Die Johannes- und Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs - eine Gegenüberstellung


Ausarbeitung, 2001

12 Seiten


Leseprobe


Die Johannes- und Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs- eine Gegenüberstellung

Einleitung und kurze Beschreibung der beiden Werke

Hörbeispiel Jesustod: MP Richter CD 3, 14

Liebe Mitstudentinnen und Mitstudenten, lieber Toni Haefeli Ich freue mich, euch in den nächsten knapp 90 Minuten die beiden grossen Passionen JSB vorzustellen und einander gegenüberzustellen. Zum Anfang möchte ich kurz erläutern, warum ich dieses Thema für mein zweites Musikgeschichtsreferat gewählt habe. Während meiner Schulzeit sang ich in einem Knabenchor und so kam ich im Alter von 9 Jahren zum ersten Mal mit der MP in Kontakt, indem ich in mehreren Konzerten zusammen mit anderen Knaben den Cantus firmus mitsang. Die Johannespassion lernte ich erst vor einem Jahr kennen, als ich letzte Ostern eine Aufführung im Kultur und Kongresszentrum in Luzern hörte. Das Material zu meinem Referat entnehme ich verschiedenen Büchern und einem Aufsatz. Die alle habe ich im Handout auf der Literaturliste aufgeführt. Gleichzeitig besuchte ich in diesem Semester an der Uni eine Vorlesung von Peter Gülke zu diesem Thema.

Zu Beginn ist zu sagen, dass Bach alle vier Passionen vertont hat. Am wenigsten weiss man über die Lukaspassion (BWV 246). In den Quellen findet man wenige Hinweise. Vermutlich stammt sie von einem unbekannten Komponisten mit Adaptionen von Bach. Vermutlich wurde sie einmal aufgeführt und ging dann verloren, aber das sind sehr vage Fakten. Schon mehr findet man über die Markuspassion (BWV 247). Sie wurde 1731 aufgeführt. Von ihr ist das ganze Textbuch enthalten und etwa ein Viertel der Musik. Gerade im letzten Jahr machte Ton Koopman den Versuch einer Rekonstruktion, nahm Teile von anderen Werken im Sinne Bachs hinein, komponierte selber zusätzliche Rezitative und nahm diese auf CD auf. Bei einem solchen Versuch scheint es mir sehr wichtig, dass man es, wie Koopman es getan hat, wirklich als einen Versuch betrachtet und nicht als definitive Fassung ansieht.

Peter Gülke hat einmal auch noch gesagt, dass es eine Zeitlang den Anschein gemacht habe, es gäbe 5 Passionen Bachs. Man habe dann aber herausgefunden, dass Bach im Vorfeld seiner

Passionskompositionen immer wieder Abschriften anderer Passionen

angefertigt hat und daher eine Verwechslung aufgetreten ist und so eine Passion zum Vorschein kam, die gar nicht von Bach komponiert wurde.

Definitiv bekannt und auch vollständig erhalten sind jedoch die beiden Passionen nach Johannes und Matthäus.

Ich möchte nun in einem kurzen Steckbrief die beiden Passionen vorstellen (Hinweis auf Steckbriefe im Handout).

Zuerst zur JP:

Die JP wurde 1724 in Leipzig uraufgeführt. Bach überarbeitete, wie es typisch für ihn ist, das Werk mehrere Male, ersetzte den Eingangschor durch einen Chor, den er später in die MP übernahm, und erstetzte auch diverse Arien. Die vierte und letzte Fassung entstand 1749, ein Jahr vor seinem Tod. Es ist zu sagen, dass die erste Fassung im Wesentlichen mit der heute üblicherweise aufgeführten Fassung identisch ist.

