Intelligenz - Anlage oder Umwelt?


Hausarbeit, 2001

37 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was ist Intelligenz?
2.1. Intelligenztests
2.2. Vielfaktorenmodelle von Intelligenz und moderne Intelligenzkonzeptionen

3. Versuchsanordnungen zur Ermittlung von Einflüssen
3.1. Typologie von Theorien der Entwicklungspsychologie
3.2. Klassische Versuchsanordnungen zur Faktorenermittlung
3.2.1. Isolierte Betrachtung von Anlagefaktoren
3.2.1.1. Molekulargenetik
3.2.1.2. Quantitative Genetik
3.2.2. Isolierte Betrachtung von Umweltfaktoren
3.3. Zusammenfassung
3.4. Integrierende Ansätze

4. Schlusswort

Anhang

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Anlage-Umwelt-Debatte losgelöst von dem speziellen Feld der Intelligenz ist generell eines der spannendsten Themen der Entwicklungspsychologie aber auch verwandter Forschungsgebiete.

Unumstritten unter den Anhängern des jeweiligen Lagers ist inzwischen, dass immer Anlage als auch Umwelt das Erleben und Verhalten des Individuums determinieren.1 Was hierbei allerdings heute noch zu (wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen führt, ist die Stärke des jeweiligen Einflusses, d.h. der Stabilität von anlagebedingten Merkmalen und der Prägung des Menschen durch die Umwelt.2

Zumindest kann durch die Entscheidung des Wissenschaftlers oder Behandelnden für die eine oder andere Seite im Sinne einer Extremposition eine grundsätzliche Weichenstellung in der Theorie, über die Diagnostik bis hin zur Therapie bewirkt werden:

Während der eine Therapeut ein Verhaltensdefizit mit einer Verhaltensbeeinflussung von außen zu korrigieren versucht wird der andere Therapeut das gleiche Verhaltensdefizit eben nur mit Medikamenten therapieren, um durch Gene programmierte biochemische Vorgänge zu modifizieren.3

Oder bezogen auf die Betonung der Anlage bzw. Umwelt auf verschiedenen Arbeitsgebieten der Organisationspsychologie: Ein Eignungsdiagnostiker geht implizit davon aus, dass die getesteten Merkmale der Person relativ stabil sind, während ein Personaltrainer durch seinen Ansatz unterstellt, dass Verhaltensmerkmale der Person in stärkerem Maße durch gezielte Schulung beeinflussbar und veränderbar sind.4

Historisch gesehen schien der wissenschaftliche Disput zwischen Vererbungsdeterministen bzw. Milieupessimisten, die hauptsächlich im Lager der Lerntheoretiker zu finden waren, und Environmentalisten bzw. Milieuoptimisten, die vorwiegend im Lager der vergleichenden Verhaltensforscher zu finden waren, Ende der 60er Jahre zugunsten der zweiten Gruppe entschieden zu sein. Doch zu Beginn der 70er Jahre gelang es z.B. Jensen und Eysenck mit provokativen Arbeiten die Diskussion wieder anzufachen und der ersten Gruppe, zu der sie gehörten, wieder einen größeren Einfluss zu verschaffen.5

Vorweggenommen werden kann schon jetzt, dass es immer von dem zu untersuchenden Verhalten abhängen wird, ob die Umweltbedingungen oder die Erbanlagen mehr Einfluss haben. Z.B. dürften bestimmte Einschränkungen der Wahrnehmung wie Farbenblindheit fast ausschließlich auf genetischen Faktoren beruhen während Durchsetzungsvermögen wiederum fast ausschließlich umweltbedingt sein dürfte.6

Folgendes sollte allerdings bedacht werden: ,,Manches was genetisch determiniert ist, kann modifiziert werden, während manches was erworben wurde, allen Veränderungsversuchen trotzt."7

Die eben angedeutete Anlage-Umwelt-Kontroverse soll im weiteren anhand des Beispiels Intelligenz untersucht werden, das in diesem Bereich eines der am stärksten umstrittenen Gebiete ist.

Die Vorgehensweise wird in dieser Arbeit wie folgt sein: Einer einführenden Definition von Intelligenz wird gefolgt von Untersuchungsmöglichkeiten, um Einflussgrößen zu messen und schließlich abgerundet mit einem integrierenden Ansatz, der verschiedene Entwicklungstheorien berücksichtigt.

2. Was ist Intelligenz?

Schon mit der Fragestellung, was Intelligenz eigentlich ist, könnte eine komplette Hausarbeit bestritten werden. Aus diesem Grund muss zumindest kurz angesprochen werden, dass sowohl der Inhalt des Intelligenzbegriffes und damit eng zusammenhängend wie Intelligenz gemessen werden kann, in der Literatur umstritten war und die Wissenschaftler sich zumindest heute auf eine Minimaldefinition verständ igt haben.

Dies ist deshalb zu erwähnen, weil es damit nicht unbedingt leichter wird, die Abhängigkeit eines Begriffes von Determinanten wie Umwelt oder Anlage zu erklären, wenn der zu erklärende Begriff an sich schon nicht eindeutig definiert werden kann.

2.1. Intelligenztests

Eine erste sehr unreflektierte Definition besagt, dass ,,Intelligenz das ist was, durch Intelligenztests gemessen wird".8 Der erste Intelligenztest wurde 1905 von Binet in Frankreich entwickelt, um geistig zurückgebliebene Kinder objektiv einstufen zu können. Sein Vorgehen war pragmatisch, indem er den Kindern eine bestimmte Anzahl von Testfragen vorlegte, die zum einem von den Lebensumwelten der Kinder unabhängig waren und außerdem nicht auf auswendig gelerntes Wissen, sondern auf logisches Denken abzielten. Er ermittelte für jedes Lebensalter der Kinder einen Durchschnittswert und stufte die Kinder dann unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter in ein sogenanntes Intelligenzalter ein, das besagt, welches durchschnittliche Niveau der Intelligenz in einem Lebensalter schon erreicht ist.

Zwei Dinge sind bei Binets Ansatz zu erwähnen: Zum einen ging er davon aus, dass er mit seinem Test nur die aktuelle Leistungsfähigkeit und nicht die angeborene Intelligenz misst und zum zweiten wollte er mit einer besonderen Förderung der unterdurchschnittlich eingestuften Kinder eine Verringerung des Leistungsdefizits ermöglichen.9

Der Test von Binet wurde in den USA zu Beginn des 1. Weltkriegs u.a. von Terman aufgegriffen und weiterentwickelt, um eine einfache und schnelle Möglichkeit der Einstufung von zum Militäreinsatz rekrutierten Personal zu haben und die Rekruten entsprechend dieser Einstufung zur Führung mit Schulung oder als ,,einfachen" Soldaten einzusetzen.

Mit diesem sogenannten Stanford-Binet-Intelligenztest in Form des IQs (IQ = Intelligenzalter / Lebensalter x 100) gab es jedoch einen Wechsel hinsichtlich der Anlage-Umwelt-Debatte: Nun wurde davon ausgegangen, dass es sich bei der von ihnen gemessenen Intelligenz um eine innere Eigenschaft des Individuums handelte mit einem großen Anteil unveränderbarer Anteile, d.h. einer genetisch bedingten Eigenschaft.

Wie dem ursprünglichen Test von Binet fehlte dem Stanford-Binet-Intelligenztest eine theoretische Definition dessen, was er als Intelligenz zu messen versuchte. Dem Test lag vielmehr die Annahme zugrunde, dass es sich bei Intelligenz um eine ganzheitliche homogene Fähigkeit handelt ohne weitere Differenzierung.

Zudem bedurfte es der Beherrschung der (englischen) Sprache in Wort und Schrift, um die einzelnen Testitems lösen zu können.

Diesen zwei Problemen nahm sich der Amerikaner Wechsler an und entwickelte einen Test, der sowohl einen Verbalteil als auch einen nonverbalen handlungsbasierenden Teil enthielt. Zudem legte er seinem Test auch eine theoretische Definition von Intelligenz zugrunde, d.h. er definierte vorab, was er eigentlich messen wollte:

,,Intelligenz ist die allgemeine F ä higkeit des Individuums, die Welt in der es lebt zu verstehen und sich in ihr zurecht zu finden."

