Der Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert


Seminararbeit, 1998

17 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


1. Die historischen Anfänge des klassischen Liberalismus

Die Begründer der liberalen Idee sind John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776). Nach ihrer Darstellung sind die Menschen zur individuellen Selbständigkeit fähig. Sie wissen selbst am besten, was kurz- oder langfristig ihrer Wohlfahrt dient; eine Institution dazu ist nicht nötig!

Durch das gegebene Naturrecht eines jeden Menschen ist es deshalb nicht Aufgabe von Institutionen für sie zu sorgen und das Denken vorzuschreiben. Aufgrund der menschlichen Eigenschaften und der sich daraus ergebenden Einsichten und Erfahrungen können die Menschen ihr gesellschaftliches Zusammenleben selbst am besten regeln. Sollte der Mensch das Naturrecht nicht wahrnehmen können, so hat er das Recht zum Widerstand.1

Aus diesem Gedankengut entwickelten sich in der Folgezeit verschiedene Arten von Wirtschaftssystemen bzw. Wirtschaftsordnungen. Der Schotte Adam Smith sprach sich in seinem 1776 herausgegebenen Buch „Wohlstand der Nation“ für die freie Marktwirtschaft aus.2

Die heutigen soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht die einzige denkbare Ausprägung. Neben den dezentralen Entscheidungssystemen gibt es auch zentrale Entscheidungssysteme. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hat das System der Zentralverwaltungswirtschaft die Staatsform des Kommunismus geprägt.

2. Der Wirtschaftsliberalismus

2.1 Grundideen

Der klassische Liberalismus gilt als die bedeutendste geistige Strömung, die die kapitalistische Marktwirtschaft geprägt hat. Unsere heutige Wirtschaftsordnung basiert im wesentlichen immer noch auf dem Liberalismus.

Die liberalen Gesellschaftsordnungen haben das allgemeine Ziel, „in einer Welt knapper Mittel eine Vergeudung der Ressourcen zu vermeiden, die Freiheit des einzelnen zu gewährleisten und das friedvolle Zusammenleben der Menschen in Gleichheit sicherzustellen.3

Forderungen und Erwartungen an den Liberalismus:

- die Sicherheit des Eigentums (Privateigentum an Produktionsmitteln),
- die Wettbewerbsfreiheit, d. h. allgemein freier Zugang zum Markt (die unsichtbare Hand des freien Wettbewerbs führt das gesellschaftliche Gemeinwohl herbei),
- stetige Steigerung der Wohlfahrt (keine konjunkturellen Schwankungen)
- die Produzentensouver ä nit ä t, d. h. die Freiheit des Unternehmers (implizit Produktions-, Investitions- und Gewerbefreiheit),
- die Konsumentensouver ä nit ä t, d. h. die Freiheit der Güterwahl,
- die Arbeitnehmersouver ä nit ä t, d. h. die freie Wahl des Berufes, sowie des Arbeitsplatzes (der Zugang zu allen Ä mtern nach Maßgabe der Befähigung),
- die pers ö nliche Freiheit und Unverletzlichkeit der Person,
- die Gleichheit, bzw. ö konomische Gleichheit (jeder Konsument und Produzent soll zu gleichen Preisen, Löhnen und Zinsen tauschen können, unabhängig von seiner Stellung, seiner Größe, seiner Macht / Gleichheit auf allen Märkten)
- das allgemeine Wahlrecht,
- Religions-, Vereinigungs-, Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit.4

2.2. Der Markt als Lenkungsmechanismus

Der Markt soll infolge des freien Wettbewerbs die differenten Interessen von Produzenten, Arbeitnehmern und Konsumenten regulieren. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ermöglicht einen Freiheitsspielraum jedes einzelnen im Staat und fördert zugleich die Leistungsbereitschaft durch Verantwortung.

