Wahrheit und Lüge: Gesellschaftstheorie und -kritik in Günther Anders' oman "die molussische Katakombe"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

17 Seiten, Note: 1-2


Leseprobe


Inhalt

II. Einleitung

III. Historischer Hintergrund

IV. Zur Erzählstruktur des Romans
IV. 1 Lesarten
IV. 1. 2 Schlüsselroman
IV. 1. 3 Didaktischer Roman
IV. 2 Dialoge & Binnengeschichten
IV. 3 Die Unter-Welt Molussiens: die Katakombe
IV. 3. 1 ... als Ort der Gefangenschaft
IV. 3. 2 ... als Ort der Tradierung
IV. 3. 3 ... als Element der Erzähltechnik

V. Die Hauptrollen: Olo und Yegussa

VI. Wahrheit und Lüge

VII. Zusammenfassung

VIII. Anhang
Bibliographie
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:
Internet-Quellen:

II. Einleitung

Ohne Zweifel zählt der Roman „Die molussische Katakombe” zu den eindrucksvollsten Zeugnissen von Günther Anders’ literarischer Arbeit. Dabei ist der vorliegende Roman nicht nur ein umfassender Versuch, den verschiedenen Aspekten von Lüge und Wahrheit in einem totalitären System (aber nicht nur beschränkt auf ein solches) auf literarische Weise auf die Spur zu kommen. Es handelt sich ebenso um ein Werk, in dem die Gesellschaftskritik und die verschiedenen theoretische Ansätze des „Gelegenheits-Philosophen“, als den sich Günther Anders selbst an verschiedenen Stellen bezeichnet hat, thematisiert werden. Dazu zählt unter anderem Anders’ Umwertung des „Prinzips Hoffnung“ in ein „Prinzip Trotz“1, die an mehreren Stellen im Roman Ausdruck findet.2

Für „Die molussische Katakombe“ trifft das zu, was sowohl über das literarische, als auch über das kunsttheoretische und philosophische Schaffen von Günther Anders ausgesagt werden kann: das Interesse und die Anstrengungen des Autors sind untrennbar mit dem Werk verbunden.3 Molussien und seine Bewohner sind nicht so fiktiv, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Verwoben in den oft märchenhaften Binnengeschichten, Sprichwörtern, Liedern und Gedichten erkennt der geschichtsbewußte Leser die an vielen Stellen deutlich durchscheinende Realität unserer Welt. Deren verzerrte Abbildungen sind mit einer didaktischen Absicht des Autors verknüpft, die mehr zu erreichen gewillt ist als nur „zum Nachdenken anzuregen“ - vor allem gilt es, die Wahrnehmung für die selten offensichtlich wirkenden geistigen Gesetze innerhalb einer menschlichen Gesellschaft zu schärfen. Anders’ Begriff von Literatur ist vorerst ein didaktischer4, wobei durch die in der finsteren Katakombe von beiden Gefangenen erzählten Fabeln der Leser indirekt durch die Belehrung der Protagonisten angesprochen wird.

Nicht zuletzt ist die „Molussische Katakombe“ auch ein politisches Buch, setzt sich doch der parabelhafte Roman mit den ideologischen Mechanismen des totalitären (nationalsozialistischen) Staates auseinander und versucht, dessen propagandistische Strategien offenzulegen.

III. Historischer Hintergrund

„Die molussische Katakombe“ gehört zu denjenigen Romanen, zu deren Verständnis es hilfreich und lohnend ist, einen genaueren Blick auf die Entstehungsgeschichte zu werfen. Diese Betrachtung von Autor und geschichtlichem Kontext soll eine bessere Analyse und Einordnung des Textes ermöglichen und über eine rein werkimmanente Interpretation hinausführen.

Bereits frühzeitig setzte sich Anders mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus in Deutschland auseinander. Unter anderem durch die ernsthafte Lektüre des Hauptbuches der „Bewegung“, Hitlers „Mein Kampf“, das er 1928 liest5, wird der Mensch und Philosoph Günther Anders für die unmittelbare Gefahr der faschistischen Ideologie sensibilisiert. So ist auch „Die molussische Katakombe“ zunächst als antifaschistischer Roman konzipiert, mit dem Ziel, die verhältnismäßig plumpe, aber dennoch in einem erschreckenden Maße wirkungsvolle Lügenpropaganda des Nationalsozialismus zu demaskieren.6 Dabei widmet sich Anders besonders dem Aspekt der massenhaften Herstellung von falschem Bewußtsein, zu der sich die nationalsozialistische Propaganda auch der noch jungen Medien Radio und Film bedient - eine Thematik, die auch in späteren Untersuchungen von Anders eine Rolle spielt.7

Daß dieser Roman, an dem Anders 1930 die Arbeit aufnimmt, und von dem eine erste Version noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 (30. Januar: Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg) fertiggestellt ist, nicht mehr in Deutschland erscheinen konnte, ist offensichtlich. Entscheidend für die heutige Textgestalt ist jedoch, daß es Anders auch nach der ersten Überarbeitung des auf abenteuerlichen Wegen aus den Händen der Gestapo geretteten Manuskripts nicht gelang, sein Buch im Pariser Exil veröffentlichen zu lassen. Hier scheiterte er vor allem an der Tatsache, daß es ihm an erster Stelle um eine analytische Beschreibung der Mechanismen des Faschismus und weniger um eine „linientreue“ Darstellung in marxistisch-kommunistischem Sinne ging.8 Auch der zweiten Überarbeitung des Stoffes, die Anders während seines Aufenthaltes in New York 1938 vornimmt, blieb eine Veröffentlichung verwehrt. Die endgültige, inzwischen auf 600 Seiten angewachsene Fassung erscheint schließlich erst 1992 im wiedervereinigten Deutschland. Damit „verspätete“ sich das Buch nicht nur um 60 Jahre gegenüber der Urfassung, sondern es wird nun einer Generation zu lesen gegeben, für die das Werk ursprünglich nicht bestimmt gewesen ist.

