Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980. Eine Untersuchung der Inszenierung von Patrice Chereau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk.


Magisterarbeit, 1990

119 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

VORBEMERKUNG

EINLEITUNG

1. DIE IDEE DES GESAMTKUNSTWERKES
1.1 Philosophische und kulturhistorische Ursprünge
1.2 Die ästhetische Theorie Richard Wagners
1.2.1 Die Revolution
1.2.2 Das Gesamtkunstwerk der Zukunft
1.2.3 Das Musikdrama
1.3 Stichworte zur "Ring"-Genese
1.4 Der "Ring" und die Idee vom Gesamtkunstwerk
1.4.1 Mythismus und Esoterismus
1.4.2 Zusammenfassung in Form eines vorläufigen Definitionsversuches

2. DIE JÜNGERE AUFFÜHRUNGSGESCHICHTE
2.1 Neu-Bayreuth
2.2 Werkstatt Bayreuth
2.3 Chéreaus Weg nach Bayreuth

3. DIE "RING"-INSZENIERUNG PATRICE CHEREAUS
3.1 Das Material und die Methode der Inszenierungs- Betrachtung
3.2 Das szenische System
3.2.1 Die Bühnenbilder
3.2.2 Die Kostüme
3.3 Der "Ring" als eine Mythologie unserer Zeit
3.4 Mythologie und Ideologie
3.5 Die Tragödie der Macht - Schwerpunkte der szenischen Aktion
3.5.1 Ein kurzes Verlaufsmodell der Tragödie der Macht
3.6 Chéreaus Pessimismus

4. VERSUCH EINER SUMME

LITERATURVERZEICHNIS

Vorbemerkung

Im Folgenden wird eine Zitiertechnik verwendet, die dem Leser eine schnelle Orientierung ohne Nachschlagen ermöglichen soll und die dabei gleichzeitig eine unnötige Belastung des Fußnotenapparates sowie überflüssige Doppelnachweise vermeidet. Sie folgt dem heute gebräuchlichen Kennziffernsystem. Die genauen bibliographischen Daten eines Zitates können dabei über Kennziffern ermittelt werden, die in Klammern hinter das Zitat gesetzt werden. Dabei steht die erste Ziffer für das im Literaturverzeichnis angeführte Werk und die zweite Ziffer (nach einem Komma angeschlossen) für die Seitenzahl; wird nur auf eine Seitenzahl verwiesen, so ist dies durch ein vorgestelltes S. erkenntlich. Dieser Kennziffer ist unter Umständen der Name des Verfassers beigegeben, soweit dieser nicht aus dem Kontext eindeutig hervorgeht. Fußnoten im Text dienen der reinen Erläuterung oder Erweiterung des Haupttextes. Lediglich der Nachweis von Zitaten aus Zeitungsausschnitten erfolgt direkt in einer Fußnote.

Beispiel: (Mann. 35,145) läßt sich über die Kennziffer 35 aufschlüsseln als: Thomas Mann, Wagner und unsere Zeit. Aufsätze, Betrachtungen, Briefe. Frankfurt/M. 1983. S.145.

Ausnahmen - Für folgende Werke wurden Siglen eingeführt:

[GS] Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden. Herausgegeben von Wolfgang Golther. Stuttgart 1914. Diese Ausgabe ist seitenidentisch mit der zweiten Auflage der "Gesammelten Schriften und Dichtungen" die Richard Wagner seit 1871 selbst herausgegeben hat. Golther stellte dieser Ausgabe lediglich eine Biographie voran und einen ausführlichen Anmerkungsund Registerteil nach.

[ML] Richard Wagner, Mein Leben. Vollständige, kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Martin Gregor-Dellin. München 1983.

Danksagung

Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich den Mitarbeitern des Richard- Wagner-Archivs Bayreuth, besonders Herrn Dr. Fischer, für die Möglichkeit der Einsicht in schwer zugängliches Material und die umfangreiche Kritikensammlung des Archivs. Ferner danke ich allen Freunden und geduldigen Helfern, die mir während der Arbeit immer wieder Mut machten.

EINLEITUNG

Richard Wagner ist auch heute noch als Gegenstand von Diskussionen und Ressentiments lebendig. Bei kaum einem anderen Künstler liegen Anerkennung und Ablehnung so eng beieinander. Richard Wagner war ein Künstler des 19.

Jahrhunderts. Doch sein Werk, in dem sich Leben, Denken und Handeln bis zur Untrennbarkeit verzahnen und das als ein Traum vom allumfassenden Kunstwerk betrachtet werden kann, ragt weit in unser 20. Jahrhundert hinein. Die von Wagner in aller Konsequenz entwickelte pathetische Kunstform aus Idealismus, Ideologie, Religionsersatz und Großer Oper stellte zu allen Zeiten eine immense Herausforderung für unzählige Interpreten dar. Der Strom des Zitierens und Kommentierens reißt dabei nicht ab. Eine Feststellung von Klaus Umbach ist daher ebenso gültig und zutreffend wie trivial: "Generationen haben sich an ihm und allem, was er ausund angerichtet hat, mit kultischer Lust die Finger Wund geschrieben" (44,12). Ganze Bibliotheken lassen sich füllen, und glaubwürdige Schätzungen gehen davon aus, daß Wagner hinter Christus und vor Luther, Hitler und Goethe Platz zwei belegt.1 In dieser Flut von Sekundärliteratur halten sich Zuspruch und Widerspruch eigentümlich die Waage. Gemeinsam aber ist allen Interpreten - Befürwortern wie Gegnern - eine intensive, persönliche und zuweilen kämpferisch-dogmatische Haltung gegenüber Wagners künstlerischem Schaffen und dem, was im Lauf des vergangenen Jahrhunderts daraus gemacht wurde. Es liegt nicht in meiner Absicht, mit dieser Arbeit die bisher geleistete und dabei oft widersprüchliche Gedankenarbeit in aller Genauigkeit nachzuvollziehen und zu kommentieren, denn der eng gesteckte Rahmen einer Magisterarbeit erfordert Beschränkungen. Die Einschränkungen, die ich vorgenommen habe, lassen sich im Titel nachvollziehen.

DER RING DES NIBELUNGEN. Bayreuth 1976 - 1980

Eine Betrachtung der Inszenierung von Patrice Chéreau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk

Im Grunde genommen ist meine Arbeit bestrebt, sich der immer noch aktuellen Wirkung im Werk Wagners in zwei voneinandder unabhängigen Teiluntersuchungen zu nähern. Zum einen soll der „Ring des Nibelungen“, unbestritten Wagners Hauptwerk, in einer exemplarischen Inszenierung untersucht werden und zum anderen soll eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk versucht werden. Vorab einige Feststellungen zu den Kriterien der Auswahl.

Eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk: Von den meisten Menschen wird mit Richard Wagner unweigerlich der Begriff des Gesamtkunstwerkes verbunden. Doch das Gesamtkunstwerk ist keine Idee Richard Wagners, sondern im wesentlichen eine Idee des Kunstwollens im 19. Jahrhundert, ein theoretisches Gebilde, das sich einer eindeutigen Definition entzieht.

Falsch ist es, unter Gesamtkunstwerk lediglich die multimediale Verbindung verschiedener Einzelkünste zu sehen. Das Gesamtkunstwerk ist vielmehr der Versuch, eine Ganzheitsvorstellung vom Leben (der Gesamtwirklichkeit) in ein künstlerisches System einzukleiden. Wagner war nur einer von vielen Künstlern, die eine solche Ganzheitsvorstellung in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten. Neben Wagners Kunstschriften, die als sein Entwurf einer Ästhetik zu verstehen sind, sollen im ersten Kapitel meiner Arbeit auch Texte von Interesse sein, die grundlegende, das heißt von bestimmten Künstlern und Kunstwerken losgelöste Annäherungen an das Phänomen Gesamtkunstwerk versuchen.

Die drei „Zürcher Kunstschriften“2 Wagners sind, um eine Formulierung Thomas Manns zu benutzen, „ästhetiche, kulturkritische Manifeste und Selbsterläuterungen, - Künstlerschriften von erstaunlicher Gescheitheit und denkerischer Willenskraft“ (35,77). „Die Kunst und Revolution“ (1848) formuliert die geschichtsphilosophischen Grundlagen des kunsttheoretischen Entwurfs Wagners, der insgesamt stark von den Ereignissen der Revolution 1848/49 in Dresden geprägt ist. „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) entfaltet in diesem Rahen die eigentliche ästhetische Theorie des Gesamtkunstwerkes als Verbindung von Kunst und Leben. „Oper und Drama“ (1852) konkretisiert dann diese Theorie in der Ästhetik des Musikdramas.