Der Staat hat als ergänzende Aufgabe, die Rechtsordnung und eine geregelte Verwaltung zu garantieren. Er soll für die innere und äußere Sicherheit sorgen, sich um das Verkehrs-, Bildungs- und Gesundheitswesen kümmern und den in Not geratenen helfen.5

3. Entwicklungen

3.1. Geschichtliche Einordnung

Lange Zeit begrenzten die monarchischen und zentralistischen Strukturen in Europa die Möglichkeiten des freien Wettbewerbs. - Anders als in England oder Frankreich kamen in Deutschland nur langsam Reformen von Seiten der Staatsbürokratie. Der eigentliche industrielle und gesellschaftliche Aufschwung begann in Deutschland erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In England fand diese Entwicklung bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert statt.

Das sich etablierende Wirtschaftssystem wurde als Kapitalismus bezeichnet. - Nicht mehr der Produktionsfaktor Boden, sondern die rasant wachsende Verfügbarkeit über den Produktionsfaktor Kapital war jetzt bestimmend.6 7

Die Abb. 1 zeigt das Anwachsen des gesamten Kapitals der deutschen Volkswirtschaft in der Zeit von 1800 bis 1914.

Abb. 1 Entwicklung des Kapitalstocks der einzelnen Wirtschaftsbereiche (in Mrd. Mark in Preisen von 1913)

(Quelle: HENNING, F.-W. (1973), S. 132)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1.1. Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

3.1.1.1. Liberale Reformen

Nach der vorindustriellen Zeit kamen in Deutschland die Wirtschaft und die Politik erst richtig in Schwung. Die Landwirtschaft bekam, wie schon zuvor Teile der Wirtschaft, die Eigentumsrechte zugesprochen. Es herrschten nun in diesem Bereich die Regeln des Marktes.8

Weitere gewerbefördernde Impulse kamen aus Preußen und Sachsen, die sich von der staatlichen Direktion im Bergbau verabschiedeten und den Unternehmern die Eigenständigkeit überließen. - Trotzdem blieben aber viele Bereiche in staatlicher Hand. Sowohl der Bildungsbereich, als auch der Ausbau des Schienen-, Straßen- und des Post- und Telegrafennetzes wurden „Monopole öffentlicher Tätigkeit.“ - Der Staat griff immer wieder tief in die Privatsphäre der Unternehmen ein. Da er Laufbahnvorschriften erließ, die den Zutritt am Arbeitsmarkt erschwerten, gab es keine freie Berufswahl.9 Einen Beweis für „privates Unternehmertum mit staatlicher Hilfe“ bietet der Eisenbahnbau, wo im Jahre 1853 die Hälfte des deutschen Schienennetzes staatlich war. Ein Konkurrenzkampf in diesem Bereich konnte nicht entstehen, da die Tarife durch die öffentliche Hand gestaltet wurden.10

Preußen führte 1851 in der Steuerpolitik als erster deutsche Staat die progressive Besteuerung ein. Damit wurden erste Grundlagen für die Gleichbehandlung der Bevölkerung gelegt. Die sozialen Mißstände wurden dadurch aber nicht behoben.11

3.1.1.2. Soziale Verhältnisse

Das stärkere industrielle Wachstum, daß nach der Deutschen Revolution von 1848 einsetzte, hatte neben den teilweise positiven wirtschaftlichen und liberalen Errungenschaften leider auch negative gesellschaftliche Ergebnisse zur Folge. - Viele Reformen blieben in den bürokratischen Mühlen stecken. In den industriellen Ballungsgebieten verelendeten viele Arbeitnehmer anonym. Bedingt durch die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten wurden die traditionellen Familienstrukturen zerstört, wodurch es keinen Rückhalt mehr durch die Familie gab.