Mit dieser Definition wird zum einen eine Übertonung einer bestimmten Form von Intelligenz z.B. schulische Intelligenz vermieden und gleichzeitig von der Anlagedeterminierung wieder abgerückt, da mit dem Passus ,,zu verstehen und sich zurecht zu finden" eine klare Lernkomponente in Wechselwirkung mit der Umwelt eingefügt wurde. Der von Wechsler entwickelte Test wurde auf deutsche Verhältnisse übertragen und ist hier unter der Bezeichnung HAWIK-R bekannt.10

Was dieser Test hingegen - neben den noch später folgenden Kritikpunkten im nächsten Abschnitt - nicht erfasst, ist das mögliche Lernpotential einer Person, da mit Intelligenztests zunächst einmal der Status quo eines Individuums bestimmt wird.11

2.2. Vielfaktorenmodelle von Intelligenz und moderne Intelligenzkonzeptionen

In der neueren Intelligenzforschung und -definition sind zwei Dinge zu beobachten. Zum einen gibt es neben der klassischen Informationsaufnahme, - verarbeitung und -anwendung eine Vielzahl von Intelligenzen bis hin zu der heute häufig angeführten emotionalen oder sozialen Intelligenz, die ohne Schwierigkeiten in eins der folgenden Konzepte integriert werden kann. Zum zweiten ist eine Kulturabhängigkeit bei der Definition berücksichtigt worden, die den westlichen Ethnozentrismus innerhalb der klassischen Intelligenz-Tests beseitigte. Und zum dritten wurde mit der Ausweitung des Intelligenzbegriffs versucht, sich von dem Klassifikations- und Selektionscharakter des IQ-Konzeptes zu entfernen.

Guilford entwarf ein Klassifikationsschema, dass durch die Kombination von Inhalten von Information (figural,..., verhaltensbezogen), Formen des Vorliegens von Informationen (Einheiten,..., Implikationen) und erforderlichen Operationen zur Verarbeitung von Informationen (Bewertung,..., Kognition) zu insgesamt 120 verschiedenen Intelligenzunterformen gelangte. In diesem Schema können beispielsweise alle Formen der Emotionalen Intelligenz integriert werden, wodurch eine Loslösung von den einseitigen Intelligenzkonzepten möglich wird. Allerdings fehlt bis heute eine Testverfahren zur Einzelerfassung der 120 verschiedenen Komponenten.12

Ein anderer Ansatz von Hunt stellt allein auf die ablaufenden internen Prozesse bei der Informationsverarbeitung ab - in der Sprache von Guilford: Die erforderlichen Operationen - , um intellektuelle Fähigkeiten zu bestimmen. Die drei entscheidenden sind dabei, die Form der mentalen Darstellung, die Strategien zur Beeinflussung dieser mentalen Darstellung und die Fähigkeit zur Durchführung grundlegender Informationsverarbeitungsschritte. Zudem betont er, dass es viel wichtiger ist die Gründe für Unterschiede zu verstehen statt Durchschnittsprozesse bei Individuen zu beobachten und diese zur Stigmatisierung von unterdurchschnittlich intelligenten Personengruppen zu verwenden.13

Gardner definiert Intelligenz als Fähigkeit echte Probleme und Schwierigkeiten zu lösen und hierzu passende Methoden und Vorrichtungen zu finden sowie als Fähigkeit, Probleme zu entdecken oder zu schaffen im Sinne eines Fortschritts. Dieser Intelligenzbegriff wird um eine kulturellen Wertigkeit erweitert und zum zweiten um Fähigkeiten, die beim klassischen Begriff der Intelligenz und den anderen bisherigen Definitionen dieser nicht unbedingt zugeordnet werden können und insbesondere nicht mit Testitems quantifiziert werden können.

Er unterscheidet sieben ,,Intelligenzen": Linguistische Fähigkeit, logisch- mathematische Fähigkeit, räumliches Wahrnehmungsvermögen, musikalische Fähigkeit, körperlich- kinästhetische Fähigkeit, interpersonale Fähigkeit und intrapersonale Fähigkeit. Den kulturellen Faktor kann er in diese Theorie dadurch einbauen, dass der Wert einer der sieben Intelligenzen von den Lebensumständen also dem Kulturkreis in dem sich das Individuum befindet abhängt. In den westlichen Industriestaaten sind es i.d.R. sprachliche und logisch- mathematische Fähigkeiten in einem Urwaldstamm in Afrika mögen diese Fähigkeiten wenig nutzen. Hier sind körperlich-kinästhetische Fähigkeit wie motorische Bewegung und Koordination oder musikalische Fähigkeit im Falle von Stammesgesängen deutlich wichtiger.14

Schließlich ein letztes Intelligenzkonzept, welches insbesondere die Anlage-Umwelt-Debatte wieder Schwung verlieh, ist das von Eysenck. Er unterscheidet biologische Intelligenz, psychometrische Intelligenz und soziale Intelligenz. Unter biologischer Intelligenz versteht er physiologische Strukturen und biochemische Prozesse, die sich im kognitiven Bereich abspielen und die z.B. durch ein EEG messbar sind. Psychometrische Intelligenz ist die über Intelligenztests erfassbare Form, die vorwiegend durch die biologische Intelligenz beeinflusst wird, aber auch von Umweltfaktoren wie Kulturkreis oder soziales Umfeld abhängt.

Die soziale Intelligenz bezieht sich darauf, wie gut ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld zurechtkommt. Die soziale Intelligenz wird durch die psychometrische Intelligenz beeinflusst, hängt aber auch von Faktoren wie Persönlichkeit und entwicklungsbedingten Faktoren wie Erfahrung ab. Eysenck vertritt die Auffassung - wodurch die Vererbungsdeterministen sich bestätigt sahen, dass Intelligenzunterschiede hauptsächlich biologische Ursachen haben und belegt dies z.B. mit einer positiven Korrelation der gemessenen Weiterleitungsgeschwindigkeit von neuronalen Impulsen und des Intelligenzquotienten.15

Mit diesen vier nur oberflächlich dargestellten Intelligenzbegriffen und den vorher genannten Testverfahren sollte zum einen der Blick für den Intelligenzbegriff erweitert werden und zum zweiten das Verständnis dafür geschärft werden, dass dieser Begriff nur sehr bewusst und immer unter Offenlegung des jeweiligen Theoriekonzeptes verwendet werden sollte.

Die Definition von Intelligenz, die dem HAWIK-R-Test zugrunde liegt, ist die folgende:

,,Intelligenz ist die allgemeine F ä higkeit des Individuums, die Welt in der es lebt zu verstehen und sich in ihr zurecht zu finden."

Diese oder vergleichbare Definitionen wurden in den meisten der im weiteren vorgestellten Untersuchungen verwand.

Mit diesem Messkonzept ist eine Einschränkung auf rein schulische Intelligenz oder rein verbale Intelligenz ausgeschlossen. Sollten in den vorgestellten Untersuchungen ,,einengende" Intelligenzkonzepte Verwendung finden, wird dies explizit erwähnt.

Es gilt in der weiteren Arbeit nun zu klären, wie groß der jeweilige Anteil ist, der auf die Anlage oder die Umwelt zurückgeführt werden kann. Dies hängt zum einen von der Art der Intelligenz ab, die untersucht wird. Eine zweite Frage ist dabei eher grundsätzlicher Art, ob überhaupt eine Aufteilung auf bestimmte Anteile im Sinne von:

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möglich ist.

3. Versuchsanordnungen zur Ermittlung von Einflüssen

3.1. Typologie von Theorien der Entwicklungspsychologie

Um eine mögliche Versuchsanordnungen und die daraus abgeleiteten Ergebnisse verstehen zu können, sollte vorab kurz erläutert werden, welche möglichen idealtypischen Ursachen für Entwicklung von Verhalten in der Entwicklungspsychologie diskutiert werden.

