu tun lohnt und was nicht, was für den Betreffenden Sinn und Wichtigkeit hat und was ihm trivial und nebensächlich vorkommt.«4 In diesem Raum voller Fragen nach dem »Guten« muss sich das Individuum also orientieren und dies vermag es, indem es für sich Antworten findet (d.h. Antworten auf Fragen wie: »Was ist für mich ein gutes Leben?«, »Wie verhalte ich mich anderen gegenüber?«).

Dazu benötigt es zunächst eine moralische Landkarte (von Taylor auch »Rahmen« oder »Horizont« genannt). Auf ihr ist all das verzeichnet, was in einer Gemeinschaft in irgendeinem Sinn wichtig oder bedeutsam ist. Damit enthält sie inhaltliche Elemente eines guten Lebens. Dies können auch miteinander unvereinbare Elemente sein, denn eine moralische Landkarte ist nicht zwingend kohärent (wie in Kürze ersichtlich wird). Die Güter auf der Landkarte repräsentieren das Gute einer Gesellschaft. Sie sind auf der Karte in Form von Bergen verortet und wirken auf das Individuum anziehend.

Auf dieser moralischen Landkarte verortet sich das Individuum durch starker Wertungen5. Diese sagen ihm, welche

Dinge ihm welche Bedeutung haben und was er anstreben möchte. Wenn das Individuum weiß, was ihm wichtig ist, dann hat es einen Maßstab, mittels dem es seine Handlungsoptionen bewerten und seine Ziele festlegen kann. Die starken Wertungen geben seinem (oder allgemein dem menschlichen) Leben damit Sinn, Richtung und eine Handlungsorientierung.

Von den Gütern gibt es nach Taylor nun drei Typen – die Lebens-, die Hypersowie die konstitutiven Güter. Die konstitutiven Güter (von Taylor auch »moralische Quellen« genannt) sind nun grundlegend für die beiden anderen, denn erst durch sie werden die anderen Güter überhaupt als wertvoll erachtet, was wiederum die Ausbildung starker Wertungen möglich macht. Lebensgüter sind Ziele oder Ideale, die von Menschen angestrebt werden. Hypergüter fungieren als Leitwerte und setzen die Lebensgüter in eine Rangordnung.

Die Güter sind dem Individuum also durch seine Kultur vorgegeben und somit objektiv, die Wertungen werden von ihm selbst vorgenommen, sind also subjektiv (und dies immer wieder von Neuem: Menschen entwickeln sich, wodurch sich auch ihre Positionen auf der Karte verschieben können). Die Güter sind damit die Grundlage der starken Wertungen: Wäre etwa Freiheit ein Hypergut, hätte das Individuum in Bezug auf die Freiheitsfrage starke Wertungen. Es positioniert sich dann hinsichtlich dieses Gutes auf der Landkarte, indem es zu bestimmen versucht, wo es frei ist und wo nicht, und wie sich sein Leben im Hinblick auf die Freiheit entwickelt hat und entwickeln wird. Seine Identität ist damit zwar kulturell entscheidend geprägt, aber letztlich nicht vollends kulturell determiniert: »Während die Makrostruktur der Wertund Bedeutungsmuster, nach denen die Subjekte sich definieren, kulturell vorgegeben ist, unterliegt die mikrostrukturelle Ausdeutung individuellen Differenzen.«6 Was z.B. Freiheit bedeutet, kann von Individuen unterschiedlich gedeutet werden. Auch die Frage, in welchem Verhältnis unterschiedliche Güter (wie Freiheit und Gerechtigkeit) zueinander stehen, kann individuell gedeutet werden.

Eine Zusammenfassung der bisherigen Zusammenfassung von Taylors Gedankengerüst könnte so aussehen: »Ein Individuum gewinnt seine Identität [..] dadurch, dass es in eine soziale Gemeinschaft hineinsozialisiert wird, welche die zur Selbstdeutung notwendigen Kategorien bereitstellt und in einer ›moralischen Topographie‹, in einem vorgängigem Bedeutungshorizont verankert. Die moralisch-kognitive Landkarte dieser Gemeinschaft, Kultur oder Lebensform enthält dabei Definitionen des Wichtigen und Unwichtigen, Guten und Schlechten, Edlen und Gemeinen, aber auch dessen, worin ein gutes Leben besteht, was die Natur des einzelnen und der Gesellschaft ist, was eine gerechte Ordnung darstellt, was verlässliches Wissen darstellt usw.«7 Das Individuum bewertet die Güter (nicht alle Güter sind ihm gleichermaßen das Gute), bildet dadurch starke Wertungen aus und positioniert sich zu den Gütern, wodurch es sich definiert.