Solange ein Arbeiter eine Anstellung hatte, konnte er seinen Lebensunterhalt finanzieren. Das Einkommen lag trotzdem für viele am Existenzminimum, deshalb mußten die Kinder den Lebensunterhalt mit finanzieren.12 - In Preußen wurden 1853 erste Schritte eingeleitet, um die Kinderarbeit in Fabriken zu unterbinden. Die fakultativen Fabrikinspektionen sollten dafür sorgen, die Kinderarbeit aufzudecken.13 Die Bußgelder für einen Verstoß waren jedoch verschwindend gering. Erst 1878 wurde diese Maßnahme verbindlich im gesamten deutschen Staat eingeführt. - Der Frauenschutz beschränkte sich auf ein Verbot der Tätigkeit in Bergwerken.14

Die sozialen Verhältnisse zeigten auch nach der Reichsgründung keine Wende zum Positiven. Die schnell wachsende Industrie brauchte viele Arbeiter, was ein Anschwellen der Städte zur Folge hatte (vgl. Abb. 2). Die Firma Krupp hatte zum Beispiel 1835 nur 62 Beschäftigte, 1873 hingegen 16.000 Beschäftigte.

Abb. 2 Die Urbanisierung des Bevölkerungszuwachses (Quelle: HENNING, F.-W. (1973), S. 31)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Spekulanten machten sich diesen Effekt zu Nutzen, indem sie Mietskasernen bauen ließen; und um die Kosten so gering wie möglich zu halten, wurden die Zimmer überbelegt. Da es zudem keinen Schutz für Mieter gab, waren Mietwucher und Wohnungsenge an der Tagesordnung.15

Neben den sehr hohen Wohnkosten stiegen die Lebensunterhaltungskosten (Grundabgaben, Energie, Lebensmittel, etc.) in den Städten auf über 30 % des Einkommens an. Die Preise für Nahrung und Kleidung waren in den Städten deutlich höher als in ländlichen Gegenden.16 - Unter diesen Umständen konnte die ö konomische Gleichheit im Sinne des Liberalismus nicht garantiert werden.

Für Arbeiter, die durch Krankheit arbeitsunfähig wurden oder durch Alter ausschieden, gab es kaum eine Möglichkeit sie vor der Verelendung zu retten. Die Resultate waren soziale Spannungen - ein gewaltsamer Umsturz des politischen und wirtschaftlichen Systems war nicht auszuschließen!17

3.1.1.3. Die Arbeiterbewegung

Wegen der ausbeutenden Industrie begannen sich die Arbeiter zu solidarisieren. Um 1850 gründeten sie eigene Unterstützungskassen und erste Vorformen von Gewerkschaften. Obwohl die deutschen Kleinstaaten erst in den Jahren 1861 bis 1869 die Koalitionsfreiheit gewährten, waren sie trotzdem später gegenüber solchen Einrichtungen abgeneigt.18

In der Folgezeit entwickelten sich politische Parteien. Die bekannteste war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die 1891 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands umbenannt wurde. - Die Abneigung des Staates schlug in den 70er Jahren in Verbote für Vereinigungen um.19

Trotzdem stiegen tendenziell die Zahlen der Mitglieder bis nach 1900 an. Die Gewerkschaften organisierten zahlreiche Streiks, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Parteien, vor allem die SPD, erhielt einen regen Zulauf.

Der Grund für diese Entwicklung waren die miserablen sozialen Verhältnisse, die durch die Sozialgesetzgebung allenfalls gemildert worden waren.20 Dennoch haben die Gewerkschaften einen großen Anteil daran gehabt, daß sich die sozialen Bedingungen, die Löhne (Tarifvertragsgedanke) und die Arbeitsbedingungen verbesserten. Aber auch im Bildungssektor waren die Gewerkschaften und Vereine tätig, welches eigentlich Aufgabe des Staates sein sollte. - So ist es ihnen zu verdanken, daß der Bildungsunterschied in Deutschland verkleinert wurde und der einfache Arbeiter allmählich öffentlich anerkannt wurde.21