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Exogenistische Theorien:

Die Entwicklung des Individuums steht allein unter Kontrolle von externen Variablen, wie Familie, Peer- groups, Institutionen, Gesellschaft usw.. Was diese Extremauslegung bedeutet, soll das folgende Zitat von Watson aus dem Jahr 1913 verdeutlichen:

,,Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall ausw ä hle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, K ü nstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne R ü cksicht auf seine Begabungen, Neigungen, F ä higkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren." 16

Endogenistische Theorien:

Die Entwicklung und Entfaltung des Individuums geht auf einem im Individuum selbst angelegten Plan zurück. Anlagen und Reifung sind die Erklärung für die Entwicklung des Individuums und lediglich in bestimmten sog. sensiblen Perioden ist das genetische Entwicklungsprogramm offen für äußere Einflüsse. Sind diese nicht passend zum Entwicklungsprogramm, verpuffen sie wirkungslos oder es kommt zu Defekten.17 Ein Zitat von Galton (1822-1911) soll auch hier eine Extremposition verdeutlichen:

,,Ich glaube niemand kann angesichts der Faktoren und Analogien, die ich vorgebracht habe, bezweifeln, dass wir, falls begabte M ä nnern mit begabten Frauen mit gleichen intellektuellen und physischen Eigenschaften Generationen f ü r Generationen gepaart w ü rden, eine hochgez ü chtete menschliche Rasse hervorbringen w ü rden, die keine gr öß ere Tendenz, zu mittelm äß igeren Typen ihrer Vorfahren zur ü ckzugehen, aufweisen w ü rde, als man es bei unseren seit langem durchgef ü hrten Z ü chtungen mit Rassepferden und Jagdhunden sehen kann." 18

Selbstgestaltungstheorien:

Das Individuum selektiert und internalisiert die Umweltbedingungen und gestaltet dadurch aktiv Entwicklung. Das Bild der Umwelt wird von dem erkennenden und selbstreflektierenden Individuum ständig durch bisherige und neue Erfahrungen modifiziert. Durch diesen Prozess findet innerhalb des Individuums eine Entwicklung statt, die weder auf Entfaltung von Anlagen noch auf mechanistisches Reagieren auf Umwelteinflüsse ausgelöst wird.

Interaktionistische Theorien:

Der im Falle der Selbstgestaltungstheorie geschilderte Entwicklungsprozess ist nicht einseitig, sondern er findet in Interaktion bzw. Interdependenz statt. Eine mögliche Fragestellung bezogen auf die Familie ist die Formung des Kindes durch die Familie gleichzeitig aber auch die Rückwirkung des Kindes auf das familiäre Umfeld. Z.B. wie wirkt sich eine Scheidung auf die Kinder aus, sondern wie wirken sich die Kind er gleichzeitig auf Ehezufriedenheit oder Scheidungsneigung aus.19

Den einfachen von mir im letzten Kapitel unterstellten funktionalen Zusammenhang im Sinne der Formel ist nur dann haltbar, wenn von einem gleichzeitigem Zutreffen von exogenistischer und endogenistischer Theorie ausgegangen wird und andere Theorien ausgeklammert werden oder lediglich als Messfehler erfasst werden. Insbesondere diese beiden Theorien sollen im Folgenden untersucht werden.

3.2. Klassische Versuchsanordnungen zur Faktorenermittlung

Für die empirische Forschung wichtig ist eine sogenannte ceteris paribus-Betrachtung, d.h. nur die unabhängige Variable hier entweder Umwelt oder Anlage wird variiert und dann geprüft, wie sich die als abhängig untersuchte Variable Intelligenz verändert. Bei Versuchen an Tieren kann sowohl die Umwelt als auch die Erbsubstanz experimentell variiert werden, wobei als einzige Einschränkung ethische Vorbehalte angeführt werden können. Diese Möglichkeit hat man beim Menschen nicht. Deswegen nutzt man hier quasi-experimentelle Situationen wie Adoptionen und Zwillingsgeburten in Kombination.

Bezogen auf das Beispiel eineiige Zwillinge im Rahmen der Zwillingsforschung heißt dies, dass die Variable Gene konstant gehalten wird, da beide dieselben Erbanlagen haben und nur die variable Umwelt verändert wird z.B. wenn die Zwillinge durch Adoption in unterschiedlichem sozialen Umfeld aufgewachsen sind und so die Auswirkung der Umwelt auf Intelligenz untersucht wird. Geschätzt wird die Ähnlichkeit über gemeinsame Varianzanteile und nicht gemeinsame Varianzanteile der untersuchten eineiigen Zwillinge.

In diesem Beispiel wären Genetische Faktoren gleich, die Varianzanteile sind allein durch die Umwelt zu erklären. Die Korrelation schließlich gibt an, wie groß der Zusammenhang zwischen der Intelligenz der Zwillinge ist. Bei einem fiktiven Wert von 1,00 bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen wären der Einfluss der Umwelt Null, da trotz unterschiedlicher Umwelt keine Unterschiede in der Intelligenz der Zwillinge besteht.20

3.2.1. Isolierte Betrachtung von Anlagefaktoren

Exkurs Evolutionsforschung: Die genetische Ausstattung des Menschen sowie des menschlichen Gehirns haben sich seit 10.000 Jahren nicht mehr evolutionär verändert. Ein Säugling in der Eiszeit kam somit mit denselben abstrakten Fähigkeiten auf die Welt, wie ein Säugling heute. Beispielsweise die Mathematik als eine relativ junge Entdeckung in der Menschheitsgeschichte kann daher als Fähigkeit nicht angeboren sein, so dass jeder dieselben Möglichkeiten haben müsste, da alle Individuen diese erlernen müssen.

Für eine Anlagedeterminierung spricht, dass es aber grundsätzlich genetisch festgelegte Strukturen oder Prozesse geben könnte, die eine mathematische Auffassungsgabe vor 10.00 Jahren genauso wie auch heute erleichtert hätten nur vor 10.000 Jahren gab es keine Mathematik. Deswegen hilft diese Feststellung der Evolutionsforschung hier nicht grundlegend weiter.

3.2.1.1. Molekulargenetik

Dieses Gebiet hat in der jüngsten Vergangenheit eine regelrechte Konjunktur erfahren. Immer mehr Gene des Menschen werden entschlüsselt und Stück für Stück als Puzzle der menschlichen Landkarte zusammengesetzt. Jedoch wird nicht versucht ein einze lnes Gen für eine bestimmte Eigenschaft zu finden, sondern die Kombination mehrere Gene, sogenannte quantative trait loci (QTLs), die eine Eigenschaft als Wahrscheinlichkeit zu einer Neigung betreffen und nicht zwingend als vorbestimmtes Programm ablaufen.

1993 konnte erstmals der Einfluss eines QTL auf das Verhalten nachgewiesen werden und zwar eines Gens für den Cholesterintransport, welches eine Variable für einen spät einsetzenden Morbus Alzheimer zu sein scheint.21

Da Intelligenz selbst bei heruntergebrochenen einzelnen Verhaltenseigenschaften für sich genommen ein komplexes System ist, andererseits bestimmte Gene immer verschiedene Verhaltensweisen beeinflussen, ist es unwahrscheinlich, einzelne Gene für bestimmte spezielle Intelligenzeigenschaften (z.B. nach Guilfords Intelligenzschema) isolieren zu können.22

3.2.1.2. Quantitative Genetik

Von quantitativer Genetik wird gesprochen, wenn es im Gegensatz zur Molekulargenetik nicht um die Identifizierung eines einzelnen Gens - also beispielsweise eines Intelligenzgens - geht, sondern um eine gesamtgenetische Disposition von Intelligenz ohne hierfür einzelne Gene zu identifizieren.23

Der ältester Forschungsansatz sind geneologische-statistische Analysen. Es wird untersucht wie bei ausgewählten Familien besondere Eigenschaften über die Generationen hinweg vererbt werden. So zeigte Galton (1869), dass begabte Söhne mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit begabte Väter haben als nicht begabte Söhne. Hierfür anführen lässt sich beispielsweise die durchgängige mathematische Begabung in der Familie Bernoulli oder die musikalische Begabung in der Familie Bach.

Diese Beobachtungen für sich genommen sprechen für eine starke anlagebedingte Komponente dieser Begabungen, jedoch bewiesen ist dies dadurch noch nicht, da andererseits mit ebenso großer Intensität die Umwelt - sprich die Förderung und Erwartungshaltung in diesen Familien diese Begabung beeinflussen könnte.24

Um die Umweltbedingungen auszuschalten bedarf es anderer Untersuchungsmethoden. Wie schon in der Einleitung erläutert, bieten sich hierfür Zwillingsstudien als quasi-experimentelle Versuchsanordnung an. Für eine Bestätigung einer Veranla gung von Intelligenz müssten eineiige Zwillinge mit 100% identischem Erbmaterial trotz extrem unterschiedlicher Umwelt - also einer vermiedenen selektiven Platzierung der Zwillinge im gleichen sozialen Umfeld - nur sehr geringe Intelligenzunterschiede aufweisen. Selektive Platzierung bedeutet, dass eineiige Zwillinge für die Untersuchung herangezogen werden, die in einem sehr ähnlichen Umwelt z.B. in einer Familie aus der gleichen sozialen Schicht aufgewachsen sind, wodurch der Faktor Umwelt nicht umfassend variiert wurde.

