Plenzdorf, Ulrich - Gesellschaftliches Verweigerungsverhalten Jugendlicher (in der DDR)


Facharbeit (Schule), 2001

14 Seiten, Note: 2+


Leseprobe


1.Vorwort

Bei der Suche nach einem Thema für meine Facharbeit fiel mir das Buch „Die neuen Leiden des jungen W.“ in die Hände. Ich fühlte mich sofort davon angesprochen: Ein Jugendlicher, der seinen Platz in einer Gesellschaft sucht, von der er sich eigentlich unverstanden fühlt und mit der er sich nicht identifizieren kann, weil sie ihn einschränkt.

Goethe hat sich vor gut zweihundert Jahren, vor dem Hintergrund einer völlig anderen politischen Situation mit dem gleichen Thema beschäftigt und die Resonanz war ähnlich groß wie bei der Veröffentlichung von Plenzdorfs Buch.

Als heutiger Leser, wiederum vor einem anderen politischen Hintergrund, fühle auch ich mich auf die Werther-Problematik bezogen, was zeigt, dass dieses ein zeitloses Thema und nicht ausschließlich eine Problematik der Jugendlichen in der DDR ist. So würde meine Arbeit für mich keinen Sinn ergeben, wenn ich nicht zumindest ansatzweise darüber nachdächte, warum Plenzdorf seinen Romanhelden sterben lässt, denn dieser Gedanke führt mich automatisch zu den Alternativen, die Edgar gehabt hätte (oder nicht), würde er noch leben und zu der Frage welche Möglichkeiten glücklich zu werden ein Jugendlicher in der heutigen Gesellschaft hat, in der seine Selbstverwirklichungsmöglichkeiten auf einer bestimmten Ebene zwar größer sind, er aber unter einem großen Leistungsdruck steht.

So sehe ich in der Realität eine Mehrheit von Menschen, die tagaus, tagein arbeitet um sich Sicherheit zu verschaffen und sich einige Annehmlichkeiten leisten zu können. Doch letzten Endes räumen sich diese Menschen nicht die Zeit ein, das Leben zu genießen und sinnvoll zu nutzen.

Und ich denke, dass dies seit je her das eigentliche Problem vieler junger Leute ist. Sie beginnen voller Hoffnungen, Wünsche und Träume ihr Leben und erkennen nach und nach, dass diese offenbar nicht realisierbar sind und sich die meisten Erwachsenen damit scheinbar abgefunden haben. So fügt sich mancher Jugendlicher eher in sein vermeintliches Schicksal, während ein anderer sich weigert dies hinzunehmen, in der Hoffnung den „wahrhaften“ Weg zu finden, bevor er sein Leben „an den Nagel hängt“.

Edgar gehört meiner Meinung nach zu der letzten Gruppe. Da es für ihn in der DDR allerdings tatsächlich unmöglich war, den besagten Lebensweg zu beschreiten, lässt ihn sein Autor sterben. Auf den folgenden Seiten möchte ich am Beispiel des Lebens von Edgar Wibeau verdeutlichen, wogegen die Jugend der DDR rebellierte und woran sie schließlich scheitern musste um am Ende eine Brücke zur heutigen Zeit mit ihren Problemen und Möglichkeiten zu schlagen.

2. Entstehungsgeschichte/Werkgeschichte

Der „Schöpfungsprozess“ des Buches „ Die neuen Leiden des jungen W,“ ist allein schon Ausdruck der Thematik „Individuum und Gesellschaft“. Darin offenbart sich zugleich das Problem, welches sich den Jugendlichen stellt. Auch der Autor ist in seiner Persönlichkeitsentfaltung gehindert und unterliegt der Maßregelung durch den Staat. Trotzdem versucht er aber immer wieder bis an die Grenzen des Möglichen zu gehen. Er schreibt eine Geschichte über einen jungen Mann, der im Grunde seine eigenen Probleme reflektiert. Somit kann er Kritik üben. Dabei behält er aber immer im Auge, wie weit er gehen kann, ohne ernstliche Konsequenzen befürchten zu müssen.

„Die neuen Leiden des jungen W.“ entstanden 1968/69 ursprünglich als Filmszenarium und präsentierten sich wesentlich angepasster, als es später der Fall sein sollte. Dennoch konnte der Film unter der damaligen kulturpolitischen Situation nicht realisiert werden. Die Filme, die in der DDR gedreht wurden und in den Spielbetrieb gelangten, unterlagen strengen staatlichen Kontrollen. 1965/66 wurden in der DDR zahlreiche DEFA-Filme durch das Zentralkomitee der SED wegen antisozialistischen Tendenzen verboten.