3.1.1.4. Die Sozialgesetzgebung

Es gab zwar vor 1878 eine Reihe von sozialen Einrichtungen, diese wiesen aber große Lücken auf. Dadurch schlugen die emotionalen Wellen im Volk hoch und vor allem von sozialistisch ausgerichteten Gruppierungen ging eine Gefahr aus. So war es nicht verwunderlich, daß 1878 ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. verübt wurde, daß aber mißlang. Der Staat mußte im eigenen Interesse handeln, um den Schutz der bestehenden Ordnung zu sichern. Kaiser Wilhelm I. erließ kurze Zeit später die Sozialistengesetze, in denen ein Verbot von sozialistischen Vereinigungen und politischer Literatur festgelegt wurde. Dadurch konnten Ausweisungen und Inhaftierungen vorgenommen werden.

- Die Sozialistengesetze waren ein herber Schlag gegen die liberalen Bestrebungen.

Drei Jahre später kündigte der Kaiser in seiner Thronrede die Sozialgesetzgebung an. Diese Reformen brachte der damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck auf den Weg, der 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invaliditätsversicherung einführte. Trotz dieser größten innenpolitischen Leistung blieb der Erfolg aber aus.22 - Für den Liberalismus bedeutete dies, daß die gegebene Freiheit nicht alleine ausreichte, um die Existenz des Arbeiters zu sichern.23

3.1.2. Wirtschaftliche Entwicklungen

3.1.2.1. Die Krise von 1857

Von Amerika ging infolge eines Überangebotes an Baumwolle und Getreide die Krise aus. An den amerikanischen Börsenplätzen kam es zu einem Crash. Es dauerte nicht lange, bis die Krise sich über England auch in Deutschland bemerkbar machte. In kurzer Zeit stieg der Diskontsatz auf über 8 %. Speziell in Preußen kam es zu einer Handelskrise.

Dennoch blieb der Schaden für Deutschland insgesamt gering. Die Berliner Banken und die Berliner Börse erlitten zwar Verluste, welche sich aber in Grenzen hielten. Die Entwicklung in der wirtschaftlichen Struktur blieb weiter stabil.

Das System der Kapitalgesellschaften mißfiel vor allem der konservativen Staatsleitung. Für die nächsten 13 Jahre änderte man den Weg der Kapitalbeschaffung für große Unternehmen. Nicht mehr über Spekulationsgeschäfte, sondern über festverzinsliche Inhaberpapiere sollte das Geld beschafft werden. - Ihren Tiefpunkt erreichte die Krise 1859 aufgrund von politischen Verwicklungen.24

3.1.2.2. Der Boom 1871/73 und die Gründerkrise 1873

1864/65 hatte Deutschland die Krise von 1857/59 überstanden. Nach dem gewonnen Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung erlebte die Wirtschaft einen rasanten Aufschwung. Nicht zuletzt durch die liberale Wirtschaftsgesetzgebung und die Lockerung der Bestimmungen für Aktiengesellschaften, die 1857/59 beschlossen wurden.

In der Reichsgründung sahen die Liberalisten ein wichtiges Ziel erreicht. Nun wollte man föderative Elemente vorantreiben. Doch der Reichskanzler Bismarck ließ, wie schon an 1862 und 1866/67 in seiner Verfassungspolitik keine Bundesminister und keine Einflußnahme auf das Heeresbudget zu. Es galt eben nur den ökonomischen Liberalismus voranzutreiben; aber auch hier immer wieder beeinflußt vom Militär und dem Adel!25

Die Geschichte des Wirtschaftsliberalismus zeigt, daß es keine stetige Steigerung der Wohlfahrt gab. - 1872 ließ sich an der Börse in Wien zum ersten Mal wieder eine Abschwächung der Konjunktur erkennen. In der Zeit nach 1873 wurden die ersten beiden Jahrzehnte von der Gr ü nderkrise und ihren Folgen geprägt. Das Wirtschaftswachstum stagnierte infolge von Überspekulationen und einer Periode des Überangebotes mit Preissenkungen. Die Abb. 3 zeigt, daß von 1875 bis 1880 ein negatives Wachstum, mit Ausnahme des Jahres 1878 herrschte. Nicht nur in Deutschland, sondern auf dem gesamten Weltmarkt war die Nachfrage gesättigt.26

