Der Sozialversicherungsstaat in der Krise


Seminararbeit, 2001

19 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1.) Einleitung

2.) Definition des Sozialstaats

3.) Grundlagen des deutschen Sozialstaats

4.) Die Sozialversicherungen

5.) Der Sozialversicherungsstaat in der Krise
a) Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit
b) Gesellschaft im Wandel

6.) Schlußfolgerung

7.) Literatur

1.) Einleitung

Das politische Tagesgeschehen in Deutschland wird oft bestimmt von Debatten über Reformen der Sozialversicherungen. Jüngste Beispiele sind die Rentenreform 2001 und die anhaltende Diskussion um die steigenden Gesundheitskosten. Bei den sozialstaatlichen Institutionen scheint die Krise inzwischen zum Normalzustand geworden zu sein.

In meiner Arbeit möchte das System der sozialen Sicherung in Deutschland untersuchen. Dazu werde ich zunächst den Begriff „Sozialstaat“, mit dem Deutschland bezeichnet wird, definieren, anschließend die Grundlagen des Systems erläutern. Dabei werde ich sowohl auf die historische Entstehung als auch auf die gesetzliche Verankerung eingehen. Im folgenden Kapitel werde ich mich näher mit den Sozialversicherungen als den Säulen des Sozialstaats beschäftigen. Abschließend werde ich die Ursachen für die Krise des „Sozialversicherungsstaats“ analysieren und zeigen, dass ein Ausweg mittels Reformen innerhalb des System kaum gefunden werden kann.

2.) Definition des Sozialstaats

Der Begriff „Sozialstaat“ wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur zur Beschreibung der spezifischen Ausgestaltung des Wohlfahrtstaates in der Bundesrepublik Deutschland verwendet. Eine allgemein akzeptierte Definition des Sozialstaats gibt es jedoch nicht. Umstritten ist, inwieweit der Ausruck „Sozialstaat“ identisch mit dem international gebräuchlichen Terminus „Wohlfahrtsstaat“ bzw. „welfare state“ ist. Während einige Autoren die beiden Begriffe als deskriptive Konzepte weitgehend synonym verwenden1, verweisen andere auf die Besonderheiten des deutschen Sozialstaats, der sich ihrer Ansicht nach aufgrund bestimmter Merkmale vom Wohlfahrtsstaat im allgemeinen unterscheidet.

So haben in Deutschland vor allem in den 50er und 60er Jahren viele den Wohlfahrtstaat verstanden als einen „überbordenden Versorgungsstaat, der von der Wiege bis zur Bahre alles regelt und der in Anlehnung an das vordemokratische Modell eines absolutistischen Paternalismus Freiheitsrechte einschränkt und durch Staatswohltätigkeit ersetzt“.2

Günther Schulz (1996) sieht zudem noch einen Unterschied darin, dass „der Begriff ‚Wohlfahrtsstaat‘ häufig in dem engeren Verständnis des helfenden, fürsorgenden Staates verwendet [wird]. Beim Begriff ‚Sozialstaat‘ hingegen ist auch die gesellschaftliche Strukturpolitik (z.B. durch Förderung des Bildungswesens, des Wohnungsbaus und durch Rahmengebung für die Arbeitsbeziehungen) mitgemeint.“3

Nach der Definition von Schulte (1991) (aus sozialrechtlicher Sicht) haben die Begriffe „Wohlfahrtsstaat“ und „Sozialstaat“ unterschiedliche Funktionen: „Wohlfahrtsstaat“ eine beschreibende (sozialwissenschaftliche), „Sozialstaat“ eine normative (rechtswissenschaftliche). Zudem sei der Terminus „Sozialstaat“ mit „freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaalichen - in Deutschland auch bundesstaatlichen - Elementen verbunden“4.

Einigkeit herrscht jedoch bei der Beschreibung des wichtigsten Merkmals des „Wohlfahrtsstaats“ bzw. des „Sozialstaats“: dem Interventionismus. Der Staat greift in bestimmten Situationen ein, um Missstände in der Gesellschaft abzubauen oder zu verhindern. Er übernimmt also Verantwortung für einige grundlegende Bedürfnisse seiner Bürger. In welchem Maß der Staat für wen aufkommt und auf welche Weise, kann allerdings von Staat zu Staat sehr verschieden sein.

Die Definiton des „Wohlfahrtsstaats“ von Harry Girvetz (1968) lautet z.B.:

„Der Wohlfahrtsstaat ist der institutionelle Ausdruck der Übernahme einer legalen und damit formalen und ausdrücklichen Verwantwortung einer Gesellschaft für das Wohlergehen ihrer Mitglieder in grundlegenden Belangen.“5

Unklar bleibt hier vor allem, was unter dem „Wohlergehen [...] in grundlegenden Belangen“ zu verstehen ist. Was braucht ein Mensch, damit es ihm gut geht? Nach Girvetz Definition ist ein Staat, auch dann ein Wohlfahrtsstaat, wenn er nur ein absolutes Minimum an sozialen Rechten garantiert.

Dieter Nohlen (1995) ist dagegen der Meinung, dass ein Wohlfahrtsstaat „einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken“6 widmen muss. Er beschreibt auch genauer, was zum Wohlergehen eines Mitglieds einer Gesellschaft gehört. Seiner Ansicht nach weist ein Wohlfahrtsstaat folgende Merkmale auf:

,,Er kennzeichnet Länder in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken widmet, die der Förderung nach einer größeren Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung dienen. In der Verwendung des Konzepts [...] schwingt eine Verpflichtung des Staates auf eine umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte mit, die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben zum Ziel erhebt".7

Es können also große Unterschiede zwischen einzelnen Wohlfahrtsstaaten bezüglich des Maßes ihrer Intervention bestehen. Zur präziseren Beschreibung der Staatsmodelle hat Esping-Andersen (1990) eine Typologie der Wohlfahrtsstaaten vorgenommen. Er unterscheidet zwischen liberalen (z.B. Großbritannien, USA), konservativen (z.B. Deutschland, Frankreich) und sozialdemokratischen (z.B. Schweden, Dänemark)

Wohlfahrtsstaaten.8 Demnach könnte der Sozialstaat als ein konservativer Wohlfahrtsstaat bezeichnet werden. Aber auch diese Einteilung ist in der Sozialwissenschaft umstritten.9

Es scheint also schwierig zu sein, eine präzise Definition des Wohlfahrtsstaats bzw. des Sozialstaats zu finden. Unter funktionalen Gesichtspunkten lassen sich aber zumindest einige grundlegende Aufgaben dieser Staaten formulieren. Der Staat muss:

- seine Bürger gegen Risiken der Industriegesellschaft sichern,
- Vermögen umverteilen (z.B. durch Eingriffe in die Primäreinkommen),
- den Faktor Arbeit erhalten und fördern (die Produktivität des Staats sichern),
- alle Mitglieder der Gesellschaft integrieren und damit für die Legitimation des Staatssystem sorgen.

Darüber hinaus lassen sich dann Kriterien zur präziseren Definition von Wohlfahrtsstaaten finden, wie z.B. die Reichweite (universal vs. selektiv), den Umfang (expansiv vs. limitiert), die Qualität (maximal / optimal vs. minimal), die Finanzierung (Steuern vs. Beiträge), die Leistung (einkommens- / beitragsbezogen vs. Grundbetrag) oder die Umverteilung (progressiv vs. regressiv).

In dieser Arbeit werde ich den deutschen Sozialstaat als ein besonderes Modell der Wohfahrtsstaaten behandeln und im folgenden genauer auf ein spezielles Merkmal des Sozialstaats, die Sozialversicherungen, eingehen und anschließend das deutsche Sozialstaatspostulat erläutern.

3.) Grundlagen des deutschen Sozialsstaats

Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Industriellen Revolution, kam in Deutschland die Soziale Frage auf. Als Antwort auf die Armut und den damit einhergehenden Unmut zahlreicher Arbeiter schuf Bismarck in den 1880er Jahren die ersten Strukturen der sozialen Sicherung (Krankenversicherungsgesetz (1883), Unfallversicherungsgesetz (1884), Invaliditäts- und Altersversicherungsgesety (1889)), nicht zuletzt, um das politische System zu stabilisieren.

„Die Bismarcksche Sozialversicherung wurde vornehmlich als Arbeiterversicherung konzipiert, um die soziale und politische Sprengkraft der unteren gesellschaftlichen Schichten aufzufangen.“10

Im 20. Jahrhundert wurde die Sozialgesetzgebung immer weiter ausgebaut. Breitere Bevölkerungsschichten profitierten und neue Interventionsbereiche für Sozialversicherungen kamen hinzu. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Wohlfahrtspolitik Bismarcks in Richtung einer allgemeinen Sozialpolitik ausgeweitet. Neu hinzu kam die Kriegsopferversorgung und 1927 das Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungs- gesetz.

Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt der soziale Sektor einen weiteren Anschub. Ludwig Erhard und Armin Müller-Armack prägten in der Regierungszeit Adenauers das Leitbild der „sozialen Marktwirtschaft“, eines neue politischen Wegs, zwischen dem liberalen „laisserfaire“-Kapitalismus und der planwirtschaftlichen Steuerung.

Mit dem neuen Grundgesetz vom 23.5.1949 wurde auch das „Sozialstaatsprinzip“ geschaffen, eine normative Vorgabe, dessen inhaltliche Gestaltung den gesetzgebenden Institutionen überlassen wurde: „Das Sozialstaatsprinzip legt das Ziel fest, nicht aber die Methoden, mit denen es zu erreichen ist“.11 Dies stellt ein Merkmal des deutschen Sozialstaats dar:

„Der ‚Sozialstaat‘ im Sinne des Grundgesetzes zeichnet sich damit im internationalen Vergleich dadurch aus, daß die Wohlfahrtsstaatlichkeit ‚zur Norm erhoben‘ und damit von Verfassungs wegen vorgegeben ist.“12

Grundlage dafür bildet Artikel 20, Absatz 1: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ in Verbindung mit Artikel 28, Absatz 1, Satz 1: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“. Artikel 20 steht zudem unter der Ewigkeitsgarantie des Artikels 79, Absatz 3: „Eine Änderung dieses Gesetzes, durch welche (...) die in den Artikeln 1 oder 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“.13

Nach Kaufmann (1997) zeigen diese Formulierungen, „daß es keinen Sozial- oder Wohlfahrtsstaat als gesonderte Institution geben kann. Die Sozialstaatlichkeit ist vielmehr ein Charakteristikum des Staates neben anderen, welche nach kontroverser Debatte von Staatsrechtlern heute als Staatsziel interpretiert wird.“14

Dieses Ziel wird in Deutschland hauptsächlich mit Hilfe der Sozialversicherungen erreicht. Diese bilden die Säulen der sozialen Sicherheit. Im folgenden Kapitel werde ich die Sozialversicherungen, wie sie heute existieren, und die Sozialhilfe als weiteres wichtiges Element des Sozialstaats kurz vorstellen.

4.) Die Sozialversicherungen

Die Sozialversicherungen nehmen die wichtigste Rolle innherhalb der sozialstaatlichen Leistungen Deutschlands ein. Sie zählen wie auch die Sozialhilfe zu den direkten Leistungen des Sozialleistungssystems15. Die direkten Aufwendungen belaufen sich auf etwa 90% des Sozialbudgets (der Gesamtheit aller sozialen Ausgaben). Die Sozialversicherungen machen etwa drei Viertel der direkten Leistungen aus, also rund 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.16

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten1 2 3 4

Zu den Sozialversicherungen zählen die Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten, die knappschaftliche Rentenversicherung, Zusatzversorgungseinrichtungen für Angestellte und Arbeiter des Bundes, der Länder, der Gemeinden und anderer öffentlicher Körperschaften (zum Beispiel Zusatzversorgungsanstalt des Bundes und der Länder, Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost, Zusatzversorgungskassen von Gemeinden und Gemeindeverbänden), die Altershilfe für Landwirte, die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die 1995 in eingeführte gesetzliche Pflegeversicherung.

Träger der Sozialversicherungen sind im Rechtssinne eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rchts, die unter Beteiligung der Sozialpartner (Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) dem Prinzip der so genannten sozialen Selbstverwaltung unterliegen.

Die Sozialversicherung wird paritätisch finanziert, also zu jeweils 50 Prozent von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die durchschnittlichen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung belaufen sich derzeit auf zusammen 15,2 Prozent vom Bruttolohn (13,5 plus 1,7 Prozent). Bei der Rentenreform 2001 ist das Prinzip der paritätischen Finanzierung zum ersten Mal im Ansatz durchbrochen worden: Mit dem neu eingeführten Altersvermögensgesetz wird dem Arbeitnehmer dringend angeraten, sich um eine private Zusatzrente zu kümmern, die er ausschließlich finanzieren muss, aber staatliche bezuschusst wird.

Renten- und Arbeitslosenversicherung folgen dem Prinzip einer Lohnersatzleistung. Die Höhe der Leistung ist abhängig von den von der betreffenden Person eingezahlten Beiträgen, also einkommens- bzw. beitragsbezogen. Die Kranken- und Pflegeversicherung sind dagegen bedarfsbezogen. Der Umfang der ausgezahlten Sachleistung richtet sich nach den medizinisch festgestellten Bedürfnissen.

Rechtlich gesehen sind die finanziellen Ressourcen der Sozialversicherungen kollektives Privateigentum der Versicherten. Man spricht von dem Solidaritätsprinzip unter den Versicherten bzw. einer Solidargemeinschaft.

Aufgrund der Ausgestaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherung und der herausragenden Rolle der Sozialversicherungen wird das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell auch als „Sozialversicherungsstaat“ bezeichnet.

„Wenn wir (...) vom ‚Sozialversicherungsstaat‘ sprechen, dann meinen wir ein (nationales) System, das durch das grundlegende ordnungspolitische Konzept der ‚Versicherung sozialpolitischer Risiken‘ gekennzeichnet ist.“17

Dieser Staat befindet sich nun in einer Krise. Welche Ursachen dies hat, werde ich im folgenden erläutern.

5.) Der Sozialversicherungsstaat in der Krise

Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und ein gesellschaftlicher Strukturwandel sind die Hauptursachen für die Krise des Sozialversicherungsstaats. Das „Normalarbeitsverhältnis“18 und die „Normalbiographie“19, die als Grundlagen für die Schaffung des Systems der sozialen Sicherheit nach Ende des 2. Weltkriegs angenommen wurden, existieren nicht mehr. Damit ist auch die Basis des Sozialversicherungsstaats ins Wanken geraten.

a) Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit

Ende des 19. Jahrhunderts erlangte die Arbeit einen neuen Stellenwert in Deutschland. In der Antike sowie in den darauf folgenden Jahrhunderten wurde Arbeit von der oberen sozialen Schicht verachtet.20 Zu Beginn des industriellen Kapitalismus wandelte sich diese Betrachtung der Arbeit dramatisch.

„Es geschieht etwas Einmaliges in der Weltgeschichte. Zum ersten Mal bezeiht eine Oberschicht die Forderung: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen! auch auf sich selbst und fühlt sich auch noch geehrt, obwohl dieses Wort aus der Genesis eigentlich ein Fluch war.“21

Der Bewußtseinswandel führte dazu, dass die Arbeit, insbesondere die Erwerbsarbeit, zur zentralen Kategorie der Lebensführung wurde.

„Die Arbeit war damit nicht länger mehr ein bloßes Mittel der Bedarsdeckung, sie war der Prozeß, durch den der Mensch sich selbst (im Werk) erkannte und seiner Freiheit (in der Unterwerfung und Beherrschung der Natur) bewußt wurde. Von dieser Auffassung zu einer ›Vergöttlichung‹ der Arbeit, (die an die Stelle Gottes als ›Urprinzip‹ trat), war es dann nur noch ein kleiner Schritt, der im Linkshegelianismus und Marxismus getan wurde.“22

Die Vollbeschäftigung wurde zu einem der zentralen Ziele der deutschen Wirtschaftspolitik.23

Nach dem 2. Weltkrieg konnte dieses Ziel bis Mitte der 70er Jahre mit einer Arbeitslosenquote von rund einem Prozent erreicht werden. Die Ölkrise 1973 und die folgende Wirtschaftskrise ließen die Arbeitslosenquote jedoch in die Höhe schnellen.

Zwischen 1973 und 1975 stieg die Zahl der Erwerbslosen in Westdeutschland von 273.000 auf 1,074 Millionen. Die Arbeitslosenquote betrug 1973 1,3 Prozent, 1975 fast 5 Prozent.24 In den vergangenen sieben Jahren (1994-2000) lag die Quote konstant bei rund zehn Prozent.

Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle:Bundesanstalt für Arbeit (2001)

Der Arbeitsgesellschaft geht also die Arbeit aus. Damit einher kommen massive finanzielle Probleme für den Sozialversicherungsstaat. Da nur abhängig Beschäftigte versicherungs- pflichtig sind, gibt es mittlerweile deutlich weniger Beitragszahler, die deutlich mehr Leistungsempfänger (Arbeitslose) finanzieren müssen. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Erwerbstätigen nicht mehr in einem „Normalarbeitsverhältnis“ tätig ist.25 Knapp 10 Millionen der 36,6 Millionen Erwerbstätigen arbeiten weniger als 36 Stunden pro Woche,26 zahlen dementsprechend auch weniger Beiträge in die Sozialkassen.

„Die Staatseinnahmen an Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und anderen Abgaben werden zu mehr als 80 Prozent vom Arbeitseinkommen und damit vor allem über die beitragspflichtige Bruttolohn- und Gehaltssumme finanziert. Beschäftigungsvolumen und die daran gekoppelten Arbeitnehmerverdienste sind also die beiden Schlüsselfiguren der Staatsfinanzierung.“27

Befürchtet wird hier sogar ein negativer Spiralen-Effekt:28 die geringe Anzahl an Beitragszahlern erfordert eine Erhöhung der Beiträge. Folglich steigen die Lohnnebenkosten. Arbeit wird teurer. Dies kann wiederum zu mehr Arbeitslosen, also zu einer Verringerung der Beitragszahler, führen.

b) Gesellschaft im Wandel

Als zweite Ursache für die aktuelle Krise des Sozialstaats wird zumeist der gesellschaftliche Strukturwandel im Verlauf der vergangenen 50 Jahre genannt. Seit den 50er Jahren hat sich in Deutschland nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die soziale Struktur und die politischideologische Denkweise in Bezug auf die soziale Sicherung geändert.

Die soziale Struktur der Gesellschaft nach Ende des 2. Weltkriegs, als das System der Sozialversicherungen neu entwickelt und ausgebaut wurde, war in vielerlei Hinsicht verschieden von der heutigen. Die „klassische Familie“ mit dem Vater als Alleinverdiener und der Mutter als Hausfrau, nach der sich das soziale System richtete, existiert kaum mehr. Die Emanzipation und der voranschreitende Zerfall der patriarchalen Strukturen führte die Frau aus ihrer traditionellen Rolle, hin zum gleichwertigen Mitglied der Arbeitsgesellschaft.

Parallel, ab Beginn der 70er Jahre, entwickelte sich die so genannte „Individualisierung“.29 Die Menschen in Deutschland wandten sich von konservativen Werten wie der Ehe als „Schicksalsgemeinschaft“ und „ewigem Treuebund“ ab und diskutierten über neue freiheitsorientierte Werte. Ziel wurde es, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen.

Das Zerbrechen der Familienstrukturen und die individuellere Lebensgestaltung hat zur Folge, dass die Familie als soziales Auffangnetz für viele Menschen nicht mehr vorhanden ist. Sie sind schneller auf die Hilfe des Sozialsystems angewiesen. Zudem sind Ende der 60er Jahre die Geburtenraten stark gefallen.30 Das hat zwei Ursachen: zum einen entscheiden sich nun viele Frauen für eine Karriere und gegen Familie und Kinder, zum anderen hat die Einführung der Pille 1964 die Wahlmöglichkeiten der Frauen vergrößert.

Die geringe Geburtenrate brachte aber auch eines der gößten Probleme der Sozialversicherungen mit sich: das so genannte „demographische Problem“. Steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten führen zu einem ungünstigen Verhältnis von Beitragszahlern (Erwerbstätigen) und Leistungsempfängern (Rentner). Seit 1950 ist der Anteil der Personen im Rentenalter (60 Jahre und älter) stetig gestiegen, von weniger als einem Sechstel (1950) auf rund ein Fünftel (1994).31 Alle Prognosen gehen davon aus, dass sich die dargestellten Trends im sozialen-strukturellen Wandel fortsetzen werden. Dies stellt die Finanzbarkeit der Sozialversicherungen in Frage.

Hinzu kommt, dass die politisch-ideologischen Gründen, die ausschlaggebend waren für die Einrichtung eines umfassenden Systems der sozialen Sicherung nach dem 2. Weltkrieg, nicht mehr vorhanden sind: zum eine die präsente Erinnerung an die unheilbringende Massenarbeitslosigkeit der 30er Jahre, zum anderen die Konkurrenz mit der DDR.

Im Rahmen der „Globalisierung“ verliert die soziale Sicherung zudem an Popularität. Der weltweite Wettbewerb um Firmenstandorte und Arbeitsplätze wird als Grund angegeben für einen nötigen Abbau der sozialstaatlichen Leistungen.32

6.) Schlußfolgerung

Im deutschen Sozialversicherungssystem ist die soziale Sicherung abhängig von der Erwerbsarbeitskontinuität und von einem ausgeglichenen Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahler. Dies ist nun beides nicht mehr gegeben. Damit gerät das gesamte System in eine Krise.

Der fortlaufende Wandel der deutschen Gesellschaft in sozial-struktureller Hinsicht wie auch auf der politisch-ideologischen Ebene ist vermutlich zu gravierend, um den deutschen Sozialversicherungsstaat auf lange Sicht aufrecht zu erhalten. Die vorausgesetzten „normalen“ Zustände eines Normalarbeitsverhältnisses und einer Normalbiographie mit einer klassischen Rollenverteilung existieren nicht mehr. Die steigenden Kosten aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und dem Altern der Gesellschaft sowie das sinkende Ansehen der sozialen Sicherung in Zeiten der Globalisierung führen zu Legitimationsproblemen. Das Umkehren der gesellschaftlichen Trends scheint wie auch ein entscheidendes Verringern der Arbeitslosigkeit kaum möglich. Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung, ist absolut unrealistisch.33

„Die Wiederherstellung von traditioneller Vollbeschäftigung als Strategie der Anpassung der Realität des Arbeitsmarkts an die Normalitätsannahmen des Systems der sozialen Sicherung ist bis auf weiteres Illusion.“34

Versuche, das System mittels Veränderungen wie der Rentenreform anzupassen, bekämpfen nur einzelne Symptome und führen zu einem stetigen Abbau des Sozialstaats. Mittel- und langfristig muss über eine vollständige Umstruktierung des Systems der sozialen Sicherung in Deutschland nachgedacht werden. Der Sozialversicherungsstaat ist in seiner bestehenden Form nicht zukunftsfähig.

7.) Literatur

Avenarius, H. (1995): Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland / Eine Einf ü hrung. Bonn.

Bahrdt, H.-P. (1983): Arbeit als Inhalt des Lebens („denn es fähret schnell dahin“). In: Matthes, J. (Hrsg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt am Main, S. 120-137.

Beck, U. (1986): Die Risikogesellschaft. Frankfurt am Main.

Brinkmann, H.-U. (2000): Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat. In: Holtmann, E. (Hrsg.): PolitikLexikon. München.

Brocker, M. (1998): Von der Verachtung der Arbeit in der Antike zur Produktionseuphorie der Moderne - Aspekte eines Wertewandels. In: Zeitschrift f ü r Politik 45. Jg., H. 2, S. 135- 158.

Bundesanstalt für Arbeit (2001): Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt f ü r Arbeit: Arbeitsmarkt 2000, 49. Jg. Sondernummer. Nürnberg.

Esping-Andersen, G. (1990): Three Worlds of Welfare. Cambridge.

Heinze, R.-G., Schmid, J. & Strünck, C. (1999): Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat / Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90er Jahren. Opladen.

Herden, R.-E. & Münz, R. (1997): Die Bev ö lkerungsentwicklung in Deutschland, 1950-1996. Institut für Sozialwissenschaften Humboldt-Universität Berlin. http://www.demographie.de/info/epub/pdfdateien/bev_dt.pdf

Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IWD) (1999): Arbeitslosigkeit Immer mehr statt weniger. In: Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, vom 23. Dezember 1999, Ausgabe Nr. 51, Jg. 25, S. 7. http://www.iwkoeln.de/iwd/i-archiv/iwd51-99/i51-99-7.htm#graf

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) (2000): Thesen zum Tage: Der Sozialstaat braucht mehr Beschäftigung. In: IAB Materialien, Nr. 2/2000. Nürnberg, S.3.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) (1998): IAB Kurzbericht, Nr. 2; Besch ä ftigung: Formenvielfalt als Perspektive? - Teil 1, L ä ngerfristige Entwicklung von Erwerbsformen in Westdeutschland. Nürnberg.

Kaufmann, F.-X. (1997): Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt.

Nohlen, D. (Hrsg.) (1995): W ö rterbuch Staat und Politik. Bonn.

Osterland, M. (1990): ‚Normalbiographie‘ und ‚Normalarbeitsverhältnis‘. In: Berger, P. A. & Hradil, S. (Hrsg.): Lebenslagen, Lebensl ä ufe, Lebensstile. Göttingen, S. 351-362.

Thibaut, B. (1998): Wohlfahrtsstaat. In: Nohlen, D. (Hrsg .): Lexikon der Politik. Band 7: Politische Begriffe. München.

Riedmüller, B. & Olk, T. (1994): Grenzen des Sozialversicherungsstaates oder grenzenloser Sozialversicherungsstaat? In: Riedmüller, B. & Olk, T. (Hrsg.): Grenzen des Sozialversicherungsstaates. Opladen 1994.

Schmidt, M-G. (1998): Wohlfahrtsstaatliche Regime: Politische Grundlagen und politischökonomisches Leistungsvermögen. In: Lessenich, S. & Ostner, I. (Hrsg.): Welten des Wohlfahrtspluralismus. Der Sozialstaat in der vergleichenden Perspektive. Frankfurt am Main / New York, S. 179-200.

Schulte, B. (Hrsg.) (1991): Wechselwirkungen zwischen dem europ ä ischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland : Colloquium des Max-Planck-Instituts f ü r Ausl ä ndisches und Internationales Sozialrecht. München.

Schulte, B. (2000): Das deutsche System der sozialen Sicherheit / Ein Überblick. In: Allmendinger, J. & Ludwig-Mayerhofer, W. (Hrsg.): Soziologie des Sozialstaates. München.

Schulz, G. (1996): Die Geschichte des Sozialstaats in Deutschland. In: Zeitschrift zur politischen Bildung - Eichholz Brief 33, H. 3, S. 5-17.

Vobruba, G. (1998): Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft. In: Eicker-Wolf, K. u.a. (Hrsg.): Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat. Marburg, S. 21-51.

Vobruba, G. (1997): Arbeit und Einkommen nach der Vollbeschäftigung. In: ders.: Autonomiegewinne. Sozialstaatsdynamik, Moralfreiheit, Transnationalit ä t. Wien.

[...]


1 vgl. z.B. Brinkmann (2000: 782) oder Thibaut (1998:601 / 730)

2 Heinze, Schmid, & Strünck (1999:17)

3 Schulz (1996:5)

4 Schulte (1991:18)

5 Girvetz, H. (1968): Welfare State. In: Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 16, S. 512; zitiert nach Kaufmann, F.-X. (1997:21).