Das Libretto, basierend auf dem Johannesevangelium und der damals hoch angesehenen Brockes Passion und wurde von einem in Leipzig wohnhafter Dichter namens Christian Friedrich Henrici, der unter dem Pseudonym Picander bekannt war, verfasst. Die Johannespassion hat 39 Nummern und ihre Aufführung dauert ca. 2 Stunden. MP:

Eine zeitgenössische Quelle von 1754 berichtet, wie ich schon am Anfang gesagt habe, von „fünf Passionen, darunter eine für Doppelchor“. Und diese Passion für Doppelchor ist die Matthäuspassion, die in den Jahren 1727, 1736, 1742 und 1743 mindestens viermal aber jedes Mal in einer anderen Fassung aufgeführt wurde. Der Grund für diese Überarbeitungen ist sicher einerseits, dass Bach nicht zweimal die gleiche Passion aufführen wollte, er war sehr ehrgeizig, aber andererseits musste er auch immer seine Kompositionen den im Momtent gegebenen Umständen (Musiker, Chor, etc.) anpassen. Bei den Jahrzahlen ist zu sagen dass sie in den verschiedenen Quellen nicht immer gleich sind. Der Text der MP stammt ebenfalls von Picander. Die MP ist äusserlich grösser angelegt als die JP. Bach schreibt für zwei getrennte Orchester, zwei Chöre, was übrigens damals ein Novum in der Musikgeschichte war, und den Cantus firmus, der von einem Knabenchor gesungen wurde. Sie umfasst 68 Nummern und dauert etwa, natürlich immer je nach Interpretation ungefähr drei bis dreieinhalb Stunden.

Gegenüberstellung anhand verschiedener Kernstellen:

Jetzt möchte ich jedoch mit der eigentlichen Gegenüberstellung anfangen und mich dem Anfang der beiden Werke zuwenden, die die beiden Passionen von mir aus gesehen sehr treffend charakterisieren. Achtet euch beim Hören der Eingangschöre, auf die verschiedenen Ebenen: Der Sopran und der cantus firmus, in diesem Fall der Knabenchor, singen immer die Melodie. Alt, Tenor und Bass singen

Bewegungen und Emotionen (mit Hilfe der Harmonik) untendran. Das Orchester gibt als 3. Ebene den Boden auf welchem die Sänger sich bewegen.

Hörbeispiel: JP Harnoncourt Nr 1, bei da Capo ausblenden.

Dazwischen WT halbieren und Anschrift: „Herr, unser Herscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist“

Hier, im Eingangschor der JP finden wir auch schon ein erstes Beispiel für die theologische Überzeugung, die Bach sehr oft in seine Kompositionen hat einfliessen lassen. In diesem Chor verpackt er nämlich bereits die Dreieinigkeit Gottes. Wenn ihr auf das Notenbeispiel im Handout schaut, seht ihr, dass das Orchester in drei Schichten eingeteilt ist. Im Bass sind lange, ostinat gehaltene Basstöne. Sie symbolisieren die Unverrückbarkeit Gottvaters, der Weltgrund über dem alles geschieht. Die Holzbläsern spielen darüber eine kanonisch und imitative Klagemusik, die sehr dissonant gehalten ist. Das ist der leidende Jesus. Und in der Mitte spielen die Streicher ständig wechselnde Sechzehntelbewegungen. Das ist der wehende Heiliggeist. Der Chor spielt eine selbständige Rolle. Er nimmt die 3 Schichten nicht auf und deklamiert eigenständig sein „Herr, Herr, ...“. Wenn wir uns achten, merken wir, dass der erste Einsatz des Chores auf Hauptzählzeiten kommt, der zweite aber auf Nebenzählzeiten. Der Chor ist also frei vom Orchester.

Hörbeispiel MP Gardiner Nr 1- bei da Capo ausblenden Anschrift WT: „Kommt ihr Töchter helft mir klagen“

Schon die zwei Eingangschöre sagen sehr viel über den grundsätzlich verschiedenen Charakter der beiden Passionen, die ja eigentlich beide die selbe Geschichte erzählen, aus.

Die MP beschreibt eine Leidensgeschichte im wahrsten Sinne des Wortes. Der Anfang stellt einen Trauergesang dar, wo die beiden Chöre, den unschuldigen Jesustod beweinen.

Wenn wir aber jetzt den Anfang der JP betrachten, merken wir, dass dort Jesus als Helden und König dargestellt wird, der allezeit verherrlicht werden soll.

Diese unterschiedliche Grundhaltung der beiden Evangelien, die Bach natürlich aufgenommen und jeweils entsprechend musikalisch umgesetzt hat, zieht sich durch die ganze Geschichte durch.

Ich werde jetzt auf einzelne zentrale Punkte der Passionsgeschichte eingehen, sie einander gegenüberstellen und so weitere Besonderheiten und Unterschiede der Bachschen Kompositionsweise aufzeigen.