Noch 1979, im Gespräch mit Mathias Greffrath, führt Anders aus: „ ... Unter diesen Umständen entstand das 600 Seiten lange Manuskript über die Prinzipien des Nationalsozialismus, das nun heute, nach beinahe 40 Jahren, seine Funktion, die es zu erfüllen niemals die Gelegenheit gehabt hat, vollends eingebüßt hat.“9 Nun stellt sich die Frage, ob für die späte Veröffentlichung des Werkes neben dem unbestreitbaren historischen Wert als Zeitdokument eine weitere Berechtigung aufgewiesen werden kann, und wenn ja, um welche es sich dabei handelt.

Die entsprechende Antwort findet der Leser im Vorwort des mit dem Autor identischen „Herausgebers“, welches der Ausgabe von 1992 vorangestellt ist: „Heute ist das Buch bestimmt für alle Opfer der Lüge: nicht nur für die Geistigen ... ; sondern vor allem für die größere Zahl derer, die der Lüge glauben, für ihre ahnungslosen Helfershelfer.“10 Damit ist das Buch nun den “Erben” gewidmet, an welche die Aufgabe, an der Aufdeckung der Lüge zu arbeiten, weitergegeben wird wie die wahre Geschichte Molussiens von Meldereiter zu Meldereiter.

IV. Zur Erzählstruktur des Romans

IV. 1 Lesarten

IV. 1. 2 Schlüsselroman

So fiktiv Molussien, seine Figuren und Geschichten auch erscheinen mögen - für den aufmerksamen Leser (wozu glücklicherweise nicht die nationalsozialistische Gestapo gehörte, die seinerzeit das Werk erst beschlagnahmte, schließlich aber das „Südsee-Märchen“ als harmlos einschätzte und das Manuskript zurückgab) gibt sich das verschlüsselte Werk als parabolische, satirische Verfremdung der Realität des dritten Reiches zu erkennen.

Die den zeitgeschichtlichen Ereignissen entsprechenden Parallelen sind schnell erkannt: der totalitäre Staat Molussien verkörpert das Deutsche Reich während der Zeit der NS- Herrschaft, während der von den Premisten regierte Nachbarstaat Ursien leicht als das Russische Reich nach der Oktoberrevolution identifiziert werden kann. Unter dem Schutzmantel der verfremdeten Realität gelingt es Anders nicht nur, entscheidende Aspekte des aktuellen politischen Tagesgeschehens zu problematisieren (Verfolgung Andersdenkender, Problematik des Personenkultes mit Bezug sowohl auf die totalitären sowjetischen Führer als auch auf das Naziregime), sondern mit Molussien verfügt Anders zudem über das perfekte Mittel, um seine gesellschaftskritische Philosophie zu transportieren. Dabei stehen grundsätzliche Probleme des Menschen im Vordergrund, der fest in den gesellschaftlichen Strukturen eingebunden und teilweise auch gefangenen ist, nicht sklavische „Linientreue“ gegenüber einer bestimmten politischen Richtung. Beweis dieser unbestechlichen Widerspiegelung historischer Realität ist die Tatsache, daß sich in Ursien (welches die Lage in der Sowjetunion reflektiert) ähnliche Probleme finden wie in Molussien (dem Deutschen Reich der 30er Jahre), wenn auch unter anderen Vorzeichen. In beiden Ländern ähneln sich die Strukturen der Herrschaft stark - hier wie dort besteht die Bevölkerung zum größten Teil aus einer breiten unteren Schicht der einfachen Arbeiter und Werktätigen. Dieser Gruppe ist es in beiden Systemen nicht vergönnt, selbstbestimmt zu leben, und oft ist ihre Existenz auf ein reines Überleben reduziert. Dennoch sind sie unfreiwillig auch Träger des Systems, da sie sich ihrer Rolle in der Gesellschaft und ihrer Macht nur ungenügend bewußt sind, und sie durch verschiedenste Mechanismen (wie beispielsweise den „Tag der Abrechnung“, der zugunsten „einer jährlich einmaligen Entladung der politischen Leidenschaft einen Umsturz von Jahr zu Jahr verhindert und verschiebt“11 ) daran gehindert werden, aktiv einen Veränderungsprozeß in die Wege zu leiten.

Anders geht noch weit über die soziale Fragestellung hinaus. Entscheidend sind die Strukturen von Besitz und Herrschaft, die in Molussien wie in allen Industriestaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Arbeiter zum Sklaven der Produktionsmittel und damit zum Besitz der Inhaber dieser Produktionsmittel machen. Gleich am ersten Tag in der Katakombe, an dem Yegussa noch seinen bürgerlichen Namen Kuru trägt und die Eindrücke aus Molussien noch frisch sind, berichtet er seinem älteren Mitgefangenen Olo vom Verrat eines Freundes: „Ich schlug also vor, wir sollten uns die ‚Zweitrangigen’ nennen. Damit unsere Besitzer ein für alle Mal sähen, daß ein Unterschied zwischen ihnen und uns ist. Unsre Demut sollte ihnen ihre Schlechtigkeit beweisen. Denn was man in Molussien nicht sagt, das merkt keiner, das ist nicht da. Als ich den Vorschlag machte, da verriet mich mein bester Freund.“12 Das erklärte Ziel des Autors ist es also, die übergeordneten Strukturen, durch die erst die Grundlagen für ein totalitäres Regime geschaffen werden können (wozu unter anderem die Besitzverhältnisse gehören), offenzulegen und nicht mehr stillschweigend zu akzeptieren oder sich mit den herrschenden Verhältnissen (und mit den Herrschern) zu arrangieren.