Sprache spielt nun eine entscheidende Rolle für Taylor: Ohne sie kann ein Individuum keinen Zugang zum kulturellen Bedeutungsraum finden. Was nämlich im Bedeutungsraum einer Kultur (oder Lebensform) zum Ausdruck gebracht wird, hängt entscheidend von ihrem Vokabular ab. Sprache bildet den Bedeutungsraum, der eine Kultur definiert, nicht nur ab, sondern konstituiert diesen auch. Sprache und kulturelle Lebensform stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander. Ohne Sprache ist es demnach nicht möglich eine Kultur zu leben bzw. in Handlungen zu verwirklichen, umgekehrt kann eine Sprache nur vor ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund verstanden werden. Wie es nun viele, sich signifikant voneinander unterscheidende Sprachen gibt, so gibt es auch eine entsprechende Anzahl an Kulturen.8 Sprache ist für Taylor also zum einen Ausdrucksmedium, der sozialen, also auch der moralischen Realität; zum anderen wird Sprache dadurch aber auch identitätsbildend.

Vereinfacht gesagt: Das Aussterben einer einzigartigen Sprache impliziert für Taylor immer auch das Aussterben der korrespondierenden Kultur, ihrer Praktiken, Güter und Identitätsmuster. Als ein Mensch ohne Identität aber »wäre ich zerstört, dann wäre ich nicht länger ein Subjekt, das imstande ist, zu wissen, wo es steht und welche Bedeutung die Dinge für es besitzen, ich würde einen schrecklichen Zusammenbruch genau der Fähigkeiten erleiden, die mich als Handelnden definieren.«9

Die für die Identitätsbestimmung notwendige moralische Landkarte hat sich nun mit dem Übergang vom Mittelalter zur Moderne grundlegend gewandelt. Taylor untersucht in seinen Quellen des Selbst (a) warum der Wandel eingetreten ist, (b) wie sich die moralische Landkarte bzw. die moralische Makrostruktur der Moderne verändert hat, und (c) welche Konsequenzen dies hat. Auf (b) und (c) muss ich kurz eingehen:

Im Mittelalter waren Identität und Handeln von theistischen konstitutiven Gütern geprägt. Heute dagegen dominieren drei säkulare konstitutive Güter die Neuzeit (die theistischen bestehen nach wie vor, haben aber nur noch eine vglw. geringe Anziehungskraft): Innerlichkeit (die Überzeugung, der Mensch ist ein Wesen mit innerer Tiefe), die Bejahung des alltäglichen Lebens (besonders in den Bereichen Produktion und Reproduktion) sowie die Stimme unserer inneren oder die der äußeren Natur. Diese drei Güter wurden nun im 17. und 18. Jahrhundert durch zwei sich teilweise überschneidende, teilweise miteinander konfligierende Paradigmen10 verschiedentlich interpretiert – vom Naturalismus (Paradigma der Aufklärung) sowie vom romantischen Expressionismus (Paradigma der Romantik). Jedes Paradigma leitete nun gemäß seiner Interpretation unterschiedliche Lebensund Hypergüter aus den konstitutiven ab. Dies ist der Grund, weshalb die okzidentale moderne Landkarte nicht kohärent ist. Die Hypergüter beider Paradigmen sind die Richtschnur moderner Identitätskonzeptionen. Die naturalistischen Hypergüter sind Desengagement, Autonomie, Freiheit; die romantisch-expressiven sind expressive Einheit, expressive Erfüllung, kreative Schöpferkraft – sie lassen sich zusammenfassen im Streben nach authentischer Selbstverwirklichung durch Selbstausdruck der eigenen Originalität. Letztere meldet sich durch eine »innere Stimme«, die, so Taylor, jeder in sich

birgt.11 Die Hypergüter beider Paradigmen münden nun auch – wie Taylor in Multikulturalimus und die Politik der Anerkennung darlegt – in die Sphäre des Politischen ein und stehen sich dort in seinem Beitrag zur Multikulturalismus-Debatte spannungsgeladen gegenüber. Spannungsgeladen deshalb, weil sie für Taylor gleichwertig sind. Schließlich entwickelt sich die neuzeitliche Identität auf Grundlage der moralischen Topographie, die sich aus den Güterinterpretationen beider Paradigmen ergibt.