Stellt man im Zusammenhang mit dem Theater Richard Wagners die Frage nach dem Gesamtkunstwerk, so ist eine genaue Darstellung der Kunstschriften unumgänglich, die man als „bedeutenden Beitrag der ‚Hegelschen Linken‘ zu Fragen der Ästhetik bezeichnen kann“ (Kühnel. 31,498). Dieser Darstellung der theoretischen Schriften Wagners und der Annäherung an eine Definition des Begriffes Gesamtkunstwerk wird Kapitel 1 meiner Arbeit gewidmet.

„Der Ring des Nibelungen“: Wagner hat sein „Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend“ parallel zu den Kunstschriften entwickelt. Anders als zuvor in „Lohengrin“ und „Tannhäuser, in denen die zentralen Hauptfiguren an ihren eigenen Bedingtheiten scheitern, geht es Wagner im „Ring“ auch um das Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen leben. Das hängt zusammen mit den Kunstschriften und deren Bezug zu den sozialpolitischen Träumen und Utopien, die mit dem Ende der Revolution zerplatzen. Wagners Wendung von Lohengrin zu Siegfried ist die vom unpolitschen Künstler zum politischen Menschen. Wagner verarbeitet im „Ring“ seine Sicht auf das 19. Jahrhundert; es ist seine „summa artium saeculie“ (C. Schmid. 38,397). Wagners Sagenkonglomerat ist kein zeitloses Märchen, sondern ist eindeutig als Mythos seiner Zeit formuliert, ist eine Vermischung von Mythologie und Ideologie. George Bernard Shaw sah als erster hinter dem germanisierenden Mummenschanz, zu dem der „Ring“ Ende des vorigen Jahrhunderts gemacht wurde, die politische Allegorie des Revolutionärs Wagner.3 Doch erst 70 Jahre nach Shaw findet diese Ansicht Eingang auf die Bühnen. Dort steht sie allerdings nicht allein. Eine Vielzahl von Erklärungsmodellen findet - mehr oder weniger gerechtfertigt - Anwendung auf den „Ring“. Von je her entzieht sich dieses heterogen Werk einer eindeutigen Interpretation. Es ist in der Bandbreite der Möglichkeiten Shakespeares Königsdramen und Goethes „Faust“ ebenbürtig, die Wagner übrigens sehr hoch schätzte.

Von Anfang an ist mit der Konzeption des „Ring“ auch eine Absage an die herkömmliche Theaterform verbunden. Wagner plant Festspiele in einem eigens dafür errichtetem Theater mit freiem Eintritt für alle Besucher. Mit den ersten Bayreuther Festspielen 1876 kann Wagners hoher Anspruch allerdings nicht eingelöst werden. Zu viele Konzessionen, vor allem fianzieller Art, mußte er eingehen. Dennoch sind die Bayreuther Festspiele gerade seit den 50er Jahren und - unter etwas anderem Gesichtspunkt - seit den 70er Jahren dieses Jahrhunderts wieder zum geographischen Zentrum und Brennpunkt der engagierten und couragierten Wagnerinterpretation geworden. Kapitel 2 meiner Arbeit liefert dazu einen knappen Überblick.

Die „Ring“-Inszenierung Patrice Chéreaus: Bayreuther Festspiele 1976. Gefeiert wird das 100-jährige Jubiläum.

Doch die Inszenierung des französischen Teams bestehend aus Patrice Chéreau (Regie), Pierre Boulez (musikalische Leitung), Richard Peduzzi (Bühnenbild) und Jaques Schmidt (Kostüme) wird Anlaß eines handfesten Skandals. Es kommt zu Schlägereien, es werden Flugblätter verteilt und Unterschriftenlisten gegen die Inszenierung ausgelegt.

Zahlreiche Altwagnerianer formieren sich zu einer „Bürgerinitiative, die für ein zukunftsorientiertes Verständnis des Wagnerschen Werkes“ eintritt und nachdrücklich „Werkschutz für Wotan fordert“ (Faerber. 22,74).

Just zum Jubeljahr [...] hatten sich die Konservativen wohl eine Art musikalisches Burgtheater erwartet: würdig und langweilig. Nun war es - scheinbar - respektlos und sicher unterhaltsam. Dem Altgedienten verging Hören und Sehen.4

Fünf Jahre später erfährt die öffentliche Meinung über Chéreaus „Ring“ eine komplette Kehrtwendung. Mit einem selbst für Bayreuther Verhältnisse überschwänglichen Applaus von 90 Minuten Länge und der beeindruckenden Zahl von 101 Vorhängen wird die Inszenierung verabschiedet.

Festspielleiter Wolfgang Wagner bezeichnet die Arbeit Chéreaus als „eine für Bayreuth bedeutsame Phase des festspielgeschehens und im weiteren Sinne von Theatergeschichte“ (11,9).

Chéreau folgt in seiner Inszenierung konsequent einer Interpretation, die sich aus der sozialpolitischen Summe der Kunstschriften Wagners und dem „Ring“ als Kommentar des 19. Jahrhunderts ergibt. Dabei überzieht er das Werk keineswegs vorschnell und unreflektiert mit linker Ideologie. Dieser Vorwurf könnte eher Joachim Herz gemacht werden, der nur kurz zuvor in Leipzig einen „Ring“ rein im Geiste Shaws inszenierte. Für Chéreau ist der „Ring“ Wagners Versuch, einer Epoche ihr mythologisches Fundament zu geben und dabei gleichzeitig die Gesinnung dieser Epoche einzufangen. Das Werk wird im Gewand der Allegorie zum Mythos des industriellen Zeitalters, ein durch Sagen gefiltertes 19.

Jahrhundert. So bekommt die Bezeichnung „Jahrhundertring“ einen ernst zu nehmenden Doppelsinn. Der Inszenierungstil entspricht dieser Mehrschichtigkeit. Bildelemente aus verschiedenen Epochen und Stilrichtungen werden zitiert und kombiniert. Dabei bleiben erregende Bilder und eine in Oper nie dagewesene Personenregie im Gedächtnis. Kapitel 3 meiner Arbeit versucht, die wesentlichen Merkmale und Aussagen der Inszenierung Chéreaus abzuleiten und zu betrachten.

Die Frage, wie sich nun die Annäherung an das Gesamtkunstwerk und die Betrachtung der Inszenierung im Sinne einer Synthes verbinden lassen, kann ich im Rahmen dieser Magisterarbeit sicherlich nur anschneiden. Eine vollständigere Untersuchung dieses Problems könnte jedoch Aufgabe für folgende Arbeiten sein. Kapitel 4 schneidet folglich die Verbindung der beiden unabhängigen Teiluntersuchungen zur Wirkung des Werkes Wagners nur an. Mehr als ein thesenhafter „Versuch einer Summe“, so der Titel des letzten Kapitels kann im Rahmen dieser Arbeit nicht gegeben werden.

1. DIE IDEE DES GESAMTKUNSTWERKES

Dies alles gibt es also: die Gesamtausgabe, den Gesamtbetriebsrat, den Gesamtdrehimpuls, die Gesamthandsgemeinschaft, die Gesamthochschule, den Gesamtkatalog, die Gesamtschuld, die Gesamtschule, die Gesamtstrafe, die Gesamtstreitkräfte, den Gesamtverband und etliches Einschlägiges mehr; und als echte Teilmenge dieses Gesamtgesamts gibt es das Gesamtkunstwerk: was ist das? (Marquard. 36,40)

1.1 Philosophische und kulturhistorische Ursprünge

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann hat 1983 in Zürich den Versuch unternommen, in einer quantitativ umfassenden Ausstellung des Phänomens Gesamtkunstwerk Herr zu werden. "Der Hang zum Gesamtkunstwerk", so der Titel dieses Ausstellungsprojektes, sollte aufzeigen, mit welchen Schwierigkeiten ein Definitionsversuch des Begriffes Gesamtkunstwerk verbunden ist. Harald Szeemann ging bei seiner Präsentation von folgender Prämisse aus.

Der Begriff Gesamtkunstwerk, von Richard Wagner erstmals für sein Kunstwollen und seine Vision der Vereinigung der Künste im "Kunstwerk der Zukunft" in seinen Zürcher Schriften verwendet, wurde theoretisch nie definiert und ist nicht nur in der Kunstliteratur zu einer beliebig verwendbaren Begriffshülse geworden. (9,16f.)