IV. 1. 3 Didaktischer Roman

Bereits bei der Lektüre der „Inschrift auf der Statue der als Lüge verkleideten Wahrheit“13 und des Vorwortes wird die didaktische Absicht des Romans deutlich. Das vorangestellte Lehrgedicht und das Vorwort dienen nicht nur der Erhöhung der Authentizität und der Fingierung von Realität, indem für den folgenden Text Dokumentcharakter geschaffen wird, sie bestimmen auch das „geistige Umfeld“, in dem der Roman gelesen werden muß. Dieser versteht sich keinesfalls als nur kurzweilige Unterhaltung oder geistvolle Geschichte, sondern verlangt nach einer intensiveren Auseinandersetzung. Gefordert ist dabei das Vermögen des Lesers, die im Text aufgeworfenen Fragen zu analysieren, zu reflektieren, und sie mit seinem eigenen Wissensstand zu vergleichen. Ein interessanter Aspekt dabei ist, daß der Dialogcharakter und damit die Unmittelbarkeit des Werkes den Leser durch ihre fesselnde Sogwirkung in eine Diskussion mit den Hauptfiguren treten läßt, wodurch die aufgeworfenen Fragen und Probleme direkt an ihn herangetragen werden.

Durch das Mittel, die bruchstückhaften Binnengeschichten mit Hilfe von Dialogen zu verbinden, werden diese immer wieder reflektiert und umgedeutet. Im Zuge dieser Reflektionen gewinnen die Dialoge mehr und mehr dialektischen Charakter und führen über Aussagen und Gegenaussagen, Fragen und Gegenfragen zu einer genaueren Beschreibung des Problems. Die Anwendung dieser dialektischen Methode erreicht schließlich ihr Ziel, indem die Fragen und Aussagen innerhalb der Dialoge auf einer höheren Abstraktionsebene integriert werden, und so den Leser gemeinsam mit den Hauptfiguren zu einer Erkenntnis vom wahren Wesen der Dinge gelangen lassen.

Unterstützt wird die didaktische Absicht der Vermittlung von Wissen über das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens durch die Nutzung des Montageprinzips, dem sich auch die eingelagerten Gedichte, Lieder, und Gegenlieder unterordnen. Die einzeln montierten Teile werden untereinander so verflechtet, daß es Anders gelingt, das zu Beginn Unsichtbare - nämlich die hinter den einzelnen Geschichten verborgene Metaebene der Wahrheit - am Aufzeigen der sichtbaren Realität herauszuarbeiten.

In welcher Breite der Philosoph Günther Anders, dem elitäres Denken vollkommen fremd war, seine Denkanstöße, seine kritischen Überlegungen in der Praxis eingesetzt sehen möchte, wird besonders gut an folgendem Zitat aus dem Vorwort sichtbar: „Einzelne der Geschichten sind als Diskussionsunterlagen innerhalb der breiten Erziehung zur Vernunft zu benutzen; ausgewählte Stücke sollen sogar mit Kindern zusammen gelesen werden.“14

IV. 2 Dialoge & Binnengeschichten

Wollte man „Die molussische Katakombe“ mit einem Organismus vergleichen, würden die Dialoge als das formgebende Skelett, und die Binnengeschichten als das Herz des Romans identifiziert werden. Die in ihrer Form an diejenigen des Platon erinnernden Dialoge erfüllen zuerst einen funktionalen Zweck: sie beinhalten das eigentliche Geschehen, die (Rahmen-) Handlung des Romans, und dienen darüber hinaus als Diskussionsforum, in welchem die in den Binnengeschichten angesprochenen Themen auf einer übergeordneten Ebene erörtert werden können. Die Gedankenvielfalt, Diskursanregungen, und der geistige Schatz, der aus Anders’ reichhaltigem Philosophieren stammt, machen diese „Geschichten innerhalb der Geschichte“ zum zentralen Ort des „philosophischen Unterrichts“ nach dem Selbstverständnis des Autors, der sich auch in seinen anderen Werken nie des sprichwörtlichen „erhobenen Zeigefingers“ bedient hat. Im Gegenteil, die Erlangung von Erkenntnissen bleibt stets nur als Möglichkeit im Raum stehen und ist der selbständigen und unabhängigen Einschätzung des Lesers überlassen.

Weitere Aufgaben der Dialoge, die wiederum am Gedankenaustausch der beiden Hauptfiguren deutlich werden, sind die Auswertung und die Hinterfragung der erzählten Geschichten durch Olo und Yegussa, und schließlich die formelhafte Festigung der weiterzugebenden Lehren. Dies geschieht auf eine Art und Weise, durch die es dem Leser ermöglicht wird, aktiv an diesem Denk- und Entwicklungsprozeß teilzuhaben.