Einen ersten Überblick zum Verhältnis von Intelligenzwerten bei Personenpaaren mit unterschiedlichen Anlagen von Henderson (1982) liefert die folgende Tabelle:

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Für den Hinweis auf eine Vererbbarkeit von Intelligenz spricht die deutlich höhere Intelligenzwertkorrelation von eineiigen Zwillingen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen, die gemeinsam, d.h. unter gleichen beeinflussenden oder auch nicht beeinflussenden Bedingungen aufgewachsen sind. Ebenso signifikant sind die Unterschiede Eltern-Kind, die getrennt voneinander aufwachsen und Adoptiveltern-Kind, die keinerlei genetische Gemeinsamkeiten besitzen. Bei den Paaren Adoptiveltern-Kind und Eltern-Kind teilen beide Paare dieselbe Umwelt, die um 0,15 höhere Korrelation bei Eltern-Kind liegt an den gemeinsamen Anlagen.

Anzumerken bleibt hier, dass die Ergebnisse populationsbezogen sind. Trotz der genetischen Varianz wird in einer angenommenen Kaspar-Hauser-Gesellschaft mit einer starken Umweltisolation z.B. keine Spracherlernung, keinerlei Erziehung, keine Anregung usw. eine minimale Änderung der Umweltbedingungen für 100% der interindividuellen Varianz der Intelligenz verantwortlich sein und dies unabhängig von der genetischen Disposition.25

Da der aufmerksame Leser gemerkt hat, dass dies keine Zwillingsstudie mit getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen war, soll dies nun noch nachgeholt werden.

Eine erste Studie hierzu stammt aus dem Jahr 1937 von Newman, Freeman & Holzinger. Sie benutzten den Stanford-Binet Test und verwendeten eine Stichprobe von 19 Paaren getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge, die nicht zufällig ausgewählt wurden. Sie kamen zu den folgenden Ergebnissen:

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Es zeigt sich auch in dieser Untersuchung eine erhebliche Erblichkeit der gemessenen Intelligenz allerdings auch der Einfluss der Umwelt insbesondere, wenn die beiden ersten Werte der Tabelle miteinander verglichen werden.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auc h Shields 1962 mit einer Stichprobe von 41 Paaren getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen allerdings mit einem allgemeineren sprachungebundenen Intelligenztest:

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Da es jedoch durchaus sein kann, dass eine anfänglich gemeinsame Umwelt bei einer späten Trennung der eineiigen Zwillinge zu einer Verfälschung der genetischen Disposition führen könnte, wurde dies in die Untersuchung von Shield zusätzlich berücksichtigt, wobei es allerdings zu widersprüchlichen Ergebnissen kam:

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Ein Grund für diese Ergebnisse könnte sein, dass die adoptierten Zwillinge aus einem problematischen sozialen Umfeld stammten und deshalb eine längere Verweildauer im gleichen Umfeld keinen positiven Effekt bewirkt im Sinne einer noch stärkeren Korrelation der Werte.

Weitere mögliche beeinflussende Faktoren der Untersuchung wurden zusätzlich von Bourchard (1983) aufgeschlüsselt:

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Schon durch diese Differenzierung konnten verschiedene Umwelteinflüsse isoliert werden, trotz der vorher dargelegten Dominanz der Vererbung.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine sichere Basis der Untersuchungsergebnisse ist eine ausreichend große Stichprobe und eine zufällige Auswahl der Paare. Beiden genügt die sog. Minnesota-Studie (1979) mit ca. 100 getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, die zudem weltweit ausgewählt wurden. Die Trennung der Zwillinge und zum Teil auch Drillinge oder Mehrlingspaaren erfolgte zwischen fünf Monate und maximial vier Jahren. Die Studie kam zu den folgenden Ergebnissen:

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Bourchard (1990) griff die Daten auf und untersuchte diese auf eine überzufällige Ähnlichkeit der Elternhäuser, wodurch die Korrelation überzeichnet worden wäre. Er kam zu dem Ergebnis, dass es eine Korrelation von 0,4 zwischen den Adoptiveltern und der materiellen Ausstattung der Haushalte gab. Jedoch betrug der Anteil an der Korrelation der Intelligenzwerte zwischen den getrennt aufgewachsenen Zwillinge, der der materiellen Ausstattung der Haushalte zugerrechnet werden konnte nur 0,03. Bei anderen untersuchten Umwelteinflüssen z.B. kulturelles oder technisches Umfeld war dieser Anteil noch geringer.

Die letzte der drei vorgestellten Studien kam zu dem Ergebnis, dass ca. 70% der Varianz der gemessenen Intelligenz auf biologische Faktoren und damit zum Großteil auf genetische Faktoren zurückgeführt werden kann und nicht auf die Varianz der Umweltbedingungen. Zwillinge teilen zum einen die prä- und auch die perina tale Umwelt, weil sie selten direkt nach der Geburt getrennt werden - bei obigen Ergebnis wird deshalb zwischen biologischen und genetischen Faktoren unterschieden. Wobei die biologischen Faktoren noch Teile der Umweltbedingungen enthalten, denn Zwillinge teilen in der prä- und als auch in der perinatalen Phase eine gemeinsame Umwelt. Deshalb ist der genetische Anteil etwas niedriger.26

Beachtet werden sollten bei der Generalisierung der Ergebnisse auf die Gesamtpopulation folgende weitere Einwände:

- Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der verwendeten Stichprobe tatsächlich um eineiige Zwillinge ha ndelt, liegt bei den neueren Studien durch kombinierte Testverfahren bei über 99%, so dass dadurch ein vernachlässigbarer Messfehler entsteht.
- Die Repräsentativität der Stichprobe ist dann gegeben, wenn jedes Element der Population - hier die eineiigen Zwillinge - die gleiche Wahrscheinlichkeit hat in die Stichprobe zu geraten. Dies war z.B. bei Holzinger oder bei Testpersonen, die über Aufruf gefunden wurden, nicht gegeben.

Zum zweiten heißt Repräsentativität auch, dass die Gesamtheit aller in einer Population vorhandenen sozialen Bedingungen durch die Adoptivfamilien abgebildet sein muss, da ansonsten die Korrelation bezogen auf die Anlage überschätzt wird. Dies ist allerdings dadurch schon nicht möglich, da Adoptivfamilien von den Behörden auf ihre besonderer Eignung (sozial und finanziell) überprüft werden und somit sozial labile Familien beispielsweise keine Kinder adoptieren können. Deshalb wird es immer zu einer teilweisen selektiven Platzierung in Mittel- und Oberschicht kommen.

Eineiige Zwillinge unterscheiden sich zudem insgesamt von der Gesamtbevölkerung: Ihre durchschnittlichen IQ-Werte liegen etwas unter denen der Gesamtbevölkerung und streuen insgesamt breiter, dies führt zu einer höheren Korrelation als bei einer vergleichsweise homogeneren Stichprobe. Zwillinge werden zudem früher geboren, haben ein niedrigeres Geburtsgewicht und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit. All dies hängt mit den schlechteren intrauterinen Entwicklungsbedingungen zusammen.

Schließlich kann bei nicht relativ kurz nach der Geburt getrennten Zwillingen eine Retardation der sprachlichen und sozialen Entwicklung nachgewiesen werden, da die Zwillingsgemeinschaft schon Bekanntes zwar intensiv ausprobiert aber für Neues weniger offen ist und weniger dazu gezwungen ist als z.B. Einzelkinder.27

Zwillingsstudien haben eine erheblich anlagebedingte Komponente bei der Intelligenz ermittelt nur mit einer genauen Prozentzahl des Anteils ist Vorsicht geboten aus den hier schon und später genannten Gründen.

3.2.2. Isolierte Betrachtung von Umweltfaktoren

Einen wesentlichen Ursprung hat diese (gedankliche) Versuchsanordnung in der historischen Figur des Kaspar Hausers - ohne hier näher auf die wissenschaftliche Debatte der Kaspar- Hauser-Figur einzugehen. Zumindest steht dieser Name als Metapher für das Verhältnis von angeborenen zu erworbenen Fähigkeiten. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit das Individuum als ,,Naturwesen" existieren kann und welcher Beitrag die soziale Umwelt liefert, wobei dann der Erfahrungsentzug mit der sozialen Umwelt im Vordergrund steht.28

Bei Kaspar-Hauser-Versuchen im engeren Sinn und i.d.R. an Tieren handelt es sich um einen kontrollierten Erfahrungsentzug, bei dem Umweltreize vorenthalten werden mit dem Ziel, Verhaltensbereiche herauszufiltern, die nicht gelernt werden können. Die Intens ität der Vorenthaltung von Umweltreizen ist dabei eine zusätzliche Klassifikationsmöglichkeit: vollständige Entzug von Umwelteinflüssen außer dem Lebensnotwendigen bis hin zu selektiv spezifischen ausgeschalteten Umwelteinflüssen z.B. Bindung an das Muttertier.

