Sozialstaat und Krankenversorgung


Hausarbeit, 2001

8 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Die „Institution“ Sozialstaat zählt sicherlich zu den wichtigsten Errungenschaften der Moderne. Rund 120 Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Krankenversicherung in Deutschland stehen momentan wieder schwierige Entscheidungen zur Modifikation des Systems in der Zeit knapper Ressourcen an. Vielleicht erscheint gerade jetzt ein Blick zurück zur Entstehung und Entwicklung der Sozialstaatlichkeit in Deutschland angebracht, wobei trotz großer geschichtlicher Ereignisse und Umbrüche ein erstaunliches Maß an Kontinuität zu verzeichnen ist. In dieser Abhandlung wird es im Speziellen um die Folgen der Sozialpolitik im Gesundheitswesen und der Krankenversorgung gehen.

Man sollte zudem nicht vergessen, wie durch das Aufleben des Sozialstaats sich das Berufsbild und Selbstverständnis der Ärzteschaft in die heutigen Bahnen entwickelt hat. Da es hierbei nicht nur unerheblich sondern maßgeblich um ärztliche Identität geht, sollten wir uns um so mehr der geschichtlichen Entwicklung bewußt sein.

Die Anfänge der Sozialpolitik

Zu Ende des 18. Jahrhunderts wurde durch technische Innovationen der Industrialisierungsprozeß ausgelöst, der auf den bedeutendsten Grundstoffen Kohle und Eisen aufbaute. Die neue Produktionsstätte, die Fabrik, wurde zum „ökonomischen Zentrum industrieller Gütererzeugung“1.

Dieser Strukturwandel verlief krisenhaft für große Teile der Bevölkerung und es kam besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer „Pauperisierung“ in Deutschland, zusätzlich angeheizt durch eine Überbevölkerungsproblematik2. So begann sich in dieser Zeit der Gesundheitszustand der arbeitenden Bevölkerung rapide zu verschlechtern3 und Infektionskrankheiten breiteten sich in epidemischen Ausmaßen aus. Als Beispiel hierfür eignet sich besonders der Ausbruch einer „Hungertyphus“-Epidemie in Oberschlesien 1847.

Rudolf Virchow, der 1848 für die bürgerliche Demokratie kämpfte, und den man auch mit Fug und Recht als Mitbegründer der sozialen Medizin bezeichnen kann, wurde im Auftrag der Preußischen Regierung entsandt um die krankheitsauslösenden Ursachen dieser Epidemie zu untersuchen. Sein Ergebnis: „[Es] läßt sich jetzt nicht mehr (daran) zweifeln, daß eine solche epidemische Verbreitung des Typhus nur unter solchen Lebensverhältnissen, wie sie Armut und Mangel an Kultur in Oberschlesien gesetzt hatten, möglich war. Man nehme diese Verhältnisse hinweg und ich bin überzeugt, daß der epidemische Typhus nicht wiederkehren würde.“4 Die Brisanz, die hinter diesem Bericht steckt, sollte sich in den folgenden Jahrzehnten angesichts einer zahlenmäßig immer größer werdenden proletarischen Arbeiterklasse noch erheblich steigern.

Das erste sozial- und gesundheitspolitische Gesetz in Deutschland wandte sich jedoch gegen einen anderen Mißstand, die Kinderarbeit. 1839 wurde ein Regulativ beschlossen, nach dem die Arbeit von Kindern unter 9 Jahren verboten und den Jugendlichen unter 16 Jahren einen zehnstündigen Höchstarbeitstag vorschrieb5. Wie man später noch häufiger sehen wird, basierte dieser Beschluß nicht nur auf Vernunft und Menschenfreundlichkeit ob des

schlechten Gesundheitszustandes der „Fabrikkinder“. Vielmehr wurde von der Obrigkeit mit Sorge zur Kenntnis genommen, daß „in manchen Industriebezirken der Erfolg der Aushebungen in Folge der Kinderarbeit außerordentlich stark gesunken sei“6. Zudem ließ der Kinderschutz trotz des Regulativs noch lange Zeit viel zu wünschen übrig.

Die Sozialpolitik im Kaiserreich

In der Phase der Hochindustrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum

1.Weltkrieg entwickelte sich Deutschland zum führenden Industriestaat Europas7, wobei die soziale Frage und die sozialpolitische Diskussion immer stärker ins Zentrum des Interesses rückten. Für die Krankenversorgung ergaben sich durch die zunehmende Verstädterung (während 1871 nur 4,8% der Gesamtbevölkerung in Gemeinden über 100.000 Einwohnern ansässig waren, wurden daraus bis 1910 21,3%8) zusätzlich neue Herausforderungen. So waren im Jahre 1876 nur 3.000 Krankenanstalten mit 141.000 Betten im gesamten Reichsgebiet zu verzeichnen, während 1900 die Zahl der Krankenhäuser auf 6300 gestiegen war und sich auch die Bettenzahl mit 370.000 mehr als verdoppelt hatte9. In den Krankenhäusern selbst hatte durch die rasante naturwissenschaftlich-technische Entwicklung dieser Epoche die moderne klinische Medizin Einzug gehalten. Die Hauptmerkmale waren einerseits die Einführung physikalisch- und chemisch-diagnostischer Methoden in diese klinische Medizin und andererseits die neuen Vorstellungen und Grundlagen der Medizin, wie sie die Bakteriologie und Zellularpathologie darstellten10. Die „Hygienisierung“ im Rahmen der öffentlichen Gesundheitspflege leitete sich unmittelbar aus dem letzten Gedanken ab. Die Krankenpflege machte eine ebenso revolutionäre Entwicklung durch, die letztlich in der Etablierung einer qualifizierten Krankenpflegeausbildung mündete11.

Leider konnte die Politik nicht mit den radikalen Erneuerungen im Gesundheitssektor Schritt halten. Trotz der immer stärker werdenden Emanzipation der Arbeiterbewegung, deren politischer Einfluß im Rahmen des Dreiklassenwahlrechts jedoch gering gehalten wurde, wurde zunächst kein neues umfassendes gesellschaftspolitisches Programm auf den Weg gebracht, welches zur sozialen Absicherung der Arbeiterschaft hätte beitragen können. In der Praxis gab es eine Reihe betrieblicher Krankenkassen (siehe Firma Krupp), die als Vorbild hätten dienen können. Ein Hauptgrund für die anhaltende Misere jener Tage war sicherlich auch die dominierende Persönlichkeit des Reichskanzlers Bismarck, der (wahrscheinlich auch aufgrund seiner großbürgerlichen Herkunft) sich die „Sicherung des Besitzstandes, um die tradierte gesellschaftliche Ordnung zu konservieren“12 auf die Fahnen geschrieben hatte. Seine (Sozial-)Politik leitete sich vor allem aus seiner Furcht vor einer „staatsbedrohenden gesellschaftlichen Umsturzgefahr“ ab, die sich unter anderem auch im Sozialistengesetz von 1878 wiederspiegelt13. Daß er dabei geschickt taktierte und die Machtverhältnisse im Reichstag zu seinen Gunsten ausbalancierte, läßt sich nicht bestreiten.

Um der Arbeiterbewegung einer der wichtigsten Elemente ihrer Triebkraft zu berauben und um gleichzeitig das Bild des „fürsorglichen Staates“ auf der Straße entstehen zulassen, besann sich Bismarck schließlich doch auf eine „Sozialreform von oben“14. Das entsprechende Gesetzespaket wurde 1881 per kaiserlicher Botschaft in Aussicht gestellt. Das 1883 verabschiedete Gesetz zur Krankenversicherung führte zur Schaffung der Ortskrankenkassen. Die Versicherungsleistungen wurden zu zwei Dritteln auf die Schultern der Arbeiter und zu einem Drittel auf die der Arbeitgeber gelegt15. Bei den Mitgliedern des Kassenvorstandes und der Generalversammlung (welche unabhängig von Arbeitnehmern und -gebern gewählt wurden) gestaltete sich die Zusammensetzung im umgekehrten Verhältnis. Kassenmitglieder hatten für die Dauer von 13 Wochen Anspruch auf: freie ärztliche Behandlung und Arzneimittel, Krankengeld vom 3. Tag an (Hälfte des durchschnittlichen Tageslohns), Krankenhauspflege bei schwerer Erkrankung und Zahlung eines Viertels des Durchschnittslohns während des Krankenhausaufenthalts16. Nach Erweiterung durch verschiedene Novellierungen wurde das Krankenversicherungsgesetz im Jahre 1911 mit den anderen Gesetzen des Sozialversicherungspakets in der Reichsversicherungsordnung fixiert, welche bis heute die Grundlage unseres Sozialversicherungssystems darstellt.

Besonders im internationalen Vergleich muß die Gesetzgebung zu dieser Zeit als richtungsweisend und vorbildlich bezeichnet werden, doch trotz der zum Teil weitreichenden Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Ortskrankenkassen haftet ihr der Makel der „patriarchalen“ Sozialintervention an, da sie keine unmittelbare Errungenschaft der Arbeiterbewegung darstellt17. Daher schließe ich mich der Meinung Wolfgang Eckarts an, der feststellt, daß „das Sozialversicherungspaket der Jahre 1883 bis 1889 in seinen Intentionen als antisozialistische Maßnahme gedeutet werden (muß), obgleich es in seinen objektiven Zielen den gesundheitlichen und sozialen Bedürfnissen der Arbeiterschaft entsprach“18.

Nebenbei hatte die Etablierung der allgemeinen Krankenversicherung eine ungeheure Auswirkung auf die Ärzteschaft. Um dem „Kurierzwang“ zu entgehen, der Ärzte unter Strafandrohung vorschrieb auch Mittellose und Bedürftige zu behandeln, wurden die Ärzte auf eigenes Betreiben in der Gewerbeordnung von 1869 „freigesetzt“ und wurden mithin wie Gewerbetreibende behandelt. Durch die neue gesetzliche Krankenversicherung wurde nun der eigentliche Schritt zur „stillen Ökonomisierung“ des Ärztestands vollzogen, da sie eine „weitgehend neue, nicht mittelständische Klientel“ für den Arzt erschloß19. Dieser kam nun in der Tat nur noch selten in Verlegenheit, Patienten kostenlos behandeln zu müssen. Die Attraktivität des Arztberufes stieg nun auch sprunghaft an. Während zwischen 1889 und 1898 die Bevölkerungszahl in Deutschland um 11,5% stieg, nahm die Zahl der Ärzte um 56,2% zu20. Diese Entwicklung führte dazu, daß in der etablierten Ärzteschaft ein sich verschärfender Konkurrenzkampf befürchtet wurde. „Das langlebige Schreckgespenst einer Überfüllung des ärztlichen Standes sowie einer Proletarisierung des Arztberufes entstand in diesen Jahren. Es hat sich bis heute gehalten.“21

Die Sozialpolitik in der Zeit zwischen den Weltkriegen

Trotz des militärischen Zusammenbruchs des Kaiserreiches und dem Untergang der Monarchie vollzog sich in den revolutionären Unruhen des Winters 1918/19 keine „grundlegende Veränderung der sozioökonomischen und politischen Machtverhältnisse in Deutschland“22. Die divergierenden Interessen der radikalen und der gemäßigten Linken wurden manifest, als sich die MSPD mit bürgerlichen Kräften im Kampf gegen die radikale Linke zusammentat. Gladin analysiert, daß „diese Frontstellung innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung (...) sich zu einer der schwerwiegendsten Vorbelastungen für die innere Ausprägung dieser ersten deutschen Republik (entwickelte)“23. Die politische Arbeiterbewegung in Deutschland, die seit ihrer Entstehung immer in Opposition zum Staat gestanden hatte und die auch bei der zugegebenermaßen progressiven Sozialgesetzgebung (wie gesehen) bevormundet wurde, mußte nun plötzlich politische Verantwortung übernehmen und zudem den schmerzlichen Prozeß der Kapitulation tragen. So gesehen hatte „die Revolution (...) die Revolutionäre unvorbereitet getroffen“24, da kaum „Führungskräfte- potential“ innerhalb der Arbeiterbewegung vorhanden war und somit auf die alten, bestehenden Strukturen des Beamtenapparats zurückgegriffen werden mußte.

Das Ergebnis beschreibt Gladin wie folgt: „Unter den Sachzwängen der inneren Not und außenpolitische Aufgabe, den Krieg zu einem erträglichen Abschluß zu bringen, fanden die nun zur Herrschaft berufenen Sozialdemokraten keine konstruktive Denkpause und begannen, die Grundlagen der Republik in einem `System von Bündnissen und Kompromissen` zwischen Mehrheitssozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen Seite, Armee, Bürokratie, Industrie und gemäßigten bürgerlichen Parteien auf der anderen zu entwickeln.“25

Nichtsdestotrotz wurde im Regierungsprogramm die „Garantie des tradierten Bestandes staatlicher Sozialpolitik sowie ihr konsequenter Ausbau“26als Schwerpunkt verankert. In der Praxis gestaltete sich dieses Vorhaben angesichts einer schwierigen innen- wie außenpolitischen (Reparationspflicht) Lage, welche durch steigende Arbeitslosenzahlen zum Ausdruck kam, als schwierig durchführbar. So gewann die Wirtschaftspolitik ab 1922 an Bedeutung zuungunsten der Sozialpolitik27. Häufige politische Kräfteverschiebungen und wechselnde Regierungen wirkten sich in den folgenden Jahren negativ auf das Gesamtgefüge der jungen Republik aus. Insgesamt gesehen waren die 20er Jahre jedoch ein „Jahrzehnt kontinuierlichen Auf- und Ausbaus sozialer Sicherungen. Zwar hatten Krieg und Nachkriegszeit zunächst die Leistungsfähigkeit aller sozialen Sicherungen beeinträchtigt, aber ihr struktureller Ausbau war doch weitergegangen.“28Dies änderte sich jedoch schnell, als 1930 die Weltwirtschaftskrise die Regierung dazu zwang, die staatliche Sozialsicherung in die Notverodnungspraxis einzubeziehen, was zu einem „forcierten Abbau“ der staatlichen Leistungen führte29. Dieser Abbau sozialer Sicherungen führte „zunehmend zu einer erneuten Distanzierung breiter sozialer Gruppen vom Staat“30, was unter anderem sicherlich dem Aufstieg des Nationalsozialismus den Weg ebnete.

Wenn auch die Anziehung des Nationalsozialismus auf die Arbeiterschaft zunächst gering blieb, so „ist jedoch eine Korrelation zwischen dem Anwachsen der NSDAP und der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen offensichtlich. Die Arbeitslosigkeit erwies sich zunehmend als der konzentrierte Ausdruck der sozio-ökonomischen Krise der Republik, deren Lösung Hitler durchaus zu simulieren wußte.“31Hitler räumte mit Nachdruck und Eindeutigkeit nach seiner Machtergreifung der Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit Priorität ein. Allerdings wurde zugleich deutlich, „daß damit nicht so sehr eine zentrale soziale Frage gelöst, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung eines staatlich bewirkten konjunkturellen Aufschwungs der deutschen Wirtschaft geschaffen werden sollte“32.

In der Tat brachte das differenzierte Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit in den folgenden Jahren einen durchschlagenden Erfolg: Die Arbeitslosenzahl von 5,6 Millionen im Jahre 1932 ging stetig zurück bis zu einer Zahl von 0,1 Millionen 193933.

Die Grundstruktur der staatlichen Sozialversicherung blieb durch die nationalsozialistische Sozialpolitik unverändert. Eingeleitete Maßnahmen, wie der Abbau der Selbstverwaltung in den Institutionen der Versicherungsträger zugunsten des „Führerprinzips“, zielten nur auf eine Vereinfachung der Verwaltung34.

Auf medizinisch-ethischem Gebiet kam es hingegen zu radikalen und widerwärtigen Umwälzungen. Zunächst wurde die Sozialhygiene als Leitwissenschaft der öffentlichen Gesundheitspflege durch die „rücksichtlos-sozialdarwinistische“ Rassenhygiene als neue Leitideologie ersetzt35. Da es meist jüdische, sozialistische oder kommunistische Ärzte waren, die in ihren Praxen und Beratungsstellen den Schwachen der Gesellschaft ihre Hilfe widmeten, ließ nationalsozialistischen Ärzten und Gesundheitspolitikern die Sozialhygiene schon lange vor 1933 bekämpfenswert erscheinen. Mit der Machtergreifung wurde dann das abrupte Ende jeglicher fürsorgerisch-sozialhygienischen Gesundheitspflege eingeleitet, da diese aus Sicht der Rassenhygieniker als „kontraselektorisch“ angesehen wurde36.

Nachdem Schritt für Schritt jüdischen und kommunistischen Ärzten per Gesetz die Zulassung entzogen und das Praktizieren untersagt wurde, „erfreute sich (die nationalsozialistische Ideologie) in der verbliebenen deutschen Ärzteschaft durchaus wohlwollender Resonanz. Innerhalb weniger Jahre waren mehr als 40% in nationalsozialistischen Organisationen eingeschrieben.“37Sollte es da verwundern, daß sich ein Teil der deutschen Ärzteschaft bei der Durchführung von Euthanasieprogrammen und Humanexperimenten in Konzentrations- lagern der scheußlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat

Sozialpolitik nach dem zweiten Weltkrieg

Nach dem totalen Zusammenbruch im Jahre 1945 stellte sich die entscheidende Grundfrage, wie die Strukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft künftig aussehen sollte und welche möglichen Ansätze einer neuen Sozialpolitik daraus erwachsen würden. Da die westlichen Besatzungsmächte Prämissen vorgaben, verbat sich eine Gesellschaftsordnung sozialistischer Prägung. Es lief schließlich auf das von Adenauer propagierte System der „sozialen Markt- wirtschaft“ hinaus. Was sich genau dahinter verbarg, wurde in den Düsseldorfer Leitsätzen der CDU 1949 präzisiert. „Danach verzichtet die soziale Marktwirtschaft auf staatliche Planung und Lenkung von Produktion, Arbeitskraft und Absatz. Sie bejaht jedoch eine

planvolle Beeinflussung der Wirtschaft mit den organischen Mitteln einer umfassenden Wirtschaftspolitik auf Grund einer elastischen Anpassung an die Marktbeobachtung.“38 Dieses Konzept sollte sich zugegebenermaßen in den kommenden Jahrzehnten als durchaus erfolgreich erweisen. Soziale Spannungen wurden durch eine Angleichung des sozio- ökonomischen Status in Richtung einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ abgebaut39. Gladin beschreibt: „So gewann die Sozialpolitik in der Bundesrepublik zunehmend die Aufgabe der Durchsetzung und Sicherung eines spezifisch mittelständischen Sozialstatus für die Mehrheit der Bevölkerungsschichten als Sicherung des Bestandes von Volk und Staat durch Bewahrung des sozialen Friedens.“40

In der Gesundheitspolitik sicherte sich die Ärzteschaft nach dem Krieg eine herausragende Stellung. Da die halbherzige Entnazifizierung einen Großteil der im Nationalsozialismus tätigen und aktiv unterstützenden Ärzte ungeschoren ließ, wurden bald nach dem Krieg alte Strukturen und Organisationen wiederbelebt, wie zum Beispiel die Kassenärztliche Ver- einigung. „Damit hatten sich die Ärzte bereits gegen Ende der 40er Jahre wieder ein schlagkräftiges Instrumentarium geschaffen, mit dem sie in den 50er Jahren ihre Interessen wirksam vertreten und durchsetzen konnten.“41Besonders die niedergelassenen Ärzte sahen ihr Interesse in der Monopolisierung der ambulanten Versorgung und Wahrung des Besitzstandes bzw. Verbesserung der Vergütung durch Vermeidung von zu großer Kon- kurrenz.

Zumindest der Patient konnte stets vom rasanten wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in der Medizin im vollem Umfang profitieren. Ob das in der heutigen Zeit der Kommerzialisierung des Gesundheitssektors auch so bleiben wird ist fraglich.

Diskussion

Wie im letzten Satz angedeutet, beginnt der Grundsatz einer Medizin, die bei allen Ver- sicherten nach gleic hen Qualitätskriterien arbeitet zu bröckeln. In der Praxis ist indes die „Zweiklassenmedizin“ eher die Regel als die Ausnahme. Angesichts der großen Segnung, die der Sozialstaat für unsere Solidargemeinschaft darstellt, kann dies jedoch nur einen Schritt zurück zu längst überwunden geglaubten Zeiten bedeuten. Die medizinische Versorgung sollte auch in Zukunft ohne Rücksicht auf sozialem und wirtschaftlichem Status des Patienten immer die bestmögliche sein.

Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der ersten Sozialgesetzgebung läßt sich der patriarchalische Charakter bis heute nachvollziehen, dies jedoch in einer völlig anderen Art und Weise: „Der soziale Wohlfahrtsstaat, der seine Bürger für alle Lebenslagen absichern möchte und dabei dem einzelnen nicht nur weitgehend die Entscheidungen, sondern auch die Verantwortungen abnimmt, weist auf einen fragwürdigen Abschluß der gegenwärtigen Entwicklung hin, die letztlich den Staat sozialpolitisch erneut auf die Ebene des patriarchalischen Fürsorgestaates der vorrevolutionären Zeit absinken lassen würde.“42

Sassan Sahebdjami

Anhang

Literaturverzeichnis

1. Eckart, Wolfgang: Geschichte der Medizin. 3.Auflage. Berlin und Heidelberg 1998

2. Gladen, Albin: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. 1. Auflage.

Wiesbaden 1974

3. Deppe, Hans-Ulrich: Medizinische Soziologie. Aspekte einer neuen Wissenschaft. 1.

Auflage. Frankfurt 1978

4. Deppe, Hans-Ulrich und Regus, Michael (Hrsg.): Seminar: Medizin, Gesellschaft,

Geschichte. 1.Auflage. Frankfurt 1975

5. Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. 1. Auflage.

Göttingen 1981

[...]


1Gladen, Albin: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. 1. Auflage. Wiesbaden 1974, S.1 (im folgenden zitiert als Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik)

2ebd, S.2

3Deppe, Hans-Ulrich: Medizinische Soziologie. Aspekte einer neuen Wissenschaft. 1. Auflage. Frankfurt 1978, S.29 (im folgenden zitiert als Deppe, H.-U.: Aspekte)

4ebd, S.10

5 Deppe, H.-U.: Aspekte, S.30

6ebd, S.29

7Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.48

8Köllmann, W.: Bevölkerung und Raum in neuerer und neuerster Zeit. 3.Auflage. Band 4. Würzburg 1965, S.92

9Eckart, Wolfgang: Geschichte der Medizin. 3.Auflage Berlin und Heidelberg 1998, S.302 (im folgenden zitiert als Eckart, W.: Geschichte der Medizin)

10ebd, S.300

11ebd, S.303

12Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.51

13 ebd, S.51

14Eckart, W.: Geschichte der Medizin, S.307

15ebd, S.308

16Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.62

17Eckart, W.: Geschichte der Medizin, S.308

18ebd, S.308

19Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. 1. Auflage. Göttingen 1981, S.173 (im folgende zitiert als Tennstedt, F.: Sozialgeschichte)

20ebd, S.174

21 Eckart, W.: Geschichte der Medizin, S.315

22Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.91

23ebd, S.91

24ebd, S.91

25ebd, S.91

26ebd, S.92

27ebd, S.95

28ebd, S.102

29ebd, S.103

30 ebd, S.103

31Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.104

32ebd, S.104

33ebd, S.104

34ebd, S.108

35Eckart, W.: Geschichte der Medizin, S.346

36ebd, S.346

37 ebd, S.348

38Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.115

39ebd, S.116

40ebd, S.116

41Deppe, H.-U.: Aspekte, S.103

42 Gladin, A.: Geschichte der Sozialpolitik, S.121

Ende der Leseprobe aus 8 Seiten

Details

Titel
Sozialstaat und Krankenversorgung
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Kurs Sozialmedizin
Autor
Jahr
2001
Seiten
8
Katalognummer
V105259
ISBN (eBook)
9783640035564
Dateigröße
348 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Sozialstaat, Krankenversorgung, Kurs, Sozialmedizin
Arbeit zitieren
Sassan Sahebdjami (Autor:in), 2001, Sozialstaat und Krankenversorgung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105259

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Titel: Sozialstaat und Krankenversorgung



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