Entscheidend für das Weitergeben der Lehre ohne unnützen Ballast ist die Art der Überlieferung. Im Laufe der Zeit wird durch die Meldereiter die Zuordenbarkeit der Geschichten zu ihrem jeweiligen Autor geändert und gleichzeitig werden die Geschichten selbst entfremdet, indem sie in einem fremden Kontext erzählt werden. Damit geschieht mit den Fakten auf der Ebene des Romans das gleiche, was auch für die Verarbeitung der zeitgeschichtlichen Ereignisse durch Anders zutrifft: die Realität wird durch das Mittel der Verfremdung verkompliziert. Dieser Verfremdungseffekt dient nicht nur als künstlerisches Mittel oder als Schutzmantel versteckter Systemkritik, sondern ermöglicht letzten Endes auch eine von nebensächlicheren Umständen losgelöste Betrachtung der Fakten.

IV. 3 Die Unter-Welt Molussiens: die Katakombe ...

IV. 3. 1 ... als Ort der Gefangenschaft

Die dunkle Welt der Gefangenen, die sich direkt unterhalb Molussiens befindet, ist der fast schon mystische Ort, an dem die politischen Parabeln, die Lehren, die zur Fortsetzung des Freiheitskampfes notwendig sind, von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Zuerst und ganz profan ist die Katakombe der Ort der Gefangenschaft, einer Gefangenschaft, die sich über Generationen von „Meldereitern“ erstreckt und deren wahre Ausmaße sowohl dem Leser als auch den Protagonisten verborgen bleiben. Allerdings verweist allein der Begriff „Katakombe“ anstelle von zum Beispiel „Gefängnis“ darauf, daß hier besondere Umstände Gültigkeit besitzen. In frühchristlicher Zeit bezeichnete man eine unterirdische Anlage zur Bestattung der Toten als Katakombe15, und mit diesen haben die Gefangenen etwas gemeinsam: wir wissen von keinem Meldereiter, der je wieder ans Tageslicht in die Freiheit entlassen worden wäre. Weiterhin bedeutet die Unterbringung der Gefangenen auf engstem Raum, ohne Licht und mit gerade ausreichender Nahrungsversorgung eine nur sehr eingeschränkte Existenz, die man kaum „Leben“ nennen kann, und die eher die Bezeichnung „Dasein zwischen Leben und Tod“ verdient: „Da erschrak Kuru zum dritten Male und begriff nun, daß er tot war und nur etwas von ihm noch weiterlebte, weil man es brauchte: hören und reden.“16

Die absolute Dunkelheit, in der Olo und Yegussa weder sich selbst, noch ihr Gegenüber durch den Gesichtssinn wahrnehmen können, sorgt dafür, daß als einziges Verständigungsmittel die Sprache bleibt. In dieser besonderen Sprechsituation, in der das Gesprochene für sich allein, das heißt ohne Mimik und Gestik funktionieren muß, werden unmißverständliche, klare Ausdrücke verlangt. Man könnte argumentieren, daß das Ergebnis dieser erzwungenen äußeren Umstände dem „reinen“ Denken am nächsten kommt, und daß dadurch die Aufgabe der Meldereiter, die Geschichten der Wahrheit bis zur Stunde des Sieges der Revolution weiterzureichen, wenn auch nicht grundsätzlich ermöglicht, so doch zumindest unterstützt wird.

IV. 3. 2 ... als Ort der Tradierung

Durch die mündliche Überlieferung der Geschichten von Meldereiter zu Meldereiter, von Generation zu Generation wird der Keller zum Aufbewahrungsort der wahren Geschichte Molussiens.17 Für die Gefangenen spielt es dabei keine Rolle, ob das über ihnen liegende, laute Molussien davon Kenntnis hat oder nicht - eine Tatsache, die Olo dem Jüngeren während seiner Phase der „Entwöhnung“ erst noch lehren muß. Solange die Kette der Meldereiter nicht unterbrochen wird, ist die jenseitig anmutende Katakombe der Hort der Wahrheit, mit dem letztendlichen Ziel, diese „nach oben zu bringen“, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Die weitergereichten Geschichten enthalten dabei nicht nur die wahre Historie, sondern gleichzeitig auch Wissen, das sonst verloren wäre. Olo und Yegussa verlassen sich dabei wie ihre Vorgänger nur auf sich selbst, sie ahnen höchstens, daß sie belauscht werden, wissen aber nicht mit Bestimmtheit, ob und in welcher Form die Gespräche aufgezeichnet werden - im Gegensatz zum Leser, der sich von Anfang an der zum Mitschreiben gezwungenen Gefängniswärter bewußt ist.

In der Mündlichkeit der Überlieferung der Meldereiter stehen Reden und Hören gleichberechtigt nebeneinander. Ohne aufmerksames Zuhören ist die erforderliche möglichst genaue Weitergabe der Geschichten nicht möglich. Der Aspekt der Mündlichkeit im Gegensatz zur sicher auch in Molussien außerhalb der Katakombe üblichen schriftlichen Überlieferung erfordert auch eine andere Form der Erinnerung, des Gedächtnisses. Selbst das sture Auswendiglernen und die ständige Wiederholung der Texte, die Olo von Yegussa fordert, schützen nicht vor einer schleichenden Veränderung des immer beweglich bleibenden Textes. Trotz der versuchten genauen Überlieferung unterliegen die Geschichten der ständigen Gefahr, sich zu verändern oder im schlimmsten Fall sogar in Vergessenheit zu geraten, wie es mit einem Großteil der Geschichten durch widrigste Umstände in der Tat geschehen ist. Bedingt durch die mündliche Form der Überlieferung werden die Ereignisse in den Geschichten weniger chronologisch, sondern eher thematisch und vor allem kausal geordnet.