6 Nohlen (1995:18)

7 Nohlen (1995:18)

8 Esping-Andersen (1990:26ff.)

9 vgl. z.B. Schmidt (1998)

10 Schulz (1996:11)

11 Avenarius (1995:23)

12 Schulte (2000:17)

13 Grundgesetzartikel zitiert nach der Textausgabe des Grundgesetzes von 1991. Hrsg: Deutscher Bundestag.

14 Kaufmann (1997:22), Hervorhebung im Original

15 Indirekte Sozialleistungen sind z.B. Steuervergünstigungen wie der Familienlastenausgleich

16 Quelle: Statistische Bundesamt Deutschland, http://www.destatis.de/basis/d/solei/soleitab7.htm (23.10.01)

17 Riedmüller & Olk (1994), S. 11, Fußnote 1

18 Das IAB definiert „Normalarbeitsverhältnis“ wie folgt: „Der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ (auch typisch, traditionell oder regulär genannt) steht für abhängige Vollzeitbeschäftigung von unbefristeter Dauer. Im Gegensatz dazu werden Abweichungen davon häufig als anormal, atypisch oder irregulär be-zeichnet. Dazu werden befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Heimarbeit, geringfügige Beschäftigung, sowie Scheinselbständigkeit gezählt.“ (IAB-Kurzbericht 2/1998)

19 vgl. Osterland (1990)

20 vgl. Brocker (1998)

21 Bahrdt (1982:127)

22 Brocker (1998:151)

23 neben der Preisniveaustabilität, dem Wirtschaftswachstum und dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht

24 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IWD) (1999).

25 Nach dem neuen, zum 1. Januar 2001 in Kraft getretenen, Teilzeit- und Befristungsgesetz wird sich die Zahl der Teilzeitarbeiter voraussichtlich noch erhöhen. Ob damit im Gegenzug neue Arbeitsverhältnisse geschaffen werden können, bleibt abzuwarten.

26 Quelle: Statistisches Bundesamt, Tabelle zur Erwerbstätigkeit. http://www.destatis.de/basis/d/erwerb/erwerbtab2.htm (26.10.01)

27 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (2000)

28 Heinze, Schmid, & Strünck (1999:17)

29 vgl. Beck (1986:206)

30 1960 betrug die rohe Geburtenrate (Lebendgeborene je 1.000 Einwohner) in Westdeutschland 17,4, in Ostdeutschland 17,0, 1970 13,4 bzw. 13,9 und 1975 nur noch 9,7 bzw. 10,8. (Quelle: Herden & Münz (1997:10). Im Jahr 2000 hatte Deutschland mit 9,3 Lebendgeborenen auf 1.000 Einwohner die geringste Geburtenrate in der EU (Quelle: Eurostat). Die Lebenserwartung bei der Geburt ist zwischen 1950 und heute in Westdeutschland für Männer um rund 9 Jahre, für Frauen um etwa 11 Jahre, in Ostdeutschland um 6,5 (Männer) bzw. 10 Jahre (Frauen) gestiegen. (Quelle: Herden & Münz 1997:15, Statistisches Bundesamt)

31 Herden & Münz (1997:21)

32 Ob mit einem Abbau des Sozialstaats und der Vergünstigung des Faktors Arbeit für Unternehmen die Chancen im globalen Wettbewerb tatsächlich verbessert werden können, ist in der Wissenschaft umstritten.

33 vgl. Vobruba (1997), (1998)

34 Vobruba (1997:49)

1 Vorläufiges Ergebnis.

2 Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn.

3 Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

4 Ab 1.1. 1996 ist das Kindergeld im Rahmen des Familienleistungsausgleichs neugeregelt worden. Siehe hierzu auch Institution Familienleistungsausgleich.

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Details

Titel
Der Sozialversicherungsstaat in der Krise
Hochschule
Universität Hamburg
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V105530
ISBN (eBook)
9783640038220
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialversicherungsstaat, Krise
Arbeit zitieren
Christian Baars (Autor:in), 2001, Der Sozialversicherungsstaat in der Krise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105530

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