Von der Literatur der DDR wurde Staatskonformität verlangt, das heißt, die Autoren hatten die Rolle inne, mit dem Überblick des Planers und Leiters die Menschen in ihren Werken nach sozialistischen Idealen zu erziehen.1 Kritik an den Funktionären des Staates, wirkliche Reibung an hinderlichen Einstellungen waren dagegen nur beschränkt oder gar nicht möglich.

„Auf dem 11.Plenum des Zentralkomitees der SED gab Erich Honecker, damals noch unter der Führung von Walter Ulbricht „die harte Gangart“ vor. Verbale Prügel teilte er nach allen Seiten aus: Jugendliche waren kriminell, Studenten ließen beim Einsatz Arbeitsmoral vermissen (...). Filme der DEFA, Bühnenstücke, Fernsehproduktionen und literarische Publikationen zeigten, schädliche Tendenzen und Auffassungen’.“2

Plenzdorf thematisierte in seinen „Leiden“ jedoch die wirklichen Probleme der

Jugendlichen, die in starre Formen gedrängt waren und deren sozialistische Persönlichkeit im Grunde nur aufgesetzt war.

Erst im März1972, als die Kulturpolitik mit der Entmachtung von Walter Ulbricht auf der sog. „Zweiten Bitterfelder Konferenz“ und dem VIII. Parteitag liberalisiert wurde, konnten die nun in Prosa- und Bühnenfassung umgewandelten „Leiden“ in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlicht werden.

Plenzdorf hat unter den neuen Bedingungen sein Buch weitaus kritischer gestaltet und geht somit wieder bis an die Grenzen des Möglichen, ebenso wie sein Romanheld Edgar. Keiner von beiden treibt es zu weit und trotzdem spiegelt sich schon hier eine Art Verweigerungsverhalten oder zumindest Widerspruch.

„Auf der 4.ZK-Tagung fielen (dazu) die oft zitierten (...) Worte Erich

Honeckers: ,Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Frage der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils (...)’“3

Ein Film gelang in der DDR nicht. Aber Plenzdorf schaffte es, die überarbeiteten

„Leiden“ auf die Bühne zu bringen.

Die Veröffentlichung des Romans löste in der DDR eine noch nie da gewesene Debatte aus. Junge Leute fühlten sich angesprochen und in ihren Problemen dargestellt, Funktionäre liefen Sturm gegen den Einfluss westlicher Kultur, der sich in den „Leiden“ fand. Sie fühlten sich provoziert von solchen Vertretern der Jugend wie Edgar und wollten ihm den Stempel des Außenseiters und Kranken aufdrücken. Die Resonanz beim Leser und Theaterbesucher bewies das Gegenteil. „Die neuen Leiden“ griffen wirkliche Probleme der DDR-Jugend auf (zahlreiche Inszenierungen am Theater in kürzester Zeit). Während die offizielle Sprache des Staates und die staatskonforme Literatur nur Langeweile und innere Distanz erzeugte, regte Plenzdorf die Menschen an. Die „Leiden“ wurden in Ost und West Gesprächsstoff.

3.Zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung

3.1. Die späten 60er in der DDR - Utopischer Sozialismus im Widerspruch zum realen Sozialismus

Bei dem Begriff des utopischen Sozialismus, der sich während der Französischen Revolution ausbildete, standen Selbsthilfe und Wirtschaftsorganisation, Ablehnung des Staates und Hoffnung auf eine glückliche befreiende >utop.< Zukunft im Mittelpunkt.4 Marx und Engels entwickelten diesen Ansatz weiter und definierten Sozialismus als eine Gesellschaftsformation ohne Ausbeutung auf der Grundlage der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse und des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln und somit der Abschaffung der Klassengesellschaft.5 Der Begriff des „ realen Sozialismus“ dagegen umfasst die tatsächlichen Verhältnisse. Die DDR war ein diktatorisch und zentralistisch organisierter Funktionärsstaat, dessen Bürger „zur geistig unmündigen Masse“6 gemacht wurden bzw. gemacht werden sollten. Kreativität und Eigeninitiative wurden zwar gefordert, allerdings nur konform mit den vorgegebenen Richtlinien im Sinne des Sozialismus.