In der Tat drängt sich einem aufmerksamen Leser der Feullitons verschiedenster Zeitschriften und Zeitungen, einem wachsamen Betrachter von Kulturmagazinen der bundesdeutschen Fernsehanstalten unweigerlich der Eindruck auf, daß die Verwendung des Begriffes Gesamtkunstwerk eine wahrhafte Inflation erlebt. In den meisten Fällen drückt sich darin die Unsicherheit aus, bestimmten Kunstwerken nicht mehr mit einer kunsthistorisch schlüssigen Klassifizierung oder einer geradlinigen werkimmanenten Interpretation gerecht werden zu können. Zumeist handelt es sich dann auch um Kunstwerke synthetischer und synästhetischer Natur. Diese Kunstwerke verbinden und vereinigen diverse Kunstformen und -stile zu einem Kunstwerk. Der Begriff Gesamtkunstwerk wird bei der Interpretation zur entschuldigenden Floskel, zur Schublade, in die all das verbannt wird, das durch gängige Ismen nicht mehr erfaßt werden kann. Die Zürcher Ausstellung mit ihrer weitgefächerten Palette unterschiedlichster Künstler und Kunstwerke führte dem Betrachter drastisch vor, wie breit das Anwendungsgebiet des Begriffes Gesamtkunstwerk sein kann. Es zeigte sich vor allem, daß es - nicht nur im Hinblick auf Wagners "Ring" - nützlich ist, im Gesamtkunstwerk mehr als eine Synthese verschiedener Einzelkünste zu sehen. Es scheint weitaus nützlicher zu sein, als besonderes Kennzeichen des Gesamtkunstwerkes nicht allein die multimediale Verbindung aller Künste in einem Kunstwerk gelten zu lassen, sondern vor allem auch noch eine andere Verbindung: die von Kunst und Wirklichkeit; denn zum Gesamtkunstwerk gehört die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität. (Marquard. 36,40)

Harald Szeemann sprach davon, daß es Richard Wagner war, der zum ersten Mal seine Vision der Kunst und sein Kunstwollen mit dem Begriff des Gesamtkunstwerkes in Zusammenhang brachte. Folglich soll Wagners ästhethisches System, 1848-52 in den Kunstschriften niedergelegt, im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Doch zuvor bedarf es einiger grundsätzlicher Überlegungen zu den philosophischen und kulturhistorischen Ursprüngen der Gesamtkunstwerkidee, auf die auch Wagner seine Konzeption des "Drama der Zukunft" aufbaut.5

Für Odo Marquard ist die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen Realität und Kunstwerk das entscheidende Kriterium für ein Gesamtkunstwerk, die multimediale Verbindung mehrerer Künste ist für ihn dagegen lediglich ein sekundäres Kennzeichen. Die philosophischen Wurzeln eines solchen Definitionsversuches liegen eindeutig in der Philosophie des deutschen Idealismus. Folgerichtig beginnt für Marquard die "Idee des Gesamtkunstwerkes mit dem 'ästhetischsten' System des deutschen Idealismus, dem 'Identitätssystem' von Schelling" (36,41).

Die Identitätsphilosophie Schellings kann ihm Rahmen der vorliegenden Arbeit verständlicherweise nur in den für die Idee des Gesamtkunstwerks wesentlichen Zügen wiedergegeben werden, also extrem verkürzt. Für die spätere Darstellung der Wagnerschen Theorie ist dabei entscheidend, daß Schelling als erster ein philosphisches System entwarf, welches die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, mit der Welt des Geistes und der ästhetischen Gebilde eng verknüpft. Schellings Ausgangspunkt ist die Gegensätzlichkeit von Natur und Geist, auf die bislang die "Emanzipationsgeschichte der Autonomie des menschlichen Ich" (36,43) als scheinbar unüberwindliche Grenze stieß. Schellings identitätsphilosophisches System hebt im Gegensatz zu seinen Vorläufern diese Grenze einfach auf, indem es Natur und Geist, Reales und Ideales als identisch erklärt. In Folge dieser Gleichsetzung kann die Endlichkeit der Emanzipationsgeschichte des menschlichen Geistes der Vergessenheit preis gegeben werden. "Vergessen werden muß, daß die Geschichte als Produkt des menschlichen Geistes anders ist als die Natur; vergessen werden muß, daß die Natur die Geschichte limitiert" (36,43). Wenn aber die Emanzipationsgeschichte ihre Endlichkeit, die in der Grenze zwischen Natur und Geist begründet ist, vergißt, dann führt das zwangsläufig - wie Marquard sagt - "zu einem schnellen Marsch in die Illusion" (36,43). Für diese Art der Illusion des Vergessens gibt es Schelling zufolge ein Organ, das für Illusionen schlechthin zuständig ist.

Die Kunst; genauer: die 'intellektuelle Anschauung', die zur 'ästhetischen' und dadurch zur 'absoluten' wird; denn jetzt - identitätssystematisch im Zeichen des Vergessens und der Illusion - kommt es darauf an, die Gesamtwirklichkeit ästhetisch anzuschauen: nicht mehr nur in Kunstwerken, sondern als Kunstwerk. Schelling erklärte die Wirklichkeit zum gesamtesten aller möglichen Gesamtkunstwerke. (36,43)

Somit ist das Identitätssystem eine "Ästethik der Gesamtwirklichkeit" (Marquard. 36,43). Daraus folgt, daß die Gesamtwirklichkeit ästhetisch parieren und sich wie ein Kunstwerk benehmen soll. Eine identitätssystematische Deutung der Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk ist freilich riskant. Darum erwog Schelling selbst in seinen als Schlußbetrachtung der Identitätsphilosophie konzipierten Vorlesungen über die "Philosophie der Kunst" eine Zwischenlösung, die die Gefahren der völligen Ermächtigung der Illusion abmildert. Schelling zog sich - quasi zum Ersatz - auf eine separierte ästhetische Wirklichkeit zurück. Nach dem Zusammenbruch der identitätssystematischen Deutung der Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk beginnt eine Suche "nach jenem konkreten Kunstwerk, das das Gesamte ist zumindest dadurch, daß es - wenn schon nicht die Wirklichkeit - alle Künste (sie potenzierend oder destruierend) integriert und dadurch das Kunstwerk wirklicher macht" (36,44). Schelling schreibt dazu:

Ich bemerke nur noch, daß die vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthetisiert die komponierteste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Altertums war, wovon uns nur eine Karikatur, die Oper, geblieben ist, die in höherem und edlerem Stil von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen konkurrierenden Künste am ehesten zur Aufführung des alten mit Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte. (Schelling. Zit. n.: 36,44)

Wenn Schelling hier fordert, das Theater solle sich der vollkommenen Zusammensetzung der Künste im Drama des Altertums besinnen und diese Vollkommenheit in einer Erneuerung der Oper wiederbeleben, dann klingt das bereits wie eine Vorwegnahme der Kernaussagen von Wagners Kunstschriften. Zunächst ist für die Annäherung an die Idee des Gesamtkunstwerks aber wichtig, daß dort, wo das Identitätssystem in der Bewältigung der Gesamtwirklichkeit an sein Ende kommt und notwendig scheitert, zumindest in der Suche nach dem Gesamtkunstwerk die Trennung von Kunst und Wirklichkeit gemildert wird. Allerdings will nicht mehr die Wirklichkeit zum Kunstwerk werden, sondern die Kunst ihrerseits erhebt den Anspruch auf höchstmögliche Wirklichkkeitsnähe. Das Gesamtkunstwerk ist "gewissermaßen das in ein besonderes Kunstwerk emigrierte Identitätssystem" (36,44). Unbestritten bleibt dabei auch für Marquard:

Durchgesetzt hat das Konzept des Gesamtkunstwerks Wagner mit seinen Musikdramen, auch wenn er seinerseits das Wort "Gesamtkunstwerk" eher beiläufig gebraucht und niemals programmatisch. (36,41)6

Aus der geschilderten Entwicklung des Identitätssystems lassen sich im Hinblick auf die "Karriere des Gesamtkunstwerks" (36,40) drei philosophie-geschichtliche Voraussetzungen ableiten: 1.) Das Kunstwerk wird durch die Trennung vom mechanischen Artefakt emphatisch und ästhetisch. Das geschah laut Marquard im Zeitalter der ästhetischen Philosophie, das etwa um 1750 mit den ersten ästhetischen Theorien einsetzte. Ab dieser Zeit müssen Kunstwerke als Rettungsversuch der religiösen Werkgerechtigkeit verstanden werden, die durch die Reformation zerstört wurde. Die guten Werke müssen "aus dem religiösen Territorium in das ästhetische Territorium emigrieren, um Heilsrelevanz zu behalten" (36,40). 2.) Mit der ästhetischen Emphatisierung des Kunstwerks entsteht zugleich ein neuer Begriff des Gesamten. Dort, wo der "Begriff Gottes und seiner Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel gerät" (ebd.), wird in der Konstruktion von Systemen nach der Werkgerechtigkeit auch der Begriff des Gesamten der Sphäre des Religiösen entrissen. Im Erstellen einheitlicher Systeme kann der Mensch als Realschöpfer seine Wirklichkeit gestalten, er wird Gott ähnlich. Gerade weil sich Systemkonstruktionen gegenüber der Unterscheidung von Gott und Mensch neutral verhalten, erleben sie in der Philosophie des Deutschen Idealismus ihre Hochzeit. 3.) Die dritte Voraussetzung besteht in der Fusion der beiden ersten. Das System wird zum Kunstwerk und das Kunstwerk wird zum System. In dem Moment, wo die Realschöpfer - Gott und Mensch - mit dem Gesamtsystem Schwierigkeiten haben, treten die Künstler als phantastischer Schöpfer auf. Sie definieren das Gesamte (das System) nun ästethisch als Kunstwerk und begeben sich schließlich auch konkret auf die Suche nach dem Kunstwerk, das das Gesamte ist. Dieser dritte Schritt auf dem Weg hin zum Gesamtkunstwerk geschah zuerst bei Schelling, der erklärte; "der eigentliche Sinn, mit dem diese Art der Philosophie [d.i. seine] aufgefasst werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum ist die Kunst das wahre Organon der Philosophie" (zit. n.: 36,41). Ging Schelling anfangs von einem System aus, das die Gesamtwirklichkeit zum gestalteten Kunstwerk erheben wollte, so steht am Ende der Entwicklung ein Rückzug des Konzepts Gesamtkunstwerk in die Kunst. Ein mögliches Gesamtkunstwerk manifestiert sich lediglich als ästhetisches System.

Bazon Brock versucht in seinem Katalogbeitrag zur Zürcher Ausstellung "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" das Konzept Gesamtkunstwerk wieder aus der Kunst zu lösen und erneut im Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit zu sehen, denn das "Konzept Gesamtkunstwerk ist nicht allein den Künstlern vorbehalten" (19,23). Der Hang zum Gesamtkunstwerk hat für Brock nicht nur philosophische und ästhetische Ursprünge, sondern auch kulturgeschichtliche. Von je her haben alle europäischen Kulturen eine unübersehbare Gemeinsamkeit. Sie werden verknüpft durch "gemeinsame Repräsentationen von Ganzheitsvorstellungen [...], wie sie vor allem die gothische Kathedrale, die Institution 'Universität' und die Idee des 'Staates' darstellen; die Einheit der Welt als Schöpfung des Christengottes, Wirkungsfeld der Naturund Kunstgesetze und als Schöpfung des Menschen" (19,22). In dieser Suche nach Ganzheitsvorstellungen auf den Gebieten der Religion, der Kunst und der Wissenschaft, sowie der Politik liegen für Bazon Brock die Wurzeln der Gesamtkunstwerksidee.

Transportiert und vermittelt werden solche Ganzheitsvorstellungen in den jeweiligen Bereichen vom Heiligen, vom wissenschaftlichen, beziehungsweise künstlerischen Genie und vom politischen Führer. Im Verlauf der gemeinsamen Geschichte der europäischen Kulturen seit dem Mittelalter hat sich gezeigt, daß die Idee von einer Ganzheitsvorstellung stets mit der Obsession verbunden war, diese Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Konzept "Gesamtkunstwerk" ist in erster Linie durch die Obsession gekennzeichnet, mit der Individuen das Bild vom Ganzen, die persönliche Verkörperung des Ganzen und die allgemeine Unterwerfung unter das Ganze zu realisieren versuchen. (19,22)

Historische Beispiele zeigen jedoch unmißverständlich, daß es unmöglich ist Heiliger, Genie und Führer in einer Person zu sein.7 Mithin ist der Dreischritt aus Entwurf einer Ganzheitsvorstellung, Verkörperung dieser Vorstellung und Unterwerfung der Wirklichkeit unter diese Vorstellung nicht ohne Probleme zu vollziehen. Für Bazon Brock steht aber fest, daß mit der "pathetischen Geste des Dennoch" trotzdem versucht wird, "gegen alle prinzipiellen und historischen Einwände [...], den alten Traum wachzuhalten" (19,23).

Und zwar wird dies nach wie vor nicht nur vom Künstler versucht, sondern auch vom Politiker oder vom Wissenschaftler.

Wir haben also von Gesamtkunstwerk-Konzeptionen sowohl in ökonomisch-politischen, wie im wissenschaftlichen als auch künstlerischen Bereich auszugehen. (19,23)

Die Konzeption einer Ganzheitsvorstellung ist zunächst nichts anderes als ein "gedankliches Konstrukt übergeordneter Zusammenhänge als bildliche oder epische Vorstellung oder als wissenschaftliches System oder als politische Utopie" (ebd.).8 Ein Gesamtkunstwerk - nichts anderes ist eine solche Konzeption einer Ganzheitsvorstellung - wird lediglich als "fiktive Größe" (ebd.) zur Sprache gebracht. Nach wie vor verbunden mit dem Gesamtkunstwerk ist die Absicht, "diese Bilder und Gedanken über 'das Ganze' auch selbst zu verkörpern, also in die eigene Lebensrealität aufzunehmen (wie ein Heiliger das tut), und das ebenso unabdingbare Verlangen, auch andere - möglichst viele, gar alle - Menschen der einen Wahrheit zu unterwerfen" (19,24). Bazon Brock schlägt vor, die beiden letzten Entfaltungsstufen des Gesamtkunstwerks "Totalkunst" und "Totalitarismus" (ebd.) zu nennen. Damit wird der Gebrauch des Begriffs Gesamtkunstwerk unmißverständlich. In Brocks Stufenmodell aus Gesamtkunstwerk, Totalkunst und Totalitarismus wird nur die schriftlich oder bildlich fixierte Systemkonstruktion (die Vision oder Utopie) mit dem Begriff Gesamtkunstwerk versehen. In einer Zusammenfassung des Brockschen Stufenmodells zeigt sich, daß der Träger des Anspruchs auf Darstellung einer Ganzheitsvorstellung jeweils ein anderer ist.

Für das GESAMTKUNSTWERK ist die fixierte Vision, Utopie oder Systemkonstruktion - also das GESTALTETE WERK - der Träger des Anspruchs auf Darstellung eines Ganzen. Für die TOTALKUNST ist das realexperimentierende SUBJEKT der Träger des Anspruchs. Der TOTALITARISMUS faßt in betonter Weise LEBEN selbst (die Massen) als Träger des Ganzheitsanspruchs auf, weil ja im Leben der Massen die Utopien verwirklicht werden sollen. (19,30)

Bazon Brock betont ausdrücklich, daß das Gesamtkunstwerk nur eine Fragestellung hat, nämlich: "Was ist das Ganze?" (19,24). Das "Zur-Sprache-Bringen des Ganzen" (ebd.) als fiktives, bildliches Konstrukt ist eine "mythische Erzählung" (ebd.). Das Gesamtkunstwerk muß, um Wahrheitsanspruch erheben zu können - und Wahrheitsanspruch muß es erheben, wenn es das Ganze zu erfassen behauptet, das Gesamtkunstwerk muß also seine Aussagen über den Zusammenhang des 'Ganzen' deutlich vom historischen Urheber trennen. Urheberlose Erzählungen aber sind nichts anderes als Mythen, zumindest sind sie mythenähnlich.9 Der Totalitarismus geht von der rhetorischen Frage "Wollt ihr das Ganze?" (19,24) aus, aber die Antwort steht bereits fest und kann "nur noch rituell bestätigt werden: der Ritus ist die vollziehende Unterwerfung unter den Mythos als anonyme Repräsentanz des übergeordneten Ganzen" (ebd.). Unter diesem Gesichtspunkt kann zum Beispiel auch das Dritte Reich als pervertierte Form eines Gesamtkunstwerkes verstanden werden. Gleichzeitig zeigt sich, daß das epische oder bildliche Fixieren eines Gesamtkunstwerkes allein neutral ist, also weder negativ, noch positiv. Zwischen Gesamtkunstwerk und Totalitarismus steht die Totalkunst, die fragt: "Was soll das Ganze? Und antwortet: Es soll Kultur ermöglichen, ohne die Verbindlichkeit durch totalitäre Gewalt zu erzwingen" (19,24). In der Totalkunst ist weder der Ritus nur ein praktischer Vollzug des Mythos (wie im Totalitarismus), noch der Mythos ein verfestigtes Bild eines Ritus, den es nur noch zu vollziehen gilt (wie im Gesamtkunstwerk). In der Totalkunst radikalisiert der Schöpfer einer Ganzheitsvorstellung das Verhältnis von Fiktion und Realität, indem er sich selbst als experimentierendes Subjekt in dieses Spannungsverhältnis begibt. Brock nennt das "Symptomverordnung" (19,28). Der Künstler, der das macht, unterwirft nicht andere, sondern nur sich selbst der Rückvermittelung von Mythen auf den eigenen Lebenszusammenhang.10

Für Bazon Brock ist - wie zuvor schon für Odo Marquard - das 19. Jahrhundert dasjenige Zeitalter, in dem die Suche nach Gesamtheitsvorstellungen - und damit das bildliche und epische Fixieren von Gesamtkunstwerken - ihren Höhepunkt erlebt. Richard Wagner ist einer dieser Künstler, die in eben dieser Zeit das Gesamtkunstwerk (als typische Fiktion eines Ganzheit-Systems) in den Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens stellten.11 Um sich dem Phänomen Gesamtkunstwerk auch im Werk Richard Wagners weiter anzunähern, sollen in den folgenden Kapiteln die "Zürcher Kunstschriften" in ihren wesentlichen Kernaussagen referiert werden. Es wird sinnvoll sein, nach der Darstellung der Wagnerschen Theorie und vor der Untersuchung der "Ring"-Inszenierung von Patrice Chéreau auf die bis hierher beschriebenen philosophischen und kulturgeschichtlichen Ursprünge der Gesamtkunstwerksidee nochmals zurückzugreifen.

1.2 Die ästhetische Theorie Richard Wagners

1.2.1 Die Revolution

Welche Rolle der junge Kapellmeister Richard Wagner im einzelnen bei den Barrikadenkämpfen im Mai 1849 in Dresden gespielt hat, ist nicht eindeutig zu klären. Fest steht aber, daß das Gedankengut der Revolution Wagners Werk nachhaltig beeinflußt hat und sowohl in den Schriften, als auch in den Dichtungen dieser Zeit seine Spuren hinterließ. "Er war ein Kind der Revolution und des Aufruhrs, was wir nicht vergessen sollten" (Gregor-Dellin. 26,3). Die Wagner- Forschung trat über Jahre hinweg einer Politisierung des Gegenstandes ihres Interesses entgegen: "Ihr galt's der Kunst" (Krohn: 30,86). Mittlerweile ist es keineswegs mehr umstritten, daß Wagner an den Unruhen im Mai 1849 Anteil nahm. Wagner selbst verleugnete zu keiner Zeit seine Beteiligung an der Revolution, spielt seine Rolle aber in der Autobiographie "Mein Leben" herunter. Strittig bleiben dagegen die Motive, die ihn zu revolutionärer Aktivität trieben. Wie so oft bei Wagner vermischen sich private Ziele und äußere Umstände untrennbar und es scheint, "als habe er das Soziale gar nicht zur Politik gezählt, sondern es für sein eigenes, wiewohl bedeutendes Gebiet menschlicher Betätigung gehalten" (Gregor-Dellin. 26,3). hne Wagners Beteiligung an der Revolution verharmlosen zu wollen, muß berücksichtigt werden, daß Wagners Besessenheit von sich selbst und die damit verbundene Idee einer neuen Kunst, sein enormer Behauptungswille, sowie die wirtschaftliche Not des Kapellmeisters - "das eigentliche mephistophelische Thema seiner Dresdner Jahre war das Geld" (Gregor-Dellin. 27,209)

- entscheidenden Anteil am Revoltieren des Künstlers hatten. Er fand ein Ventil für aufgestaute Ressentiments privater Natur. Von August Röckel, dem Wagner eine Anstellung als Musikdirektor am Hoftheater besorgt hatte, und der die Juli- Revolution in Paris (1830) selbst miterlebt hatte, mit Lasalle, Lafitte und anderen Köpfen der Reformbewegung persönlich bekannt war und sich intensiv mit deren sozialen Reformtheorien auseinandersetzte, dürfte Wagner, in dessen Bibliothek sich bis dato kein politisches Buch befand, die entscheidenden "sozialutopischen und revolutionären Denkanstöße" (Gregor-Dellin. 26,26) erhalten haben. Im Freundeskreis um Wagner und Röckel waren Schriften wie etwa Proudhons "Was ist Eigentum?" (1840), Weitlings "Evangelium des armen Sünders" (1843), Feuerbachs "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (1843) und "Das Wesen der Religion" (1845), Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" (1845) Gegenstand der Diskussionen und auch über Karl Marx dürfte im Zusammenhang mit Proudhon gesprochen worden sein. In "Mein Leben" gibt Wagner die Beweggründe wieder, die seiner Meinung nach Röckel zum Sozialisten gemacht haben könnten.

Schon längst hatte er jede Hoffnung aufgegeben, [...] seine musikalische Laufbahn war für ihn zum reinen Frondienst geworden, [...] so schleppte er sich elendig im Schuldenmachen dahin. Auf unseren Spaziergängen unterhielt er mich [...] einzig mit der Ausbeute seiner Lektüre von volkswirtschaftlichen Büchern, deren Lehren er mit Eifer auf die Verbesserung seiner verschuldeten Lage anwendete." (ML, 377)

Wagner unterstellt Röckel also private, egoistische und höchst unpolitische Motive, die seinen Freund und Kollegen bestärkten, "die Umgestaltung aller bürgerlichen Verhältnisse [...] aus einer vollständigen Veränderung ihrer sozialen Grundlage" (ML,386f.) zu fordern. Aber bei genauer Betrachtung stellt sich Wagners persönliche Lage nicht anders dar als die seines Freundes. Seine Finanzen waren in höchst desolatem Zustand, und durch Spekulationen auf den Verkauf seiner Opernpartituren manovrierte sich Wagner noch tiefer in die wirtschaftliche Misere. Zwar gewährte ihm die Hofintendanz eine Gehaltserhöhung, doch knüpfte man an diese - nach Wagners Urteil - erniedrigende Bedingungen, so daß er sich vom dekadenten Hoftheater und dessen Publikum in seiner künstlerischen Entwicklung beschnitten sah.

Verständlicherweise zeigte sich Wagner den republikanischen Strömungen der Zeit durchaus offen, als die Nachrichten von der Proklamation der Republik in Paris (Februar 1848) Dresden erreichten. Doch erst nach der endgültigen Beendigung der "Lohengrin"-Partitur, am 28. April 1848, fand er "Muße, sich etwas nach der Strömung der Ereignisse umzusehen" (ML,375).Bezeichnend für Wagner ist allerdings der Umstand, daß er sich im Rückblick deutlich von Röckel und dessen Einstellung zur Revolution distanzierte:

Auf die Proudhonschen und anderer Sozialisten Lehren von der Vernichtung der Macht des Kapitals durch unmittelbar produktive Arbeit baute er [Röckel] eine ganz neue moralische Weltordnung auf, für welche er mich allmählich [...] insoweit gewann, daß ich nun wieder meinerseits darauf die Realisierung meines Kunstideals aufzubauen begann. (ML, 387)

Wagner richtet seine Gedanken "sogleich wieder auf das Naheliegende, indem er das Theater in das Auge faßte" (ebd.). Revolutinäres Gedankengut und persönliche Abneigung gegen die bestehenden Zustände führten Wagner zu seinem Entwurf zur "Organisation eines deutschen Nationaltheaters". Darin stehen seine Überlegungen, "wie auch das Theater und die Musik durch jenen Geist gehoben werden könnten" (GS II,233). Neben einer dezidierten Neuorganisation des Theaterbetriebs, in der der Hof als leitendes Organ des Theaters durch einen von künstlerischem und technischem Personal gewählten Intendanten mit weitreichenden Kompetenzen ersetzt werden sollte (man darf annehmen, daß sich Wagner auf diesen Posten selbst Hoffnungen machte), wird in diesem Entwurf erstmals - rudimentär - die Idee des Gesamtkunstwerkes formuliert.

In der theatralischen Kunst vereinigen sich [...] sämtliche Künste zu einem so unmittelbaren Eindruck auf die Öffentlichkeit, wie ihn keine der übrigen Künste für sich allein hervorzubringen vermag. Ihr Wesen ist Vergesellschaftung mit Bewahrung des vollsten Rechts auf Individualität. (GS II,235)

In "Das Kunstwerk der Zukunft" knüpft er später an diese ersten Gedanken zur Erneuerung der Kunst an; im Augenblick machte ihn der Fehlschlag seiner Reformversuche umso empfänglicher für die Revolution.12 Während Wagner in "Mein Leben", ab dem 17. Juli 1865 Cosima zur Niederschrift diktiert, häufig den Versuch unternahm, seine revolutionäre Gesinnung zu bagatellisieren, ist "Eine Mitteilung an meine Freunde" (GS IV), geschrieben 1851, eindeutiger bestimmt von einer Rechtfertigung der sozialrevolutionären Triebkräfte, die sein Denken und Handeln bestimmten. Eine Reform des Theaters mußte scheitern, so die spätere Einsicht Wagners, weil "aus der Nichtswürdigkeit der politischen und sozialen Zustände [...] sich gerade keine anderen öffentlichen Kunstwerke bedingen konnten, als eben die von mir angegriffenen" (GS IV,308). Dem Geist der Revolution verschrieb sich der Kapellmeister, weil sich darin "die reine menschliche Natur gegen den politisch-juristischen Formalismus empörte" (GS IV,309). So war die Teilnahme Wagners an der "politischen Erscheinungswelt [...] künstlerischer Natur"; er wurde "Revolutionär zu Gunsten des Theaters" (GS IV,309). Doch auch hier, so muß man feststellen, spielt Wagner sein revolutiomäres Engagement herunter.

Politik, Sozialismus, Communismus. [...] Bei mir - Bruch beschlossen. - Einsamkeit: communistische Ideen über kunstförderliche Gestaltung der Menschheit der Zukunft. (4,113)

Das sind Stichworte, die er in den Annalen des "Braunen Buch" zum Herbst 1848 notiert. Im "Aufruf an die Deutschen" (vgl. ML,376) und in einem Brief an den sächsischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung fordert er "sofortige Volksbewaffnung", sowie eine Lösung der Territorialfrage: "Das Parlament muß die einzelnen Staaten erst noch vollkommen revolutionieren. [...] Nichts Sanfteres führt zum Ziel." (zit. n. Krohn. 30,92) In den von Röckel herausgegebenen "Volksblättern" veröffentlicht Wagner im Frühjahr 1949 die Kampfschrift "Die Revolution", in der von der "Göttin Revolution" die Rede ist und in der der Komponist das Ende der Revolution folgendermaßen erträumt: "frohlockende Jubelgesänge der befreiten Menschheit erfüllen die noch vom Kampfgetöse erregte Luft" (zit. n. Wagner- Lexikon: 13,176)

Die direkte politische Lage spitzte sich mehr und mehr zu, als preussische Truppen aufzogen, um Dresden notfalls belagern zu können, und sich in der Stadt Kommunalgarden und sächsisches Militär gegnüberstanden; der Mai-Aufstand brach los. Wagner fühlte sich von einem "großen, ja ausschweifenden Behagen" befallen; "fast dasselbe Phänomen, welches Goethe beschreibt, als er die Kannonade von Valmy auf seine Sinneswahrnehmungen zu verdeutlichen sucht" (ML,405). Mit Bakunin und Röckel stand Wagner auf den Barrikaden, die zum Teil unter der fachkundigen Anleitung des Architekten Gottfried Semper errichtet wurden, diente der provisorischen Regierung der Aufständigen als Abgesandter, Verbindungsmann und Kundschafter.13 Als am 6. Mai das preußische Miltär einmarschierte, konnte aller Enthusiasmus konnte verhindern, daß für Röckel, Bakunin, Heubner und viele andere der Aufstand am 8. Mai mit der Verhaftung endete. Wagner entkam aufgrund einer Reihe von Mißverständnissen der Arrestierung und reiste zu seinem Gönner Franz Liszt nach Weimar. Als man nach ihm in Dresden steckbrieflich zu fahnden begann, floh er mit falschen Papieren zunächst nach Paris und von dort endgültig ins Schweizer Exil. In Briefen an Eduard Devrient und an seine Frau Minna zieht er eine erste Bilanz seiner revolutionären Aktivitäten. Er bringt sie erneut in Zusammenhang mit seiner Kunstauffassung.

Das einzige, was mich wahrhaftig lebendig erhielt, war - allerdings der Zweck meines Lebens - mein künstlerisches Produzieren. Auch das haben mir die Umstände verleidet: [...] seit zwei Jahren zersplittere ich denn meine künstlerischen Kräfte ohne Lust und Freude. So bin ich denn endlich Revolutionär geworden [...] und kann zu keiner Freude am Schaffen mehr kommen. Die letzte Katastrophe hat mich insoweit zu mir selbst gebracht, als ich mir dieses traurigen, zerstörten Zustandes vollkommen gewiß ward. (Brief an E. Devrient: 17.5.1849. 25,15)

Die Dresdner Revolution und ihr ganzer Erfolg hat mich nun belehrt, daß ich keineswegs ein eigentlicher Revolutionär bin: ich habe [...] gesehen, daß ein wirklich siegreicher Revolutionär gänzlich ohne Rücksicht verfahren muß, [...] sein einziges Streben ist Vernichtung. [...] Aber nicht Menschen unserer Art sind zu dieser fürchterlichen Aufgabe bestimmt: wir sind nur Revolutionäre, um auf einem frischen Boden aufbauen zu können; nicht das Zerstören reizt uns, sondern das Neugestalten. (Brief an Minna: 14.5.1849. 25,14)

Diese beiden Briefe legen den Schluß nahe, daß sich Wagner von der Revolution endgültig verabschiedet hatte und die neue künstlerische Schaffenskraft suchte. Im späteren Gnadengesuch an den sächsischen König verfährt er ebenso.14 Der "Glaube an eine gänzliche Umwandlung der politischen und namentlich der sozialen Welt" (zit. n. Gregor-Dellin. 27,868f.), so Wagner, diente lediglich dazu, ein "ideales Verhältnis der Kunst zum Leben zu verwirklichen" (ebd.). Neben aller Reue und devoter Entschuldigung betont Wagner, daß er sich "einer eigentlich strafbaren Handlung [...] wenig bewußt" (ebd.) sei. Nach dem endgültigen Bruch mit der Vergangenheit drängte ihn "eine wirklich krankhafte Exaltation" (ebd.) dazu, wie zu meiner eigene Rechtfertigung, [...] jene Ideen über Kunst und Leben, die mich einer so heftigen Katastrophe zugeführt, nach Möglichkeit systematisch zu ordnen, ausführlicher zu bearbeiten, und in einer Reihe von literarischen Arbeiten der Öffentlichkeit vorzulegen. (ebd.)

Die revolutionäre Glut glomm weiter, sparsam, gelenkt und weniger bemerkbar, weil sie nicht mehr durch die Hitzigkeit der Tagesereignisse gespeist wurde. Im Exil entstanden Wagners Kunstschriften, in denen sich das Ideen-Gemisch der Revolution mit künstlerischer Produktivität vermengte. Diese Schriften konzipierte Wagner weniger im Sinne einer ästhetischen Theorie, die in ein geschlossenes philosophisches System eingebettet war, sondern mehr im Sinne einer Absichtserklärung, die seine persönliche künstlerische Zukunft betraf. Das Umfeld, in dem die Kunstschriften entstanden, muß folglich stets mitbewertet werden. Die äußere Biographie Wagners kann (und sollte) als Leitfaden zur Orientierung dienen, um den Revolutionär Wagner in den Zürcher Kunstschriften wiederzufinden, freilich in einer zum Kunst-Revolutionär abgemilderten Form. Der revolutionäre Funke flammt in seinen Werken, namentlich in "Die Kunst und die Revolution" und "Das Kunstwerk der Zukunft" immer wieder auf und er kann auch nicht "durch die gutgemeinten 'Rettungsversuche' einer biederen Wagnerianer-Gemeinde erstickt werden" (Krohn: 30,98)

1.2.2 Das Gesamtkunstwerk der Zukunft

Geschichtsphilosophischer Ausgangspunkt für Wagners Gesamtkunstwerk der Zukunft ist der Gegensatz zwischen antikem Griechentum und moderner Zivilisation. Im antiken griechischem Staat sieht Wagner, hier noch ganz in der Tradition des deutschen Idealismus, einen politischen und gesellschaftlichen Idealzustand, der auch die ideale Kunst in Form der griechischen Tragödie einschloß; wobei die "Kunst als Ergebnis des staatlichen Lebens" und "als soziales Produkt" (GS III,9) zu bewerten ist. Im "Gesamtkunstwerk der griechischen Tragödie" (GS III,12) fand sich der Zuschauer selbst wieder, "vereint mit den edelsten Teilen des Gesamtwesens der Nation" (ebd.). Im Drama waren alle Einzelkünste gesammelt und dienten dem Menschen dazu, "sich selbst zu erfassen, seine Tätigkeit zu begreifen" (GS III,11). Für die moderne Zivilisation gilt dieser Öffentlichkeitscharakter der Kunst nicht mehr - oder doch in anderer Weise. Nach wie vor ist das Theater (Schauspiel wie Oper) Ausdruck und Spiegel des Zustandes der Allgemeinheit. Der Verlust des Öffentlichkeitscharakters der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts führt konsequenterweise zu ihrer Privatisierung und Kommerzialisierung. Kunst erhält Warencharakter.

Wo der griechische Künstler, außer durch seinen eigenen Genuß am Kunstwerke durch den Erfolg und die öffentliche Zustimmung belohnt wurde, wird der moderne Künstler gehalten und - bezahlt. Und so gelangen wir denn dahin, den wesentlichen Unterschied scharf und fest zu bezeichnen, nämlich: die griechische öffentliche Kunst war eben Kunst, die unsrige - künstlerisches Handwerk. (GS III,24)

Um diese Beurteilung des Künstlers als einen von seiner Arbeit entfremdeten Handwerker zu verstehen, muß die Entwicklungslinie der Gesellschaft betrachtet werden, die Wagner vom Untergang der attischen Polis bis in seine Zeit zieht. Die ökonomische Grundlage des griechischen Staates war die Sklaverei. Der Sklave verrichtete die handwerkliche Arbeit, "die gröbste der häuslichen Hantierungen" (GS III,26), während der freie Grieche nur "in der öffentlichkeit, in der Volksgenossenschaft" (ebd.) lebte, deren Bedürfnisse der Staatsmann und der Künstler, nicht aber der Handwerker, befriedigten. Hier distanziert sich Wagner im Sinne der linken Hegel-Nachfolge deutlich vom idealistischen Griechenlandmythos, denn für Wagner ist die Sklaverei "die verhängnisvolle Angel alles Weltgeschickes geworden" (GS III, 26). Das Ideal der attischen Polis verkommt somit zum Scheinideal:

Der Sklave hat, durch sein bloßes, als notwendig erachtetes Dasein als Sklave, die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller Schönheit und Stärke des griechischen Menschentumes aufgedeckt und für alle Zeiten nachgewiesen, daß Schönheit und Stärke, als Grundzüge des öffentlichen Lebens, nur dann beglückende Dauer haben können, wenn sie allen Menschen eigen sind. (ebd.)

Für Wagner sind im Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht etwa aus Sklaven freie Menschen und Bürger geworden, sondern aus nahezu allen Menschen Sklaven.

Sklaven, denen einst christliche Apostel und Kaiser Konstantin rieten, ein elendes Diesseits geduldig um ein besseres Jenseits hinzugeben; Sklaven, denen heute von Bankiers und Fabrikbesitzern gelehrt wird, den Zweck des Daseins in der handwerklichen Arbeit um das tägliche Brot zu suchen. (GS III,27)

Frei von Sklaverei waren folglich einst despotische Herrscher, die die Religion als Deckmantel der Macht mißbrauchten, und frei sind im 19. Jahrhundert Menschen, die genügend Geld besitzen, um dem Leben etwas anderes abringen zu können, als den puren Überlebenskampf. Da sich die Kunst als Resultierende des staatlichen Lebens definiert, wundert es nicht, "wenn auch die Kunst nach Gelde geht" (GS III,28); "ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb" (GS III,19). Die Kunst ist nicht mehr als Einheit der Einzelkünste im öffentlichen Bewußtsein vorhanden, denn - analog zur Zersplitterung des gesellschaftlichen (Schein)ideals "in tausend egoistische Richtungen" (GS III,12) - zerfiel auch das "große Gesamtkunstwerk der griechischen Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandteile" (ebd.).

Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik, usw. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbstständig, aber einsam egoistisch fortzubilden. (GS III, 29)

Lediglich "im Bewußtsein des einzelnen [im Sinne des vereinzelten Künstlers], im Gegensatz zu dem öffentlichen Unbewußtsein davon" (GS III,28) lebt die Einheit der Künste weiter. Hier liegen für Wagner die Aufgaben der großen Menschheitsrevolution, denn "nur die Revolution kann aus tiefstem Grunde das von neuem, und schöner, edler, allgemeiner gebären" (GS III,29), was mit dem Untergang der griechischen Tragödie verschwand. Das "eigentliche Wesen der großen sozialen Bewegung" (GS III,28) ist es, den Menschen "aus dem Handwerkertume heraus zum künstlerischen Menschentum, zur freien Menschenwürde" (ebd.) zu führen, aus dem dann die Wiedergeburt der Tragödie als "Fest der Menschheit" (GS III,35) in der Gesellschaft der Zukunft möglich wird.

In "Das Kunstwerk der Zukunft", der zweiten der drei Zürcher Kunstschriften, wird die ästhetische Utopie des Gesamtkunstwerkes von Wagner detailierter ausgeführt. Zu Beginn erhält der dialektische Dreischritt der geschichtlichen Entwicklung (griechischer Staat - moderne Zivilisation - Gesellschaft der Zukunft) eine Erweiterung im Sinne des anthropologischen Materialismus Feuerbachs. Der Mensch lebt in einem naturfremden Gesellschaftszustand, in dem Leben und Wissenschaft, Sinnlichkeit und Intellektualität sich unvermittelt gegenüberstehen. Luxus, "als Bedürfnis ohne Bedürfnis" (GS III,49), bestimmt diesen Kulturzustand, den es in der großen Menschheitsrevolution zu überwinden gilt.

Erneut wird Wagners abstrakter Gedankengang politisch und revolutionär. Das "Aufgehen des Egoismus in den Kommunismus" (GS III,51), die Vernichtung des Staates, ist das letzte Ziel der Revolution, und auch die Kunst, die der Kulturzustand - bedingt durch Mode und Manier - nicht kennt, überwindet den Gegensatz von Kunst und Leben. Das Kunstwerk der Zukunft wird ein Gesamtkunstwerk im doppelten Sinne, nämlich zum einen:

Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zugunsten der Erreichung des Gesamtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur. (GS III,60)

Zum anderen stellt es nicht "die willkürliche mögliche Tat des Einzelnen", sondern "das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft" (ebd.) dar. Das "große allgemeinsame Kunstwerk der Zukunft" (GS III,63) verwirklicht die Wiederkehr der "Totalität der Natur" (GS III,61), nach der sich der "in der modernen Gegenwart unbefriedigte Geist sehnt" (ebd.). Nachdem Wagner die Geschichte der Menschheit als dialektischen Dreischritt von Natur, Kultur und Kunst beschrieben hat, wendet er sich einer genauen Analyse der 1.) "rein menschlichen Kunstarten" (GS III,67) Tanz-, Tonund Dichtkunst und 2.) den (nach)bildenden Kunstarten Bau-, Bildhauerund Malerkunst zu. Erstere haben in der Tanzkunst als der realsten aller Kunstarten ihren Ursprung, weil "ihr künstlerischer Stoff der wirkliche, leibliche Mensch, und zwar nicht ein Teil desselben, sondern der ganze Mensch" (GS III,71) ist. Das Gesetz des Rhythmus, als oberstes Gesetz der Tanzkunst, bestimmt die Tonund Dichtkunst, Melodie und Harmonie haben die beiden letzteren gemeinsam. Alle drei Kunstarten haben im Untergang der griechischen Tragödie, in der sie vereint waren und sich wechselweise bestimmten, eine Isolation erfahren, die jeweils zu unnatürlichsten Abarten führten. Der Tanz wurde zum manierierten höfischen Tanz, die Tonkunst fand ihren Untergang im Kontrapunkt, der vom sinnlichen Menschen abgelösten Musik. Sie ist nur noch das "künstliche Mitsichselbstspielen der Musik, die Mathematik des Gefühls, mechanischer Rhythmus der egoistischen Harmonie" (GS III,88). Das Drama entfernte sich im Lesedrama am weitesten vom ursprünglichen Gesamtkunstwerk der Tragödie; "das Unerhörte: für die Stumme Lektüre geschriebene Dramen!" (GS III,111). Allerdings erkennt Wagner in der Vergangenheit vereinzelte Bestrebungen, die egoistische Vereinzelung der Künste zu Überwinden. Im Bezug auf das Drama geschah dies in den Schauspielervereinigungen der Shakespeare-Zeit und auf dem Gebiet der Tonkunst in der symphonischen Musik. Die klassische Symphonie strebt in ihrer Entwicklung dem Wagnerschen Ideal des musikalischen Dramas zu. Haydns Musik ist charakterisiert durch die "rhythmische Tanzmelodie" (GS III,91), Mozart "hauchte seinen Instrumenten den sehnsuchtsvollen Atem des Menschen ein" (ebd.), Beethoven schließlich knüpft in seiner "Neunten Symphonie" die Musik wieder an das dichterische Wort. Diese Symphonie ist das "menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft" (GS III,96). Nicht anders erging es den bildenden Künsten, in denen "der künstlerische und nach künstlerischer Selbstdarstellung verlangende Mensch nach seinem künstlerischen Bedürfnisse die Natur sich unterordnete, damit sie ihm nach seiner höchsten Absicht diene" (GS III,125). Verdichtende Nachahmung der Natur war ihre Aufgabe: Nachahmung der menschlichen Gestalt in der Skulptur und stilisierte Nachahmung des Götterhains im Säulenumgang des Tempels. Die Baukunst erfuhr ihren Niedergang aus der Privatisierung der ursprünglichen öffentlichen Aufgaben im Tempelund Theaterbau. Wagner nennt exemplarisch die "widerliche Erscheinung des in das Ungeheure gesteigerten Prunkes der Paläste der Kaiser und Reichen auf der einen Seite, und der bloßen [...] Nützlichkeit in den öffentlichen Bauwerken" (GS III,127) auf der anderen. Die Bildhauerkunst wiederum lebte ursprünglich aus der "sinnlichen Schönheit des menschlichen Leibes" (GS III,134) und wurde im Verlauf der Geschichte zur "Mumie des Griechentums" (GS III,137). Die neuzeitliche Bilhauerkunst, so Wagner, orientiert sich nur noch am "schönen Gestein, nicht an dem wirklichen Leben" (GS III,138). Die Malerei strebte zwar als jüngste, gewissermaßen nachgeborene der drei bildenden Künste nach "dem sehnsüchtigen Bedürfnisse [...], das verloren gegangene, menschlich lebendige Kunstwerk der Erinnerung wieder vorzuführen" (GS III,141), war aber von vorneherein ein Produkt wachsender Entfremdung der Kunst vom Leben. Ihre Werke sind "an der einsamen Zimmerwand des Egoisten" oder "in beziehungsloser, unzusammenhängender und entstellender Übereinanderschichtung in einem Bildspeicher" (nämlich im Museum) (GS III,153) zu sehen.