Wichtig für die Erzählstruktur des Romans ist die Tatsache, daß die Tätigkeit des Zuhörens nicht auf Yegussa (und umgekehrt in einigen Fällen auf Olo) beschränkt bleibt, sondern indirekt auch die Kalfaktoren miteinbezieht. Im üblichen Sprachgebrauch versteht man unter einem „Kalfaktor“ jemanden, der Hilfsdienste verrichtet, wobei diese Umschreibung zu der Definition „Hilfsdienste verrichtender Strafgefangener“ erweitert werden kann.18

Tatsächlich unterliegen die Kalfaktoren einem ähnlichen Zwang wie die Gefangenen, wie schon die erste unter den Meldereitern erkannte: „ ... ‚Schließer’, sprach sie, und sie sprach völlig ins Leere, ‚Schließer’, Du bist nicht weniger gefangen als ich: gefangen durch meine Gefangenschaft, gezwungen, den Gefangenen zu zwingen.“19 Auch wenn die Geschichten der Ersten verloren gegangen sind, werden seither die Dialoge zwischen den Gefangenen von den Kalfaktoren aufgezeichnet. Somit sind diese der entscheidende Träger der Überlieferung, da Olo und Yegussa letztendlich keine Gelegenheit mehr haben, ihre Geschichten für die Nachwelt ans Tageslicht zu bringen. Diese Konstruktion des Romans weist darauf hin, daß alle in einem totalitären System begangenen Handlungen, auch die derjenigen, die glauben, durch ihren freien Willen zu agieren, gleichermaßen „gefangen“ in den die Individualität einengenden Strukturen des Regimes sind.

Zuletzt bleibt anzumerken, daß die Katakombe mehr ist als ein bloßer Aufbewahrungsort von Geschichte. Die Unterwelt umschließt nicht nur das Vergangene; sie erscheint ebenso als ungeborene Zukunft, werden doch genau hier die Grundlagen errichtet, auf denen das neue Molussien nach der erhofften siegreichen Revolution aufbauen soll.

V. 3. 3 ... als Element der Erzähltechnik

Im strukturellen Aufbau des Romans spielt die Katakombe eine entscheidende Rolle als Gegenstück zum an der Oberfläche liegenden Molussien. Als Nichtort und Nichtwelt kontrastiert sie das in den Geschichten von Olo und Yegussa geschilderte bunte Leben Molussiens, und ermöglicht so eine analytische Betrachtung der beinhalteten Lehren frei von äußeren Einflüssen. Mehr noch, die Unterwelt Molussiens kann auch als Symbol eines Gegenentwurfs zur Realität der oberen Welt gesehen werden. Das dortige Geschehen wird zwar ständig in den Geschichten der Gefangenen thematisiert, wirkt aber in der unendlichen Dunkelheit der Katakombe fremd und unwirklich. Dieser Verfremdungseffekt entsteht vor allem durch die vollkommene physische Abgeschiedenheit, in der eine künstliche Realität geschaffen und derjenigen an der Oberfläche gegenübergestellt wird. Persönliche Details und historische Authentizität sind eher unwichtig; was allein zählt, sind die weiterzugebenden Lehren vom Lebenskampf der Molussier. Dabei werden die Erinnerungen der einzelnen Meldereiter nur dann zu tradierungswürdigen Geschichten, wenn sie in der dritten Person erzählt werden. Nur auf diese Weise können die Geschichten entpersonalisiert werden, um schließlich als Träger der Vermittlung der Lehren dienen zu können. Wie wichtig dieser Prozeß der Umwertung ist, der mit allen neuen Berichten geschieht, muß Yegussa während der Phase der „Entwöhnung“ schmerzhaft am Beispiel seiner eigenen Geschichte über die Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und seinem Bruder erfahren.20

Die Unter-Welt der Katakombe kann außerdem als utopischer Ort bezeichnet werden. Ihre Außerweltlichkeit wird nicht nur durch räumliche (Gegensatzpaar Unter- / Oberwelt) und zeitliche Aspekte (Zeitverlust im Dunkeln; die Unterteilung in Tag und Nacht entfällt bzw. wird vom Darreichen des Essens bestimmt) kenntlich gemacht, sondern äußert sich auch darin, daß in Molussien selbst die Existenz der Gefangenen beinahe in Vergessenheit geraten ist. In gleichnishafter Weise wird im Roman die Katakombe als der eigentliche Ort des „wahren Molussiens“ bestimmt, aus dessen Dunkel heraus die Wahrheit leuchtet, die nur hier entschlüsselt und weitergegeben werden kann. So erweist sich die Katakombe als der Ort des inneren Lebens - ein Leben durch und für die Geschichten. In ihrer Wirkung als zwischengeschaltete Reflexionsebene geht die Katakombe damit weit über die Funktion einer bloßen Rahmenhandlung hinaus.