Der Jugend schenkte man besondere Beachtung, denn in ihr sah man den „Erbauer des Sozialismus“. Die Massenorganisation FDJ war das wichtigste Instrument der SED zur ideologischen Beeinflussung und politischen Mobilisierung der Jugend. Sie hatte die Aufgabe

„klassenbewusste Kämpfer für den gesellschaftlichen Fortschritt heranzubilden und dafür zu wirken, dass alle Jugendlichen die Möglichkeit nutzen (...) ihr gesamtes Leben sinnvoll zu gestalten, daß sie zu aktiven Erbauern und standhaften Verteidigern des Sozialismus(...) werden.“7 Die 60er Jahre waren gekennzeichnet durch den Konflikt zwischen dem

Erziehungsanspruch der FDJ und damit des Staates einerseits und dem Bestreben vieler

Jugendlicher andererseits sich ihren individuellen Freiraum zu wahren.8 Die Veränderungen in der Lebensweise von Jugendlichen (Musik, Kleidung, Protest als Selbstausdruck), die eine besondere Prägung in der freien westlichen Welt erhielten, weckten auch unter Jugendlichen der sozialistischen Länder Begeisterung. Einen Mittelweg gab es oft nicht, da der Staat verbot oder unterdrückte, was außerhalb des Erziehungsanspruchs lag.

3.2.Realer Sozialismus in Mittenberg

„Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere. Das man Bücher nach Größe ordnete zum Beispiel. Den meisten von uns geht es so. Sie haben nichts gegen den Kommunismus. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen Kommunismus haben. Aber ansonsten sind sie dagegen.“9

Durch diese Aussage wird deutlich, dass Edgar und die „meisten“ anderen Jugendlichen der in Abschnitt 3.1. schon erwähnten, eigentlichen Ideologie des sozialistischen Systems gegenüber zwar positiv eingestellt sind, doch leiden sie unter der widersprüchlichen Wirklichkeit des „realen Sozialismus“.

Edgar Wibeau’s Leben in Mittenberg spiegelt genau diese konkreten Lebensumstände wider. Er ist umgeben von angepassten, systembewussten DDR-Bürgern, wie z.B. seiner Mutter oder seinem Ausbilder. Teilweise trifft das auch auf seinen Freund Willi zu.

Die Mutter ist Leiterin der Berufsschule10, eine ehrgeizige, erfolgreiche Frau, die laut Edgar beweisen will, „dass man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann“ 11, ihm die sozialistischen Wertstäbe aufdrücken will und seine eigene Individualität nicht anerkennt: „Bloß seine Mutter war dagegen (dass er Künstler wird). Ed sollte einen >ordentlichen Beruf< haben.“12 Auch Flemming ,,ein erfahrener, alter Ausbilder, zuverlässig“13 hält an alten Normen fest und lehnt innovative Ideen ab. Seine Schüler müssen Metallplatten zurechtfeilen, anstatt dies Maschinen tun zu lassen, wie es Willis Idee entspricht.14 „Diese bürokratische Spießbürgerlichkeit“ war es, die Jugendlichen wie Edgar die Freude an der Arbeit nahm, da er sich in seiner Eigenbewegung und Kreativität eingeschränkt sah.

Willi scheint auf den ersten Blick noch „aufsässiger“ als Edgar zu sein. Er ist es, der neue Ideen entwickelt und sich einen „Jux“ daraus macht im Minirock zur Arbeit zu gehen, weil es ihn „anstank“ wie die Mädchen „in der Werkstatt aufkreuzten“.15 Edgar verkörpert dagegen rein äußerlich ein Vorbild im Sinne sozialistischer Sicht mit einem Notendurchschnitt von 1,1und dem Ruf als Muttersöhnchen.16 Er hält sich immer aus allem raus, weil er seiner Mutter keinen Ärger machen will.17 In der DDR wurden funktionierende und sich unterordnende Menschen gelobt und gefördert. Man ignorierte dabei, dass die Menschen ihren aufrechten Gang verloren. Die Jugendliche hatten nicht das Recht die Welt der Erwachsenen in Frage zu stellen (wie es dem natürlichen Entwicklungsprozess eines Heranwachsenden eigentlich entspräche), sondern sollten peu à peu zur sozialistischen Persönlichkeit abgerichtet werden. Doch mit der Aussage Willis:

„Aber das war nicht geplant, und ich konnte es auch nicht (aussteigen und das alte Leben hinter sich lassen). Ed konnte, ich nicht. Ich wollte schon, aber ich konnte nicht.“18, wird offensichtlich, wer der eigentliche Rebell ist. Willi hat keinen Mut, sich radikal dem System entgegenzustellen, Edgar dagegen erträgt den ideologisch nominierten Alltag nicht mehr und „bricht aus“.