[...]


1 Schon 1895, zwölf Jahre nach Wagners Tod, sind in einem Katalog zu einer Richard-Wagner-Bibliothek bereits 10.180 Nummern aufgeführt.

2 Es hat sich eingebürgert Wagners Kunstschriften als „Zürcher Kunstschriften zu bezeichnen, obwohl dies nicht völlig exakt ist. Denn zumindest die ersten beiden der drei Schriften wurden bereits in Dresden, also vor der Revolution von 1848 und der damit verbundenen Flucht ins schweizerische Exil, konzipiert und zum Teil auch niedergeschrieben.

3 Shaw bezeichnet in „The Perfect Wagnerite“ (1898) denjenigen als Dummkopf, der erklärt, „das Rheingold sei doch völlig und ausschließlich das, was man ein ‚Kunstwerk‘ nennt, und Wagner habe niemals [...] von industriellen und politischen Problemen aus sozialistischer und humanitärer Sicht geträumt“ (41,51). Die historischen Fakten der Biographie Wagners widerlegen eine solche Behauptung klar und geben somit Shaw durchaus Recht.

4 Aus: N.N., „Der neue ‚Ring‘ in Bayreuth“. In: DER SPIEGEL, Hamburg. Nr 32 vom 2. August 1976

5 Hierzu dienen mir zwei Aufsätze aus dem Katalog der Züricher Ausstellung:

I. "Gesamtkunstwerk und Identitätssystem" von Odo Marquard. (9,40-49)

II. "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" von Bazon Brock. (9,22-39)

6 Wagner, das wird im Verlauf von Abschnitt 1.2 noch einsichtig, verwendet den Begriff Gesamtkunstwerk meist eng bezogen auf die Konzeption der griechischen Tragödie (z.B.: GS III,12; 29; 159). Dabei nähert er sich - wie bereits erwähnt - den Vorstellung Schellings vom Gesamtkunstwerk, das aus der Restauration des Dramas des Altertums erstehen kann.

7 Brock führt beispielhaft einige Personen auf, denen diese Einheit nicht gelang. Suger von Denis entwarf die gotische Kathedrale als Bild des himmlischen Jerusalems und brachte sich als Berater politische Führer ins Gespräch, wurde aber kein Heiliger wie etwa Bernard von Clairvaux, der seinerseits keine zeitgemäßen Repräsentationen der Einheit von Gottesschöpfung und Menschenwerk entwickelte. Michelangelo entwarf als Künstler in seinen Gemälden gewaltige Ganzheitsvorstellungen, in die er seine Person als Schöpfer unmittelbar integrierte, war aber kein Führer, der andere unter seine Vorstellungen unterwerfen wollte. Ludwig XIV. war zwar in Person und Rolle die Verkörperung der Unterwerfung des Einzelnen unter eine Idee vom Staat, entwarf aber keineswegs neue Vorstellungen von übergeordneten Zusammenhängen - weder philosophisch-systematisch, noch künstlerisch-bildlich. Wird die Einheit von "Denken, Wollen und Handeln" trotz fehlender Voraussetzungen in den einzelnen Schritten versucht, wird das Ergebnis totalitär: Hitler, Robespierre und Cola di Rienzi haben dies gezeigt. (vgl. 19,23)

8 Im Bereich der Naturwissenschaft sind zum Beispiel die Quantenund die Relativitätstheorie solche Versuche der systematischen Erfassung der Gesamtwirklichkeit. Es sind gedankliche Konstruktionen, die fiktiv sind, aber das uns umgebende physikalische Ganze zureichend und widerspruchslos beschreiben, ohne daß feststeht, ob die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Natur tatsächlich so funktionieren.

9 In diesem Zusammenhang weist Brock ebenfalls darauf hin, daß ein Gesamtkunstwerk nicht zwingend als additive Verknüpfung verschiedener Medien der Vermittlung zu betrachten ist, sondern sehr wohl auch eine monomediale Darstellung - eine Malerei, ein Film etc. - Gesamtkunstwerk sein kann, insofern es den Anspruch erhebt, eine Ganzheitsvorstellung zu transportieren.

10 "Derartige Realexperimente sind offensichtlich die bevorzugte Form, in der moderne Künstler die Vermittlung zwischen Spekulation über das Ganze und faktischer Unterwerfung unter das Ganze vorzunehmen suchen" (Brock. (19,29). Brock nennt als einen Künstler, der dies konsequent versucht hat, Joseph Beuys. Um genauer auf die Klassifizierung Joseph Beuys' als Totalkünstler einzugehen, fehlt im Rahmen dieser Arbeit leider der entsprechende Raum.

11 Auch Harald Szeemann legt bei seiner Ausstellung in Zürich das Jahr 1800 als historischen Ausgangspunkt für den "Hang zum Gesamtkunstwerk" fest. Gleichzeitig verdeutlicht der Untertitel "Europäische Utopien seit 1800", daß es sich bei dem Phänomen Gesamtkunstwerk, wie von Brock postuliert, um eine gesamteuröpäische Erscheinung handelt.

12 Der Entwurf berücksichtigte ferner die Anhebung der Gehälter, die Gründung einer Dichtervereinigung, allgemeine Demokratisierung im Theaterbetrieb, kollektive Selbstverwaltung, sowie die Einrichtung einer Chorund Orchesterschule. Die am 15. Mai dem zuständigen Minister des Inneren eingereichte Schrift wurde mit negativem Bescheid wenige Tage später an das Direktorium des Theaters zurückgewiesen.

13 Daß Wagner möglicherweise in weit höherem Ausmaß in die Kämpfe involviert war, als es hier den Anschein hat, soll ein Ausschnitt aus der Polizei-Akte, die nach seiner Flucht angelegt wurde, verdeutlichen: "Der Gelbgießer Oehme, einer der am meisten gravirten Theilnehmer am Aufstande [...] beschuldigt Wagnern, daß derselbe und Röckel eine bedeutende Anzahl Handgranaten bei ihm bestellt und anfertigen lassen" (n. Wagner-Lexikon: 13,178). Bewiesen wurde dies freilich niemals, aber es ist durchaus denkbar. Auch die nicht rechtmäßige Requirierung der Gewehre des Dresdner Jagdvereines zur Bewaffnung der Aufständigen geht auf Wagners Konto. Daß die Brandstiftung an der Oper in Dresden ebenfalls eine Tat Wagners - quasi als persönlicher Racheakt des gekränkten Kapellmeisters - war, ist allderings nicht haltbar. Das Entzünden der Oper erfolgte wohl mehr aus strategischen Gründen seitens des Militärs.

14 Geschrieben am 15. Mai 1856 in Zürich. Das Gnadengesuch wurde abgelehnt, und somit war es Wagner nach wie vor verwehrt, in das Königkreich Sachsen einzureisen.

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980. Eine Untersuchung der Inszenierung von Patrice Chereau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk.
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Autor
Jahr
1990
Seiten
119
Katalognummer
V105210
ISBN (eBook)
9783640035076
ISBN (Buch)
9783656761358
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit beschäftigt sich im ersten Teil mit Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes. Im zweiten Teil folgt eine Untersuchung der Bayreuther Aufführungsgeschichte und im dritten Teil schließt sich eine Betrachtung des sogenannten Jahrhundert-Rings in der Inszenierung von Patrice Chereau an.
Schlagworte
Ring, Nibelungen, Bayreuth, Eine, Untersuchung, Inszenierung, Patrice, Chereau, Annäherung, Gesamtkunstwerk
Arbeit zitieren
Jochen Kienbaum (Autor:in), 1990, Der Ring des Nibelungen. Bayreuth 1976 - 1980. Eine Untersuchung der Inszenierung von Patrice Chereau und eine Annäherung an das Gesamtkunstwerk., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105210

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