V. Die Hauptrollen: Olo und Yegussa

Das augenfälligste Merkmal bei der Betrachtung der beiden Hauptfiguren ist der wichtige Umstand, daß die beiden Namen „Olo“ und „Yegussa“ nicht als Bezeichnungen zweier Individuen gelten. Im Verlauf der Überlieferung der politischen Parabeln von einer Generation zur nächsten ist der ältere Gefangene immer „Olo“, und der jüngere wird immer „Yegussa“ genannt. Möglicherweise ist es kein Zufall, daß diese Namen den Lauten der englischen Bezeichnungen für alt und jung (Olo Æ old; Yegussa Æ young) ähneln, um eine entsprechende Assoziation des Lesers hervorzurufen. Fast sicher scheint es, daß Anders bewußt bei der Namenswahl des Älteren, der sich bereits am Ende seiner Entwicklungsphase befindet, einem kurzen Namen mit nur einer Silbe den Vorzug gegeben hat. Die Prägnanz vermittelt die Einheit der Persönlichkeit, die Olo im Gegensatz zu dem in seiner Entwicklung noch unfertig wirkenden Yegussa ausstrahlt, und die sich auch in seiner Gewißheit und Selbstsicherheit ausdrückt. Erst nach und nach wird der Kontrast zwischen beiden Figuren weicher, bis die Ähnlichkeit am Ende ein Stadium erreicht, in dem der Jüngere den Platz des Älteren einnehmen kann.

Beide Namen sind nichts anderes als Rollenbeschreibungen, wobei die einzelnen Darsteller austauschbar bleiben. Wie individuell die verschiedenen Gefangenen mit ihrer persönlichen Geschichte auch sein mögen - hier unten in der Katakombe wird all das reduziert auf das Wesentliche, was für die Erfüllung der Aufgabe erforderlich ist: Sprechen und Hören. Dies geht sogar so weit, daß der jüngere Mitgefangene unbewußt der ihm zukommenden Rolle entspricht und seine Bemerkungen und Einwände laut Olo nichts als Rezitationen „des festgelegten Textes“21 sind. Der ältere Gefangene geht noch einen Schritt weiter und konfrontiert sein Gegenüber schonungslos mit dem einzig noch verbliebenen Sinn seines Daseins und gleichzeitig seiner Pflicht, Zuzuhören und Weiterzugeben: „Du hast Deine Rolle aufgesagt, und zwar fehlerlos.“22 Selbst wenn diese Aussagen Olos wie angedeutet nicht ganz der Wahrheit entsprechen, dienen sie einem wichtigen pädagogischen Zweck: sie sensibilisieren Yegussa für die vor ihm liegende Aufgabe, die „größer ist als er selbst“. Es sind jedoch nicht allein die Größe und die Wichtigkeit dieser Aufgabe, die ausreichen, die individuelle Persönlichkeit in den Hintergrund zu verdrängen. Die eigentliche Entscheidung für Yegussas Annahme seiner Stelle in der Kette der Meldereiter wird ihm in dem Moment abgenommen, als er in die Zelle zu Olo geführt wird. Sei es die Verweigerung jeglicher Kommunikation mit dem Gegenüber oder das Warten auf den Tod: die Alternativen, die dem neuen Gefangenen in der Dunkelheit und Enge der Katakombe noch verbleiben, bedeuten immer eine Form von Nicht- Existenz und Selbstaufgabe, die bei Anders von vornherein ausgeschlossen scheint.

Mit fortschreitender Handlung tritt die Tatsache, daß Olo und Yegussa Gefangene sind, mehr und mehr in den Hintergrund. Immer wichtiger wird auch für Yegussa ihre Aufgabe, in der beide geradezu versinken und die sie ironischerweise ohne die ablenkungsfreie Gefängnisumgebung schwerlich in dieser vollständigen Art und Weise hätten erfüllen können. Obwohl das Erzählen und das Zuhören in beide Richtungen funktioniert (auch Yegussa erzählt Olo die eine oder andere Geschichte), ist es Teil der Rolle des Älteren, die während seiner in der Katakombe verbrachten Zeit selbst gehörten Geschichten und seine Erfahrungen weiterzugeben. Zur Funktion des Älteren gehört es auch, Mentor für den jüngeren, noch ungeschliffenen Mitgefangenen zu sein, und ihn schließlich auf den bevorstehenden Rollenwechsel vorzubereiten.

Die größte Angst und gleichzeitig auch die vorwärtstreibende Kraft, die beide an ihrem Ziel festhalten läßt, ist die Angst vor dem vorzeitigen Abreißen der Kette der Meldereiter: „Es gab keinen, der sich nicht täglich geängstigt hätte, zu früh zu sterben, die Botenkette zu zerreißen und nach sich die Leere zu lassen.“23 Die Gefangenen leben in ständiger Ungewißheit und müssen davon ausgehen, daß der Erfolg der Mission allein von ihnen abhängt. Die Hoffnung auf andere Reihen von Meldereitern, auf „Auswege und Erleichterungen“ verbietet sich Olo (und damit auch Yegussa) selbst: „Was geht mich meine Hoffnung an? Jede Reihe hat zu tun, als sei sie die einzige.“24 Sie ahnen zwar, daß man ihre Gespräche abhört und aufzeichnet, aber diese Ahnung bietet keinerlei Sicherheit. Nur der Leser weiß, daß die Kalfaktoren unfreiwillig für die Überlieferung sorgen und daß das Tun der Meldereiter nicht vergeblich ist. Diese Konstruktion einer Doppelstruktur, in der sich Gefangene und Kalfaktoren ergänzen, illustriert die verschlungenen Wege, die der Wahrheit letzten Endes doch einen Zugang zu den Menschen ermöglicht, die ihr zuzuhören gewillt sind.