3.3 Der Ausbruch

Edgar wagte es schließlich, gegen den gesellschaftlichen Druck Widerstand zu leisten bzw. sich zu entziehen, indem er in die Gartenlaube nach Berlin zieht. Dort entspannt er sich und macht ausschließlich das wozu er Lust hat und das auch nur, wenn er Lust hat. Es ist gewissermaßen ein Ausbruch des nicht gelebten Widerstandes und ein Beweis dafür, wie belastend er sein Lebenssituation empfand, denn für einen solchen Schritt benötigte man damals in der DDR großen Mut.

Edgar stellte dabei kein Einzelschicksal dar. In fast allen Großstädten tauchten sog. Punks auf, die sich der Gesellschaft total verweigerten. Sie hegten eine abgrundtiefe Abneigung gegen den grauen SED-Staat und hatten keine Lust in überfüllte

Staatsdiskotheken der FDJ zu gehen, in denen Musik und Kleidung zensiert wurden: kein Punk, keine Jeans.

Statussymbole im Wohlstandssozialismus wie Schrankwand, „Farbglotze“, Auto und Datsche werden von vielen Jugendlichen als spießbürgerlich abgetan und motivierten sie nicht für Arbeit oder Konsum.19

Dafür werden sie von der Mehrheit der Gesellschaft, insbesondere den Erwachsenen, als „Gammler“ bezeichnet und abgelehnt. In der DDR bestand nicht nur ein Recht auf Arbeit sondern auch die Pflicht. Außenseiter mussten mit Strafen wie Erziehungsheim oder Jugendgefängnis rechnen.20

So wichen viele auf Halbtagsjobs als Gärtner, Hausmeister oder Ähnliches aus.21 Edgar entzog sich jedoch vorerst nur für eine Schonzeit dem Zugriff der staatlichautoritären Repräsentanten (Eltern, Polizei, Lehrausbilder). Noch versuchte er seinen eigenen Weg in dieser Gesellschaft zu finden.

Er erlebt nun eine Situation, in der er nur noch Zeit für sich hat und kann sich voll und ganz seiner Suche nach Selbstverwirklichung widmen. Er streift Illusionen ab und scheint es wirklich ernst zu meinen:

„Er konnte überhaupt nicht zeichnen(...): man sollte ihn für ein verkanntes Genie halten. (...) Ich kam auf den Gedanken, ihn in unseren Kindergarten zu bringen und ihn eine Wand bemalen zu lassen. (...) Bloß er war ja so gerissen! (...) Er drückte den Kindern einfach in die Hand was an Pinsel da war (...). Und Edgar hatte keinen Strich gemacht.(...).“22

Durch dieses Zitat wird deutlich, dass er es mit der Malerei beispielsweise nicht wirklich ernst meinte, denn wenn er ein richtiger Künstler gewesen wäre, hätte er die Möglichkeit sein Können an einer ganzen Wand darzustellen sicherlich genutzt. Sie war lediglich eine mehr oder weniger oberflächliche Zurschaustellung dessen, dass er andere Ziele und Vorstellungen hat, als der übliche, angepasste DDR-Bürger. Edgars Kreativität, die sich in der Idee ausdrückt, die Kinder die „Arbeit“ erledigen zu lassen, hat eine gewisse Symbolwirkung. Sie gibt einen Hinweis, dass Edgar nun tatsächlich einen Weg für seine Selbstverwirklichung sieht. Da auch andere (in diesem Fall die Kinder) danach „hungern“ sich auszuleben, bietet er ihnen eine kleine Möglichkeit dazu.

3.4 Die Realität kehrt zurück

Nach der in Abschnitt 3.3 beschriebenen Entspannungsphase gelangt Edgar jedoch zu der Erkenntnis, dass er Geld braucht, und sich folglich eine Arbeit suchen muss: „Wenn einer keine Tonbänder mehr kaufen kann, muss er Geld verdienen.“23 Er trifft diese Entscheidung aus freien Stücken, wurde also von niemandem gezwungen. Sicherlich wäre die Bereitschaft zu arbeiten bei vielen Jugendlichen vorhanden gewesen, wenn nicht so viel propagiert worden wäre und ein „Muss“ dahinter gestanden hätte.24

Auf diese Weise gerät er jedoch erneut in die Gesellschaft hinein und reibt sich an Repräsentanten, wie er sie aus Mittenberg kannte, so zum Beispiel am linientreuen Dieter.