Eine Umkehrung des Kaspar-Hausers-Settings wären Lernexperimente auf Basis der klassischen und instrumentellen Konditionierung, d.h. inwieweit kann das Verhaltensrepertoire des Individuums durch eine anregende Umwelt und positive Verstärkung erweitert werden?29

Bei Menschen ist ein Kaspar-Hauser-Setting aus zwei Gründen schwierig: Zum einen werden in Tierversuchen häufig ,,banale" Fragen geklärt, beispielsweise ob das Krähen des Hahnes angeboren oder erworben ist.

Für ein so komplexes Verhaltensmerkmal wie Intelligenz ist eine solche Aussage nicht in dieser Einfachheit zu treffen. Zum zweiten verbietet sich ein solcher Versuchsaufbau zudem aus ethischen Gründen.

Um ethische Einwände zu umgehen, könnten automatisch vorhandene Versuchsaufbaue herangezogen werden wie beispielsweise Straßenkinder, die außerhalb einer normalen Umwelt aufwachsen oder Kinder, die zu Beginn des Jahrhunderts unter schwierigen Heimbedingungen aufwuchsen und durch diese veränderte Umwelt in Ihrer Entwicklung gestört wurden (sog. Hospitalismus). Bei den eben genannten Beispielen sind die Umweltbedingungen schon in einer solchen Stärke verändert, dass eine Auswirkung auf die Intelligenz des Individuums neben anderen Verhaltensdefiziten schon von vornherein zu erwarten ist.30

Von verschiedenen Forschern wurden deshalb Adoptionsstudien zur Intelligenz durchgeführt, d.h. von den Anlagen her unterschiedlich ausgestattete Kinder kommen in ein gleiches soziales Umfeld und nun kann geprüft werden inwieweit die Umwelt anregend oder nicht anregend auf die Intelligenzentwicklung einwirkt im Vergleich zu Kindern die in ein anderes soziales Umfeld adoptiert wurden.

Die erste Studie mit einer ausreichen Stichprobe von 180 Adoptivkindern und einer teilweisen Datenbasis über die leiblichen Mütter wurde in den 30er Jahren in den USA von Skoda & Skeels in Form einer Längsschnittstudie durchgeführt, d.h. die Kinder wurden vier Mal in verschiedenen Abständen getestet. Die Daten zur Intelligenz der leiblichen Mütter ist deshalb wichtig, um eine Vergleichsbasis für die anlagebedingte Intelligenz und die später erworbene Intelligenz zu haben. Skoda & Skeels gelangten zu den folgenden Ergebnissen:

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Die Ergebnisse zeigen, dass es keinen oder einen nur unwesentlichen positiven Zusammenhang zwischen IQ-Wert der adoptierten Kinder und der Ausbildung der Adoptiveltern gibt, obwohl hier im Zeitverlauf ein Anstieg erwartet worden wäre. Hingegen gibt es über den Zeitverlauf einen positive Korrelation zwischen IQ der Adoptivkinder und IQ bzw. Ausbildung der leiblichen Mutter, was wiederum für eine umweltunabhängige erbliche Komponente spricht.

Wo könnten bei dieser Studie Messfehler liegen, wodurch der Einfluss der Umwelt ausgeschaltet bzw. nicht richtig gemessen wurde?

Durch die selektive Auswahl bei den Adoptiveltern waren sozial ungünstige Milieus nicht vertreten, so dass die Umweltvarianz eingeschränkt war. Durch das positive Umfeld war der IQ-Mittelwert der adoptierten Kinder insgesamt höher, und die Streuung um diesen geringer. Der IQ der Adoptiveltern wiederum streute aufgrund der selektiven Auswahl kaum auch nach oben nicht. Insbesondere letzteres führte zu einer Korrelation von Nahe Null (ein allgemeines Beispiel zur Berechnung von Varianzen, Kovarianz und Korrelation ist zum Vergleich im Anhang).

Was jedoch gegen die erbliche Komponente und doch für den Umwelteinfluss spricht ist zum einen der im Durchschnitt deutlich höhere IQ der Kinder im Alter 13 im Vergleich zu den leiblichen Müttern. Dagegen könnte angeführt werden, dass die Väter der unehelichen Kindern im Durchschnitt einen deutlich höheren IQ als die Mütter hätten haben können und es somit doch die Anlage und nicht die Umwelt war. Aber dies ist reine Spekulation.

Eine weitere Studie, das Texas Adoptionsprojekt (1973), soll nun Vergleichsdaten liefern. Zurückgegriffen wurde auf Daten einer Adoptionsagentur: Der durchschnittliche IQ der leiblichen Mütter lag bei 108,7 mit einer Varianz von 8,67, die der Adoptivväter bei 115,2 (Varianz 7,52) und die der Adoptivmütter bei 112.4 (Varianz 7,68). Auch hier bestand das Problem der verminderten IQ-Streuung der biologischen und der Adoptiveltern, was insgesamt zu einer verminderten Korrelation der IQ-Werte der Kinder sowohl mit den biologischen als auch mit den Adoptiveltern führte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwei Ergebnisse sind dieser Tabelle zu entnehmen: Für den Umwelteinfluss eignet sich die Korrelation der Intelligenz zwischen gemeinsam aufgewachsenen, nicht verwandten Kindern als Aussagewert am besten (0,26).31 Allerdings kann durch eine kleine Modifikation (Luingman 1976) ein besonderer Effekt isoliert werden: Er ermittelte für nicht verwandte Pflegekinder, die zu zweit in einer Familie aufwuchsen einen Wert von 0,65, während er für ein Pflegekind und ein leibliches Kind lediglich eine Korrelation von 0,21 ermittelte. Hieran zeigt sich, dass die Situation von Pflege- und Adoptivkindern in derselben Familie eine andere sein kann als die von leiblichen Kindern.32

Insgesamt ergibt sich jedoch eine geringere Korrelation als bei den vorher ermittelten anlagebedingten Korrelationen bei den Zwillingsstudien, so dass die Varianz der Intelligenz zu einem geringeren Teil auf der Varianz der Umweltbedingungen beruht. Wird für die Texas-Studie eine Schätzung der Erblichkeit über die Korrelation der Intelligenzwerte bei leiblicher Mutter und Adoptivkind unternommen33, dann können 63% der Varianz der Intelligenz mit der Varianz der Anlagebedingungen erklärt werden.34

3.3. Zusammenfassung

Die vorgestellten Testergebnisse soweit sie auch in den Einzelwerten voneinander abweichen befördern zu Tage, dass mindestens die Hälfte der Intelligenzvarianz durch eine ge netische Disposition bedingt sind (die Spannbreite reicht von 50% bis 70% bei der Minnesota Zwillingsstudie). Die unterschiedliche soziale Umwelt insbesondere die Familie trägt zu interindividuellen Unterschieden in der Intelligenz zwischen 20% und 40% bei.35

Auch andere Studien zur Ermittlung des Anlage-Umwelt-Anteils an der Intelligenz des Individuums, die hier nicht vorgestellt wurden, kamen zu einem erheblichen Anteil der Anlage: Jinks und Fulker (1970), die gesammelte Daten von Zwillingsstudien aufbereiteten kamen auf einen Anteil von 80%. Jensen (1972), auf den wir im folgenden Kapitel noch zu sprechen kommen, ermittelte für Anlage 85%, für Umwelt 10% und 5% als Messfehler. Burt (1961) ermittelte über den Vergleich von Verwandtschaftsdaten bei Londoner Schulkindern einen Anteil zwischen 77% und 88% für anlagebedingte Faktoren.36

Die schon anfangs erwähnte Anlage-und-Umwelt-Hypothese scheint somit bestätigt zu sein mit einem größeren Anteil für die Milieupessimisten. Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass trotz des hohen prozentualen Werts der genetisch bedingten Anteile, eine Interpretation im Sinne von ,,Ungleichheiten, die ad infinitum fortgezeugt werden" oder eine ,,erblich verankerte Knechtschaft" eine völlig falsche Sichtweise des Modells widergeben würde. Dies ist genau die Interpretation der Anlagedeterminierung von Intelligenz, die dann missbräuchlich verwendet wird.37

Was nun im weiteren noch zu klä ren ist, ist die Frage der Wirklichkeitsabbildung dieser einfachen Anlage-Umwelt-Sicht mit Bestimmung bestimmter prozentualer Anteile für die Varianzursache von Intelligenz.