Abb. 3 Jahresraten des wirtschaftlichen Wachstums in realen Einheiten (Quelle: HENNING, F.-W. (1973), S. 206)27

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1.2.3. Der Neomerkantilismus

Die Schutzpolitik, die seit 1845 betrieben wurde, hatte man nach 1860 stufenweise reduziert. Wenige Jahre nach der Gründerkrise wurden Stimmen laut, die die Wiedereinführung der Zölle forderten. Vor allem in der Eisenindustrie begründete man den Rückgang des Preises mit der freien Einfuhr von Eisen nach Deutschland. - Nach der Durchsetzung der Schutzzollpolitik 1879 sprach man wieder vom Merkantilismus bzw.

Neomerkantilismus. Die Abb. 4 macht die Entwicklung der Einfuhrzölle auf Roheisen deutlich.28

Abb. 4 Entwicklung der Einfuhrzölle auf Roheisen in Deutschland von 1830 bis 1900

(Quelle: HENNING, F.-W. (1973), S. 216)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1.2.4. Die Machtkonzentrationen

Gerade die großen Unternehmen reagierten empfindlich auf die, seit 1873 konstant auftretenden konjunkturellen Schwankungen. Ein Maßnahme dagegen war der Zusammenschluß zu Interessenverbänden, in denen es in erster Linie um ein einheitlich wirtschaftliches Vorgehen ging. Jedoch schwenkte dieses Vorgehen schnell in Kartelle und Syndikate um, welche einen freien

Wettbewerb kaum möglich machten (siehe nachfolgende Aufstellung) -

wirtschaftliche Machtkonzentrationen waren die Folge.29

kartellisierte Unternehmen um 1900:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eine vollkommene Konkurrenz hat es in Deutschland nie gegeben. Der Konzentrationsgrad in der Industrie stieg bis 1900 stetig an. Wenn es bei Unternehmen zu keinem Größenwachstum, Fusion oder Beteiligungen kam, führten Kartelle zur Monopolisierung. Die Abb. 5 zeigt einen überproportionalen Anstieg von Kartellen und von Arbeitgeber- bzw. Interessenverbänden nach 1880.30

Abb. 5 Die Zahl der in Deutschland bestehenden Verbände - 1836 bis 1900 (Quelle: HENNING, F.-W. (1973), S. 218)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1.2.5. Der wirtschaftliche Strukturwandel

Die abgewürgte Produzentensouver ä nit ä t wirkte sich auch auf die Konsumentensouver ä nit ä t aus! Bei den großen Unternehmen blieb die Produktinnovation aus, deshalb traten bis zur Jahrhundertwende bei der Masse der Güter keine Veränderungen auf.31

Im Handwerk sah es dagegen besser aus. Die technischen Handgeräte von Siemens und AEG ließen neue Berufe entstehen. Viele Arbeiter machten sich selbständig, da sie durch die universal einsetzbaren Geräte die Möglichkeiten hatten, die Wartung, Montage oder Reparatur der industriell gefertigten Güter zu übernehmen - es entstand eine neue Mittelschicht.32

Der tertiäre Sektor (Handel, Verkehr, Banken, Versicherungen) hatte einen rasanten Anstieg zu verzeichnen. Dies lag nicht allein an der wachsenden Marktverflechtung. Auch der zollgeeinten Binnenmarkt, der mit Gründung des Deutschen Reiches 1871 kam hatte einen maßgeblichen Anteil.33

Doch schon vorher, im Jahr 1862, wurden erste große liberale Strömungen sichtbar. Preußen vereinbarte mit Frankreich einen Freihandelsvertrag, dem sich die anderen deutschen Staaten bis zum Jahre 1864 anschlossen.34

Drei Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde die Reichsbank in Berlin gegründet. Gleichzeitig bedeutete dies das Ende der verschiedenen Währungen im Land.35 Die einheitliche Währung glich die Märkte so an, daß jetzt genauere Preisvergleiche angestellt werden konnten.