Zwar findet er Unterstützung in der Person des Zaremba, sowie Selbstbestätigung im Werther und Liebe bei Charlie, doch letztendlich läuft alles darauf hinaus, dass sich seine Lebensvorstellungen nicht realisieren lassen. So scheitert als erstes seine Liebe. Charlie ist zwar enttäuscht von Angepasstheit ihres Verlobten Dieter, trägt aber auch etwas davon in sich und möchte ihr sicheres Terrain nicht verlassen. Sie kann sich nicht auf Edgar einlassen, obwohl sie zweifelsohne von ihm fasziniert ist. Anschließend kommt er mit seiner Mittenberger Vergangenheit in Berührung, da ihn seine Mutter besucht und zurückholen will. Schließlich beendet das Vorhaben die perfekte „NFG“ zu erfinden, nicht nur den Versuch zur Selbstverwirklichung, sondern auch sein Leben.

Damit wirft sich die allseits umstrittene Frage nach der Ursache des Todes von Edgar auf: war es ein Unfalltod oder Selbstmord?

Edgar selbst lässt manchmal durchblicken, dass er über Selbstmord als solchen zumindest schon nachgedacht hat:

„Ich weiß nicht, ob einer von euch schon mal über Sterben nachgedacht hat und das. Darüber, dass einer eines Tages einfach nicht mehr da ist (...), und zwar unwiderruflich. Ich habe eine ganze Zeit oft darüber nachgedacht, dann aber aufgegeben..“25

Es könnte sein, dass er seine Selbstmordgedanken bereits aufgegeben hatte.

Er bedauert offenbar seinen Tod, wie man der Aussage:„Dass ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist.“26 entnehmen kann.

Seine Kollegen, Bekannten und Verwandten nehmen sein Ableben jedenfalls als tragischen Unfall zur Kenntnis, wie aus den Nachruf-Texten hervor geht. Der einzige, der sich etwas näher mit dem Tod Edgars auseinandersetzt, ist sein Vater. Dieser versucht sich im nachhinein ein Bild von Edgar und den genauen Umständen seines Todes zu machen. Das Ergebnis erfährt der Leser jedoch nicht. Selbst Plenzdorf gibt uns keine eindeutige Antwort. So bleibt es jedem Leser selbst überlassen, sich für eine Variante zu entscheiden.

Fest steht jedoch, dass Selbstverwirklichung nur im Sinne der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung möglichgewesen wäre. Edgar „dankt ab“, bevor ihn diese Realität einholen könnte. Auch ein Großteil der Erwachsenen befand sich in dem Dilemma mit den Sanktionen in der DDR-Wirklichkeit zu leben. Deshalb griffen viele zu einer „Überlebensmaßnahme“ und zogen eine klare Trennlinie zwischen „Staat und Arbeit“ einerseits sowie „Privatem“ andererseits. Auf diese Weise verbrachte so mancher DDR Bürger die Wochenenden mit dem Ausbau seiner Datsche im Schrebergärtchen oder seines Trabbis. Dabei hofften sie sich etwas „Eigenes“ zu schaffen. Viele Menschen verloren bei diesem Tun den Bezug zu ihren eigentlichen Gefühlen und fügten sich dem starken Anpassungsdruck.

Viele Jugendliche verpönten indessen diese Haltung, da sie ein Ausdruck des Hinnehmens und Ertragens war, während sie Veränderungen sehen wollten. Sie fühlten sich in der Gesellschaft fremd und wollten überhaupt nicht einsehen, dass sie ihre Träume von einem besseren Leben und einer besseren Welt aufgeben sollten.27 Die Erwachsenen hatten das System in ihrem Denken und Fühlen aber schon dermaßen verinnerlicht, dass sie sich entweder absolut „linientreu“ verhielten oder die Entfremdung auf eben beschriebenem Weg verdrängten. Somit war sich ein Teil der Menschen in der DDR der Entfremdung nicht mehr bewusst. Sie fügten sich ein und hörten auf Widerstand zu leisten.

Für die Probleme der Jugendlichen konnten sie kein Verständnis aufbringen oder scheuten die Auseinandersetzung. Deshalb verlangten sie auch von ihnen bedingungslose Anpassung.

So liegt hier nicht nur ein Konflikt zwischen den Jugendlichen und dem System, sondern auch ein Generationskonflikt vor.