3.4. Integrierende Ansätze

,,Angeborene Ausgangsbedingungen, Umweltbedingungen und Gr ü nde des Menschen erm ö glichen die Entwicklung menschlicher F ä higkeiten. Aus der Art der Realisierung menschlicher F ä higkeiten kann deshalb nicht auf einzelne dieser Bedingungen (gedacht als Summanden oder Faktoren oder Anteile) geschlossen werden. Tut man das, kann man ebensogut sagen Brot besteht zu 30% aus Geschmack, zu 60% aus N ä hrwert und zu 10% aus Ä sthetik" 38

Diese Feststellung umschreibt den Kern dieses Kapitels, aber zur Ableitung eines die Wirklichkeit gegebenenfalls besser abbildenden Modells hilft sie noch nicht weiter. Hierfür bedarf es eines weitergehenden Ansatzes.

Bevor ein neuerer Ansatz aufgegriffen wird, soll zuerst der ein allgemeiner und älterer Ansatz von Jensen aus dem Jahr 1969 aufgriffen werden.

Hiernach setzt sich Gesamtvarianz der interindividuellen Unterschiede und damit auch der Intelligenz aus den folgenden Komponenten zusammen:

VP = VG + VSP + VD + VE + VU + 2 CovAU + VI +VF

Anlage Umwelt Fehler

VP = Varianz der Persönlichkeitsmerkmale

VG = Genetische Varianz

VSP = Varianz durch selektive Partnerwahl

VD = Varianz durch Dominanzabweichung

VE = Epistase

VU = Umweltvarianz

CovAU = Kovarianz Anlage und Umwelt

VI = Interaktion Anlage und Umwelt

VF = Fehlervarianz

Jede dieser Komponenten steuert ihren Teil zur Gesamtvarianz bei:

- Die genetische Varianz bezieht sich auf additive genetische Effekte, d.h. jedes Gen steuert einen gleichen Teil zum messbaren Wert des Merkmals bei.
- Selektive Partnerwahl: Wäre die Partnerwahl in der Bevölkerung in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal zufällig, d.h. wenn die Korrelation zwischen den Eltern null wäre, dann wäre die Komponente VSP auch null. Die selektive Partnerwahl vergrößert die Ähnlichkeit zwischen Geschwistern und sie vergrößert auch die Unterschiede zwischen Familien. Bei gewissen Merkmalen findet keine selektive Partnerwahl statt, z.B. den Fingerabdrücken. Bei der Körpergröße hingegen besteht eine Korrelation zwischen den Partnern von etwa 0,30. Die messbare Eigenschaft mit der größten Korrelation zwischen den Partnern ist in Europa und Nordamerika die Intelligenz: Intelligenzquotienten von Partnern korrelieren mit etwa 0,60. Der Grund dafür ist aber nicht in erster Linie, dass Individuen untereinander gegenseitig den IQ so gut einschätzen können, sondern er liegt vielmehr im selektiven Prozess unseres Bildungssystems und in der dadurch mitbedingten Hierarchie in der Arbeitswelt.
- Dominanzabweichung: Es gibt rezessive Gene, deren Effekte als vererbtes Merkmal nur sichtbar werden, wenn sie mit einem anderen rezessiven Gen gepaart werden. Wenn sie mit einem dominanten Gen zusammenkommen, haben sie keine Auswirkung auf das vererbtes Merkmal. Nicht alle Charakteristika der Eltern sind also bei den Kindern sichtbar, und umgekehrt sind auch nicht alle Charakteristika der Kinder bei den Eltern sichtbar. Die Dominanzabweichung ist diejenige Komponente der Varianz, welche auf dieser Diskrepanz zwischen Eltern und Kindern basiert.
- Epistase bedeutet die Überdeckung der Wirkung eines Gens durch ein anderes, das nicht zum gleichen Erbanlagenpaar gehört, d.h. es ist die Interaktion der Effekte zwischen Genen von unterschiedlichen Paaren. Diese Interaktion ist nicht unbedingt aditiv, d.h. der kombinierte Effekt kann also größer oder kleiner sein als die Summe der einzelnen Effekte.
- Umweltvarianz: Hier wird z.B. bei der allgemeinen kognitiven Fähigkeit vor allem an soziale und kulturelle Einflüsse gedacht. Diese sind zwar wichtig, die Umwelt besteht aber noch aus weiteren Faktoren, welche auch biologisch sein können, z.B. die vorgeburtliche Umgebung oder die frühkindliche Ernährung. Zudem ist dies nicht auf einseitige Einflussnahme der Umwelt auf das Individuum eingeschränkt vielmehr ist hier Interaktion miteingeschlossen.39
- Kovarianz zwischen Anlage und Umwelt: Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich intelligente Eltern zu haben, welche Umweltbedingungen schaffen können, die eine Intelligenzentwicklung besonders fördern können.
- Von der eben geschilderten Kovarianz muss man die Interaktion von genetischen und Umweltfaktoren klar unterscheiden. Interaktion bedeutet, dass unterschiedliche Gene unterschiedlich auf die gleichen Umweltfaktoren reagieren. Hierzu ein Beispiel: Genetisch verschiedene Menschen mit dem gleichen Ausgangsgewicht und der gleichen Aktivität können unterschiedlich stark zunehmen, obwohl sie die gleiche Kalorienmenge aufnehmen. Die genetisch unterschiedliche Konstitution führt zu einem unterschiedlichen Stoffwechsel.
- Die Fehlervarianz schließlich ist zwar nicht erwünscht, aber unvermeidlich.40

Die Bedeutung einzelner Komponenten für die Intelligenz soll nun noch heruntergebrochen werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die hier tabellarisch gezeigte Untersuchung stammt von Burt (1961) an Londoner Schulkindern. Der IQ-Score (korrigiert) entstand dadurch, dass Burt Kinder erneut und sogar mehrmals testete, wenn er der Meinung war, dass das Testergebnis nicht repräsentativ für die Intelligenz der Kinder war. Auch hier ist wieder ein geringer Anteil der Umwelt an der Gesamtvarianz festzustellen, der aber hier noch nicht weiter interpretiert werden soll.41

Ein neuerer Ansatz bzw. generell neuere Ansätze gehen von einer Interaktion von Anlage und Umwelt in vielfältiger Weise ohne eine Fokussierung auf die exakte, jederzeit gültige Anteilsermittlung von Anlage und Umwelt bei der Festlegung des Intelligenzniveaus aus. Gene setzen Grenzen dafür, was ein Individuum in einer konstant vorgegebenen Umwelt erreichen kann. Jedoch können diese Grenzen durchaus erweitert bzw. beschnitten werden, wenn die Umweltbedingungen entscheidend verändert werden. Anlage und Umwelt können sich also gegenseitig um ein Vielfaches verstärken et vice versa.42

Hierzu soll ein Modell von Asendorpf vorgestellt werden, welches das Modell von Jensen fortentwickelt und ein besonderes Augenmerk auf eine Klassifizierung der Umwelt legt.