Das Überleben in der feindlichen Extremsituation der Katakombe und die Fortführung der Aufgabe weist Ähnlichkeit mit einer Trotzreaktion auf, einer Einstellung, in der die Gefangenen sagen: „jetzt erst recht“, ohne dabei etwaige, erleichternde Hoffnungen zu berücksichtigen. Denn für Olo berechtigt Hoffnung keinesfalls zum Nichthandeln, obwohl die Gefahr besteht, daß der Hoffende genau dazu verleitet wird. Diese Art von positivistischen Gedankenspielen wird daher als etwas trügerisches, sogar Gefährliches eingestuft, was den Menschen daran hindern kann, konzentriert sein Ziel weiterzuverfolgen.

VI. Wahrheit und Lüge

Wie ein übergroßes Mahnmal am Eingang zu einer Gedenkstätte stimmt die dem Vorwort vorangestellte „Inschrift auf der Statue der als Lüge verkleideten Wahrheit“ die Besucher Molussiens auf das Kommende ein. Die doppelte Allegorie verdeutlicht den dialektischen Ansatz des Werkes: das Konzept „Wahrheit“ beziehungsweise das einer Aussage zugewiesene Attribut „dies ist wahr“ hat nicht die Qualität, auf bloße Ansicht hin unwiderlegbar bestätigt zu werden oder nicht. Um in das Bewußtsein der Menschen vorzudringen, ist hauptsächlich eines notwendig: man muß ihre möglichst ungeteilte Aufmerksamkeit erringen. Da somit auch eine Lüge durch die effektvoll vorgetragene Behauptung, sie sei wahr, als Wahrheit akzeptiert werden kann, ist diese gefordert, doppeltes Spiel zu treiben: „Da ließ ich meinen Dünkel, strich den Mund | Gemein mir an und donnerte mich auf | Und probte tags und übte mich bei Nacht, | Bis ich wußte: keine lügt wie ich.“25

Die Notwendigkeit, der Wahrheit einen auffälligen Auftritt zu verschaffen, ergibt sich aus der Tatsache, daß Wahrheit und Lüge zwar zwei genau gegensätzliche Konzepte darstellen, die Lüge aber das beweglichere von beiden ist. Ohne Probleme befriedigt sie die Erwartungshaltung der Menschen und bedient ihre Wünsche. Sie ist mehrschichtig, nicht an Tatsachen gebunden, und sie vermag sich der jeweiligen Situation und ihrer Zuhörerschaft anzupassen - genau die Fähigkeiten, auf welche die nationalsozialistische Propaganda zurückgreift. Den Einsatz dieser Mittel fordert Anders nun auch für die Wahrheit, die sich das Gehör der Massen erkämpfen muß, um nicht der grellbunten, alles niederschreienden Lüge zu unterliegen.

Über dieses Wissen verfügen natürlich auch die Meldereiter, und der jüngere Yegussa erfährt von Olo: „Auch Du wirst zuhören müssen, denn die Wahrheit ist nicht da, um auf ihre Verstecktheit und Dunkelheit stolz zu sein. Auch Du wirst die Wahrheit weitertragen, und vielleicht wird sie in hundert oder zweihundert Jahren nach oben gebracht werden, damit die Stadt wisse, welche Bewandtnis es mit ihr habe.“26 Versteckt im Gleichnis der Katakombe und der Meldereiter hat Anders seine Sicht auf den Stand der Dinge im Deutschland der Jahre ab 1933 zum Ausdruck gebracht: dies war die Zeit und der Ort, an dem die Wahrheit in weiten Teilen des öffentlichen Bewußtseins keinen Platz mehr finden konnte. Um ihr eine Weiterexistenz zu ermöglichen, um sie dennoch - zumindest für spätere Generationen - zu bewahren, erschuf Anders mit der „Molussischen Katakombe“ einen Weg, die Wahrheit auszusprechen, zu denken, und schließlich weiterzureichen. Auch wenn dieser Weg im Dunkeln, im Versteckten und Geheimen gegangen werden mußte, ist Günther Anders im Sinne seines Romans selbst einer der Meldereiter gewesen, die dafür Sorge trugen, daß die Kette der Überlieferung von wahrer Geschichte nicht abriß.

Anders frühzeitige Erkenntnis der manipulativen Kraft der Goebbelschen Propaganda spiegelt sich in der kritischen Parabel „Das Tierkolleg oder die Konkurrenzfähigkeit der Lüge“ wieder. Es geht um das Problem der Vermittlung von Informationen, wobei es für die tierische Zuhörerschaft zweitrangig ist, ob diese der Wahrheit entsprechen oder nicht. Für die Tiere des Königlichen Tierparks, für die leicht steuerbaren Massen, in der der Einzelne (und häufig genug auch sein eigenständiges Denken) ausgeschaltet ist, scheint der Magier mit seinen einschmeichelnden, süßen Melodien viel anziehender zu sein als die Argumente des Aspiranten auf den sechsten Priestergrad. Die Auflösung der Situation gelingt schließlich dem Dritten Anwärter, der von folgendem Ausgangspunkt ausgeht: „Wenn wir die Wahrheit nicht ins Leere sprechen wollen, müssen wir immerhin vorher werben.“27 Seinem Ruf folgen die Tiere zunächst; diejenigen, die nicht die angebotene Freiheit, das „Angebot der weiten Ebenen“28 annehmen, und die „streberisch, dick und dumm sind, die nach oben schielen und die die Vorschriften der Schule lieben, weil sie zu ihrer Befolgung gezwungen sind“29, erleiden den Tod, dem in unserer Realität außerhalb des Tierparks geistiger Stillstand und opportunistische Anpassung entspricht.