- Dem liberalen Leitsatz der ö konomischen Gleichheit, im Sinne von einheitlichen Preisen, kam man nun ein Schritt näher.

3.1.2.6. Der Markt als Lenkungsmechanismus?

Der Markt als Lenkungsmechanismus - so hatten sich die Befürworter des Liberalismus das Funktionieren einer Wirtschaft vorgestellt. Die klassische These besagt: „ Der Wettbewerbsmarkt besorgt automatisch die Aufgabe knappe Produktionsfaktoren an die Stelle ihrer h ö chsten Effizienz zu lenken. “

- Die Umsetzung in die Realität sah jedoch anders aus. Der Staat hatte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Laisser-Faire-Prinzip verschrieben. Er griff erst um 1850 in das wirtschaftliche Geschehen ein, jedoch nicht nur als Regulierer, sondern auch im eigenen Interesse. So wurden vor allem, wie schon in Punkt 3.1.1.1. beschrieben, Verstaatlichungen vorgenommen. Das Eigentum der ö ffentlichen Hand schloß somit die Konkurrenz aus. Außerdem wurden der staatliche Verbrauch und die Investitionsnachfrage durch Steuern finanziert. Weiter wurden Maßnahmen bezüglich der Wirtschaftsstruktur und des Wirtschaftsablaufes vorgenommen. Das wirtschaftsliberale Modell und seine Umsetzung klafften immer mehr auseinander.36

Es bedürfte aber auf jeden Fall staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft! LÜTGE schrieb dazu: „Zeigte es sich doch, daß das auf den Ideen der Klassiker fußende Prinzip des Liberalismus dazu führte die Starken noch stärker und die Schwachen noch schwächer zu machen; “37

4. Resümee

4.1. Industrialisierungspolitik

Nach den Ausführungen von BORCHARDT war im Deutschland des 19. Jahrhunderts eigentlich nie eine systematische Industrialisierungspolitik erkennbar. Die Reformen kamen zwar von oben, galten aber als fragwürdig, denn die Kleinstaaterei und die Niederlage gegen die französische Armee zeigten die Überlegenheit der neuen Gesellschaftsordnung. Insbesondere für Preußen war dies ein Anlaß gesellschaftliche Erneuerungen auf den Weg zu bringen, bzw. den Gegner zu imitieren. Mit der Bauernbefreiung, der Gewerbefreiheit, der St ä dteordnung (bürgerliche Mitverwaltung) und der Abschaffung des Absolutismus wollte man das Nationalgefühl mobilisieren.38

4.2. Wirtschaftsimperialismus

Mit zunehmender Industrialisierung wurde die Wirtschaft zum Prestigeobjekt der Nation. Es entstand ein regelrechter Wettkampf zwischen den drei Ländern Deutschland, England und Frankreich. Man imitierte sich untereinander und versuchte darüber hinaus besser zu sein als der Nachbar.

Ein besonderes Prestigeobjekt war der Wirtschaftsimperialismus. Es gab dabei zwei Zielrichtungen: zum einen den Erwerb von Kolonien zur Errichtung der eigenen Staatsmacht, um die wirtschaftliche Machtstellung abzusichern; und zum anderen ein Land durch Investitionen und Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen.

Motivationen gab es zu Erreichung dieser Ziele genug. Kolonien galten in den 70er und 80er Jahren als Statussymbol einer Großmacht. Der Staat propagierte, daß die Produktion der Wirtschaft durch Importe aus den Kolonien sichergestellt würde, und das diese zugleich als neues Absatzgebiet für einen Teil der industriellen Produktion genutzt werden könnten.