Doch zuvor muss ich noch einige grundlegende und allgemeine Informationen bekannt geben:

Die Passionsgeschichte beschreibt den Leidensweg und den Tod Jesus. Die Passionen unterteilen sich in die verschiedenen Stationen: (Folie Ablauf der Passionsgeschichte und Bibelstellen)

- Abendmahl (nur in MP)
- Verrat und Gefangennahme
- Verhör
- Vollstreckung des Urteils- Kreuzigung
- Tod Jesu
- Grablegung

Grundsätzlich verwendet Bach, wie es auch schon in früheren Formen der Passionsvertonung üblich war, folgende musikalischen Mittel:

Die erste Ebene ist die der Erzählung; der Evangelist ein Tenor, rezitiert die Geschichte und führt den Hörer durch die Geschichte, also der Bericht. DerEvangelist hält sich an den Bibeltext.

Die zweite Ebene bestimmt der Chor, der einerseits, wie Peter Gülke einmal in seiner Vorlesung sagte, der Geschichte „betrachtende Choräle“ entgegenstellt, die auch immer wie Glaubensbekenntnisse tönen. Ebenso übernimmt der Chor die Rolle des Volkes mit den sogenannten Turba- Chören übernimmt.

Die dritte und letzte Ebene sind die Arien, die wie eine Meditation, oder eine Predigt über das Geschehen darstellen. Sie stehen in einer anderen Zeitebene als die Handlung.

Choräle und Arien sind in einer freien Textform gestaltet (wuden also in dem Fall von Picander verfasst).

Ich gehe jetzt Station für Station durch und stelle je eine Stelle in beiden Fassungen näher vor.

Abendmahl:

Wie ihr auf meiner Zusammenstellung sehen könnt, wird die Abendmahlszene nur in der MP beschrieben. An dieser Stelle merkt man, dass Bach diese Stellle mit dem Gedanken komponiert hat, das das Abendmahl für alle Christlichen Konfessionen eine herausragende Bedeutung hat. Bach hebt die Worte Jesu in ganz besonderer Weise hervor, indem den sonst bei Rezitationen übliche 4/4- Takt durch einen 6/4-Takt ersetzte. Dadurch entsteht dieses feierlich getragene Arioso, das schon fast einen tänzerisch, lieblichen Charakter hat.

Hörbeispiel Herreweghe MP CD 1, 11, ab 1.10’ Hinweis auf Notenbeispiel

Gefangennahme:

Bei der Gefangennahme zeigt sich sehr stark, wie die Ansicht der beiden Evangelien auseinander gegangen sind. Zuerst zu Johannes: Gleich nach dem Eingangschor, den wir zu Beginn gehört haben, kommt die folgende Szene, in der Jesus gefangen wird. Es geht ganz schnell, da kommen diese Kriegsknechte und kurze Zeit später ist er schon gefangen.

Achtet euch darauf, wie die verschiedenen Personen von Bach eingeführt werden. Jesus wird mit einem Molldreiklang vorgestellt, aber Judas der Verräter erhält einen verminderten Akkord, den „diabolus in musica“.

Hörbeispiel Harnoncourt JP CD 1, 2 & 3

Bei Matthäus kommt vor der Gefangennahme noch die Szene, wo Jesus mit seinen Jüngern in den Garten Getsemaneh geht. Dort merkt man sehr gut, dass die Jesusfigur bei Matthäus wirklich als leidend dargestellt wird und auch dieser Leidensweg von Anfang an in aller Ausführlichkeit dargestellt wird.

>>>>>>>>>>>>Hörbeispiel MP Richter, CD 1, 24-27:

Diese Stelle zeigt, dass Bach die Schizophrenie zur Spitze treibt. Der geistige Brückenschlag (siehe darauffolgende Beschreibung) wird absichtlich weggelassen.

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Die folgende Szene ist bereits die Nummer 24 in der MP, nur dass ihr merkt, dass vorher bei Matthäus schon viel geschehen ist.

Hörbeispiel Richter MP CD 1, 24, 27; CD 2, 1-3

Bis jetzt kamen immer Arie, Chor und Rezitativ nacheinander. Was aber jetzt folgt ist eine ganz besondere Arie. Zudem hat Bach auch immer darauf geachtet, dass nach einem Rezitativ oder einem Chor, die Arie oder der Choral den Text der entsprechenden Handlung aufgreift. Als Beispiel: Dort, wo Jesus sagt, jemand werde ihn verleumden, fragen die Jünger im Chor: Herr, bin ich’s?“, Darauf folgt ein Choral mit dem Anfang: Ich bin’s ich sollte büssen...“. Spannend ist auch, dass Bach genau 24 Mal das Wort „bin ich’s“ in diesem Turba Chor komponiert hat. Es sind 12 Jünger und jeder fragt 2 Mal. Oder nach der Geisselung folgt der Choral: „0, Haupt voll Blut und Wunden...“. Wenn Bach also den biblischen Bericht abschliesst und mit einer Arie oder einem Choral weiterfährt, schafft er trotz des grossen musikalischen Unterschiedes Verbindungen, die der Handlung etwas sehr weiches, sehr vermittelndes, sehr kontinuierliches geben. Interessant ist aber, dass er den umgekehrten Schritt, also von der betrachteten oder Meditationsebene zur Handlung verweigert und überhaupt nicht verbindet. Das heisst also, der Bericht nach der Arie setzt aprupt ein und tut so, als ob gar kein Unterbruch gewesen wäre.

Hörbeispiel MP Herreweghe CD 1, 9 ab 1.20’ bis Anfang 11

Im dramaturgisch spannendsten Moment, nämlich dort, wo Jesus gefangen wird, bringt er diese Ordnung durcheinander. Er vermischt also verschiedene Formen. Dort komponiert Bach eine Musik, eine Arie mit Sopran und Alt, die eine enorme Zeit und Ruhe vorgibt. In diese wirklich quälende Ruhe hinein kommt der Chor, der diese Meditation ungeduldig unterbricht und zurück zur Handlung drängt und singt “lasst ihn, haltet, bindet nicht“. Der Text heisst zwar „Nun ist mein Jesus nun gefangen“, aber die Melodie strahlt wirklich eine merkwürdige Gelassenheit aus. Mit dieser Art der Durchmischung von verschiedenen Genres unterstreicht Bach das Geschehen auf eine besondere Art. Darauf folgt der Chor „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?“, in dem sich diese ganze Spannung entlädt.

Hörbeispiel Gardiner MP CD 1, 27

>>>>>>>>>>>> Hinweis auf Schluss erster Teil: „Da erhoben sich alle Jünger und flohen“. An dieser Stelle ist die Vertonung ratlos. Die Jünger verlassen Jesus stellvertretend für die ganze Menschheit. Es folgt dann der Schlusschor des ersten Teiles. Dieser Chor ist eigentlich ein Choral, der aber von Bach in einen Choral-Chor verwandelt wurde. Man hört das auch unter anderem an der relativen Kurzatmigkeit der einzelnen Phrasen.

Verhör:

Im Verhör möchte ich euch in der Johannespassion etwas ganz eigenartiges, sehr typisches für dieses Evangelium zeigen: Wir steigen dort ein, wo Pilatus Jesus nach seiner Herkunft befragt.

Hörbeispiel JP Herreweghe CD 1, 18

Und jetzt nach dieser ausfühlich auskomponierten Geisselung setzt Bach zuerst ein Arioso und dann eine ganz eigenartige Tenorarie. Die Einleitung tönt sehr beschwingt und der Text lautet: „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken, in allen Stücken, dem Himmel gleiche geht. Daran, nachdem die Wasserwogen von unserer Sündflut sich verzogen, der allerschönste Regenbogen, als Gottes Gnadenzeichen steht!“

Hörbeispiel JP Herreweghe CD 1, 20 ca 3 Min- ausblenden. Hinweis auf Notenbeispiel

Er vergleicht also Jesus blutigen Rücken mit einem wunderschönen Regenbogen, der am Himmel als ein Gnadenzeichen von Gott steht. Da ist doch keine Spur von Schmerz und Leiden. Das rhythmische Motiv des Sechzehntels und der 2 32-el mahnt noch an die Geisselung.

Und dann kommt das Urteil der Kreuzigung:

Hörbeispiel JP Herreweghe CD 2, 1 bis nach „Kreuzige- Chor“ Hinweis auf Notenbeispiel Auf diesen Chor möchte ich kurz näher eingehen. Albert Schweitzer, der sich ja bekanntlich auch viel mit Bach beschäftigt hat, hörte aus siesem Chor die Sprache des Fanatismus heraus: Das eine Motiv besteht aus zwei synkopischen und dissonantisch gegeneinander verschobene Stimmen. Schweitzer deutet das als „langgezogene, heulende Rufe, wie sie eine erregte Menge ertönen lässt.“ Das zweite Motiv, das eine aufsteigende Bewegung darstellt, töne, „als recke das wütende Volk tausend Arme gen Himmel“. Auch ich denke, dass man in diesem Chor wirklich die Aufgebrachtheit der Juden hört und ihre Wut gegen Jesus.

-> Hinweis auf Synkope als Kreuzsymbol

Hören wir nun noch einen Moment weiter in der JP: Hörbeispiel JP Herreweghe CD 2, Rest von 1

Johannes stellt Jesus in einer ungeheuren Überlegenheit dar. Seine Antwort auf die Frage Pilatus zeigt ganz klar, dass er im Auftrag seines Vaters handelt und daher sein Verräter der eigentliche Sünder sei. Bei all diesen theologischen Betrachtungen dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass gerade die JP für Bach auch akribische Bedeutung hatte. Er legte seine grösste Genauigkeit und Sorgfalt in die Ausführung dieses Werkes, um sich selber als hervorragenden Komponisten zu präsentieren. JP war sein erstes und wichtigstes grosses Werk, dass er in Leipzig für seine erste Karzeit als Thomaskantor komponierte. Es diente als Referenz für ihn.

Gehen wir zu der Matthäuspassion:

Hörbeispiel MP Herreweghe CD 2, 7&8

Hörbeispiel MP Herreweghe CD 2, 16

Auf dem Wort Barrabam (siehe Notenbeispiel) setzt Bach einen

achtstimmigen verminderten Septakkord. Darum ist es nicht verwunderlich, dass unser Gehörbildungslehrer uns zur Einführung dieses Akkordes diese Stelle aus der Matthäuspassion abgespielt hat.

Dann kommt auch hier ein Chor, in dem das Volk die Kreuzigung fordert. Angeführt vom Bass fordern alle Stimmen nacheinander die Todesstrafe. Bereits im Kopfmotiv ist das Kreuz- Symbol erwähnt. Die agressive Hektik wird durch eine ganz selbständig laufende Flötenstimme unterstrichen.

Nach diesem Kreuzigungschor folgt ein Choral, den ich gerne mit euch singen möchte. Ihr findet die Noten im Handout.

Choral Nr 46 singen.

Auch hier sehen wir gut den aprupten Stimmungswechsel der verschiedenen Ebenen. Zuerst der Turba- Chor, in dem das Volk tobt, und dann die ruhige Betrachtung von aussen im Choral.

Tod Jesus

Der Tod Jesus ist eindeutig der spannendste Punkt, auf den man die beiden Passionen untersuchen und einander gegenüberstellen kann. Um jetzt auf diesen Vergleich einzugehen, muss ich zuerst einige wichtigen Grundlagen klären:

Johannes schrieb sein Evangelium als letzter. Aus diesem Grund beinhaltet sein Evangelium bereits Deutungen des Geschehens, während Matthäus als erster und ganz aus seiner eigenen Sicht berichtet.

Im Handout findet ihr die Orte, wo ihr den der Bibeltext findet abgedruckt. Ich gehe im Folgenden vor allem auf den Text in Bachs Passion ein, finde es aber wichtig, dass ihr seht, woher er seine Vorlage hatte. Bei Matthäus stirbt Jesus mit einer Anklage auf den Lippen. Er sagt: „Mein

Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hingegen bei Johannes sind seine letzten Worte: „Es ist vollbracht“. Das heisst also, das bei Johannes Jesus selber den 1. Baustein zur Deutung seines eigenen Werkes setzt.

Bei dieser Stelle möchte ich ausnahmsweise zuerst den Johannes mit euch hören.