2.3 Konklusionen für die Multikulturalismus-Debatte

Weil Kultur/Sprache für Taylor ein zentrales und identitätsstiftendes kollektives Gut ist und konstitutiv für das gute Leben ihrer Angehörigen, muss sie anerkannt und ihr Fortbestand gesichert sein bzw. werden. Bleibt die Integrität einer Kultur nicht gewahrt, nimmt auch die ihrer Angehörigen schaden. Ergo haben kulturelle Gemeinschaften für Taylor ein Recht, auf die Integrität und sogar auf die Förderung ihrer kulturellen Besonderheiten zu beharren.

Daher geht ihm die Politik des Universalismus des »prozeduralen«12 Liberalismus , welche gemäß des naturalistischen Paradigmas die Würde bzw. Autonomie des Einzelnen wahrt, nicht weit genug: Diese tritt ein, für universelle (Menschen-)Rechte und Freiheiten, die folglich allen Bürgern (kulturunabhängig) zukommen sollen, da alle als Gleichwertige anerkannt werden. Damit, so Taylor, ist diese Form des Liberalismus aber »blind«13 gegenüber das, was die Bürger als Angehörige unterschiedlicher Kulturen voneinander unterscheidet und ihre Identität begründet. Folglich tritt er ein für eine Politik der Differenz eines »substantiellen«14 Liberalismus, welche in Ergänzung zur universalistischen Politik »die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe [..], ihre Besonderheit gegenüber allen anderen«15 anzuerkennen verlangt. M.a.W., Individuen oder Gruppen sollen nach den je für sie konstitutiven partikularen Eigenschaften different behandelt und diese Differenzen anerkannt werden. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um eine Politik des romantisch-expressiven Paradigmas. Taylor wählt, um eine relativistische Position vermeiden zu können, einen Mittelweg zwischen beiden Paradigmen: Sowohl die Identität des Individuums als Bürger und Menschen soll durch universalistische Rechte und Freiheiten geschützt sein, als auch die partikulare Identität des Individuums als Angehörigen sowie die von Gruppen – sofern sie nicht gegen die Menschenrechte verstoßen (womit einem Relativismus vorgebeugt ist).16

Nach Taylor kann es zu Spannungen zwischen Gleichheit und Differenz kommen – und dies tut es auch: In Kanada etwa, wo eine frankophone Minderheit schon seit Jahrzehnten um den Fortbestand ihrer Sprache in Quebec kämpft. Zur ihrer Wahrung sei es, so Taylor, legitim, den kollektiven Kulturwerten Vorrang vor den liberalen Individualrechten einzuräumen. Er bejaht daher ausdrücklich eine Reihe von Sprachgesetzen, denen gemäß Frankophone und Einwanderer ihre Kinder auf französischsprachige Schulen schicken müssen, die Geschäftssprache in Betrieben mit mehr als fünfzig Angestellten französisch sein muss, auch Plakatwerbung nur in französisch verfasst sein darf.17 Für Taylor ist die Gemeinschaft ein konstitutives Gut, weshalb ihm ein Austreten aus derselben (aus z.B. nutzenmaximierenden Aspekten) illegitim weil selbst-destruktiv ist. Jedes Individuum ist verpflichtet am Erhalt ihrer Gemeinschaft und damit an der Integrität der jeweiligen kollektiven wie persönlichen Identität mitzuwirken.18 Allerdings ist

Taylor kein normativer Kommunitarist, der behaupten würde die Gemeinschaft sei ihm wichtiger als das Individuum.19

Dennoch: Die ethische Parteilichkeit des Staates impliziert den Vorrang des Guten vor dem Rechten (das Recht kann vorschreiben, was das Gute ist), was wiederum impliziert, dass die Rechte des Einzelnen und damit der individualistische Kern des modernen Freiheitsverständnisses beschnitten bzw. angegriffen werden können.