Die Wahrheit muß nicht nur erkämpft werden; zunächst „müssen unsere Wahrheiten gemacht und angemeldet werden.“30 In diesem Ausspruch Yamyams liegt eine der wichtigsten Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Perzeption der Wahrheit: allein ist diese machtlos. Wie die Lüge, die auf der Macht des Lügenden beruht, muß auch für die Wahrheit eine Lobby geschaffen werden, benötigt man Mitstreiter, die gemeinsam ihre Ansprüche vorbringen und verteidigen.

VII. Zusammenfassung

In einer abschließenden Bewertung würde ich die uns heute vorliegende Version der „Molussischen Katakombe“ zuerst als eine philosophische Schrift einordnen, da hier zuvorderst die Strukturen totalitärer Systeme, die Manipulation durch propagandistische Mittel, und die Frage nach der Wahrheit erörtert werden. Der Roman hält Rückschau auf eine Zeit der Unwahrheit und bietet der heutigen Generation genügend Anschauungsmaterial innerhalb der parabelhaften Geschichten, um den geistigen Zustand, in dem sich große Teile des deutschen Volkes befanden, nachvollziehen zu können.

Damit ist Anders mehr als ein antifaschistischer Roman gelungen, der seinem ursprünglichen Zweck, das täglich angewandte Prinzip der Lüge im Naziregime aufzudecken und zum zunächst geistigen Widerstand aufzurufen, längst entwachsen ist. Gerade durch die mehrfache, umfangreiche spätere Überarbeitung des Werkes und durch das Hinzufügen von weiteren Geschichten ist ein großes allgemeingültiges philosophisches Werk entstanden, daß in bester Tradition erzählter Fabeln und Gleichnisse die Probleme diskutiert und sie von allen Seiten betrachtet, ohne sich selbst untreu zu werden oder den Leser in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Gefordert als Rezipient ist der mündige, selbstbestimmte, moderne Mensch.

VIII. Anhang

Bibliographie

Primärliteratur:

ƒ- Anders, Günther: Die molussische Katakombe. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1992.

Sekundärliteratur:

-ƒ Liessmann, Konrad Paul: Moralist und Ketzer. Zu Günther Anders und seiner Philosophie des Monströsen. IN: Günther Anders. TEXT+KRITIK, Heft 115, Zeitschrift für Literatur. Verlag edition + kritik, München 1992.

ƒ- Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders zur Einführung. Junius, Hamburg 1993.

ƒ- „ Brecht konnte mich nicht riechen. “ Gespräch mit Günther Anders. IN: Raddatz, Fritz J.: ZEIT-Gespräche 3. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986.

„ Wenn ich verzweifelt bin, was geht ’ s mich an? “ Günther Anders im Gespräch mit Mathias Greffrath, 1979. IN: Lassahn, Bernhard (Hg.): Das Günther Anders Lesebuch. Diogenes Verlag, Zürich 1984.

Internet-Quellen:

-ƒ Bild auf der Titelseite: österreichisches Kulturinformationssystem (AEIOU). URL: http://www.aeiou.at/aeiou.encyclop.a/a509971.htm

[...]


1 Siehe Raddatz, Gespräch mit Günther Anders. S. 9-30

2 Beispielsweise während der Entwöhnung Yegussas: Anders, Die molussische Katakombe. S. 32, 34

3 Liessmann, Günther Anders zur Einführung. S. 123

4 Liessmann, ebd. S. 124

5 Liessmann, Moralist und Ketzer. IN: TEXT + KRITIK

6 Liessmann, Günther Anders zur Einführung. S. 76

7 vgl. Günther Anders’ Arbeiten zur Phänomenologie des Fernsehens

8 Liessmann, Günther Anders zur Einführung. S. 125

9 Lassahn, Das Günther Anders Lesebuch. S. 302

10 Anders, Die molussische Katakombe. S. 11

11 Anders, Die molussische Katakombe. S. 145

12 Anders, Die molussische Katakombe. S. 16

13 Anders, Die molussische Katakombe. S. 7

14 ebd. S. 11

15 vgl. Langenscheidt Fremdwörterbuch

16 Anders, Die molussische Katakombe. S. 20

17 Anders, Die molussische Katakombe. S. 17

18 vgl. Langenscheidt Fremdwörterbuch

19 Anders, Die molussische Katakombe. S. 44

20 Anders, Die molussische Katakombe. S. 68-71

21 Anders, Die molussische Katakombe. S. 46

22 ebd.

23 Anders, Die molussische Katakombe. S. 32

24 ebd. S. 34

25 Anders, Die molussische Katakombe. S. 7

26 Anders, Die molussische Katakombe. S. 17

27 Anders, Die molussische Katakombe. S. 29

28 ebd. S. 30

29 ebd. S. 31

30 ebd. S. 209

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Wahrheit und Lüge: Gesellschaftstheorie und -kritik in Günther Anders' oman "die molussische Katakombe"
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Hauptseminar: Halykonien. Erzählte Unter-Welten im 20. Jahrhundert
Note
1-2
Autor
Jahr
2001
Seiten
17
Katalognummer
V106223
ISBN (eBook)
9783640045020
Dateigröße
615 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrheit, Lüge, Gesellschaftstheorie, Günther, Anders, Katakombe, Hauptseminar, Halykonien, Erzählte, Unter-Welten, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Matthias Vorhauer (Autor:in), 2001, Wahrheit und Lüge: Gesellschaftstheorie und -kritik in Günther Anders' oman "die molussische Katakombe", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106223

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