Das Grundmodell besteht aus 4 Komponenten die eine Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen:

- Der Genotyp, der zwar als solcher konstant ist, die Genaktivität sich aber im Zeitablauf ändern kann, man denke hier beispielsweise an genetisch bedinge Krankheiten, die erst im Alter auftreten.
- Die Äußere Umwelt, dem das Individuum passiv ausgesetzt ist und durch die es ausgewählt und gestaltet wird - kurz Sozialisation. Die äußere Umwelt wird im folgenden noch in sonstige, familien-spezifische und altersgebundene Einflüsse unterteilt. Altersgebundenen Einflüssen unterliegen eineiige gemeinsam aufgewachsenen Zwillinge nicht aber gemeinsam aufgewachsene Geschwister unterschiedlichen Alters. Hierzu zählen z.B. die Position in der Geschwisterreihe oder die spezielle Schulsituation in Form von überfüllten Klassen.
- Die Persönliche Umwelt, die im Einflussbereich der Person liegt und deshalb von ihr selbst ausgewählt und gestaltet werden kann z.B. der Freundeskreis oder bevorzugt genutzte Spielzeuge.
- Die Persönlichkeit als solche oder unser Selbstkonzept, von der schon früh eine stabilisierende Funktion ausgeht. Die Persönlichkeit von Individuen entwickelt sich zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr. Die Persönlichkeit bewirkt, dass wir uns so sehen, wie wir glauben dass andere uns sehen. Sie ist etwas relativ stabiles und beeinflusst unser Handeln. Nehmen wir zum Beispiele eine Person, die glaubt alle anderen halten sie für minderintelligent, so wird diese Person entweder versuchen diesem Bild zu entsprechen oder versuchen dagegen anzukämpfen, obwohl dies mit der tatsächlich messbaren Intelligenz der Person nichts zu tun haben muss, sondern allein ihrer subjektiv gespiegelten Wahrnehmung entspringt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die hier noch einmal graphisch dargestellten Komponenten des Modells unterliegen einem stetigen Wandel und können zudem ihren Einfluss im Zeitablauf verändern. Die dünneren Pfeile sollen andeuten, dass es sich nie um eine völlige einseitige Wirkungsrichtung handeln kann, sondern es immer auch Rückwirkungen gibt. Beispielsweise wird das Individuum von seiner persönlich gestalteten Umwelt z.B. beste Freund/in auch wiederum beeinflusst.

In einem nächsten Schritt sollen nun die Varianzanteile der einzelnen Komponenten für die Intelligenz ermittelt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Testwiederholung wurde durchgeführt, um den Messfehler des verwendeten Intelligenztests zu ermitteln, der hier 10% beträgt. Zwischen der Intelligenz der zufällig zusammengestellten Paare besteht keine Korrelation, da sie weder genetische noch umweltbedingte Faktoren gemeinsam haben. Jedes andere Ergebnis wäre hier ungewöhnlich gewesen.

Bei Adoptivgeschwister können 25% der Intelligenzvarianz durch die gemeinsam geteilte Umwelt erklärt werden. Bei gemeinsam aufgewachsenen Geschwistern unterschiedlichen Alters steigt dieser Anteil auf 50%, wobei hiervon dann 25% genetisch bedingt sein müssen. Da Geschwister tatsächlich nur 50% gemeinsame genetische Anlagen besitzen, liegt der genetisch bedingte Varianzanteil doppelt so hoch also bei 50%.

Bei zweieiigen Zwillingen und dabei unabhängig vom Geschlecht steigt der gemeinsame Varianzanteil auf 60% an. Die zusätzlichen 10% beruhen auf altersbedingten Einflüssen. Die bisherigen Ergebnisse lassen sich an den eineiigen gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen überprüfen: 50% aufgrund gemeinsamer Erbanlage n, 25% aufgrund gemeinsamer Umwelt und 10% altersbedingte Einflüsse, macht zusammen 85%. Bei den getrennt aufgewachsenen Zwillingen dürfte der Wert nur 50% betragen, tatsächlich liegt er bei 75%. Dies kann mit einer selektivem Platzierung erklärt werden, worauf schon im letzten Kapitel eingegangen wurde.

Verbleiben zwischen den 90% (Messfehler abgezogen) und den ermittelten 85% noch 5% die auf der persönlichen Umwelt beruhen müssen.

Wird der spezifische Prozentanteil der einzelnen Umwelten an der gesamten Umweltbedingung ermittelt, so haben familienspezifische Einflüsse wie soziökonomischer Status, Bildungsniveau, Wohnumfeld mit 62,5% den weitaus größten Anteil gefolgt von altersgebundenen Einflüssen mit 25% und schließlich noch person-spezifischen Einflüssen mit lediglich 10%.

Was in dieser Übersicht nicht gemessen wurde sind Genotyp-Umwelt-Kovariationen und Genotyp-Umwelt-Interaktion.

Bei den Genotyp-Umwelt-Kovariationen ist zu bedenken, dass positive und negative Genotyp-Umwelt-Kovariationen sich im Idealfall neutralisieren und die oben ermittelten Werte somit richtig wären. Dies wird aber eher einem Wunschdenken entspringen als die Realität tatsächlich wider geben.

Positive Genotyp-Umwelt-Kovariationen führen zu einer Überschätzung der isolierten Varianzanteile für Umwelt und Anlage.

Welche Genotyp-Umwelt-Kovariationen sind denkbar (Beispiele positiv):

Passive Genotyp-Umwelt-Kovariation:

Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz haben aufgrund gemeinsamer Anlagen (bezogen auf Eltern 50% identische Gene) eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch überdurchschnittlich intelligente Eltern und Verwandte zu haben, welche in der Lage sind Umweltbedingungen zu schaffen, die eine Intelligenzentwicklung besonders fördern. Diesen Faktor hatte auch schon Jensen berücksichtigt.

Aktive Genotyp-Umwelt-Kovariation

Über die Kombination von Anlage auf die Persönlichkeit und darüber hinaus auf die Auswahl und Gestaltung der persönlichen Umwelt kann es zu einem Verstärkungseffekt kommen. Ein intelligentes Kind wird sich beispielsweise besonders interessante Spielpartner und Spielsachen wie Bücher suchen, die wiederum die Intelligenz des Kindes fördern.

Reaktive Genotyp-Umwelt-Kovariation

Über die Kombination von Anla ge auf die Persönlichkeit und darüber hinaus auf die Auswahl und Gestaltung der persönlichen Umwelt und der Rückwirkung der Umwelt kann es zusätzlich zu einem Verstärkungseffekt kommen. Ein intelligentes Kind sucht sich nicht nur anregende Spielpartner, sondern es ist darüber hinaus in der Lage die Partner für sich zu interessieren und so zu erreichen, dass diese Partner sich besonders intensiv und intelligenzfördernd mit dem Kind beschäftigen, beispielsweise weil es ständig sehr interessierte und tiefgehende Fragen stellt.

Die Genotyp-Umwelt-Interaktion kann ebenfalls nicht abgeschätzt werden, wird aber im Falle der Intelligenz die bisherigen Ergebnisse nicht grundlegend erschüttern. Genotyp-Umwelt- Interaktion heißt, dass es vom Genotyp abhängt, ob bestimmte Umweltbedingungen sich auswirken oder nicht bzw. dass es umgekehrt von der Umwelt abhängt, ob bestimmte Genotype Auswirkungen auf das Individuum haben können (Jensen hatte dies auch in seinem Modell und am Beispiel der Gewichtszunahme erl ä utert). Im Falle der Intelligenz ist es eher unwahrscheinlich, dass von den Anlagen her weniger Begabte bei bestimmten Umweltbedingungen, denen von den Anlagen her höher Begabte in gleichem Maße ausgesetzt sind, deren Intelligenzwerte absolut überschreiten. Was allerdings wahrscheinlicher ist, ist eine Verringerung der Differenz zwischen den Intelligenzwerten beider Gruppen, wenn beide besonders förderlichen identischen Umweltbedingungen ausgesetzt sind.

Ein weitere Kritikpunkt an der Übersicht ist die statische Betrachtungsweise, da keine Alterklassen gebildet werden und diese miteinander verglichen werden. Wie schon bei der Vorstellung des Modells angedeutet, unterliegen die Komponenten einem wechselndem Einfluss. So nimmt der genetische Einfluss bis etwa zum sechstem Lebensjahr stetig zu und bleibt dann in etwa konstant. Wobei in der Graphik unten auch die familiäre Umwelt einen Einfluss hat (steigende Kurve der Adoptivmutter bis zum Alter sechs). Im Alter von sechs Jahren ist dann eine zeitliche Stabilität von Intelligenzunterschieden für die folgenden Altersstufen gegeben.

Korrelation der Intelligenz von adoptierten Kindern zwischen

Adoptivmutter und leiblicher Mutter in Abh ä ngigkeit vom Alter:

Adoptivmutter und leiblicher Mutter in Abh ä ngigkeit vom Alter:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei der Interpretation der in dem Modell ermittelten Werte muss Folgendes noch einmal betont werden: Eine hä ufige Fehlinterpretation in der Anlage-Umwelt-Debatte ist, dass nicht 60% der Intelligenz eines Erwachsenen durch Anlage und 40% durch Umweltfaktoren bedingt sind, sondern dass die Unterschiede zwischen den Erwachsenen durch diese jeweiligen Anteile im Durchschnitt bedingt sind. Wäre also Intelligenz zu 30% Anlage und 70% beim Individuum bedingt, dann würden die absolut 70% durch Schwankungen 40% der Intelligenzunterschiede verursachen und die 30% Anlage durch Schwankungen 60% der Unterschiede. Dies ist der entscheidende Unterschied.