2.4 Kritik

Die nun folgenden Kritikpunkte beziehen sich nur auf Taylors Position hinsichtlich der Politik der Anerkennung:

In seiner Rezension zu Taylors Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung hebt Dieter Oberdörfer einen strittigen Punkt hervor: »Warum nur Schutz der französischen Sprache Frankokanadiens? Warum nicht auch Zwangsschutz seiner Religion, des historischen Kerns seiner Identität – also katholische Konfessionspflicht für die Frankokanadier und Manitouzwang für die Indianer der Provinz Quebecs?«20 Dass dieser Einwand gar nicht so polemisch ist, wie er zunächst vermuten lässt, zeigt Taylor selbst, wenn er religiösen Identitäten in der globalisierten Moderne eine analoge Funktion zu nationalen Identitäten zugesteht.21

Außerdem scheint es fraglich, dass in multikulturellen Gesellschaften nur eine Kultur prägend für die Identität des Individuums ist. Die »Bindestrich-Amerikaner« zeigen für Amy Gutmann: »nicht eine, sondern mehrere Kulturen gehen in eine einzelne Identität ein. [...] Nicht nur Gesellschaften, auch Menschen sind multikulturell. [...] Unsere moralischen Maßstäbe lassen sich nicht aus unserer Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen erschließen«.22

Hartmut Rosa kritisiert, dass Taylor, indem er das Recht auf den Fortbestand einer Kultur durch die Erzeugung neuer Angehöriger langfristig sichern möchte, diese Angehörigen bzw. deren Identität instrumentalisiere. Damit er diese Position aufrechterhalten könne, müsse er aufzeigen, dass Kulturen einen von den Menschen entkoppelten Eigenwert haben, den zu bewahren eine Instrumentalisierung von Individuen legitimiert. Dieses vermag er jedoch nicht einlösen zu können.23

Außerdem, so Rosa weiter, würden die Sprachgesetze in Quebec zur Folge haben, dass »eine kulturelle Gruppe (die frankophone Mehrheit) das exklusive Definitionsrecht über das zentrale kollektive Gut der Gesellschaft (das Überleben der frankophonen Kultur) besitzt, ohne die diesen Zweck nicht teilende Minderheit (etwa die englischsprachigen Einwohner Quebecs) an der Bestimmung der politischen Konzeption des ›gemeinsamen Guten‹ zu beteiligen.«24 Damit mache er sich »einer groben Missachtung seiner eigenen Identitätstheorie und seiner Idee der Dialog- Gesellschaft schuldig.«25

Es hat den Anschein, als möchte Taylor die Überlebenschancen einer bedrohten Sprachkultur über die Arbeitsmarktund damit Lebenschancen der Individuen stellen, indem er ihnen – wie im Falle Quebecs – den Zugang zur Lingua franca der Wirtschaftswelt erschwert. Tatsächlich geht es ihm, indem er die identitätsstiftende Sprache/Kultur zu bewahren versucht, aber gerade um die Lebenschancen der Individuen. Dennoch bleibt er eine Antwort auf die Frage schuldig, warum ausgerechnet sein Weg in diesem Dilemma der für das Individuum besser sein soll. Joseph

Raz jedenfalls wendet sich gegen Taylors Versuch, den Angehörigen ein Ausstiegsrecht zu verwehren. Zwar fordert auch er, »dass verschiedene Gemeinschaften den selben fairen Anteil an Möglichkeiten und Ressourcen genießen sollten, um ihre Kulturen aufrechtzuerhalten und auf ihre eigene Weise zu entwickeln«,26 dennoch spreche dies nicht gegen ein Ausstiegsrecht. »Der liberale Multikulturalismus [als dessen Vertreter Raz sich sieht] entsteht nicht aus konservativer Nostalgie für einige exotische Kulturen. Er ist keine Strategie des Konservierens, die einige Kulturen in ihrem ursprünglichen Zustand versteinert. Er ist auch keine Strategie, die Vielfalt um ihrer selbst willen hätschelt. Er erkennt an, dass Veränderung in der heutigen Welt unvermeidlich ist. Er erkennt an, dass verknöcherte Kulturen ihren Mitgliedern in den gegenwärtigen Gesellsch aften mit ihrer raschen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen nicht nutzen können.«27

3. Habermas: Multikulturalismus in der deliberativen Demokratie

3.1 Position

Es gehört zu Habermas´ Gepflogenheiten, dass er seine Position durch Kritik (oder Rekonstruktion) anderer Autoren entwickelt. Folgerichtig lässt sich sein Standpunkt in der Multikulturalismus-Debatte anhand seiner Einwände an Taylor ablesen:

So schlägt er etwa in dieselbe Kerbe wie Raz, indem er sich gegen einen »administrativer Artenschutz«28 wendet und damit gegen den offensichtlichen Versuch Taylors, den natürlichen sozialen Wandel durch die künstliche Erzeugung neuer Kulturangehöriger einfrieren zu wollen: »Kulturelle Überlieferungen und die in ihnen artikulierten Lebensformen reproduzieren sich normalerweise dadurch, dass sie diejenigen, die sie ergreifen und in ihren Persönlichkeitsstrukturen prägen, von sich überzeugen, d.h. [durch Argumente] zur produktiven Aneignung und Fortführung motivieren. Rechtsstaatlich kann diese hermeneutische Leistung der kulturellen Reproduktion von Lebenswelten nur ermög- licht [nicht erzwungen] werden. [...] Unter den Bedingungen einer reflexiv gewordenen Kultur können sich nur solche Traditionen und Lebensformen erhalten, die ihre Angehörigen binden, obwohl sie sich ihrer kritischen Prüfung aussetzen und den Nachwachsenden die Option belassen, von anderen Traditionen zu lernen oder zu konvertieren und zu neuen Ufern aufzubrechen.«29 Taylors substantieller Liberalismus ist für Habermas mitnichten liberal, da er die Autonomie und Würde des Individuums beschneidet.30 Dieses hat die Fähigkeit sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und aufgrund eigener Überlegungen für sich eine Konzeption des Guten zu wählen, aber der substantielle Liberalismus nimmt ihm die Möglichkeit dazu, da er zur Bewahrung eines kulturellen Erbes eine Konzeption des Guten vorschreibt und dem Individuum seine Freiheit des Jaund Neinsagens raubt.

Zwar sieht Habermas in ethischer Verschiedenartigkeit nichts, was per se geschützt werden müsse, doch ist sie ihm Realität und darüber hinaus eine Herausforderung für die Integration heutiger Gesellschaften und damit für die Politik. Der substantielle Liberalismus ist ihm jedoch keine geeignete Antwort auf diese Herausforderung: Würde sich die frankophone Minderheit nämlich als eigene Rechtsgemeinschaft konstituieren, bliebe das Integrationsproblem ungelöst, da auf diese Weise nur neue Minderheiten (in Quebec etwa die Anglophonen) entstehen würden. In Zeiten des Übergangs zur postnationalen Konstellation müsse eine andere, von der ethischen Integration entkoppelte, Strategie das Zusammenwachsen und -leben verschiedener Kulturen übernehmen: Eine alle Staatsbürger einbeziehende politische Integration, die neutral ist gegenüber ethischen Gemeinschaftsformen. »Die Neutralität des Rechts erklärt sich schon daraus, dass in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit aller Bürger nicht mehr durch einen substanti- ellen Wertekonsens zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsens über die Verfahren legitimer Rechtssetzung und Machtausübung.«31

Habermas – schließlich – hält Taylor vor, dass er den prozeduralen Liberalismus missverstehe, wenn er davon ausgeht, dass dieser bzw. die Politik der Würde erfordere, Individuen differenzblind zu behandeln. Die Vorrangstellung des Rechten vor dem Guten führe nicht zwingend dazu, dass ethische Minderheiten exkludiert würden. Taylor verkenne die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie, derzufolge die Adressaten des Rechts auch dessen Autoren sein müssen. Hieraus folge, dass das Recht mitnichten blind Differenzen gegenüber ist, sofern allen Staatsbürgern die gleichen privaten und öffentlichen Rechte zustehen: »Gleiche rechtliche Kompetenzen räumen Handlungsfreiheiten ein, die differentiell genutzt werden können und daher nicht die faktische Gleichheit von Lebenslagen oder Machtpositionen fördern.«32 Folglich könne eine Politik der Anerkennung, welche die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Subkulturen und Lebensformen innerhalb desselben republikanischen Gemeinwesens sichern soll, ohne Kollektivrechte und Überlebensgarantien auskommen. Dies läuft letztlich darauf hinaus, dass Politik und Recht für Habermas Voraussetzung für ein gutes Leben sind, da diskriminierte Minderheiten die Anerkennung ihrer ethischen Konzeption »erkämpfen« (Axel Honneth) können; für Taylor dagegen sind Politik und Recht Bestandteil des guten Lebens.