3.5 Edgars Scheitern, verdeutlicht an einer Untersuchung der Sprache

„Es war die Sprache der neuen Leiden, die von Beginn an die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich zog, positive wie negative (...). W. Koolhaase vermutete in einer frühen Diskussion (richtig), dass PLENZDORF in seinem Roman durch die Jargonverwendung ‚hinter den Sprechweisen den Denkweisen’ auf der Spur sei.“28

Sprache, die als Wirklichkeit durchleuchtet : Edgar Wibeau benutzt seine Sprache als Instrument der Zurschaustellung dessen, was er in seiner Umgebung vermisst und zu gleich (unbewusst) als Schlüssel für den Leser, seine psychische Befindlichkeit auszumachen.29

Die Bedeutung der Sprache in diesem Roman ist in einem besonderen Spannungsfeld zu betrachten: der jugendliche Jargon von Edgar, im Gegensatz zur Sprache der Erwachsenen.

„Wenn Edgar sich im Jargon der Jugendlichen äußert, so werden seine

Erlebnisse und Erfahrungen in gewissem Maße verallgemeinerungsfähig: Es geht nicht um ein Einzelschicksal, sondern das Einzelschicksal steht stellvertretend für das der Jugendlichen, die die gleiche Sprache sprechen. Edgars Jargon ist somit sowohl individuell als auch typisch: Er kennzeichnet sein eigenes Wesen, Denken und Verhalten, aber damit zugleich der Jugendlichen überhaupt.“30

Als Kontrast setzt Ulrich Plenzdorf Zitate aus „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe ein. Besonders das hat staatstreue Kritiker in der DDR außerordentlich aufgebracht. Goethe, der in das sozialistische Kulturerbe aufgenommne klassische Autor, liefert Zitate gegen aktuelle gesellschaftliche Zustände, umgeben von „jugendlich-sprachlichen Entgleisungen“ und den Einflüssen der westlichen Kultur. Dass diese Einflüsse der Kultur aus der Lebensart und Kultur der Jugendlichen im

Westen kamen und auch dort zum Generationskonflikt führten, verschwand bei den Negativ-Kritikern der DDR in einem allgemeinen Feindesbild.31 Die Jugend aus Ost- und Westdeutschland erkannten die Sprache Edgars dagegen als ihre eigene und verstanden das Buch. Die Form, die als eine Art Code wirkte, brachte Gleichgesinnte zusammen.

Hier lässt sich ein weiterer besonders wichtiger Gesichtspunkt feststellen: Erst im Leser und Theaterbesucher findet Edgar Gleichgesinnte. Die Figuren im Buch dagegen sind entweder Repräsentanten (Mutter, Lehrausbilder, Dieter) oder blasse, schemenhafte Sympathisanten, die Edgars Weg zur Selbstverwirklichung als positiv und belebend wahrnehmen, aber sich schließlich doch nach der gesellschaftlichen Ordnung richten bzw. nur Mitläufer hinter den wären, die sich wirklich trauen, anders zu sein (Charlie, Willi).

Plenzdorf hat sehr bewusst herausgearbeitet, dass Edgar daher eigentlich nur scheinbar mit den anderen Figuren kommuniziert. Auffällig wird das an der Fülle der „Jenseits- Kommentare“, die sich eigentlich an den Leser richten. Auch fällt es auf, dass Edgar die Werther-Zitate nicht als Beitrag zur Kommunikation einsetzt, sondern provozierend wie Waffen gebraucht, z.B. gegenüber Addi nach der misslungenen Spritzgerät-Vorführung, wo Plenzdorf für Edgar die Formulierung wählt: “Und dann kam ich und zückte meine Werther-Pistole (...).“32

Hinter der Ironie, den komischen Effekten und Ausdrücken sowie den modernen

Worten wie „high“, „jumpen“, „Bluejeans-Song“ sind eine ernsthafte Selbsterkundung und Kritik an den Lebensumständen zu erkennen, das Entscheidende fehlt allerdings. Wenn Edgar redet ( was eigentlich ein Beginn von Kommunikation, und somit Konfliktbearbeitung sein sollte) bleibt er wie im Monolog stecken. Er will beeindrucken, verblüffen und klar machen, dass er anders ist. „Edgar rechnet mit dem Nicht-Verstehen seiner Partner und will sie provozieren.“33

Manfred Eisenbeis meint dazu:

„Das Nichtverstehen ist von Edgar eingeplant. Er reagiert mit Hilfe der Zitate auf die Kritik dieser Personen an seiner Außenseiterrolle. Die Zitate dienen ihm als ‚Waffe“, zur Provokation seiner Umwelt, die ihn nicht versteht und deren verblüffte und aggressive Reaktion ihm Genugtuung und Überlegenheitsgefühl schafft. Die Zitate werden für ihn zunehmend auch zu einem Mittel zur Selbstfindung.“34

Die Zitate bestärken Edgar Wibeau seinen Selbstfindungsweg fortzusetzen, doch isoliert ihn dieser Weg zunehmend. Samuel Moser äußerte sich dazu folgendermaßen:

„Fassade ist vor allem auch die Sprache, die Plenzdorf seinen W. sprechen läßt: ‚beölen, sülzen, über den Jordan gehen, beschnarchen, pinnen, den Löffel abgeben, sich fläzen, popen, firnissen’ - Edgar Wibeau schlägt mit einem Vokabular herum, das scheinbar der Umgangssprache abgehört ist, in Wirklichkeit nichts anderes als ein konstruierter Jargon, ein Geheimsprache. Eine Sprache, die jeden Kommunikationscharakter verloren hat.“35 Vom Dialog erhofft sich Edgar anscheinend nichts. Somit kommen bereits über die

Sprachform Verweigerung und Isolation zum Ausdruck.

4.Fiktive Biographie des Edgar Wibeau

Ulrich Plenzdorf wählte für seinen Edgar den Tod, auch wenn dieses Ende manchem Leser vielleicht unpassend oder aufgesetzt erscheinen mag. Doch erst dieser sonderbare Schluss regt den Leser richtig zum Nachdenken an und lässt ihn erkennen, dass es für Edgar keine wirkliche Alternative gab.

Denn welche Wahlmöglichkeiten hätte Edgar noch gehabt? Er hätte zurück nach Mittenberg gehen können, wo er gezwungen worden wäre, sein mittelständiges „Nischenleben“ fortzusetzen. Oder aber er wäre in Berlin geblieben und hätte tatsächlich das Farbspritzgerät erfunden, wodurch er aber lediglich zu einer vorbildlichen, engagierten, sozialistischen Persönlichkeit geworden wäre, was für ihn vermutlich alles noch schlimmer gemacht hätte.

Wäre er radikal geblieben und hätte sich weiter verweigert, musste er mit staatlichen Strafmaßnahmen rechnen, wodurch seine Hoffnungen auf Selbstverwirklichung ebenfalls gescheitert wäre. In dem diktatorischen Staat der DDR wäre er mit seiner Lebenseinstellung folglich so oder so zum Scheitern verurteilt gewesen, was Plenzdorf offensichtlich erkannt oder zumindest geahnt hat.

Doch gibt es sogar noch eine vierte Möglichkeit: Edgar hätte so lange rebellieren bzw. immer wieder einen Ausreiseantrag stellen können, bis ihm der Weg in den Westen offengestanden hätte.

Dort wäre seine persönliche Entscheidungsfreiheit größer und die Kontrolle geringer gewesen. Außerdem hätte er für sich die Verantwortung übernehmen können. Doch wäre er dabei mit Sicherheit auch wieder auf (die im Vorwort bereits erwähnten) Probleme gestoßen, nämlich auf die der westlichen, der kapitalistische Gesellschaft.

„Mark Reich-Ranizki äußert sich mit Bezug zu Salinger zu dieser Überlegung

folgendermaßen: „Wie es dort nicht nur um den Kapitalismus ging, geht es auch hier nicht um den Sozialismus(...).Wogegen sie naiv und trotzig protestieren, sind die Formen des Zusammenlebens, die sie für unerträglich halten, weil sie ihre Selbstverwirklichung permanent verhindern.“36

5. Literaturverzeichnis

- Brenner, Peter J. (Hg) (1982): ,Neue Leiden des jungen W.’, Materialien, Frankfurt

- Eisenbeis, Manfred (1993): Ulrich Plenzdorf, „Die neuen Leiden des jungen W.“, Stuttgart, Klett Lektüren

- Goethe, J.W. (1984[1]): Die Leiden des jungen Werther, Frankfurt am Main, Insel Verlag

- Goldmann Lexikon, Taschenbuchausgabe 1998, Bertelsmannverlag Gütersloh, Band.20.