Alle vier Theorien der Entwicklungspsychologie sind in dem Modell von Asendorpf berücksichtigt: Genetische Faktoren (Endogenistische Theorien), soziokulturelle Faktoren (Exogenistische Theorien) Innerseelische Faktoren sprich Selbstkonzept (Selbstgestaltungstheorien) und schließlich Berücksichtigung der Interaktion zwischen Umwelt und Individuum (Interaktionistische Theorien).43

3. Schlusswort

Es hat sich gezeigt, dass eine Sichtweise im Sinne von 30% Umwelt und 70% Anlage sei für die Intelligenz des Individuums verantwortlich, die Wirklichkeit nicht abbildet. Es besteht im Falle der Intelligenz bis zum sechsten Lebensjahr eine relativ hohe Variabilität verursacht durch multifaktorielle Bedingtheit, die sich teilweise gegenseitig um ein Vielfaches verstärken oder abschwächen können.

Somit ist die Intelligenz des Individuums weder Schicksal noch unbegrenzt von außen formbar noch für alle Lebensphasen festgelegt.

Der Streit um Anlage und Umwelt, dies kann abschließend gesagt werden, wurde stärker gesellschaftlich getrieben und dadurch zum Teil in populistischer Weise von der Wissenschaft aufgegriffen. Die wissenschaftliche Debatte wäre ohne dieses öffentliche Interesse sehr wahrscheinlich in einer ganz anderen Form abgelaufen und es ist zu begrüßen, dass es in der heutigen Diskussion nicht mehr die ,,verfeindeten Lager" von Milieuoptimisten und Anlegedeterministen gibt.

Anhang

Beispiel zur Berechnung von Korrelationen44

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Literaturverzeichnis:

Asendorpf, Jens B., Keiner wie der andere. Wie Persönlichkeits-Unterschiede entstehen, 1999, 2. Auflage, Dreieich

Borkenau, Peter, Anlage und Umwelt. Eine Einführung in die Verhaltensgenetik, 1993, Göttingen u.a.O.

Corder, E. H., Saunders, A. M., Strittmatter, W. J., Schmechel, D. E., Gaskell, P. C., Small, G. W., Roses, A. D., Haines, J. L., & Pericak Vance, M. A. (1993). Gene dose of apolipoprotein E type 4 allele and the risk of Alzheimer's disease in late onset families, Science, 261,S. 921-923.

Eysenck, Hans J., Die Ungleichheit der Menschen, 1975, München

Funke, Joachim, Was ist Intelligenz?, 1998, München, Beck

Gardner, Howard, Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenz, 1991, Stuttgart

Gerstenberg, Paul, Was leistet die Zwillingsforschung zur Messung genetischer Bedingungen des Lernens, 1978, Seminararbeit, veröffentlicht im Internet: http://www.metelener- land.de/EW/Zwillingsforschung/oszwillis.pdf

Jensen, Arthur R., How much can we boost IQ an scolastic achievement? In: Havard Educational Review (Ed.), 1969, Cambridge, S.1 - 123.

Kreyszig, Erwin, Statistische Methoden und ihre Anwendung, 1975, 5. Auflage, Göttingen

Linder Biologie, Bayrhuber, Horst, Kull, Ulrich (Hrsg.), 1989, 20. Auflage Stuttgart

Montada, L., Fragen, Konzepte, Perspektiven, in: R. Oerter und L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim, 1995, S. 1-83

Quitzow, Wilhelm, Intelligenz - Erbe oder Umwelt? Wissenschaftliche und politische Kontroversen seit der Jahrhundertwende, 1990, Stuttgart, Metzler, 1990.

Rosenstiel, Lutz von, Grundlagen der Organisationspsychologie, 1992, 3.Auflage, Stuttgart

Schurig, Volker, Kaspar-Hauser: Erfahrungsentzug in Tierexperimenten und beim Menschen, in: Niemitz, Carsten (Hrsg.), Erbe und Umwelt. Zur Natur von Anlage und Selbstbestimmung des Menschen, 1987, Frankfurt a.M., S.30 - 54

Steeg, Friedrich H., Lernen und Auslese im Schulsystem am Beispiel der ,,Rechenschwäche", 1996, Dissertation, Frankfurt a.M. u.a.O.

Watson, John B., Behaviorismus, 1976 (Orig. 1930), Frankfurt a. M.: Fachbuchhandlung für Psychologie.

Zimbardo, Philip G., Psychologie, 1992, 5. Auflage, Berlin u.a.O., Springer-Verlag

[...]


1 vgl. Zimbardo, Philip G. (1992), S. 452 und vgl. Schurig, Volker (1987), S.30.

2 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 142.

3 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 61.

4 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 141f.

5 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 142.

6 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 145.

7 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 142.

8 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 24.

9 vgl. Zimbardo, Philip G. (1994) S. 441.

10 vgl. Zimbardo, Philip G. (1992), S. 443ff.

11 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 35 ff.

12 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 47 ff.

13 vgl. Zimbardo, Philip G. (1994), S. 448.

14 vgl. Gardner, Howard (1991), S. 64ff.

15 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 51f.

16 vgl. Watson, John B. (1976), S. 123.

17 vgl. Montada, L. (1995), S. 7ff.

18 vgl. Quitzow, W. (1990), S. 110.

19 vgl. Montada, L. (1995), S. 7ff.

20 vgl. Asendorpf, Jens B. (1999), S. 266 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 61f.

21 vgl. Corder, E. H. u.a. (1993), S. 921ff.

22 vgl. Asendorpf, Jens B. (1999), S. 190f.

23 vgl. Linder, (1989), S. 390ff.

24 vgl. Rosenstiel, Lutz von (1992), S. 143.

25 vgl. Funke, Joachim (1998), S. 62 f.

26 vgl. Borkenau, Peter (1993), S. 112ff.

27 vgl. Gerstenberg, Paul (1978), S. 8ff.

28 vgl. Schurig, Volker (1987), S. 33.

29 vgl. Schurig, Volker (1987), S. 35ff.

30 vgl. Schurig, Volker (1987), S. 40ff.

31 vgl. Borkenau, Peter (1993), S. 123ff.

32 vgl. Gerstenberg, Paul (1978), S. 14.

33 Unter Annahme des folgenden funktionalen Zusammenhangs: r = 0,50 * h2 * (1 + m) mit r = Korrelation, h2 = Erblichkeit im engeren Sinne, m = Korrelation der Merkmale der Eltern (aufgrund selektive Partnerwahl)

34 vgl. Borkenau, Peter (1993), S. 123ff.

35 vgl. Borkenau, Peter (1993), S. 133.

36 vgl. Eysenck, Hans (1975), S. 105ff.

37 vgl. Eysenck, Hans (1975), S. 139.

38 vgl. Steeg, Friedrich, H. (1996), S. 40.

39 Asendorpf bemerkt hierzu, dass es bis heute keine in sich geschlossene Klassifikation einer Psychologie der menschlichen Umwelt gibt, denn für das Erleben und das Verhalten des Individuums wurde schon sehr früh eine Klassifikation entwickelt, was natürlich auch nahe liegt, da das Individuum im Mittelpunkt steht. Nur ohne eine solche Klassifikation spricht der Forscher lediglich von der Umwelt allenfalls, dass dann noch nach familiärem und schulischem Umfeld differenziert wird. Vgl. Asendorpf, Jens B. (1999), S. 206 f.

40 vgl. Jensen, Arthur R. (1969), S. 1ff.

41 vgl. Eysenck, Hans (1975), S. 115f.

42 vgl. Zimbardo, Philip G. (1992), S. 452.

43 vgl. Asendorpf, Jens B. (1999), S. 210ff.

44 vgl. Kreyszig, Erwin (1975) und eigene Zahlen.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Intelligenz - Anlage oder Umwelt?
Hochschule
Hochschule RheinMain
Autor
Jahr
2001
Seiten
37
Katalognummer
V106093
ISBN (eBook)
9783640043729
Dateigröße
435 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Intelligenz, Anlage, Umwelt
Arbeit zitieren
Karsten Knöll (Autor:in), 2001, Intelligenz - Anlage oder Umwelt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106093

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