In diesen drei Absätzen sind Aussagen verborgen, die konstitutiv für die vor allem in Faktizität und Geltung dargelegte Theorie Habermas´– die gleichsam Rechtstheorie und politische Theorie ist – sowie für sein Inklusionskonzept sind. Ich möchte die zentralen Aussagen nun herausfiltern und in einem weiteren Schritt einer Analyse unterziehen.

3.2 Herleitung der Position

Man kann die im obigen Abschnitt impliziten Aussagen auf zwei Thesen reduzieren:

(a) Die Bürger moderner Staaten sind nicht nur Adressaten, sondern zugleich Autoren des Rechts, was ihre private und politische Autonomie zugleich erfordert. Auf diese Weise können Bürger die Anerkennung ethischer Differenzen »erkämpfen«.
(b) Das Rechte muss dem Guten übergeordnet sein, woraus folgt, dass die Inklusion anderer durch politische Integration – dies impliziert die ethische Neutralität des Staates – gewährleistet werden muss.

Für Habermas sind beide Erscheinungen politischer Organisation, gleichsam Antworten, die aufgrund von Herausforde- rungen im Verlauf der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung auf der nationalen Ebene entstanden sind und auf der postnationalen entstehen. Ich möchte nun diese beiden Erscheinungen auf ihre Ursprünge, d.h. auf die ihnen zugrundeliegenden Herausforderungen untersuchen sowie die jeweiligen Antworten auf ihre Herleitung und Begründung. Im Vollzug dessen stelle ich Habermas´ Rechtstheorie und sein Modell der deliberativen Demokratie vor und das sich aus beiden ergebende Konzept für den Umgang mit Minderheiten.

3.2.1 Die nationalstaatliche Konstellation

Genau genommen war der Nationalstaat für Habermas die Antwort des absolutistischen Staates auf zwei Herausforderungen bzw. Probleme: Dies waren ein Legitimationsproblem und ein Integrationsproblem: »Das Legitimationsproblem ergab sich, kurz gesagt, daraus, dass sich im Gefolge der Konfessionsspaltung ein weltanschaulicher Pluralismus entwickelte, der der politischen Herrschaft allmählich die religiöse Grundlage des ›Gottesgnadentums‹ entzog. Der säkularisierte Staat musste sich aus anderen Quellen legitimieren.

[...]


1 Taylor definiert Identität wie folgt: »Indem wir unsere Identität bestimmen, versuchen wir zu bestimmen, wer wir sind, ›woher wir kommen‹. Sie bildet den Rahmen, in dem unsere Vorlieben, Wünsche, Meinungen und Strebungen Sinn bekommen. Wenn mir manche Dinge, die ich für besonders wertvoll halte, nur in der Beziehung zu dem Menschen, den ich liebe, zugänglich werde, dann wird dieser Mensch ein Teil meiner Identität.« (Taylor 1993, 23)

2 siehe Taylor (1996), 15 f.

3 siehe Rosa, 115 f.; Rosa merkt allerdings an, dass diese inhaltliche Aufteilung insofern unglücklich geraten ist, als die dritte Dimension auf die beiden ersten reduziert werden könne und alle drei Dimensionen eine für Taylor unzulässige Trennung von Ethik (zweite Dimension) und Moral (dritte Dimension) implizieren.

4 Taylor (1996), 56

5 siehe Taylor (1996), 59; für Taylor beinhalten starke Wertungen qualitative »Unterscheidungen zwischen Richtig [positiv, d.h. Berg] und Falsch [negativ, d.h. Tal], Besser und Schlechter, Höher und Niedriger, deren Gültigkeit nicht durch unsere eigenen Wünsche, Neigungen oder Entscheidungen bestätigt wird [d.h. durch »schwache Wertungen« bzw. präreflexive Wünsche, Präferenzen, Bedürfnisse], sondern sie sind von diesen unabhängig und bieten selbst Maßstäbe, nach denen diese beurteilt werden können« (Taylor 1996, 17). Entscheidet sich z.B. jemand aus einer Vielzahl von Wünschen für einen, weil dieser moralisch wertvoller ist (nicht weil er mehr persönlichen Nutzen verheißt), hat er stark gewertet. Starke Wertungen haben nicht notwendig einen verallgemeinerbaren normativen Charakter, denn auch die WTC-Attentäter handelten infolge starker Wertungen. Die Identität eines Menschen ist nun in dessen Fähigkeit begründet, dass er seine Wünsche, Neigungen etc. gemäß den Kriterien seiner Kultur moralisch beurteilen kann und seine Handlungen entsprechend dieser starken Wertungen ausrichtet. Starke Wertungen geben Antwort auf die Frage »Was hat intrinsischen Wert, so dass ich es tun oder nach ihm streben möchte?«, dagegen beantworten schwache Wertungen schlicht die Frage »Was will ich?«.

6 Rosa, 193

7 Rosa, 127 f.; Die Antwort auf Taylors Urfrage »Was ist der Mensch?« ergibt sich ihm daraus, dass dieser als einzig irdisch Wesen »Wer bin ich?« fragt bzw. fragen muss. Der Mensch wird von Taylor daher als self-interpreting animal bestimmt.

8 siehe Rosa, 181

9 Taylor (1988), 37

10 Der Begriff »Paradigma« findet bei Taylor keine Verwendung im Sinne Thomas Kuhns, sondern bezeichnet eine »Familie« aus epistemologischen, moraltheoretischen und psychologischen Strömungen für den Naturalismus sowie künstlerischen und spirituellen für den romantischen Expressionismus. Beide Paradigmen stehen sich z.B. in der Umweltpolitik diametral gegenüber: Die romantische Seite steht ein für die Verbindung mit der Natur, die naturalistisch für deren instrumentelle Nutzung (siehe Taylor 1996, 668).

11 siehe Taylor (1993), 19 f.

12 Die ethischen Konzeptionen der Individuen nicht berücksichtigend, tritt der prozedurale Liberalismus für einen gleichberechtigten Umgang der Individuen ein.

13 Taylor (1993), 30

14 Dieser engagiert sich für bestimmte kollektive Ziele des guten Lebens, indem er solche auch verordnen kann (siehe Taylor 1993, 49 f.).

15 Taylor (1993), 28

16 Daher kann Taylor auch den Mordaufruf gegen Salman Rushdie verurteilen. (siehe Taylor 1993, 57 f.)

17 siehe Taylor (1993), 45 ff.

18 siehe Rosa, 189 f.

19 So schreibt er: »Die philosophische Welt, in der ich mich bewege ist derart darauf fixiert, Normen zu finden, dass man dachte, ich würde normative Vorschläge machen, obwohl ich das gar nicht getan habe. Insbesondere im Fall der Politik der Anerkennung hat man verzweifelt versucht, irgendwelche Normen zu abstrahieren, während mein Vorhaben eigentlich darin bestand, zu erklären, warum Fragen der Anerkennung gerade in der Moderne so wichtig werden« (Taylor 2002b). Die Tatsache aber, dass um den mutmaßlichen normativen Gehalt in Taylors Ausführungen viel diskutiert wurde, zeigt zumindest, dass er seinen Standpunkt in der Politik der Anerkennung nicht deutlich gemacht hat.

20 Oberndörfer, 182 f.

21 siehe Taylor (2002b); Schon Durkheim hatte in seiner Arbeitsteilung und den elementaren Formen des religiösen Lebens die Entstehung von Identitäten mittels Religion zu begründen versucht: Die Gemeinsamkeit religiöser Symbole konstituiere in allen Angehörigen einer religiösen Gemeinschaft ein »Kollektivbewusstesein« und die religiöse Praxis (Riten) übernehme die Funktion der sozialen Integration und sichert somit die Identität der Gruppe wie des Individuums.

22 Gutmann, 284 f.

23 Rosa, 479 ff.

24 Rosa, 482

25 Rosa, 483

26 Raz, 318

27 ibid.

28 Habermas (1993), 173

29 ibid., 174 (im Original kursiv)

30 siehe ibid., 150

31 ibid., 179

32 Habermas (1993), 154

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die politische Theorie und Rechtstheorie von Habermas
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V106675
ISBN (eBook)
9783640049516
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theorie, Rechtstheorie, Habermas
Arbeit zitieren
Oliver Stengel (Autor:in), 2002, Die politische Theorie und Rechtstheorie von Habermas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106675

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