- Heyne I.(1985), Jugend in der DDR in: Zeitlupe, 1985/15, Bonn

- Informationen zur politischen Bildung, Heft 205 (19881 ), Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

- Informationen zur Politischen Bildung, Heft 231 (1991), Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

- Informationen zur politischen Bildung, Heft 258 (19981 ), Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn

- Johanneum Lüneburg Informationssystem (2000), Semesterarbeit: Die neuen

Leiden des jungen W., Update 9.April 2000, www.fh-

lueneburg.de/u1/gym03/hompage/faecher/deutsch/plenzdorf/plenzdorf.htm

- Kleines Fremdwörterbuch (19816 ), VEB Bibliographisches Institut Leipzig

- Kulturbetrieb und Literatur in der DDR, Hrsg. Von Günther Rüther, Köln 1987

- Mews, S.(1984), Autorenbücher: Ulrich Plenzdorf; München, Edition Text u.

Kritik Verlag

- o.N. (1984), Jung sein in der DDR in: PZ, Wie fremd sind wir uns eigentlich?, 1984/38, Bonn

- o.N. (1985): Wer sagt mir...wo es langgeht in: PZ, 1985/43, Bonn

- Plenzdorf, Ulrich (19761 ): Die neuen Leiden des jungen W. , Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag

- Poppe, Reiner (1997): Erläuterungen zu Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., Kein runter kein fern, Hollfeld, Königs Erläuterungen und Materialien.

- Salinger, J.D. (1984): Der Fänger im Roggen, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt

Verlag

[...]


1 Vgl. Semesterarbeit, Deutsch, Die neuen Leiden des jungen W., www.fh-lueneburg.de, Kap.9. 2

2 Kulturbetrieb und Literatur in der DDR, Köln 1987, S. 73-74.

3 Mews, Siegfried, Autorenbücher, S.14.

4 Vgl. Goldmann Lexikon, Taschenbuchausgabe 1998, Band.20.

5 Vgl. Kleines Fremdwörterbuch (19816 ), S.340.

6 Informationen zur Politischen Bildung, Heft 231, S.35.

7 Programm der SED von 1976 aus: Informationen zur politischen Bildung, Heft 205, S.10. 4

8 Informationen zur politischen Bildung, Heft 258, S.27.

9 Plenzdorf, U., (19761 ), S.80f..

10 Vgl. A.a.O., S.9.

11 A.a.O., S.23.

12 A.a.O., S.20.

13 A.a.O., S.11.

14 Vgl. A.a.O., S.11.

15 Vgl. A.a.O., S.22.

16 Vgl. A.a.O., S.21.

17 Vgl. A.a.O., S.12,21,22.

18 A.a.O., S.28.

19 Vgl. PZ, Nr.38, S.15.

20 Vgl. Zeitlupe 15, S.17.

21 A.a.O., S.17.

22 Plenzdorf, U. (19761 ), S.49f..

23 Plenzdorf, U. (19761 ), S.88.

24 Vgl. Zeitlupe 15, S.17.

25 Plenzdorf, U.(19761 ), S.135/136.

26 A.a.O. S.16..

27 Vgl. PZ, Nr. 43, S.25.

28 Poppe, Königs Erläuterungen,1997, S. 61 f.

29 Vgl. Poppe, Königs Erläuterungen, 1997, S. 61.

30 Klett Lektüren Stuttgart 1993, S 95 f.

31 Vgl. Klett Lektüren Stuttgart 1993, S. 94 - 99.

32 Plenzdorf, U.(19761 ), S.100.

33 Klett Lektüren, Stuttgart 1993, S. 99.

34 Klett Lektüren, Stuttgart 1993, S. 32 f.

35 Poppe, Königs Erläuterungen, 1997, S. 82 f.

36 Marcel Reich-Ranizki. Der Fänger im Roggen. Ulrich Plenzdorfs jedenfalls richtiger Roman, In: Brenner, Peter J.,(Hg.), Plenzdorfs, Neue Leiden des jungen W.’, Materialien, Frankfurt 1982, S.266.

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Details

Titel
Plenzdorf, Ulrich - Gesellschaftliches Verweigerungsverhalten Jugendlicher (in der DDR)
Note
2+
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V106004
ISBN (eBook)
9783640042838
Dateigröße
411 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Plenzdorf, Ulrich, Gesellschaftliches, Verweigerungsverhalten, Jugendlicher, DDR)
Arbeit zitieren
Jovana Glaß (Autor:in), 2001, Plenzdorf, Ulrich - Gesellschaftliches Verweigerungsverhalten Jugendlicher (in der DDR), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106004

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