Hörbeispiel JP Harnoncourt, CD 2, 13

Bevor wir zum eigentlichen Tod kommen, möchte ich noch einen kurzen aber nicht unwichtigen Exkurs bezüglich Bachs Musikschaffen machen:

Bachs Beziehung zu den Juden, oder antijüdische Motive in seinen Passionen

Für diesen Teil meines Referates beziehe ich mich einerseits auf Gespräche mit Frau Schubarth, die sich sehr gut mit Bach auskennt, und andererseits habe ich durch sie einen Aufsatz erhalten, er stammt von Dagmar Hoffmann-Axthelm, sie unterrichtet an der Schola. Genaue Angaben zum Aufsatz findet ihr im Literaturverzeichnis.

In biblischen Passionsberichten werden als Täter und Stifter für Leiden und Tod Jesus neben Pilatus und den römischen Kriegsknechten vor allem die Juden dargestellt. Die Juden, die ihn verrieten, die den Glauben an ihn als Gottes Sohn verweigerten, die ihn verfolgten und die für seinen Tod sorgten. Aus dieser Position heraus kam es dann auch soweit, dass im Mittelalter in manchen Kirchen am Karfreitag im Passionsgottesdienst ungewässerten Wein zum Abendmahl trank, weil er unverdünnt „die Grausamkeit der Juden“ versinnbildlichen sollte. Und bereits im 9. Jahrhundert wurde in der Fürbitte der Passus eingeführt: „Wir beten für die uneinsichtigen und halsstarrigen Juden und verneigen uns nicht dazu“. Danach und das ist wirklich ganz verrückt, aber wahr, war diese Floskel 1000 Jahre lang Bestandteil der Karfreitags Liturgie, bis Papst Johannes XXIII sie im Jahre 1959 strich.

Es ist verständlich, dass diese 1000 Jahre kirchliche Judenverachtung auch dort Spuren hinterlassen hat, wo die biblische Botschaft nicht nur verbal sondern auch musikalisch verkündet wird. Und eines der wohl grössten Beispiele sind die Passionen Bachs.

Bach war ja überzeugter Lutheraner und auch daher kam die antijüdische Beeinflussung. Luther verfasste verschiedene Hassschriften gegen die Juden, die Bach wohl bekannt waren.

Diesen Einfluss auf seine Musik kann man in verschiedenen Chören feststellen, in denen die Juden zu Wort kommen. Ich möchte aber jetzt den Chor, den wir vorhin gehört haben, etwas näher darauf untersuchen:

In den Noten und auch schon beim Hören merken wir, dass am Anfang des Themas diese Tonrepetition steht. Nur schon das hat etwas beharrendes und unflexibles und kann daher leicht als eine Anspielung zu dieser „Halssstarrigkeit“ gedeutet werden. Weiter haben diese Töne eine Zahlensymbolische Bedeutung. Es sind sechs und das Sechste Gebot ist das der Sünden. Im Orchester sehen wir dass die Celli durchgehend eine bewegte Sechzehntelbewegung haben. Das könnte eine Darstellung der Wut sein, die in den Juden brodelt.

-> Hinweis auf Turbachorpaare...

Bei all diesen Sachen, die ich jetzt erwähnt habe, ist es mir wichtig, dass das zwar mögliche Deutungen sind, die man jedoch unmöglich als hundert Prozent richtig einstufen kann. Auch das mit der Zahlensymbolik kann ja praktisch immer angezweifelt werden. Ich denke, dass Zahlensymbolik zwar möglich ist, jedoch überhaupt nichts über die Musik aussagt. Wenn man über die Symbolik Bescheid weiss, erhält die Musik eine zusätzliche Dimension.

Dies war ein also dieser kleine Exkurs zu einem ganz anderen, ebenfalls sehr umfangreichen Thema im Zusammenhang mit Bach und so kehren wir wieder zurück und wenden uns dem Jesustod in der Johannespassion zu.

Hörbeispiel JP Harnoncourt, CD 2, 13-17

Wir merken, dass Jesus vor seinem Tod noch verschiedenste Sachen regelt, immer mit der Begründung, „auf das die Schrift erfüllet würde“. Er gibt seine Mutter einem Jünger, dass sie gegenseitig aufeinander aufpassen und dann heisst es: “Darnach, als Jesus wusste, dass schon alles volbracht war, dass die Schrift erfüllet würde, spricht er: Mich dürstet“, und dann „Es ist vollbracht!“.

Und auch die Arie nach seinem Tod mit Alt Solo und Gambe hat einen ganz eigenartigen Charakter. Zuerst der langsame Teil und dann plötzlich der Ausbruch in diesen Jubelgesang. Dieses Sterben ist für Bach ein Triumph. Der sterbende Jesus wird mit dem triumphierenden Jesus in Verbindung gebracht. „Der Herr aus Juda siegt mit Macht“, heisst es. Jesus stirbt als Held, als König. Diese Arie ist sozusagen eine Meditation über den Satz, mit dem sich Jesus selber deutet.

Und so kommen wir dann auch zu Matthäus. Er beschreibt diesen Tod ganz anders. Er ist viel brutaler. Jesus stirbt mit einer Anklage gegen seinen Vater auf den Lippen. Wie soll es nach so einem Tod weitergehen? Jesus sieht im Moment keine Notwendigkeit, keine Einsicht in seinem Sterben (in Getsemaneh sagt er “Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“)

Hören wir die gleiche Stelle, nämlich dort wo Jesus stirbt, in der Matthäuspassion.

Hörbeispiel MP Richter CD 3, 14-16

Hier spüren wir auch auf ganz eindrückliche Weise die anschliessende Hilflosigkeit, die Bach da komponiert hat. Jetzt, wo es zu spät ist haben alle gemerkt, dass er Gottes Sohn ist. Und in der Aufnahme von Karl Richter ist es sehr langsam und ich denke, das passt wunderschön zu dieser Stimmung.

So kommen wir auch schon zum Schluss der beiden Vertonungen. Dazu bleibe ich gleich bei Matthäus. Bach stellt einen gewaltigen Schlusschor an den Schluss der MP. Wir hören uns den jetzt an und ich bitte euch, auf den allerletzten Akkord des Chores zu achten, und mich nimmt dann Wunder, was euch auffällt.

Hörbeispiel MP Gardiner CD 3, 16

Der Schluss der MP steht in Moll, und dies tut Bach wiederum aus seiner tiefen Religiosität heraus. Normalerweise hat ein Werk, das in Moll steht einen Durakkord als Schluss. Doch für Bach ist es hier noch nicht zu Ende. Für ihn ist der Tod Jesus noch nicht der Schluss. Er aufersteht dann nach drei Tagen und dann kommt die Ostern. Das ist der Grund für diesen sehr ungewohnten Schluss dieses Werkes.

Ganz anders endet er bei Johannes. Zuerst kommt ein Schlusschor wie bei Matthäus, und dann folgt ein Choral, der das Ganze beschliesst. Der Chor steht in sich da und bittet um die Ruhe des toten Jesus. Am Schluss jedoch kippt die Musik noch in ein Gebet, das jeder für sich alleine spricht. Auf den Grabgesang folgt der Schlafgesang. Der Chor bittet für Jesus, der Choral für sich selber. Der Choral wirkt auch versöhnlich. Er steht in Es- Dur, während der Chor in g-Moll geschrieben ist.

Hörbeispiel JP Herreweghe, CD 2, 18

Singen des Chorals mit allen.

Ende

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Die Johannes- und Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs - eine Gegenüberstellung
Veranstaltung
Musikgeschichte
Autor
Jahr
2001
Seiten
12
Katalognummer
V106375
ISBN (eBook)
9783640046546
Dateigröße
418 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Johannes-, Matthäuspassion, Johann, Sebastian, Bachs, Gegenüberstellung, Musikgeschichte
Arbeit zitieren
Gabriel Wernly (Autor:in), 2001, Die Johannes- und Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs - eine Gegenüberstellung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106375

Kommentare

  • Gast am 23.1.2008

    Prof.Dr..

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    ich habe keinen Kommentar aber eine Bitte, bei der Sie mir vielleicht behilflich sein könnten. Soviel ich weiss, hat Bach oft für dieselben Noten unterschiedliche Texte verwandt. Könnten Sie mir dafür Beispiele nennen? Für Ihre Hilfe wäre ich Ihnen sehr dankbar.
    Mit freundlichen Grüssen,
    Irene Schulz-Hofer

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Titel: Die Johannes- und Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs - eine Gegenüberstellung



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