Wobei hier deutlich wurde, daß es eigentlich nur um die Stellung des Staates ging, da nur 2 % des deutschen Außenhandels mit den eigenen Kolonien abgewickelt wurde. - Die Machtposition des Landes war wichtiger geworden, als die ökonomische Effizienz.39

Literaturverzeichnis

BASSELER/HEINRICH (1984): Wirtschaftssysteme, Physica-Verlag Würzburg-Wien 1984

BEIMEL/MÖGENBURG (1987): Industrialisierung - das deutsche Beispiel (1800-1914), Diesterweg Frankfurt am Main 1987

BÖHME, H. (1966): Deutschlands Weg zur Großmacht, 2. Auflage, Kiepenheuer & Witsch Köln 1972

BORCHARDT, K. (1978): Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte, Vandenhoeck Göttingen 1978

HENNIG, F.-W. (1973): Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, 9. Auflage, Schöningh Paderborn 1995

HOERSTER, N. (1976): Klassische Texte der Staatsphilosophie, 7. Auflage, DTV München 1992

KINDER/HILGEMANN (1966): DTV-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, 24. Auflage, DTV München 1990

LÜTGE, F. (1952): Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1976

[...]


1 Vgl. N. Hoerster, „Klassische Texte der Staatsphilosophie“, DTV 1976, S. 133-163

2 Vgl. M. Beimel/H. Mögenburg, „Industrialisierung - das deutsche Beispiel, 1987, S. 10

3 Vgl. Basseler/Heinrich, „Wirtschaftssysteme“, 1984, S. 21

4 Vgl. Basseler/Heinrich, „Wirtschaftssysteme“, 1984, S. 21-25

5 Vgl. Basseler/Heinrich, „Wirtschaftssysteme“, 1984, S. 25

6 Vgl. DTV-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, 1966, S. 43

7 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 39-41

8 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 43

9 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 44-45

10 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 50

11 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 45

12 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 105

13 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 55

14 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 198

15 Vgl. M. Beimel/H. Mögenburg, „Industrialisierung - das deutsche Beispiel, 1987, S. 127

16 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 270-271

17 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 54-56

18 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 199-203

19 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 203

20 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 274-275

21 Vgl. F. Lütge, „Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, 1952, S. 530-531

22 Vgl. DTV-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, 1966, S. 77

23 Vgl. F. Lütge, „Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, 1952, S. 529

24 Vgl. H. Böhme, „Deutschlands Weg zur Großmacht“, 1966, S. 78-82

25 Vgl. H. Böhme, „Deutschlands Weg zur Weltmacht“, 1966, S. 305-306 u. S. 320-321

26 Vgl. H. Böhme, „Deutschlands Weg zur Weltmacht“, 1966, S. 341

27 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 206

28 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 216

29 Vgl. M. Beimel/H. Mögenburg, „Industrialisierung - das deutsche Beispiel, 1987, S. 101

30 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 90

31 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 91

32 Vgl. M. Beimel/H. Mögenburg, „Industrialisierung - das deutsche Beispiel, 1987, S. 112

33 Vgl. M. Beimel/H. Mögenburg, „Industrialisierung - das deutsche Beispiel, 1987, S. 92-93

34 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 42-44

35 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 255

36 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S.87-88

37 Vgl. F. Lütge, „Deutsche Sozial- und ...“, 1952, S. 477 (2 Absatz, letzter Satz)

38 Vgl. K. Borchardt, „Grundriß der deutschen Wirtschaftsgeschichte“, 1978, S. 41-46

39 Vgl. F.-W. Henning, „Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914“, 1973, S. 260-261

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Veranstaltung
Interdisziplinäre Veranstaltung/Grundstudium
Note
3,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
17
Katalognummer
V105145
ISBN (eBook)
9783640034420
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirtschaftsliberalismus, Jahrhundert, Interdisziplinäre, Veranstaltung/Grundstudium
Arbeit zitieren
André Nowas (Autor:in), 1998, Der Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105145

Kommentare

  • Gast am 5.2.2003

    ..wirklich schlüssig

Blick ins Buch
Titel: Der Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden